Amerika um 1900: Wie viele andere findet der litauische Einwanderer Jurgis Rudkus Arbeit in den Schlachthöfen Chicagos. Doch die Hygiene- und Sicherheitsstandards sind so niedrig und die Bezahlung so erbärmlich, dass die Immigranten kaum eine Chance haben. Nach und nach erkennt Jurgis, dass er für ein besseres Leben kämpfen muss.
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Upton Beall Sinclair (1878–1968) war ein sozialkritischer Schriftsteller, der in den USA und dem deutschsprachigen Raum populär war. Er engagierte sich zeitlebens politisch und gilt als einer der Wegbereiter des Enthüllungsjournalismus.
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Ingeborg Gronke, geboren 1922, arbeitete als Übersetzerin aus dem Englischen.
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Der Dschungel
Roman
Aus dem Englischen von Ingeborg Gronke
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Erstausgabe erschien 1906 unter dem Titel The Jungle.
Originaltitel: The Jungle (1906)
© 2013 by Europa Verlag AG, Zürich
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Blick von der Madison Street in die State Street, Chicago. Undatiertes Photochrom um 1900. (ullstein-histopics)
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-31107-7
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Um vier Uhr war der festliche Akt vorüber, und die Wagen rollten an. Den ganzen Weg war ein Schwarm von Menschen mitgelaufen, und zwar dank dem überschwänglichen Temperament von Marija Berczynskas. Das große Ereignis lastete schwer auf Marijas breiten Schultern. Ihr oblag die Sorge dafür, dass alles nach Brauch und bester Sitte zuging wie in der alten Heimat. So schoss sie bald hierhin, bald dorthin, stieß jedermann aus dem Weg, schalt und ermahnte in einem fort mit ihrer gewaltigen Stimme und war so eifrig darauf bedacht, den andern Manieren beizubringen, dass sie darüber die eigenen vergaß. Sie hatte die Kirche als Letzte verlassen, wollte im Saal aber als Erste ankommen und hatte deshalb dem Kutscher befohlen, schneller zu fahren. Als dieser jedoch in der Sache einen eigenen Willen bekundete, da hatte Marija das Wagenfenster aufgerissen, sich hinausgelehnt und angefangen, ihm die Meinung zu sagen – zuerst auf Litauisch, was er nicht verstehen konnte, und dann auf Polnisch, was er sehr wohl verstand. Der Kutscher, der vom hohen Bock herab ihr gegenüber im Vorteil war, hatte jedoch nicht nachgegeben und sogar zu widersprechen gewagt. Das Ergebnis war ein hitziger Wortwechsel, der sich über eine halbe Meile hinzog und an jeder Kreuzung der Ashland Avenue ihr Gefolge um einen weiteren Trupp von Straßenjungen vergrößerte.
Das traf sich unglücklich, denn vor der Tür gab es ohnehin schon einen Auflauf. Die Musik hatte eingesetzt, und einen halben Häuserblock weit konnte man bereits das dumpfe Schrummschrumm eines Cellos und das Quietschen zweier Fiedeln hören, die in kunstreicher Höhenakrobatik miteinander wetteiferten. Als Marija den Auflauf gewahrte, brach sie den Disput über die Ahnenreihe ihres Kutschers unvermittelt ab, sprang aus dem fahrenden Wagen mitten in die Menge und bahnte sich einen Weg zum Saal. Einmal drinnen, machte sie kehrt und stieß und schob in entgegengesetzter Richtung. Dabei donnerte sie: »Eik? Eik! Uzdaryk‑durisl«, in einer Lautstärke, dass der Orchesterlärm sich daneben wie Sphärenmusik ausnahm.
»Z. Graiczunas, Pasilinksminimams darzas. Vynas. Sznapsas. Weine und Spirituosen. Gewerkschaftsleitung«, stand auf den Firmenschildern. Dem Leser, der sich vielleicht noch nicht oft in der Sprache des fernen Litauens verständigt hat, wird die Erläuterung willkommen sein, dass die Lokalität das Hinterzimmer einer Kneipe in dem Teil von Chicago war, der einfach »Hinter den Schlachthöfen« genannt wurde. Diese Angabe ist genau und treffend in Bezug auf die äußeren Umstände, doch wie lachhaft unzulänglich wäre sie jedem vorgekommen, der wusste, dass es außerdem um das größte Ereignis im Leben eines der liebenswertesten Geschöpfe Gottes ging: die Hochzeitsfeier und Freuden‑Verklärung der kleinen Ona Lukoszaite!
Da stand sie im Eingang, geleitet von ihrer Cousine Marija, noch ganz atemlos – denn sie hatte sich den Weg durch die Menge erkämpfen müssen – und so strahlend vor Glück, dass ihr Anblick fast wehtat. In ihren Augen schimmerte ein Staunen, ihre Lider zitterten, und ihr sonst so blasses Gesicht glühte. Sie trug ein strahlend weißes Musselinkleid und dazu einen steifen kleinen Schleier, der ihr bis auf die Schultern reichte. Fünf rosa Papierrosen waren in den Schleier geflochten und elf leuchtend grüne Rosenblätter. Sie hatte neue weiße Baumwollhandschuhe an den Händen, die sie aufgeregt ineinanderkrampfte, als sie nun dastand und umherblickte. Es war fast zu viel für sie – man konnte die Qual zu großer Erregung an ihrem Gesicht und am Beben ihrer Gestalt ablesen. Sie war so jung – noch nicht ganz 16 – und klein für ihr Alter, eigentlich noch ein Kind; und in dieser Stunde hatte sie geheiratet – ihren Jurgis geheiratet, Jurgis Rudkus, ihn, mit der weißen Blume im Knopfloch seines neuen schwarzen Anzugs, ihn, mit den mächtigen Schultern und den riesigen Händen.
Ona war blauäugig und blond, Jurgis dagegen hatte große schwarze Augen mit buschigen Brauen und dichtes schwarzes Haar, das sich hinter den Ohren kräuselte – kurz gesagt, sie waren eins von jenen ungleichen und gar nicht möglichen Ehepaaren, mit denen Mutter Natur so häufig alle Propheten, die vorher und die nachher, Lügen zu strafen beliebt. Jurgis konnte ein 250 Pfund schweres Rinderviertel aufheben und in einen Wagen tragen, ohne dass er wankte oder dass es ihm überhaupt irgendetwas ausmachte; jetzt aber stand er abseits in einer Ecke, verängstigt wie ein gejagtes Wild, und musste sich jedes Mal erst mit der Zunge die Lippen anfeuchten, ehe er auf die Glückwünsche seiner Freunde antworten konnte.
Allmählich gelang es, Gaffer und Gäste zu trennen – oder sie jedenfalls so weit zu trennen, dass es für praktische Zwecke ausreichte. Die Eingänge und Ecken waren während des nun beginnenden Festes nie ohne Publikum, und wenn einer dieser Zaungäste nahe genug herankam oder auch nur hungrig genug aussah, bot man ihm einen Stuhl an und lud ihn ein mitzufeiern. Es gehörte zu den Gesetzen der Veselija, dass keiner hungrig ausgehen soll; und wenn sich auch ein Brauch, der in Litauens Wäldern aufgekommen ist, nur schwer auf den Schlachthofbezirk von Chicago mit seiner Viertelmillion Einwohner übertragen lässt, so tat man doch sein Bestes, und die Kinder, die von der Straße hereinkamen, und sogar die Hunde gingen glücklicher wieder hinaus. Das Besondere an dieser Feier war die reizende Zwanglosigkeit. Die Männer behielten den Hut auf oder legten ihn auch ab, wenn sie wollten, und die Jacke vielleicht gleich mit; sie aßen, wann und wo es ihnen gefiel, und wechselten den Platz, sooft sie Lust hatten. Reden und Gesang mussten sein, aber niemand brauchte hinzuhören, wenn ihm nichts daran gelegen war; wollte er indessen selber singen oder eine Rede halten, stand ihm auch das völlig frei. Der dadurch verursachte Lärm störte niemand, ausgenommen vielleicht die Säuglinge, von denen haargenau so viele anwesend waren, wie sämtliche geladenen Gäste zusammen besaßen. Anderswo konnten die Säuglinge ja nicht bleiben; daher hatte es zu den Festvorbereitungen gehört, eine Batterie von Wagen und Wiegen in einer Ecke aufzustellen. In ihnen schliefen die Babys zu dritt oder zu viert oder wachten zusammen, je nachdem. Die Größeren, die schon auf die Tische reichen konnten, stolzierten umher und kauten schmatzend und zufrieden an einem Fleischknochen oder einem Würstchen.
Der Saal misst etwa zehn Meter im Geviert und hat weiß getünchte Wände, die kahl sind bis auf einen Kalender, das Bild eines Rennpferds und einen goldgerahmten Stammbaum. Rechter Hand ist die Tür zur Kneipe, in der ein paar Neugierige herumstehen, in der Ecke dahinter eine Bar mit einem kommandierenden Geist in angeschmutztem Weiß, der seinen schwarzen Schnurrbart steif gewichst und eine sorgsam pomadisierte Locke seitlich an die Stirn geklatscht hat. In der gegenüberliegenden Ecke nehmen zwei Tische mit Schüsseln und kaltem Braten ein Drittel des Raums ein, und ein paar besonders hungrige Gäste kauen bereits. Am Kopf der Tafel, wo die Braut sitzt, prangt eine schneeweiße Torte mit einem wahren Eiffelturm von Zuckerguss, gekrönt von Zuckerrosen und zwei Engeln und üppig besät mit rosa, grünen und gelben Bonbons. Dahinter führt eine Tür zur Küche und gibt bisweilen kurz den Blick frei auf einen dampfumwölkten Kochherd und viele Frauen, alte und junge, die geschäftig umhereilen. In der Ecke zur Linken sind die drei Musikanten auf einem kleinen Podium heldenhaft darum bemüht, sich irgendwie gegen das Stimmengewirr durchzusetzen, ferner die Babys, die das gleiche Ziel verfolgen, und schließlich noch ein offenes Fenster, von dem aus das breite Publikum den Anblick, den Trubel und die Wohlgerüche mitgenießt.
Plötzlich schiebt sich aus dem Dampf eine Wolke näher, und bei genauerem Hinsehen kann man Onas Stiefmutter, Tante Elizabeth, ausmachen – Teta Elzbieta wird sie gerufen –, die eine gewaltige Platte mit Entenbraten hoch in den Händen trägt. Ihr folgt mit vorsichtigen Schritten Kotrina, unter ähnlicher Last wankend, und eine halbe Minute später erscheint Großmutter Majauszkiene mit einer großen gelben Schüssel voll dampfender Kartoffeln, die beinahe so umfangreich ist wie sie selber. So nimmt Zug um Zug das Fest Gestalt an. Schinken gibt es und Sauerkraut, gekochten Reis, Makkaroni, Brühwürste, Berge von Korinthenbrötchen, Schüsseln mit Milch und überschäumende Henkelkrüge voll Bier. Außerdem hat man ja keine zwei Meter hinter sich auch noch die Bar, wo man bestellen kann, was man will, und nichts zu bezahlen braucht. »Eiksz! Graicziau!«, schrillt Marija Berczynskas und langt ebenfalls zu, denn drinnen auf dem Herd steht noch mehr und verdirbt nur, wenn es nicht aufgegessen wird.
Unter Lachen und unaufhörlichen Zurufen, Späßen und Neckereien nehmen so die Gäste ihre Plätze ein. Die jungen Männer, die sich größtenteils an der Tür herumgedrückt haben, raffen sich auf und treten näher, und der verschüchterte Jurgis wird von den Älteren geknufft und ausgezankt, bis er sich schließlich folgsam auf seinem Platz zur Rechten der Braut niederlässt. Die beiden Brautjungfern, die als Zeichen ihrer Würde Papierkränze tragen, setzen sich daneben, und dann folgen alle übrigen Gäste, Alt und Jung, Burschen und Mädchen. Die Feststimmung greift über auf den stattlichen Barmann, der sich zu einem Teller Entenbraten herablässt, und sogar der dicke Polizist – dessen Aufgabe es später am Abend sein wird, den Raufereien ein Ende zu machen – zieht sich einen Stuhl ans untere Tischende. Und die Kinder toben, und die Babys brüllen, und alles lacht und singt und schwatzt, und über all dem ohrenbetäubenden Lärm ruft Cousine Marija den Musikanten zu, was sie spielen sollen.
Die Musikanten – wie soll man es nur anfangen, sie zu beschreiben? Sie sind die ganze Zeit mit dabei und spielen auf in rasendem Wirbel – eigentlich müsste man diese Szene zu Musikbegleitung lesen oder sprechen oder singen. Denn die Musik ist es, die das Fest zu dem macht, was es ist. Die Musik ist es, die aus dem Hinterzimmer einer Kneipe hinter den Schlachthöfen eine Traumwelt zaubert, ein Wunderland, ein Winkelchen auf der Insel der Seligen.
Der kleine Mann, der das Trio leitet, ist ein Begnadeter. Seine Geige ist verstimmt, sein Bogen hat kein Kolophonium, aber er ist dennoch ein Begnadeter. Die Musen haben ihn angerührt. Er spielt, wie von einem Dämon besessen, von einer ganzen Horde Dämonen. Man spürt sie förmlich um ihn herum in der Luft, wo sie ihre Kapriolen schießen und mit ihren unsichtbaren Füßen den Takt stampfen – und das Haar des Kapellmeisters sträubt sich, und die Augäpfel treten aus den Höhlen vor lauter Anstrengung, mit ihnen Schritt zu halten.
Tamoszius Kuszleika heißt er, und das Geigespielen hat er sich allein beigebracht: Ganze Nächte hindurch hat er geübt, nach einem langen Arbeitstag an der Schlachtbank. Er ist in Hemdsärmeln, trägt eine Weste mit verschossenem goldenem Hufeisenmuster und ein rosa gestreiftes Hemd, bei dem man an Pfefferminzlutscher denken muss. Ein Paar Militärhosen, hellblau mit gelben Biesen, geben ihm die Autorität, die dem Leiter einer Kapelle zukommt. Er ist nur etwa einen Meter fünfzig groß, aber trotzdem sind ihm die Hosen gut zwei Handbreit zu kurz. Man fragt sich, wo er sie wohl herhat – oder vielmehr: Man würde sich das fragen, wenn der mitreißende Schwung seiner Anwesenheit einen überhaupt dazu kommen ließe.
Denn ein Begnadeter ist er. Jeder Zoll an ihm ist begnadet: Fast möchte man sagen, jeder Zoll einzeln. Er stampft mit dem Fuß, er schleudert den Kopf zurück, er wippt und wiegt sich hin und her. Sein Gesicht ist klein und verschrumpelt und wirkt unwiderstehlich komisch, und wenn er einen Doppelgriff oder einen Triller ausführt, ziehen seine Brauen sich zusammen, zucken seine Lippen und flattern seine Lider – sogar die Spitzen seines Halstuchs sträuben sich. Alle Augenblicke wendet er sich seinen Gefährten zu, nickt, gestikuliert, winkt leidenschaftlich, jeder Zoll an ihm eine Beschwörung, ein Anflehen im Namen der Musen und ihrer Sendung.
Denn Tamoszius können sie nicht das Wasser reichen, die anderen beiden Musiker. Die zweite Geige ist ein Slowake, ein großer, hagerer Mann mit schwarz umrandeter Brille und dem stummen, geduldigen Blick eines geschundenen Maulesels; er reagiert nur schwach auf die Peitsche und fällt danach immer wieder in seinen alten Trott zurück. Der dritte Mann ist sehr dick, hat eine rote, gefühlvolle Knollennase und spielt mit himmelwärts gerichteten Augen und grenzenloser Sehnsucht im Blick. Er spielt den Basspart auf seinem Cello, und deshalb lässt ihn die ganze Erregung kalt; was auch die Oberstimmen anstellen mögen: er jedenfalls hat die Aufgabe, einen lang anhaltenden, schwermütigen Ton nach dem andern herunterzusägen, von vier Uhr nachmittags bis fast zur gleichen Stunde am nächsten Morgen, und bekommt dafür sein Drittel von der Gesamteinnahme, die einen Dollar pro Stunde beträgt.
Noch keine fünf Minuten ist das Fest im Gange, da springt Tamoszius Kuszleika vor Erregung auf, und ein, zwei Minuten später sieht man ihn näher an die Tische heransteuern. Seine Nasenflügel sind geweitet, und sein Atem geht schnell – seine Dämonen treiben ihn. Durch Nicken und Kopfschütteln und kurze, ruckartige Bewegungen mit der Geige gibt er seinen Mitspielern Zeichen, bis sich endlich die lange Gestalt des zweiten Geigers ebenfalls erhebt. Am Ende rücken sie alle drei Schritt um Schritt auf die Schmausenden zu, wobei Valentinavyczia, der Cellist, sein Instrument immer zwischen zwei Tönen mit einem Bums weiterstößt. Schließlich sind sie alle drei am Fuß der Tafel angelangt, und hier steigt Tamoszius auf einen Schemel.
Nun ist er in seinem Element und beherrscht die Szene. Manche Gäste sind beim Essen, andere lachen und plaudern, aber weit gefehlt wäre es, wenn man glaubte, es sei auch nur einer unter ihnen, der Tamoszius nicht hörte. Seine Töne sind niemals rein, und seine Fiedel brummt bei den tiefen und kratzt und quietscht bei den hohen Tönen, aber das beachten sie nicht, beachten es ebenso wenig wie den Schmutz, den Lärm und die Schäbigkeit ringsum – das ist nun einmal der Stoff, aus dem sie ihr Leben aufbauen müssen, und so müssen sie damit auch ausdrücken, wie ihnen ums Herz ist. Und dies hier ist ihre Aussage: fröhlich und ungestüm oder traurig und klagend oder leidenschaftlich und rebellisch, diese Musik ist ihre Musik, Musik aus der Heimat. Sie streckt die Arme nach ihnen aus, und sie brauchen sich nur hineinfallen zu lassen. Chicago mit seinen Kneipen und seinen Slums zerrinnt, grüne Wiesen und sonnenflimmernde Flüsse, weite Wälder und schneebedeckte Berge werden sichtbar. Landschaften aus der Heimat und Bilder aus der Kindheit ziehen wieder herauf; alte Liebe und Freundschaft erwacht, vergangene Freuden und Sorgen lachen und weinen wieder. Manche lehnen sich zurück und schließen die Augen, andere trommeln auf dem Tisch. Hin und wieder springt einer auf und bittet durch Zuruf um dieses oder jenes Lied, und dann lodert das Feuer in Tamoszius’ Augen heller, dann reißt er die Fiedel hoch, gibt seinen Gefährten einen Wink, und los gehts in wildem Galopp. Die Gesellschaft greift den Refrain auf, und Männer und Frauen singen, dass es nur so dröhnt. Einige springen auf, stampfen mit den Füßen den Takt, heben die Gläser und trinken einander zu. Nicht lange, so kommt jemand auf den Gedanken, ein altes Hochzeitslied zu fordern, das die Schönheit der Braut und die Freuden der Liebe besingt. In der Begeisterung über dieses Meisterwerk schiebt Tamoszius sich seitwärts zwischen die Tische und bahnt sich einen Weg zum oberen Ende, wo die Braut sitzt. Es ist kein Fußbreit Raum zwischen den Stühlen, und Tamoszius ist so klein, dass er die Gäste mit dem Geigenbogen anstößt, sobald er zu den tiefen Tönen hinübergreift, aber dennoch zwängt er sich dazwischen und besteht erbarmungslos darauf, dass seine Gefährten ihm folgen. Es versteht sich, dass die Klänge des Cellos dabei ziemlich erstickt werden, aber schließlich sind die drei doch am Kopfende angelangt, und Tamoszius fasst zur Rechten der Braut Posten und hebt an, in schmelzenden Weisen sein Herz auszuschütten.
Die kleine Ona kann vor Aufregung nichts essen. Zuweilen kostet sie ein Häppchen, wenn Cousine Marija sie mahnend in den Ellbogen kneift, aber meistens sitzt sie nur da und staunt mit immer gleichem, schüchtern verwundertem Blick. Teta Elzbieta umschwirrt sie wie ein Kolibri, und auch die Schwestern flattern immerfort hinter ihr herum und flüstern ihr atemlos etwas zu. Doch Ona scheint sie kaum zu hören – die Musik lockt und lockt, und ihr Gesicht bekommt wieder den entrückten Ausdruck, wie sie dort sitzt und beide Hände an das Herz presst. Dann steigen ihr die Tränen in die Augen, und weil sie sich schämt, sie abzuwischen, und sich ebenso schämt, sie die Wangen hinunterlaufen zu lassen, wendet sie sich ab, schüttelt ein wenig den Kopf und wird ganz rot, als sie merkt, dass Jurgis sie beobachtet. Als schließlich Tamoszius Kuszleika an ihre Seite tritt und seinen Zauberstab über ihr schwingt, sind Onas Wangen purpurrot, und sie sieht aus, als müsste sie aufspringen und davonlaufen.
In diesem kritischen Moment rettet sie jedoch Marija Berczynskas, die plötzlich von den Musen heimgesucht wird. Marija hat ein Lieblingslied, ein Lied vom Scheiden des Geliebten, das möchte sie gern hören, und da die Musikanten es nicht kennen, ist sie aufgestanden und will es ihnen beibringen. Marija ist klein, aber von kräftiger Statur. Sie arbeitet in einer Konservenfabrik und geht den ganzen Tag mit Büchsen Rindfleisch um, die ihre vierzehn Pfund wiegen. Sie hat ein breites, slawisches Gesicht mit vorstehenden roten Wangen. Als sie den Mund auftut, kommt etwas Tragisches, aber man muss unwillkürlich an ein Pferd denken. Sie trägt eine blaue Hemdbluse aus Flanell, deren Ärmel jetzt aufgekrempelt sind und ihre muskulösen Arme freigeben; in der Hand hält sie eine Tranchiergabel, mit der sie auf dem Tisch den Takt klopft. Bei ihrem dröhnenden Gesangsvortrag – von ihrer Stimme wollen wir weiter nichts sagen, als dass sie jeden Winkel im Saal füllt – begleiten die Musikanten sie mühsam Note für Note, sind aber in der Regel einen Ton zurück, und so quälen sie sich Strophe um Strophe durch die Klage eines liebeskranken Schäfers:
»Sudiev’ kvietkeli, tu brangiausis;
Sudiev’ ir laime, man biednam,
Matau – paskyre teip Aukszcziausis,
Jog vargt ant svieto reik vienam!«
Als das Lied verklungen ist, wird es Zeit für die Rede, und der alte Dede Antanas erhebt sich. Großvater Anthony, Jurgis’ Vater, ist noch nicht älter als 60, aber man könnte ihn für 80 halten. Er ist erst seit sechs Monaten in Amerika, und die Umstellung ist ihm nicht gut bekommen. In seinen besten Jahren arbeitete er in einer Baumwollfabrik, aber dann bekam er den Husten und musste aufhören; draußen auf dem Land wurde er gesund, aber jetzt arbeitet er bei Durham im Pökelraum, und da er dort den ganzen Tag kalte, feuchte Luft atmet, ist das Leiden wiedergekommen. Als er nun aufsteht, überkommt ihn ein Hustenanfall, und er hält sich am Stuhl fest und wendet das blasse, ausgezehrte Gesicht ab, bis der Anfall vorüber ist.
Im Allgemeinen ist es bei einer Veselija Brauch, die Rede aus einem Buch auszusuchen und auswendig zu lernen; doch Dede Antanas war in seiner Jugend ein heller Kopf und hat wahrhaftig die Liebesbriefe für alle seine Freunde entworfen. Daher weiß man, dass auch die Glück‑ und Segensrede von ihm ganz persönlich verfasst ist, und sie ist einer der Höhepunkte des Tages. Sogar die Jungen, die im Saal herumtoben, kommen näher und lauschen, und unter den Frauen schluchzen einige und wischen sich mit der Schürze die Augen. Es wird sehr feierlich, denn Antanas Rudkus ist von dem Gedanken besessen, dass er nicht mehr lange bei seinen Kindern weilen wird. Seine Rede rührt alle derart zu Tränen, dass einer der Gäste, Jokubas Szedvilas, der in der Halsted Street einen Delikatessenladen hat und dick und robust ist, sich bewogen fühlt, aufzustehen und zu sagen, so schlimm sei es denn doch wohl nicht; und dann hält er selber eine kleine Rede, in der er Braut und Bräutigam mit Segenswünschen und Glücksverheißungen nur so überhäuft und sich auf Einzelheiten einlässt, die zwar den jungen Männern sehr gefallen, Ona aber heftiger denn je erröten lassen. Jokubas besitzt, was seine Frau wohlgefällig »poetiszka vaidintuve« nennt – eine poetische Ader.
Die meisten Gäste sind jetzt satt, und da auf Förmlichkeit kein Wert gelegt wird, beginnt die Festtafel sich aufzulösen. Von den Männern versammeln sich einige an der Bar, andere schlendern lachend und singend umher; hier und dort bildet sich ein Grüppchen und stimmt in bester Laune ein Lied an, völlig unbekümmert um die andern und um die Musikanten. Alle sind sie mehr oder minder ruhelos – man könnte meinen, sie hätten etwas auf dem Herzen. Und so ist es denn auch. Kaum dass die letzten säumigen Esser ihre Teller leeren dürfen, werden auch schon die Tische samt den Resten in die Ecke geschoben, die Stühle und die Babys aus dem Wege geräumt, und es beginnt die eigentliche Feier des Abends. Tamoszius Kuszleika hat sich mit einer Kanne Bier wieder aufgefrischt und kehrt zu seinem Podium zurück, wo er, hoch aufgerichtet, die Lage prüft. Gebieterisch klopft er an seine Geige, klemmt sie dann sorgsam unters Kinn, holt schwungvoll mit dem Bogen aus, reißt ihn schließlich über die klingenden Saiten, schließt die Augen und entschwebt im Geiste auf den Schwingen eines verträumten Walzers. Sein Gefährte schließt sich an, jedoch mit offenen Augen – er passt sozusagen auf, wohin er tritt, und am Ende hebt auch Valentinavyczia, nachdem er noch ein wenig gezögert und mit dem Fuß den Takt gesucht hat, die Augen zur Decke und beginnt zu sägen: Schrumm! Schrumm! Schrumm!
Schnell ordnet die Gesellschaft sich zu Paaren, und bald ist der ganze Saal in Bewegung. Augenscheinlich weiß niemand, wie man Walzer tanzt, aber das spielt keine Rolle – es ist Musik da, und so tanzen sie eben, jeder, wie es ihm gefällt, geradeso, wie sie vorher gesungen haben. Die meisten haben eine Vorliebe für den Twostep, besonders die jungen Leute, bei denen er in Mode ist. Die Älteren haben noch ihre Tänze aus der Heimat, wunderliche, kunstvolle Figuren, die sie mit würdiger Feierlichkeit ausführen. Manche tanzen überhaupt nichts Bestimmtes, sondern halten sich einfach bei den Händen und überlassen ihren Füßen den Ausdruck ungezügelter Freude an der Bewegung. So machen es zum Beispiel Jokubas Szedvilas und seine Frau Lucija – die beiden mit dem Delikatessenladen, die selbst fast ebenso viel verbrauchen, wie sie verkaufen; zum Tanzen sind sie zu dick, aber sie stehen mitten auf der Tanzfläche, halten sich eng umschlungen, schaukeln langsam von einer Seite zur andern und strahlen wie Posaunenengel – ein Bild zahnloser, schweißtriefender Verzückung.
Von diesen älteren Jahrgängen haben viele an ihrer Kleidung irgendetwas, was an die Heimat erinnert – gestickte Westen oder Mieder, ein buntes Tuch, eine Jacke mit gewaltigen Ärmelaufschlägen und prunkvollen Zierknöpfen. Die Jüngeren vermeiden dergleichen sorgfältig; sie haben größtenteils Englisch gelernt und kleiden sich nach der neuesten Mode. Die Mädchen tragen Konfektionskleider oder Hemdblusen, und manche sehen sehr hübsch aus. Von den jungen Männern könnten manche für Amerikaner gelten, etwa für Büroangestellte, bis auf ihre Gewohnheit, im Zimmer den Hut aufzubehalten. Jedes der jüngeren Paare hat seinen eigenen Tanzstil. Manche halten sich eng umschlungen, andere wahren vorsichtig Abstand. Manche halten die Arme steif vom Körper, andere lassen sie lässig herunterhängen. Manche tanzen hüpfend, manche sanft gleitend, wieder andere schreiten mit gemessener Würde. Es sind ausgelassene Paare da, die wild im Saal umhersausen und dabei jeden aus dem Wege fegen. Es sind nervöse Paare da, die das sehr erschreckt und die »Nustokl Kas yra?« rufen, wenn die anderen an ihnen vorüberstieben. Die Paare bleiben den ganzen Abend zusammen, man sieht sie niemals die Partner wechseln. Alena Jasaityte zum Beispiel tanzt schon stundenlang mit Juozas Raezius, mit dem sie verlobt ist. Alena ist die Schönheit des Abends, und sie wäre sogar tatsächlich schön, wenn sie nicht so stolz wäre. Sie trägt eine weiße Hemdbluse, die sie wohl eine halbe Woche Arbeit als Anstreicherin von Büchsen gekostet haben dürfte. Ihren Rock hält sie beim Tanzen untadelig korrekt mit der Hand gerafft, ganz wie eine große Dame. Juozas ist Rollwagenkutscher bei Durham und verdient gutes Geld. Er möchte gern verwegen aussehen, hat den Hut schief auf eine Seite geklemmt und behält den ganzen Abend eine Zigarette im Mund. Dann ist da Jadvyga Marcinkus, die gleichfalls schön ist, aber bescheiden. Auch Jadvyga streicht Konservenbüchsen an, doch sie hat eine gebrechliche Mutter und drei kleine Schwestern zu versorgen, und darum gibt sie ihr Geld nicht für Hemdblusen aus. Jadvyga ist klein und zart, hat pechschwarze Augen und pechschwarzes Haar, das sie in einem kleinen Knoten auf dem Kopf festgesteckt hat. Sie trägt ein altes weißes Kleid, das sie sich selbst genäht hat und seit fünf Jahren zu jeder Festlichkeit anzieht; die Taille ist hoch angesetzt – fast unter der Achsel und nicht sehr kleidsam, aber das macht Jadvyga nichts aus, denn sie tanzt mit ihrem Mikolas. Sie ist klein, er ist groß und kräftig; sie schmiegt sich in seine Arme, als ob sie sich vor den Blicken der andern verstecken wollte, und lehnt den Kopf an seine Schulter. Er dagegen hält sie fest umschlungen, als ob er sie wegtragen wollte; und so tanzt sie, wird sie die ganze Nacht tanzen, und wenn es nach ihr ginge, würde sie in seligem Entzücken weitertanzen bis in alle Ewigkeit. Wer die beiden sieht, muss vielleicht lächeln; aber das Lächeln würde ihm vergehen, wüsste er die Vorgeschichte. Es ist jetzt schon das fünfte Jahr, dass Jadvyga mit Mikolas verlobt ist, und ihr Herz ist schwer. Sie hätten am liebsten gleich geheiratet, aber Mikolas hat einen Vater, der trinkt, und ist, von ihm abgesehen, der einzige Mann in einer großen Familie. Trotzdem hätten sie es vielleicht geschafft, denn Mikolas ist Facharbeiter – wären nicht schwere Unglücksfälle dazwischengekommen, die ihnen beinahe alle Hoffnung genommen haben. Mikolas ist Knochenausschäler, und das ist ein gefährliches Handwerk, besonders wenn man im Akkord arbeitet und die Aussteuer zum Heiraten verdienen möchte. Die Hände sind glitschig, das Messer ist glitschig, du schuftest wie verrückt, und plötzlich redet dich einer an, oder du triffst auf einen Knochen. Dann rutscht dir die Hand ab ins Messer, und es gibt eine klaffende Wunde. Das kann an sich ganz harmlos sein, aber das Schlimme dabei ist die tödliche Infektionsgefahr. Es mag sein, dass der Schnitt wieder heilt, aber man kann nie wissen. Zweimal in den letzten drei Jahren hat Mikolas mit Blutvergiftung zu Hause gelegen – einmal drei und einmal fast sieben Monate lang. Das letzte Mal verlor er auch noch seine Arbeitsstelle, und das bedeutete, weitere sechs Wochen vor den Toren der Konservenfabrik herumzustehen, im kalten Winter um sechs Uhr früh, und der Schnee lag fußhoch auf der Straße, und noch mehr Schnee lag in der Luft. Es gibt kluge Leute, die können einem anhand der Statistik sagen, dass ein Ausschäler 40 Cent in der Stunde verdient, aber diese Leute haben sich wahrscheinlich noch nie die Hände eines Ausschälers angesehen.
Wenn Tamoszius und seine Gefährten hin und wieder notgedrungen eine Ruhepause einlegen müssen, rühren die Tanzpaare sich nicht vom Fleck und warten geduldig. Sie werden anscheinend überhaupt nicht müde, und wenn sie müde würden, so wäre doch zum Hinsetzen kein Platz. Es dauert sowieso höchstens eine Minute, denn dann macht der Kapellmeister wieder weiter, auch wenn die beiden andern noch so sehr protestieren. Diesmal spielt er etwas ganz anderes, und zwar einen litauischen Tanz. Ein paar Freunde des Twosteps bleiben bei ihrem Schritt, aber die meisten vollführen eine Reihe komplizierter Bewegungen, die eher an Eiskunstlauf erinnern. Höhepunkt ist ein furioses Prestissimo, bei dem die Paare sich an den Händen fassen und wie toll herumwirbeln. Das ist ganz unwiderstehlich, und alle machen mit, bis der Saal ein einziges Gewirr fliegender Röcke und Leiber ist, dass einem schon vom Zuschauen schwindlig wird. Die größte Augenweide aber ist in diesem Moment Tamoszius Kuszleika. Die alte Fiedel quietscht und kreischt Protest, doch Tamoszius kennt keine Gnade. Der Schweiß tritt ihm auf die Stirn, und er beugt sich vornüber wie ein Radrennfahrer in der letzten Runde. Sein Körper bebt und schüttert wie eine durchgegangene Dampflokomotive, und das Ohr kann dem fliehenden Schwall von Tönen nicht mehr folgen. Wo man seinen bogenführenden Arm vermutet, ist nur ein blassblauer Nebel. Mit einem ganz erstaunlichen Lauf kommt er zum Abschluss der Melodie, wirft die Hände hoch und taumelt erschöpft zurück, und mit einem letzten Schrei des Entzückens fliegen die Tänzer auseinander, wirbeln hierhin und dorthin und kommen an der Wand zum Stillstand.
Hiernach gibt es Bier für alle, auch für die Musik, und die Zecher verschnaufen und bereiten sich auf die Acziavimas vor, das große Ereignis des Abends. Die Acziavimas ist eine Zeremonie, die, hat sie erst einmal angefangen, nicht vor drei, vier Stunden zu Ende ist und bei der pausenlos getanzt wird. Die Gäste bilden einen großen Ring, fassen sich an den Händen, und mit dem Aufklingen der Musik bewegen sie sich rundherum im Kreis. In der Mitte steht die Braut, und die Männer treten einer nach dem andern zu ihr in den Kreis und tanzen mit ihr. Jeder tanzt mit ihr mehrere Minuten – solange er mag. Es geht sehr fröhlich zu, man lacht, und man singt, und wenn dann der Gast die Braut freigibt, findet er sich Teta Elzbieta gegenüber, die ihm den Hut hinhält. Dahinein wirft er Geld, einen Dollar oder vielleicht auch fünf, je nach Vermögen und je nachdem, wie viel die Ehre ihm wert ist. Es ist Brauch, dass der Gast für dieses Vergnügen bezahlt, und rechtschaffene Gäste werden dafür sorgen, dass Braut und Bräutigam eine hübsche Summe übrig behalten, mit der sie ihr neues Leben anfangen können.
Himmelangst kann einem werden, wenn man daran denkt, was diese Feier kostet. Es werden bestimmt über 200 Dollar sein, vielleicht sogar 300, und 300 Dollar sind für manchen der Anwesenden mehr als ein Jahresverdienst. Es sind kräftige Männer hier, die vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in eiskalten Kellern arbeiten, wo das Wasser zentimeterhoch steht – Männer, die sechs bis sieben Monate im Jahr vom Sonntagnachmittag bis zum nächsten Sonntagmorgen die Sonne nicht zu Gesicht bekommen – und die dennoch keine 300 Dollar im Jahr zusammenbringen können. Es sind Kinder hier, die gerade zwölf und kaum groß genug sind, um auf die Werkbank blicken zu können, Kinder, deren Eltern gelogen haben, um ihnen einen Arbeitsplatz zu verschaffen – und die nicht die Hälfte von 300 Dollar im Jahr verdienen, ja, vielleicht noch nicht ein Drittel davon. Und dann eine derartige Summe auf einmal auszugeben, an einem einzigen Tag des Lebens, auf einer Hochzeitsfeier? (Denn offensichtlich kommt es aufs Gleiche hinaus, ob man diese Summe auf einen Schlag für die eigene Hochzeit ausgibt oder nach und nach auf den Hochzeitsfeiern seiner Freunde.)
Es ist sehr unklug, es ist tragisch – doch ach, es ist so schön? Alles andere haben diese armen Menschen Stück um Stück aufgeben müssen, aber hieran hängen sie mit allen Fasern ihres Herzens – auf die Veselija können sie nicht verzichten? Denn das hieße nicht nur geschlagen werden, sondern sich geschlagen geben, und gerade der Unterschied zwischen beidem hält ja die Welt in Gang. Die Veselija ist ihnen aus alten Zeiten überkommen, und was sie bedeutet, ist dies: Der Mensch mag wohl in der Höhle sitzen und auf die Schatten starren, wenn er nur ein einziges Mal im Leben seine Ketten zerreißen, seine Schwingen rühren und die Sonne sehen kann; wenn er nur ein einziges Mal im Leben Zeugnis ablegen kann, dass das Leben mit all seinen Nöten und Ängsten doch nicht so wichtig ist, sondern nur eine Luftblase auf den Fluten eines Stroms, ein Etwas, mit dem man Fangeball spielen kann wie ein Jongleur mit seinen goldenen Kugeln, etwas, was sich schlürfen lässt wie ein Pokal edlen Rotweins. Wer sich in dieser Weise einmal als Herr des Daseins gefühlt hat, der kann zurückkehren in die Tretmühle und ein Leben lang von der Erinnerung zehren.
Unaufhörlich drehten sich die Paare im Kreise – und überkam sie der Schwindel, so drehten sie sich andersherum. Stunde um Stunde ging das nun schon – die Dunkelheit war hereingebrochen, und zwei blakende Petroleumlampen tauchten den Raum in trübes Licht. Die Musikanten hatten mit der Zeit all ihren Schwung verloren und spielten nur noch eine einzige Melodie, müde und abgekämpft. An die 20 Takte waren es, und wenn sie damit fertig waren, fingen sie wieder von vorn an. Etwa alle zehn Minuten setzten sie ab und ließen sich erschöpft zurückfallen, worauf es unweigerlich zu einer peinlichen, stürmischen Szene kam, die den dicken Polizisten auf seinem Schlummerplätzchen hinter der Tür beunruhigt hochfahren ließ.