Natasha Pulley

Der Uhrmacher in der Filigree Street

Roman

Aus dem Englischen von
Jochen Schwarzer

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Watchmaker of Filigree Street« im Verlag Bloomsbury Publishing Plc, London, New York

© 2015 by Natasha Pulley

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Daten des Originalverlags

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98475-0

E-Book ISBN 978-3-608-11682-3

Für Claire

TEIL EINS

EINS

LONDON, NOVEMBER 1883

In der Telegrafieabteilung des Innenministeriums roch es immer ein wenig nach Tee. Quell dessen war ein Päckchen Lipton’s, das sich hinten in Nathaniel Steepletons Schreibtischschublade befand. Bevor der elektrische Telegraf allgemein in Gebrauch gekommen war, hatte dieser Raum als Abstellkammer gedient. Thaniel hatte gelegentlich munkeln hören, die Abteilung sei nie erweitert worden, weil der Innenminister Neuerungen der Marine prinzipiell misstraute. Doch auch wenn dem nicht so war, hatte das Budget nie dafür gereicht, auch nur den ursprünglichen Teppich zu ersetzen, dem noch Gerüche längst vergangener Zeiten anhafteten. Neben Thaniels modernem Tee roch es daher auch nach Putzmitteln und Sackleinen und manchmal gar nach Lack, obwohl dort schon jahrelang nichts mehr lackiert worden war. Statt Besen und Bürsten standen dort nun zwölf Telegrafen auf einem langen Pult aufgereiht. Tagsüber kümmerte sich je ein Telegrafist um drei der Apparate, deren Gegenstellen in oder außerhalb von Whitehall irgendein längst vergessener Staatsdiener handschriftlich auf ihnen vermerkt hatte.

In dieser Nacht schwiegen die Telegrafen. Von sechs Uhr abends bis Mitternacht blieb ein Telegrafist im Büro, um dringende Nachrichten entgegenzunehmen, doch in seinen drei Dienstjahren in Whitehall hatte Thaniel nie erlebt, dass nach acht noch etwas kam. Einmal hatte das Außenministerium ein seltsames, sinnleeres Rattern gesandt, aber das war ein Missgeschick gewesen: Am anderen Ende hatte sich jemand versehentlich auf die Tasten gesetzt – und sich dann auf und ab bewegt. Thaniel hatte tunlichst nicht weiter nachgefragt.

Etwas steif im Nacken drehte er sich auf seinem Stuhl von rechts nach links und schob das Buch, in dem er las, auf dem Tisch zurecht. Die Leitungen der Telegrafen verliefen durch Löcher im Pult zum Fußboden hinab, alle zwölf genau dort, wo eigentlich die Knie der Telegrafisten hingehörten. Der Bürovorsteher lamentierte gern, so seitwärts sitzend sähen sie wie höhere Töchter aus, die gerade Reitunterricht erhielten. Weit mehr aber lamentierte er, wenn einmal ein Telegrafendraht riss, denn es war kostspielig, sie zu ersetzen. Vom Boden des Telegrafieraums aus verliefen die Leitungen im Gebäude hinab und dann spinnwebförmig nach ganz Westminster hinaus. Eine führte ins Außenministerium, das sich gleich nebenan befand, und eine weitere zum Telegrafieraum des Parlaments. Zwei schlossen sich den Kabelsträngen längs der Straße an, bis sie zum Hauptpostamt in St Martin’s Le Grand gelangten. Die übrigen führten direkt zur Residenz des Innenministers, zu Scotland Yard, zum India Office, zur Admiralität und zu weiteren untergeordneten Behörden. Einige der Leitungen waren im Grunde nicht nötig, denn es wäre schneller gegangen, sich aus einem Bürofenster zu lehnen und die Nachricht hinüberzurufen. Das aber wäre, meinte der Vorsteher, nicht gentlemanlike.

Der leicht verbogene Minutenzeiger von Thaniels Uhr, der bei der Zwölf immer ein wenig hängen blieb, zeigte Viertel nach zehn. Zeit für eine Teepause. Den Tee hob er sich für die Nächte auf. Es war schon seit dem späten Nachmittag dunkel, und im Büro war es inzwischen so kalt, dass er seinen Atem sah und die Messingtasten der Telegrafen beschlugen. Da war es wichtig, etwas Warmes zu haben, auf das man sich freuen konnte. Er nahm den Lipton’s heraus, steckte das Päckchen in seinen Teebecher, klemmte sich die gestrige Ausgabe der Illustrated London News unter den Arm und ging zu der eisernen Wendeltreppe.

Die Stufen gaben, als er hinabging, bei jedem Schritt ein leuchtend gelbes Dis von sich. Er hätte nicht sagen können, warum ein Dis gelb war. Andere Töne hatten eigene Farben. Als er noch Klavier gespielt hatte, war das hilfreich gewesen, denn wenn er sich einmal verspielte, nahm der jeweilige Ton eine bräunliche Färbung an. Er hatte nie jemandem erzählt, dass er Töne sehen konnte. Gelb klingende Treppenstufen, das hätte verrückt gewirkt, und entgegen dem, was oft in der Zeitung stand, war es bei der Regierung Ihrer Majestät verpönt, Personen zu beschäftigen, die offenkundig geistesgestört waren.

Der große Herd in der Kantine erkaltete nie, denn selbst zwischen den Spät- und Frühschichten blieb der Kohlenglut keine Gelegenheit, vollends zu erlöschen. Als Thaniel sie schürte, erwachte sie aufflackernd zum Leben. Dann lehnte er sich an einen Tisch, wartete darauf, dass das Wasser kochte, und betrachtete derweil sein verzerrtes Spiegelbild auf dem bronzefarbenen Kessel, der sein Gesicht, das vorwiegend grau war, in viel wärmeren Farbtönen erscheinen ließ.

Als er die Zeitung aufschlug, raschelte sie in der Nachtstille. Er hatte auf irgendein interessantes militärisches Schlamassel gehofft, aber es gab nur einen Bericht über Parnells jüngste Rede vor dem Unterhaus. Thaniel senkte die Nase in seinen Schal. Wenn er sich ein wenig Mühe gab, konnte er die Teezubereitung auf fünfzehn Minuten ausdehnen, was zumindest eine der acht Stunden, die er noch abzuleisten hatte, merklich verkürzte. Was die übrigen sieben anging, ließ sich nicht viel machen. Es half, wenn er ein halbwegs spannendes Buch dabeihatte und der Presse Besseres einfiel, als sich in leicht missbilligendem Ton mit den irischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu beschäftigen, so als hätte der Clan-na-Gael nicht schon seit Jahren immer wieder Bomben durch die Fenster von Londoner Regierungsgebäuden geworfen.

Er blätterte die restliche Zeitung durch und stieß auf Reklame für die Inszenierung von The Sorcerer im Savoy. Er hatte sie zwar schon gesehen, aber die Vorstellung, noch einmal hinzugehen, munterte ihn auf.

Der Kessel begann zu pfeifen. Schön langsam brühte er seinen Tee auf und trug dann den Becher, den er sich vor die Brust hielt, die gelben Treppenstufen wieder hinauf und in den einsamen Lichtschein seines Büros.

Da klickte einer der Telegrafen.

Thaniel beugte sich über den Apparat, zunächst nur neugierig, bis er sah, dass Great Scotland Yard die Gegenstelle war. Dann beeilte er sich, den Anfang des Papierstreifens zu erhaschen, denn die Maschine zerknüllte ihn fast unweigerlich, wenn man nicht schnell zugriff. Knarrend setzte sie schon dazu an, doch als Thaniel vorsichtig an dem Streifen zog, gab sie nach. Die Punkte und Striche des Morsecodes wirkten zittrig, stammten sichtlich von der Hand eines älteren Mannes.

Fenier— haben mir eine Nachricht hinterlassen mit der Drohung—

Der Rest ratterte immer noch durch die Mechanik, was kleine Sternchen durch den düsteren Raum huschen ließ. Bald erkannte Thaniel den Stil seines Gegenübers. Superintendent Williamson morste ebenso stockend, wie er sprach. Als der Rest der Nachricht dann zum Vorschein kam, war er abgehackt und voller Pausen.

—von Bombenanschlägen auf alle ö—ffentlichen Gebäude am— 30. Mai 1884. In genau sechs Monaten. Williamson.

Thaniel zog den Apparat zu sich heran.

Hier Steepleton, InMin. Bitte letzte Nachricht bestätigen.

Auf die Antwort musste er lange warten.

Habe gerade— Zettel auf meinem Schreibtisch vorgefunden. Bombendrohung. Kündigen an— mich in die Luft zu jagen. Unterzeichnet Clan-na-Gael.

Thaniel stand reglos da, über den Telegrafen gebeugt. Williamson telegrafierte selbst, und wenn er wusste, dass er sein Gegenüber kannte, zeichnete er mit Dolly, so als gehörten sie alle demselben Gentlemen’s Club an.

Geht es Ihnen gut?, fragte Thaniel.

Ja. Ein langes Schweigen. Muss zugeben— ein wenig erschüttert. Gehe jetzt heim.

Gehen Sie nicht allein.

Die werden— mir schon nichts tun. Wenn die sagen Bomben im Mai— gibt’s Bomben im Mai. Das ist der— Clan-na-Gael. Die lauern einem nicht mit Kricketschlägern auf.

Aber warum kam der Zettel jetzt? Könnte ein Trick sein, um Sie zu bestimmter Uhrzeit aus dem Büro zu locken.

Nein, nein. Das soll uns— Angst einjagen. Whitehall soll wissen, was die Stunde geschlagen hat. Wenn genug Politiker um ihr Leben fürchten, gehen sie eher auf irische Forderungen ein. Da steht »öffentliche Gebäude«. Man wird nicht nur einen Tag lang einen großen Bogen ums Parlament machen müssen. An mir sind die nicht interessiert. Glauben Sie mir, ich— kenne diese Leute. Hab genug von denen eingelocht.

Na dann passen Sie auf sich auf, morste Thaniel widerstrebend.

Danke.

Während der Tongeber noch das letzte Wort des Superintendent klickte, riss Thaniel seine Transkription ab und lief damit den dunklen Korridor hinunter, zu einer Tür am anderen Ende, unter der Kaminfeuerschein hervordrang. Er klopfte an und öffnete. Drinnen blickte der Bürovorsteher mürrisch zu ihm hoch.

»Ich bin nicht da. Das ist hoffentlich was Wichtiges.«

»Eine Nachricht von Scotland Yard.«

Der Vorsteher nahm sie unwirsch entgegen. Dies war sein Dienstzimmer, und er hatte auf dem Lehnsessel am Kamin gelesen, Kragen und Binder neben sich auf dem Boden. Es war jeden Abend dasselbe. Er behauptete, dort zu übernachten, weil seine Gattin so laut schnarche, Thaniel aber glaubte allmählich, sie habe ihn längst vergessen und schon die Schlösser ausgetauscht. Nachdem er den Text überflogen hatte, nickte der Vorsteher.

»Also gut. Sie können jetzt nach Hause gehen. Ich sage dem Minister Bescheid.«

Thaniel nickte und eilte hinaus. Er war noch nie vorzeitig nach Hause geschickt worden, nicht mal, wenn er krank war. Als er seinen Mantel und Hut holte, hörte er am Ende des Korridors erhobene Stimmen.

Er wohnte in einer Pension gleich nördlich der Strafanstalt Millbank, so nah an der Themse, dass der Keller jeden Herbst unter Wasser stand. Nachts war es unheimlich, von Whitehall dorthin zu Fuß zu gehen. Unter den Gaslaternen drifteten Nebelschwaden über die dunklen Fenster der geschlossenen Läden, die zusehends schäbiger wurden, je näher er seiner Unterkunft kam. Es war ein so schleichender Verfall, als ginge er vorwärts durch die Zeit und sähe die Häuser bei jedem Schritt um fünf Jahre altern, wobei eine museumshafte Stille herrschte. Dennoch war er froh, aus dem Büro heraus zu sein. Das Innenministerium war das größte öffentliche Gebäude in London und würde im Mai eines der Anschlagziele sein. Er wandte den Kopf zur Seite, als könnte er dem Gedanken dadurch ausweichen, und vergrub die Hände tiefer in den Taschen. Im vorigen März hatten irgendwelche Iren versucht, eine Bombe durch ein Fenster im Erdgeschoss zu schleudern. Der Wurf ging fehl, und sie sprengten nur ein paar Fahrräder unten auf der Straße in die Luft, doch im Telegrafiebüro hatte die Detonation den Fußboden zum Erbeben gebracht. Das war allerdings nicht der Clan-na-Gael gewesen, sondern nur ein paar wütende Jungs mit ein paar geklauten Stangen Dynamit.

Unter dem breiten Vordach der Pension schlief der Bettler, der dort seinen Stammplatz hatte.

»Guten Abend, George.«

»Nambd«, grummelte der.

Drinnen stieg Thaniel ganz leise die hölzerne Treppe hinauf, denn das Haus hatte dünne Wände. Sein Zimmer befand sich im dritten Stock, zum Fluss hinaus. Die Pension machte zwar äußerlich einen düsteren Eindruck – von der ewigen Feuchtigkeit und dem Nebel waren die Außenmauern mit Schimmel überzogen –, wirkte innen aber deutlich angenehmer. Die einzelnen Zimmer waren schlicht, aber reinlich und verfügten jeweils über ein Bett, einen Herd und einen Ausguss mit fließend Wasser. Die Wirtin vermietete ausschließlich an unverheiratete Männer, und ein Zimmer inklusive einer Mahlzeit pro Tag kostete jährlich fünfzig Pfund. Es war im Grunde ganz ähnlich wie bei den Strafgefangenen nebenan, und das stieß Thaniel gelegentlich bitter auf, denn er hatte es im Leben eigentlich weiter bringen wollen als ein Zuchthäusler. Oben auf dem Treppenabsatz angelangt, sah er, dass seine Tür einen Spaltbreit offen stand.

Er hielt inne und lauschte. Er besaß nichts Stehlenswertes, auch wenn die verschlossene Kiste unter seinem Bett auf den ersten Blick wertvoll wirken mochte. Ein Einbrecher konnte ja nicht wissen, dass sich darin nur Noten befanden, die er seit Jahren nicht angerührt hatte.

Er hielt den Atem an, um besser hören zu können. Alles war still, aber im Zimmer hätte ja auch jemand den Atem anhalten können. Nachdem er eine ganze Zeit lang so dagestanden hatte, stupste er mit den Fingerspitzen die Tür auf und wich schnell wieder zurück. Niemand kam heraus. Die Tür wegen des Lichts offen lassend, nahm er ein Streichholz von der Anrichte und riss es an der Wand an. Während er das Hölzchen an den Lampendocht hielt, kribbelte ihm der Nacken, in der Gewissheit, dass sich gleich jemand an ihm vorbeidrängen würde.

Als die Lampe aufleuchtete, war niemand im Zimmer.

Er stand da, mit dem Rücken zur Wand, das heruntergebrannte Streichholz in der Hand. Alles schien an seinem Platz zu sein. Der Streichholzkopf zerbröckelte und fiel aufs Linoleum hinab, wo er einen Rußfleck hinterließ. Thaniel sah unter dem Bett nach. Die Notenkiste war nicht angerührt. Auch seine Ersparnisse nicht, die er unter einem losen Dielenbrett für seine Schwester verwahrte. Erst als er das Brett wieder eingesetzt hatte, fiel ihm auf, dass der Wasserkessel ein wenig dampfte. Vorsichtig legte er die Fingerspitzen daran. Er war tatsächlich warm, und als er die Herdklappe öffnete, glomm ihm Kohlenglut entgegen.

Der Abwasch, der auf der Arbeitsplatte gestanden hatte, war verschwunden. Verdutzt hielt Thaniel inne. Das musste ja ein sehr verzweifelter Einbrecher gewesen sein, wenn er ungespültes Geschirr mitnahm. Thaniel sah im Küchenschrank nach, ob auch das Besteck fehlte, fand dort aber die fehlenden Teller und Schalen, abgespült und aufgestapelt. Sie waren noch warm. Er wandte sich ab und durchsuchte noch einmal das ganze Zimmer. Nichts fehlte, jedenfalls fiel ihm nichts auf. Anschließend ging er, immer noch verwirrt, wieder nach unten. Die Kälte draußen fühlte sich beißender an als Minuten zuvor. Sie drang ihm entgegen, als er die Haustür öffnete, und er schlang die Arme um sich und trat hinaus. George schlief immer noch neben dem Eingang.

»George! George«, sagte er, rüttelte ihn ein wenig und hielt den Atem an. Der alte Mann stank nach ungewaschenen Kleidern und Tierfellen. »Bei mir ist eingebrochen worden. Waren Sie das?«

»Du hast doch gar nichts, was einer klauen würde«, knurrte George mit einer Gewissheit, auf die Thaniel in diesem Moment lieber nicht einging.

»Haben Sie jemanden gesehen?«

»Könnte schon sein …«

»Ich habe …«, Thaniel suchte in seinen Taschen, »… vier Pence und ein Gummiband.«

George seufzte und richtete sich in seinem Nest aus schmutzigen Decken auf, um die Münzen entgegenzunehmen. Irgendwo unter dem Wust quiekte sein Frettchen. »Ich hab’s nich richtig gesehen, klar? Ich hab geschlafen. Hab’s zumindest versucht.«

»Und was haben Sie gesehen?«

»Ein Paar Stiefel.«

»Ah«, sagte Thaniel. George war schon zu Anbeginn der Zeit nicht mehr der Jüngste gewesen, und so lästig er auch war, musste man doch gewisse Rücksichten nehmen. »Aber hier wohnen ja viele Leute.«

George warf ihm einen gereizten Blick zu. »Wenn du den lieben langen Tag hier auf dem Boden hocken würdest, würdest du auch wissen, was für Stiefel ihr alle so tragt, und braune hat keiner von euch.«

Thaniel war den meisten seiner Nachbarn nie begegnet, war aber geneigt, ihm zu glauben. Soweit er wusste, waren sie alle Büroangestellte; wie er selbst gehörten sie zu den Heerscharen von Männern in schwarzem Gehrock und schwarzem Hut, die London allmorgend- und allabendlich für eine halbe Stunde überschwemmten. Unwillkürlich blickte er auf seine eigenen schwarzen Schuhe hinab. Sie waren nicht mehr die neusten, aber auf Hochglanz gewienert.

»Haben Sie sonst noch irgendwas gesehen?«, fragte er.

»Himmelherrgott noch mal, was hat er denn so Wichtiges geklaut?«

»Nichts.«

George schnaubte. »Was kümmert’s dich dann? Es ist spät. Manche von uns brauchen noch ’ne Mütze Schlaf, bevor uns der Wachtmeister in aller Herrgottsfrüh wieder verscheucht.«

»Ach, jammern Sie nicht. Sie sind doch im Handumdrehen wieder hier. Eine geheimnisvolle Person bricht bei mir ein, macht den Abwasch und nimmt nichts mit. Ich will wissen, was dahintersteckt.«

»War bestimmt deine Mutter …«

»Nein.«

George seufzte. »Kleine braune Stiefel. Irgend ’ne ausländische Schrift auf dem Hacken. Vielleicht eher ein Knabe als ein Mann.«

»Ich will meine vier Pence zurück.«

»Verfatz dich«, gähnte George und legte sich wieder hin.

Thaniel eilte auf die leere Straße hinaus, in der vagen Hoffnung, dort irgendwo einen Jungen in braunen Stiefeln zu erblicken. Der Boden bebte, als unter ihm ein Spätzug passierte und durch das Gitter im Gehsteig eine Dampfwolke heraufstieß. Dann ging er langsam wieder zurück ins Haus. Die Treppe erklomm er immer zwei Stufen auf einmal, was er nach drei Etagen in den Oberschenkeln spürte.

Zurück in seinem Zimmer öffnete er die Herdklappe erneut, ließ sich, noch im Mantel, auf der Bettkante nieder und reckte die Hände in Richtung Glut. Da bemerkte er etwas Dunkles neben sich. Er erstarrte, denn im ersten Moment hielt er es für eine Maus, aber es regte sich nicht. Nein, es war eine kleine Samtschatulle mit einer weißen Schleife darum. Er hatte sie nie zuvor gesehen. Er nahm sie in die Hand. Sie war schwer. An dem Schleifenband hing ein rundes Etikett, das mit einem Laubmuster verziert war. In schöner Handschrift stand darauf: »Für Mr Steepleton«. Er löste die Schleife und klappte die Schatulle auf. Ihr Scharnier war ein wenig steif, quietschte aber nicht. Im Innern lag eine Taschenuhr.

Vorsichtig nahm er sie heraus. Das Gehäuse war aus einem roséfarbenen Gold, das er noch nie gesehen hatte. Die Uhrkette glitt geschmeidig hinterher. Ihre einzelnen Glieder waren makellos glatt und ließen an keiner haarfeinen Lücke oder Lötstelle erkennen, wo sie zusammengefügt waren. Thaniel ließ sich die Kette durch die Finger laufen, bis der Federring am Ende gegen seinen Manschettenknopf klickte. Als er auf den Knopf der Taschenuhr drückte, ließ sich der Deckel nicht öffnen. Er hielt sich die Uhr ans Ohr, aber sie gab nicht den leisesten Laut von sich, und die Krone ließ sich auch nicht drehen. Irgendwo in ihrem Innern musste aber ein Uhrwerk gearbeitet haben, denn trotz der feuchten Kälte war das Gehäuse warm.

»Heute ist doch dein Geburtstag«, sagte er mit einem Mal in das leere Zimmer hinein. Dann ließ er die Schultern hängen und kam sich sehr dumm vor. Annabel musste hergekommen sein. Sie kannte seine Adresse aus seinen Briefen, und er hatte ihr für Notfälle einen Schlüssel geschickt. Da sie kein Geld für eine Zugfahrkarte hatte, war er immer davon ausgegangen, dass ihr Versprechen, ihn einmal in London zu besuchen, nur eine schwesterliche Floskel war. Georges geheimnisvoller Knabe war wahrscheinlich einer ihrer Söhne. Die schöne Handschrift auf dem Etikett hätte sie schon eher verraten, wäre er nicht so müde und abgelenkt gewesen. Sie hatte früher, wenn der alte Herzog ein festliches Abendessen gab, immer die Platzkärtchen beschriftet, obwohl das eigentlich Aufgabe des Butlers war. Thaniel erinnerte sich, wie er damals an ihrem Küchentisch Rechenaufgaben erledigt hatte, als er noch so klein war, dass seine Füße nicht auf den Boden reichten, und sie hatte ihm gegenübergesessen und war mit ihrer guten Feder über die Kärtchen gefahren, während ihr Vater an einem kleinen Schraubstock Angelfliegen band.

Er hielt die Uhr noch einen Moment lang in der Hand und legte sie dann auf den Holzstuhl neben dem Bett, der ihm als Ablage für Kragen und Manschettenknöpfe diente. Das goldene Gehäuse fing den Glutschein ein und leuchtete in der Farbe einer menschlichen Stimme.

ZWEI

Am nächsten Tag grübelte Thaniel lange darüber nach, wie noch mal der Fachbegriff für die Angst vor großen Maschinen war. Es fiel ihm nicht mehr ein, aber in seiner ersten Zeit in London hatte er jedenfalls daran gelitten. Am schlimmsten war es immer an Bahnübergängen unweit von Bahnhöfen, wo die riesigen Lokomotiven Dampf fauchend zum Stehen kamen, nur zehn Fuß entfernt von den Leuten, die sich einen Weg über die Gleise bahnten. Das Gleisgewirr bei der Victoria Station war immer noch alles andere als sein Lieblingsort. Damals hatte es Dutzende derartige kleine Dinge gegeben, Dinge, die keine Rolle spielten, bis mal etwas schiefging, wie dass man sich beispielsweise verlief, woraufhin sie, die sich stets an jeden Gedanken hefteten, das Denken an sich viel schwieriger machten, als es anderswo gewesen wäre.

Er war sich sicher, dass mit Annabel alles in Ordnung war. Sie war schon immer ein pragmatischer Mensch gewesen, auch schon bevor sie ihre Söhne bekommen hatte. Allerdings war sie nie zuvor in London gewesen und hatte weder bei der Pensionswirtin noch am Empfang des Innenministeriums eine Nachricht hinterlassen.

Mehr um sein Unbehagen zu lindern als tatsächlich aus Angst um sie, schickte er von seinem Arbeitsplatz aus ein Telegramm an ihr Postamt in Edinburgh, für den Fall, dass sie schon wieder hatte heimreisen müssen. Für den Fall, dass nicht, kaufte er auf dem Heimweg Kekse und Zucker, um ihr einen anständigen Tee anbieten zu können. Der Krämer am Ende der Whitehall Street hatte neuerdings schon in den frühen Morgenstunden geöffnet, damit die heimgehenden Nachtarbeiter bei ihm einkaufen konnten.

Als Thaniel nach Hause kam, war Annabel nicht da, als er dann aber gerade beim Kochen war, klopfte es leise an der Tür. Er öffnete, die Hemdsärmel noch hochgekrempelt, und wollte sich schon dafür entschuldigen, dass es um neun Uhr früh bei ihm nach Abendessen roch. Vor ihm stand aber nicht Annabel, sondern ein Bursche mit einem Abzeichen der Post und einem Kuvert, der ihm ein Klemmbrett zum Unterzeichnen hinhielt. Das Telegramm kam aus Edinburgh.

Was soll das heißen? Bin in Edinburgh wie immer. War nie weg. Ministerium hat dich wohl endgültig in den Wahnsinn getrieben. Werde dir Whisky schicken. Soll ja hilfreich sein. Alles Gute zum Geburtstag. Tut mir leid, dass ich das wieder vergessen habe. Viele Grüße, A.

Er legte das Blatt mit der Schrift nach unten neben sich ab. Die Uhr lag immer noch auf dem Stuhl, wo er sie zurückgelassen hatte. Ihr Gehäuse war von dem Dampf aus dem Kochtopf beschlagen, aber das Gold summte dennoch in seiner Stimmfarbe.

Am nächsten Morgen ging er auf dem Weg zur Arbeit aufs Polizeirevier, ganz konfus durch den Schichtwechsel, der ihm in der Wochenmitte immer das Leben schwer machte. Der diensthabende Beamte schnaubte nur verächtlich und fragte nicht ganz zu Unrecht, ob nicht vielleicht Robin Hood der Übeltäter sein könne. Thaniel nickte und lachte, doch als er ging, war das schleichende Unbehagen wieder da. Im Büro kam er in einer Teepause auf die Sache zu sprechen. Seine Telegrafistenkollegen bedachten ihn nur mit seltsamen Blicken und gaben lediglich vage interessierte Laute von sich. Danach hielt er sich bedeckt. In den nächsten Wochen wartete er darauf, dass sich jemand dazu bekennen würde, was aber nicht geschah.

Das Knarren der Schiffe vor seinem Fenster bemerkte er normalerweise gar nicht. Diese Geräusche waren immer da, nur lauter bei Flut als bei Ebbe. Doch eines kalten Morgens im Februar verstummten sie. Die Schiffsrümpfe waren über Nacht im Flusseis festgefroren. Von dieser Stille wurde er wach. Er lag reglos lauschend im Bett und betrachtete die Wolken seines Atems. Nur der Wind pfiff leise durch den hier und da undichten Fensterrahmen. Die Fensterscheibe war größtenteils beschlagen, und er sah nur ein Stück von einem aufgerollten Segel. Das Segeltuch bewegte sich nicht mal, als sich das Pfeifen des Winds zu einem Fauchen auswuchs. Als der Wind wieder abflaute, hörte er sonst nichts mehr. Er blinzelte, dann noch einmal, denn alles wirkte mit einem Mal zu fahl.

An diesem Tag hatte die Stille einen silbernen Saum. Er drehte den Kopf auf dem Kissen zu dem Stuhl mit den Kragen und Manschettenknöpfen hin, und ein leises Geräusch wurde deutlicher hörbar. Das Äußere der Bettdecke fühlte sich klamm an, als er den Arm ausstreckte, um die Taschenuhr emporzuheben. Sie war wie immer deutlich wärmer, als sie hätte sein dürfen. Als er sie zur Hand nahm, wäre die Kette fast von der Stuhlkante gerutscht, aber sie war lang genug, um nicht hinunterzufallen, und bildete ein goldenes, durchhängendes Seil.

Als er sich die Uhr ans Ohr hielt, konnte er das Uhrwerk arbeiten hören. Es war so leise, dass er nicht hätte sagen können, ob es gerade erst angesprungen war oder schon die ganze Zeit gearbeitet hatte und nur von anderen Dingen übertönt worden war. Er hielt sich die Uhr ans Hemd, bis er das Uhrwerk nicht mehr hören konnte, hob sie dann wieder an und versuchte, das Geräusch mit seiner Erinnerung an die gestrige Version der Stille und ihre Schattenfarben zu vergleichen. Schließlich setzte er sich auf und drückte auf den Verschlussknopf. Der Deckel ließ sich immer noch nicht öffnen.

Thaniel stand auf und zog sich an, hielt dann aber mit halb zugeknöpftem Hemd inne. Er wusste nicht, ob es überhaupt möglich war, dass ein Uhrwerk nach zwei Monaten Stillstand von selbst wieder zu arbeiten begann. Darüber dachte er immer noch nach, als sein Blick auf den Türriegel fiel. Er war nicht vorgelegt. Thaniel betätigte den Türgriff. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er öffnete sie. Auf dem Korridor war niemand zu sehen, aber still war es nicht; Wasser gurgelte in den Rohren, und Schritte und leises Poltern waren zu hören, während sich seine Nachbarn bereit machten, zur Arbeit zu gehen. Seit dem Einbruch im November hatte Thaniel seine Zimmertür kein einziges Mal unverschlossen gelassen, jedenfalls nicht, dass er wusste; allerdings neigte er gelegentlich zu spektakulärer Schusseligkeit. Er machte die Tür wieder zu.

Auf dem Weg nach draußen blieb er stehen, pochte mit den Fingerknöcheln nachdenklich an den Türrahmen und ging noch einmal hinein, um die Uhr mitzunehmen. Falls sich tatsächlich jemand daran zu schaffen machte, hätte er es ja noch erleichtert, wenn er die Uhr den ganzen Tag in seinem Zimmer liegen ließ. Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um, auch wenn Gott allein wusste, was für eine Art von Einbrecher das war, der noch einmal wiederkam, um zuvor hinterlegte Geschenke nachträglich zu justieren. Jedenfalls nicht die Art, die mit Kricketschläger und Maske kam – doch andererseits kannte er sich auf diesem Gebiet ja schließlich überhaupt nicht aus. Er wünschte nur, der Polizist hätte nicht so lauthals gelacht.

Der offene Türriegel spukte ihm immer noch im Kopf herum, als er schließlich die gelbe Wendeltreppe hinaufstieg und sich dabei aus seinem Schal schälte. Von der Kälte und dem vielen Morsen waren seine Fingerspitzen ganz rauh und blieben ständig an der Wolle hängen. Auf halber Höhe kam ihm der Bürovorsteher entgegen und hielt ihm ein Bündel Papiere hin.

»Für Ihr Testament«, erklärte er. »Spätestens Ende nächsten Monats, verstanden? Sonst ersticken wir in dem ganzen Papierkram. Und kümmern Sie sich um Park, ja?«

Verwirrt ging Thaniel weiter zur Telegrafieabteilung, wo sein jüngster Kollege in Tränen ausgebrochen war. Er blieb in der Tür stehen und kramte etwas hervor, das zumindest nach Mitgefühl aussah. Thaniel war der festen Überzeugung, dass ein Soldat, der einen chirurgischen Eingriff überlebt hatte, oder ein Bergmann, der aus einem eingestürzten Schacht gehievt worden war, das Recht hatte, anschließend öffentlich Tränen zu vergießen. Nicht im Mindesten überzeugt aber war er, dass jemand, der als Büroangestellter im Innenministerium tätig war, irgendeinen Grund zum Weinen hatte. Er war sich allerdings auch bewusst, dass es wahrscheinlich recht unfair war, so zu denken. Als Thaniel fragte, was denn sei, sah Park zu ihm hoch.

»Warum müssen wir unser Testament machen? Werden wir alle bombardiert?«

Thaniel nahm ihn auf eine Tasse Tee mit nach unten. Als sie wieder ins Büro zurückkamen, fanden sie die anderen Telegrafisten in ähnlicher Verfassung vor.

»Was ist denn hier los?«, fragte Thaniel.

»Haben Sie diese Testamentsformulare gesehen?«

»Das ist weiter nichts als eine Formalität. Da würde ich mir keine Sorgen machen.«

»Wurden die früher schon mal ausgeteilt?«

Da musste Thaniel lachen, riss sich dann aber zusammen. »Nein, aber die überschütten uns doch ständig mit unnützen Formularen. Erinnern Sie sich noch an das, mit dem wir verpflichtet wurden, keine Geheimnisse unserer Marine an den preußischen Geheimdienst zu verkaufen? Nur für den Fall, dass wir mal einem preußischen Agenten über den Weg laufen sollten … Denn die treiben sich ja wahrscheinlich immer in der Nähe der Teebude kurz vorm Trafalgar Square rum, wo’s auch den scheußlichen Kaffee gibt … Also, ich gehe mal davon aus, dass wir da alle seitdem sehr auf der Hut sind. Unterschreiben Sie’s einfach, und wenn Mr Croft das nächste Mal reinkommt, drücken Sie’s ihm in die Hand.«

»Was nehmen Sie denn in Ihr Testament auf?«

»Gar nichts. Ich besitze nichts, für das sich jemand interessieren würde«, sagte er. Dann aber wurde ihm klar, dass das nicht stimmte. Er zog die Taschenuhr hervor. Sie war aus echtem Gold.

»Danke, dass Sie sich ein bisschen um mich gekümmert haben«, sagte Park. Er faltete ein Taschentuch zusammen und fing immer wieder von vorne damit an. »Sie sind wirklich ein guter Kerl. Es ist, als ob ich meinen Vater hier hätte.«

»Nicht der Rede wert«, murmelte Thaniel, aber es versetzte ihm einen leichten Stich. Fast hätte er gesagt, dass er nicht viel älter sei als die anderen, sah dann aber ein, dass es unfair gewesen wäre. Es spielte keine Rolle, wie viel älter er war. Er war älter; und selbst wenn sie alle gleich alt gewesen wären, wäre er dennoch der Älteste von ihnen.

Sie zuckten zusammen, als alle zwölf Telegrafen zu rattern begannen. Unter dem Ansturm der Nachrichten zerknüllten die Papierstreifen, und alle griffen schnell zu ihren Bleistiften, um den Code mitzuschreiben. Und weil sich seine Kollegen auf einzelne Buchstaben konzentrierten, hörte Thaniel als Erster, dass die Apparate alle dasselbe verkündeten.

Eilmeldung, Bombe explodiert in—

Victoria Station zerstört—

—Bahnhof schwer beschädigt—

—in Garderobe versteckt—

—ausgeklügelter Zeitzünder in der Garderobe—

Victoria Station—

—Beamte im Einsatz, Tote und Verletzte—

—Clan-na-Gael.

Thaniel rief nach dem Bürovorsteher, der angelaufen kam und dann wie vom Donner gerührt dastand, mit einem großen Teefleck auf der Weste. Sobald er verstanden hatte, worum es ging, wurde der restliche Tag damit verbracht, Nachrichten zwischen den einzelnen Abteilungen des Innenministeriums und Scotland Yard hin und her zu jagen und der Presse jeglichen Kommentar zu verweigern. Thaniel hatte keine Ahnung, wie sie es schafften, direkte Leitungen innerhalb von Whitehall anzuzapfen, aber irgendwie kriegten sie es immer hin. Vom Ende des Korridors her ertönte Gebrüll. Das war der Innenminister, der den Herausgeber der Times anschrie, seine Reporter sollten aufhören, die Leitungen zu blockieren. Als die Schicht zu Ende war, taten Thaniel die Sehnen im Handrücken weh, und von den kupfernen Tasten rochen seine Finger wie nach Münzgeld.

Ohne es abgesprochen zu haben, gingen sie nach Dienstschluss nicht getrennter Wege, sondern gemeinsam in Richtung Victoria Station. Da der Zugverkehr vorerst eingestellt war, wimmelte es auf den Straßen von Menschen, und als sie dem Bahnhofsgebäude näher kamen, lagen überall Ziegelsteine herum. Da die Passanten vor allem wissen wollten, wann die Züge wieder fahren würden, war es nicht schwer, zu der zerstörten Bahnhofsgarderobe vorzudringen. Die Balken dort waren zerfetzt, als wäre irgendein monströses Wesen aus dem Raum ausgebrochen. Mitten in all der Zerstörung lag ein unversehrter Zylinder, und ein roter Schal haftete mit einer grauen Reifschicht an einigen Ziegeln. Polizisten räumten mit dampfendem Atem Trümmer von draußen nach drinnen. Nach einer Weile blickten sie argwöhnisch zu den vier Telegrafisten hinüber. Thaniel wurde klar, dass sie einen seltsamen Anblick boten: vier magere Büroangestellte in Schwarz, die dort in einer Reihe standen und viel länger verharrten als alle anderen. Anschließend trennten sich ihre Wege. Statt direkt nach Hause zu gehen, drehte Thaniel eine Runde im St James’s Park, ergötzte sich an dem beinahe grünen Gras und den leeren, frisch geharkten Blumenbeeten. Das Gelände dort war jedoch so offen, dass die prachtvollen Fassaden der Admiralität und des Innenministeriums immer noch nah wirkten. Er wünschte sich einen richtigen Wald herbei. Dieser Gedanke weckte in ihm das Verlangen, zu Besuch nach Lincoln zu fahren, doch im Cottage des Wildhüters wohnte nun ein anderer Mann, und im Herrenhaus residierte ein neuer Herzog.

Auf Umwegen ging er nach Hause und machte dabei einen großen Bogen um das Parlament.

»Hast du gesehen?«, fragte George, der Bettler, und hielt ihm, als er vorbeiging, eine Zeitung hin. Auf der ersten Seite prangte ein großes Bild des zerbombten Bahnhofs.

»Gerade eben.«

»Was sind das bloß für Zeiten, hä? Also, in meiner Jugend hat’s so was nich gegeben.«

»Damals haben sie bloß die ganzen Katholiken verbrannt, nicht wahr …«, erwiderte Thaniel. Er betrachtete das Bild. Es in der Zeitung zu sehen, ließ es realer wirken als durch eigenen Augenschein, und mit einem Mal ärgerte er sich über sich selbst. Sie waren angewiesen worden, ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, das hieß, in einen Zustand, aus dem ihre Angehörigen schlau werden konnten, falls ihnen im Mai etwas zustieß. Annabel würde niemals seine Taschenuhr verkaufen, selbst wenn sie es kaum schaffte, passende Kleidung für ihre Söhne zu besorgen. Es würde nichts nützen, ihr die Uhr zu vermachen.

»Harr, harr, harr«, knurrte George. »Warte, wo willst du hin?«

»Zur Pfandleihe. Hab’s mir anders überlegt.«

Gleich hinter dem Gefängnis gab es einen Pfandleiher, der sich trotz des Abzeichens mit den drei Goldkugeln draußen am Laden als Juwelier bezeichnete.

Das Schaufenster, in dem schäbig wirkender Goldschmuck hing, war mit Reklame für andere Geschäfte und mit Anzeigen von Leuten vollgeklebt, die etwas Gebrauchtes anboten, das zu groß war, um es herzubringen. Ganz zuoberst klebte einer jener polizeilichen Aushänge, die zu Wachsamkeit mahnten. Thaniel fand es selbst ein wenig pedantisch von sich, aber allmählich gingen ihm die Dinger auf die Nerven. Bombenleger schleiften ja schließlich keine Drähte oder Lunten hinter sich her.

»Albern, nicht wahr?«, sagte der Pfandleiher, als er Thaniels Stirnrunzeln bemerkte. »Seit Monaten kleistern die alles damit voll. Ich sage denen ja immer, unsere Bombenleger sind doch alle hinter Schloss und Riegel.« Er deutete mit einer Kopfbewegung zum Gefängnis hinüber. »Aber die hören ja nicht auf mich.« Sogar auf dem Ladentresen klebte einer der Aushänge, und der Pfandleiher zog ihn ab, um zu zeigen, dass sich darunter noch ein weiterer befand. Der Kleister hatte das Papier durchscheinend gemacht, weshalb man auch den dritten Aushang darunter sah, dessen Überschrift wie ein schräger, blasser Schatten der oberen wirkte.

»Die sieht man überall in Whitehall«, sagte Thaniel und zog dann die Taschenuhr hervor. »Was ist die wert?«

Der Pfandleiher warf einen Blick darauf, schaute dann etwas genauer hin und schüttelte den Kopf. »Nein. Von dem nehme ich keine Uhren an.«

»Wie bitte? Von wem?«

Der Pfandleiher guckte gereizt. »Hören Sie, darauf falle ich nicht noch mal herein. Zweimal hat mir vollkommen gereicht, schönen Dank auch. Die Uhr, die sich in Luft auflöst, ein brillanter Trick, mag ja sein, aber damit müssen Sie schon zu jemandem gehen, der den noch nicht kennt.«

»Das ist kein Trick. Wovon reden Sie überhaupt?«

»Wovon ich rede? Ich rede davon, dass diese Uhren nicht verpfändet bleiben, nicht wahr? Jemand versetzt so eine, ich zahle gutes Geld dafür, und am nächsten Tag ist das verdammte Ding verschwunden. Ich habe in der ganzen Stadt davon gehört, es ist nicht nur mir so ergangen. Und Sie verlassen jetzt mein Geschäft, sonst rufe ich die Polizei.«

»Sie haben da doch einen ganzen Schrank voller Uhren, die alle aussehen, als wären sie durchaus verpfändet geblieben«, protestierte Thaniel.

»Aber eine von denen sehen Sie da nicht, nicht wahr? Und jetzt raus mit Ihnen!« Er zog den Griff eines Kricketschlägers unterm Ladentresen hervor.

Thaniel hob die Hände und ging. Draußen spielten einige kleine Jungen Indianer, und er musste ihnen ausweichen. Dann sah er sich noch einmal zu der Pfandleihe um und wollte zurückgehen und sich nach den Namen der Leute erkundigen, die zuvor versucht hatten, so eine Uhr zu versetzen, bezweifelte aber, dass außer einem Hieb mit dem Kricketschläger viel dabei herauskommen würde. Enttäuscht ging er heim und legte die Uhr auf den Stuhl zurück, der ihm als Anziehtisch diente.

Wenn es stimmte, was der Pfandleiher sagte, würde er niemanden finden, der ihm die Uhr abnahm. Eine kribbelnde Anspannung machte sich etwa auf halber Höhe seines Rückgrats bemerkbar, als würde ihm jemand dort eine Fingerspitze wie eine Pistolenmündung zwischen die Wirbel halten. Er fuhr mit der Hand dorthin und drückte mit dem Daumen auf die Stelle. Betrug mit teuren Uhren, so etwas gab es tatsächlich, und er vergaß auch tatsächlich manchmal, seine Zimmertür zu verriegeln. Doch es war ja höchst unwahrscheinlich, dass jemand zweimal bei ihm eingebrochen war, die Uhr aufgezogen und es ihm unmöglich gemacht hatte, sie wieder loszuwerden. Welche Unsummen es allein kosten würde, sämtliche Pfandleiher von ganz London gegen sich aufzubringen. Nein, das konnte nicht sein.

Am nächsten Tag zog Thaniel die Testamentspapiere unter dem Päckchen Lipton’s aus seiner Schreibtischschublade hervor. Er befreite sie von den feinen Teekrümeln, mit denen sie bestäubt waren, und füllte die Formulare gut lesbar aus. Als er die Taschenuhr beschrieb und wo sie zu finden sei, rann ihm ein Tintentropfen die Federspitze hinab und zerplatzte über Annabels Namen. Er schüttelte kurz den Kopf, ging den Rest der unnützen Seiten durch und unterschrieb auf der letzten.

Bald darauf heiterte das Wetter auf. Der Frühling kam, und Thaniel ertappte sich dabei, dass er Butter oder Käse in Geschäften betrachtete und in Gedanken überschlug, ob ihr Haltbarkeitsdatum das seine überstieg. Er brachte ein paar alte Kleider und Kissenbezüge zu dem Armenhaus auf der anderen Seite des Flusses und putzte, als er wiederkam, seine Fensterrahmen von außen.

DREI

OXFORD, MAI 1884

Das akademische Jahr war fast vorbei. Im frühsommerlichen Licht zeigte sich der Sandstein wieder golden und waren die hohen Mauern mit Glyzinien behangen. Unter dem blauen Himmel, die Luft erfüllt vom Geruch des sonnenwarmen Kopfsteinpflasters, rieb sich Grace das Haar und kam sich philisterhaft vor, weil sie sich nach Regen sehnte.

Den Winter über bildete sie sich immer ein, ein Sommermensch zu sein. Doch leider stimmte das nicht, und nach einer Woche gutem Wetter hatte sie die Wärme schon wieder satt. Da der Himmel keinerlei Anstalten machte, sich zu bedecken, hatte sie beschlossen, den Tag mit einem in der Vorwoche bestellten Buch in der Kühle der Bibliothek zu verbringen. Sie plante ein Experiment und wollte herausfinden, wie es zuvor durchgeführt worden war. Bei ihrem Aufbruch hatte das noch wie eine gute Idee gewirkt; jetzt aber, da sie fast schon da war, schwitzte sie und wünschte, dass im Lesesaal Limonade gestattet wäre.

Als sie über den Innenhof der Bodleian Library ging, flatterten in der warmen Brise Plakate an den Mauern, die für College-Bälle und Stücke von Studentenbühnen warben. Letztere waren ihr im Vorjahr durch eine grottenschlechte Inszenierung von Edward II. am Keble College gründlich verleidet worden. Edward war von einem Ordinarius der Altphilologie gespielt worden, Gaveston von einem Studenten. Grace kümmerte es nicht, was Hochschullehrer und -schüler in ihrer Freizeit trieben, sie würde sich aber nie wieder einen Shilling dafür abknöpfen lassen, dabei zuzusehen. So unauffällig wie möglich richtete sie ihren falschen Schnurrbart und schritt dann die Eingangstreppe der Radcliffe Camera hinauf. In deren Untergeschoss befand sich der dunkelste Lesesaal der Universitätsbibliothek. Den Portier am Eingang grüßte sie mit einem Tippen an den Hut. Er beachtete sie gar nicht, sondern eilte los, um eine junge Frau abzufangen, die nicht klug genug gewesen war, um sich aus der Garderobe eines befreundeten Herrn zu bedienen.

»Verzeihung, Miss. Was glauben Sie, wo Sie hingehen?«, fragte er ganz freundlich.

Die Frau blinzelte verdutzt, und dann fiel ihr ein, dass sie keinen männlichen Begleiter bei sich hatte. »Oh, natürlich! Tut mir leid«, sagte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

Grace lüpfte unwillkürlich eine Augenbraue und schritt dann drinnen die Treppe hinab. Sie hatte nie verstanden, warum sich jemand an die Regel hielt, die Frauen ohne männliche Begleitung den Zutritt zu den Bibliotheken verwehrte. Alle, Professoren ebenso wie Studenten und Proktoren, wussten, dass man, wenn auf einem Schild »Betreten des Rasens verboten« stand, halt über den Rasen hüpfte. Wem das nicht klar war, der verstand einfach nicht, wie Oxford tickte.