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DIE AUTORIN

Rachel E. Carter ist die USA-Today-Bestsellerautorin der Fantasy-Jugendbuchserie Magic Academy über Magie, Machtkämpfe und eine große Liebe. Kaffee zu horten, gehört ebenso zu ihren Leidenschaften wie böse Jungs und Helden vom Typ Mr Darcy.

Mehr über die Autorin unter rachelecarter.com

Von Rachel E. Carter sind außerdem bei cbt erschienen:

Magic Academy – Das erste Jahr (31170)

Magic Academy – Die Prüfung (31171)

Magic Academy – Die Kandidatin (31245)

Magic Academy – Der dunkle Prinz (22572)

Mehr zu cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader

EINS

Eigentlich hätte es der schönste Tag meines Lebens sein sollen.

Der Lärm war ohrenbetäubend. Laute Hochrufe, donnernder Applaus, ja sogar hysterisches Schluchzen brandete auf, als Jerars bedeutendste Adelshäuser uns zujubelten – nicht zuletzt, weil sie glaubten, dass unsere Vermählung sie vor der Tyrannei der Caltothen bewahren würde.

Hätten sie doch nur geahnt, dass das alles eine einzige große Lüge war!

Ich rang mir ein zittriges Lächeln ab, während mein Herz in meiner Brust flatterte wie ein verängstigter kleiner Vogel. Über das schmale Podium hinweg, auf dem wir standen, trafen sich Darrens und meine Blicke, und dieser kurze Moment gab mir neue Kraft, um diese Farce hier irgendwie durchzustehen. Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, erschienen winzige Lachfältchen um seine Augen. Bestimmt dachte er, es läge an der Krone aus Hämatit, die der Priester mir gerade aufs Haupt gesetzt hatte.

Der Prinz hatte keinen Grund, mehr hinter meiner Anspannung zu vermuten. Er streckte die Hand aus und zog mich langsam am Ellbogen zu sich, bis wir dicht an dicht standen. Dann sah er mir tief in die Augen und hob mit der anderen Hand mein zitterndes Kinn an.

Unter seinen schwieligen Fingerspitzen brannte meine Haut. Ob ich nun wollte oder nicht – ich fing jedes Mal Feuer, wenn er mich berührte.

Sein warmer Atem streifte mein Ohr, als er sich zu mir herunterbeugte und mir zuflüsterte: »Und jetzt werde ich meine wunderschöne Braut küssen.«

Schon lag sein Mund auf meinem. Er schmeckte nach heißem Zimt und Gewürznelken, und für einen Moment, nur einen kurzen Moment, vergaß ich es. Und das Mädchen schmiegte sich in die Arme des Prinzen, erwiderte seinen Kuss, ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken und errötete heftig, während er sie so ausführlich küsste, dass die Menge ein zweites Mal Beifall klatschte.

Sie war glücklich. In diesem wundervollen, perfekten Augenblick war sie einfach nur glücklich. Es war wie im Märchen. Sie hatte den Jungen, den sie liebte, und mehr brauchte sie nicht.

Hunderte Blütenblätter regneten auf sie herab.

»Lang lebe die Krone!«

Doch als die Rufe ertönten, war das Mädchen schlagartig verschwunden. Der schöne Traum löste sich in Luft auf und das Hochgefühl wich Scham, Schuldgefühlen, Selbsthass, Selbstgeißelung.

Glasscherben zerschnitten mich von innen und ich taumelte zurück und verlor das Gleichgewicht.

Ich konnte nicht so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Nicht vor dem Hintergrund, dass unsere Zukunft nichts als ein Netz aus Lügen wäre und dass er mich nie wieder so ansehen würde, wenn er erst einmal die Wahrheit erfuhr.

»Vorsicht, liebe Schwägerin …« Eisige Finger packten mich in letzter Sekunde am Handgelenk und bewahrten mich davor, vom Podium zu fallen.

Es kostete mich unglaubliche Anstrengung, ruhig zu bleiben und nicht meinen Arm wegzureißen, wo doch alles in mir schrie. Er. Ausgerechnet er.

Der König von Jerar. Der kleine Junge, dessen schreckliche Kindheit ihn zu einem Monster gemacht hatte.

Meine Hände bebten. Rasender Zorn brodelte in mir hoch und drohte, jede Sekunde aus mir herauszubrechen.

»Ryiah?« Darrens Stimme fing mich gerade noch rechtzeitig ein.

Der König von Jerar stieß ein Lachen aus und schob mich zurück aufs Podest, während ich noch immer zitterte und mir das Blut in den Ohren rauschte. »Steht wahrscheinlich ein wenig unter Schock. Immerhin ist sie gerade Prinzessin von Jerar geworden, Bruderherz. Was soll man da auch anderes erwarten?«

Ich bekam kaum mit, wie Darren mir die Hand um die Taille legte und mir die Stufen hinunterhalf.

»Ich weiß, das ist alles ein bisschen viel«, flüsterte er mir zu, und seine Worte holten mich zurück und bahnten sich einen Weg durch die eisernen Ketten, die sich kalt um meine Brust gelegt hatten und mir die Luft abschnürten. »Tut mir leid.«

Ich wollte ihm sagen, dass es mir auch leidtat, doch mein Mund war staubtrocken.

Ich sah nur den leblosen Körper meines kleinen Bruders vor mir, wie er auf dem kalten Marmorboden lag, und Alex’ Gesicht, als ich ihm erzählte, dass Derrick tot war.

Die lautstarke Verkündigung des Priesters riss mich aus meinen Gedanken: »Hier kommen der Kronprinz und die Prinzessin von Jerar, in der Ehe verbunden als Mann und Frau.«

Ich zwang mich zu atmen. Zu schlucken. Und einen Fuß vor den anderen zu setzen, als Darren und ich den Zeremoniensaal durchquerten.

Eigentlich sollte es wie im Märchen sein.

Doch wir würden nicht glücklich bis ans Ende unserer Tage miteinander leben.

Als die königliche Kutsche unter lautem Jubel durch die Straßen von Devon fuhr, gab ich mir Mühe, wie Darren und Blayne huldvoll zu lächeln und allen zuzunicken. Es war Dank und Versprechen zugleich. Das las ich in den vielen Hundert erwartungsvollen Gesichtern, die sich auf den Gassen und in den Läden drängten. So viele Menschen überall, die winkten und Reis warfen und uns Glück wünschten. Ihre Hoffnung war ansteckend. Sogar in den Mienen derer, die sich hinter ihren dreckigen Fenstern verschanzten, konnte ich sie leuchten sehen, trotz der Sorgenfalten, die sich tief in ihre Gesichter eingegraben hatten. Für sie waren wir das Licht am Ende des Tunnels. Der Silberstreif am Horizont.

In dem Glauben, die Krone würde sie retten, legten sie ihr Schicksal vertrauensvoll in deren Hände.

Man konnte sie nicht einfach als Narren abtun. Noch vor wenigen Stunden hatte ich wie sie alle meine Hoffnungen auf die Königsfamilie gesetzt.

Und jetzt ist nichts mehr wie zuvor.

Darren bemerkte meinen finsteren Blick und drückte meine Hand, wobei er den Grund für mein Unbehagen falsch deutete. »Deine Eltern wären bestimmt gekommen, wenn sie es irgendwie hätten einrichten können.«

Ich sah auf unsere verschränkten Finger hinunter und schluckte. Ich musste etwas sagen, irgendetwas, sonst würde er sich noch mehr Sorgen machen.

Hastig fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und räusperte mich. »Es … es hätte ihnen zu sehr zugesetzt.« Es zählte nicht, dass es die Hochzeit ihrer einzigen Tochter war, die noch dazu den Kronprinzen von Jerar heiratete. Nach Derricks Tod weigerten sie sich, jemals wieder einen Fuß auf den Boden der Stadt zu setzen, wo ihr Jüngster an den Dachsparren des Palasts aufgeknüpft und vor aller Augen als Verräter gebrandmarkt worden war.

Meine Eltern hatten mir zwar keine Vorwürfe gemacht, doch ich hatte es in ihren Augen gesehen. Ihr Jüngster war tot und ich hätte ihn retten müssen. Egal, wie.

Womit sie nicht unrecht hatten.

Aber wie hätte ich das wissen sollen? Nicht einmal Derrick hatte geahnt, wie niederträchtig die Krone war.

Und ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, den Jungen zu verteidigen, den ich liebte, dass ich irgendwie vergessen hatte, seinen Bruder im Auge zu behalten. Warum auch? Blayne hatte seine Rolle hervorragend gespielt. So gut, dass es ihm nach all den Jahren, in denen er seine Grausamkeit nicht zuletzt mir gegenüber mehrmals eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, dennoch gelungen war, mir vorzumachen, dass noch etwas von dem traurigen kleinen Jungen von einst in ihm steckte. Ich hatte ihm tatsächlich abgenommen, dass er nicht gänzlich verderbt war. Dass seine tragische Kindheit ihn zwar hart gemacht hatte, doch dass tief in ihm drin immer noch ein wenig Menschlichkeit schlummerte. Güte. Reue. Dass er besser wäre als sein tyrannischer Vater.

Das war ein schwerer Fehler gewesen. Die Kinder waren zwar beide in Finsternis aufgewachsen, doch nur einer hatte unter der rauen Schale einen weichen Kern.

Während ich meine Sitzposition ein wenig änderte, verrutschten die gelben Seidenrüschen meines Kleids, und ich betete, dass Darren die kleinen roten Flecken dazwischen nicht bemerkte – mein Blut, das vor nicht einmal einer Stunde daraufgetropft war.

»Wenn du möchtest, dann können wir sie auf dem Weg besuchen.«

Ich schluckte, weil mein Mund noch immer wie ausgedörrt war. »Das wäre schön.«

Blayne hatte uns damit beauftragt, Jagd auf die Rebellen zu machen, sobald die einwöchigen Feierlichkeiten vorüber waren. Darrens Entscheidung, die Suche im Norden zu starten, kam nicht überraschend. Er dachte schon seit Wochen darüber nach.

Der ehemalige Schwarze Magier Marius hatte in den letzten zehn Jahren seiner Amtszeit bereits intensiv den Süden durchkämmt, was damals auch sinnvoll gewesen war, da alle Attacken und Sabotageakte tief im Süden von Jerar stattgefunden hatten – vor allem in der Roten Wüste, Port Cyri und bei den Salzminen von Mahj. Immer dort, wo gerade größere Warentransporte anstanden. Deshalb erschien es nur logisch, dass die Rebellen auch dort in der Nähe ihren Unterschlupf hatten.

Dummerweise hatte der neue Schwarze Magier seine ganz eigene Theorie darüber entwickelt, warum die Rebellen nie ausfindig gemacht worden waren – eine Theorie, die ihn schließlich nach Ferren’s Keep und zu meinem Zwillingsbruder und seinen Freunden führen würde.

Zu den Rebellen.

Panik schnürte mir die Kehle zu, ich rang nach Atem.

Meine Aufgabe bestand nun darin, Darren in die Irre zu führen. Auch wenn mir vollkommen klar war, dass dieses Täuschungsmanöver mich am Ende seine Liebe kosten würde, war es die einzige Möglichkeit. Ich hatte gesehen, wie nahe er und Blayne sich standen. Sogar jetzt, während unserer Prozession durch die Stadt, rissen die beiden hübschen Kerle Witze und merkten dabei gar nicht, dass dem Mädchen neben ihnen das Herz blutete.

Außerdem war ich vor gerade einmal zwei Monaten selbst vor die Wahl gestellt worden, mich zwischen Derrick und dem, was ich für richtig hielt, zu entscheiden … und hatte mich auf die Seite meines Bruders geschlagen, auch wenn es am Ende keinen Unterschied gemacht hatte. Ich hatte zu lange gezögert und zwar, ehe ich den schändlichen Machenschaften des Königs auf die Schliche gekommen war.

Damals hatte ich noch geglaubt, mein kleiner Bruder wäre ein Lügner und Verräter. Mir war klar gewesen, dass sein Spionageakt Hunderte Menschen – oder womöglich noch mehr – das Leben kosten könnte, wenn er entkam, und dennoch war ich in letzter Konsequenz bereit gewesen, sie zu opfern, um meinen Bruder vor dem Galgen zu bewahren. Und ich wusste, Darren würde es nicht anders machen.

Man konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, wenn er für Blayne denselben Fehler begehen würde. Durch jahrelange Misshandlung hatte Darrens Vater seinen Zweitgeborenen zum Beschützer seines Bruder erzogen, und wenn man jemanden so viele Jahre in der Opferrolle erlebt hatte, wurde es einem unmöglich, denjenigen mit anderen Augen zu betrachten, geschweige denn als Täter. Trotz allem, was Blayne sich zuschulden hatte kommen lassen – nachdem er beinahe meine beste Freundin vergewaltigt und mich während der gesamten Ausbildung schikaniert hatte, als er noch dachte, ich wäre nur ein armseliges kleines Bauernmädchen, mit dem sein Bruder zum Zeitvertreib spielte –, hatte sogar ich noch Mitleid mit dem Thronfolger gehabt!

Außerdem gab es Dinge, bei denen man nicht vor die Wahl gestellt werden sollte, und das hatte ich auch nicht vor. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass Darren sich falsch entschied, auch wenn das vielleicht egoistisch erschien. Denn falls er zuerst zu seinem Bruder ging, um ihm die Chance zu geben, sich zu erklären, würde Blayne, noch ehe Darren sichs versah, die Welt in Flammen aufgehen lassen – und gegen die Armee eines Königs konnten auch die zwei mächtigsten Magier der Welt nichts ausrichten. Im Handumdrehen würde alles in Schutt und Asche liegen und die Rebellen würden im Morgengrauen hingerichtet.

Ich natürlich nicht. Dazu war Blayne zu raffiniert, zu berechnend. Obwohl er mich von Anfang an gehasst hatte, hatte er mich in seine Pläne einbezogen. So krank im Kopf er auch war, sein Bruder lag ihm sehr am Herzen, und er wollte sich nicht mit ihm überwerfen. Also würde der König mich in einer Zelle verrotten lassen, bis es ihm endlich gelungen wäre, Darren gegen mich aufzuhetzen. Bis Darren sich von mir abwandte. Dann erst würde er mich töten lassen.

Und danach würde der König in den Krieg ziehen – ein sinnloser und verlustreicher Krieg, auf den sein Vater schon unzählige Jahre hingearbeitet hatte und der Teil eines ausgeklügelten Plans war, der Jerar als das Opfer caltoth’scher Aggression darstellte. Die anderen beiden Länder, die mit Jerar und Caltoth im sogenannten Großen Kompromiss einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten, würden mit König Horrace brechen und Jerar unterstützen, das schließlich als das Land mit der größten Armee und als die reichste Nation aus den Kriegswirren hervorgehen würde.

Nein, solange ich keine eindeutigen Beweise sowie die Unterstützung der anderen Staaten hatte, konnte ich nicht mit Darren reden, denn momentan waren das nichts als wilde Unterstellungen einer Wahnsinnigen.

Darren hatte das kleine Mädchen auf der Tribüne bei der Kandidatur nicht einmal gesehen. Er wäre nicht in der Lage, ihr Gesicht mit der Edelfrau und ihrer Tochter in Verbindung zu bringen, die wir vor Jahren auf einer Mission in Caltoth entführt hatten. Die Erpressung von Lord Tyrus und die Morde bei der Siegeszeremonie waren ebenso Teil der Intrige wie auch die Verleumdung von König Horrace. Und das alles nur, um sich die Unterstützung zweier skeptischer Nationen zu sichern.

So wie die Dinge jetzt standen, würde Darren nur ein Mädchen niederer Herkunft sehen, das Lucius und Blayne noch nie hatten leiden können, ein Mädchen, das seinen jüngeren Bruder verloren hatte und nun mit allen Mitteln versuchte, dessen Namen reinzuwaschen.

Und selbst wenn er tiefer blicken würde, durfte ich nicht riskieren, dass er sich trotzdem auf die falsche Seite schlug.

Ich selbst hatte vor zwei Monaten eine Fehlentscheidung getroffen. Wieso sollte Darren das nicht auch passieren? Es standen zu viele Menschenleben auf dem Spiel. Das hier war größer als wir beide, hier ging es um die ganze Welt.

Und falls er mir meinen Vertrauensbruch nicht vergeben könnte, dann … tja, dann war das eben der Preis, den ich dafür zahlen musste.

Eine unsichtbare Hand drückte mir die Kehle zu. Ich wusste, dass ich das Richtige tat, doch es fühlte sich so unglaublich falsch an. Wir waren noch keine zwei Stunden vermählt, und ich plante schon, meinen Ehemann zu hintergehen.

»Wenn ihr sowieso in Demsh’aa seid, solltet ihr die Zeit nutzen, die Dorfbewohner zu vernehmen.« Mit einem trägen Lächeln lehnte sich Blayne, der unser Gespräch offenbar belauscht hatte, auf seiner Kutschbank zurück.

Als sich unsere Blicke trafen, zuckte ich zusammen.

»Verzeiht, Ryiah, aber ich bezweifle, dass Ihr bei Eurem letzten Besuch daran gedacht habt, diesbezügliche Nachforschungen anzustellen … damals gab es ja auch dringlichere Angelegenheiten.«

Wie zum Beispiel, meinen Eltern das Herz zu brechen? Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Jüngster tot war? Dabei zuzusehen, wie Alex schrie, dass er nie wieder zurückkäme? Und dann auch noch mit ansehen zu müssen, wie meine beste Freundin meinem Bruder hinterherritt, in dem Wissen, dass die beiden es vielleicht mit dem Leben bezahlen mussten, wenn sie sich den Rebellen anschlossen?

Meine Nägel gruben sich in meine Handflächen, und es kostete mich unglaubliche Kraft, die Fäuste wieder zu lösen.

Eine Sekunde zu spät merkte ich, dass Darren noch immer meine Hand hielt. Er sah mich an, doch seine Augen waren eher traurig.

Mitfühlend drückte er meine Hand und warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu.

»Das reicht, Blayne.«

»Deine Frau ist nicht dumm. Ihr Bruder war ein Verräter, der unser ganzes Königreich in Gefahr gebracht hat. Bestimmt nimmt sie es mir nicht übel, wenn ich mich berechtigterweise frage, ob ihr Dorf den Rebellen möglicherweise als Basis für ihre Anschläge dient, oder, Ryiah? Schließlich haben wir in der Mitte und im Norden nie Ermittlungen angestellt.«

Spiel mit. Das ist jetzt die einzige Möglichkeit, die dir noch bleibt, Derricks Opfer zu honorieren. Wenn du die Karten zu früh auf den Tisch legst, ist das Spiel vorüber, noch ehe es begonnen hat. »Nein.« Ich zwang mich, dem König ins Gesicht zu blicken und ruhig zu atmen. »Natürlich nicht.«

Blayne grinste. »Siehst du? Sogar sie versteht das.«

»Das heißt aber nicht, dass wir darauf herumreiten müssen«, sagte Darren mit leiser, beschwörender Stimme. »Bitte nicht heute Abend.«

Der Blick des jungen Königs huschte von Darren zu mir und er stieß ein ungeduldiges Seufzen aus. »Eines Tages musst du mir erklären, was so besonders an ihr ist.«

Das wirst du in dem Moment wissen, in dem ich dir meine Klinge an die Kehle halte. Nach außen hin schnaubte ich spöttisch, wie Blayne es vermutlich erwartete, war ich doch dafür bekannt, keiner Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wenn ich jetzt keine Reaktion zeigte, machte ich mich nur verdächtig. »Keine Sorge, Ihr werdet es mit Sicherheit noch vor Jahresablauf herausfinden.«

»Ah.« Der König stieg auf mein Spiel ein, an dem er Gefallen zu finden schien. »Habt Ihr wohl was Größeres in Vorbereitung?«

Zumindest musste ich nicht lügen. »Ach, nur ein Königreich vor dem Verderben bewahren.«

»Vor den Rebellen.« Blaynes Augenbrauen gingen hoch. »Und ich dachte schon, Ihr hättet es auf den niederträchtigen König selbst abgesehen.«

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus und alle Farbe wich aus meinem Gesicht.

»König Horrace gehört mir«, unterbrach Darren uns mit harter Stimme. »Wenn es so weit ist, dann werde ich ihn mir nach allem, was er angerichtet hat, vorknöpfen.«

Ich stieß keuchend die Luft aus. Natürlich. Der caltoth’sche König. Der Mann, den Blayne und sein Vater so überzeugend zum Erzfeind aufgebaut hatten.

Einen Moment lang hatte ich schon gedacht, Blayne wüsste Bescheid.

»Nicht, wenn ich ihn als Erste in die Finger bekomme«, preschte ich vor. Gut gemacht, Ryiah. Immer schön antäuschen. Und das Lächeln nicht vergessen.

»Horrace kann sich warm anziehen.« Als die Kutsche anhielt, klopfte sich der junge König ein wenig Staub von den Kleidern und erhob sich. Unsere Fahrt durch Devon war beendet und es war Zeit für den großen Ball im Palast. »Ich habe die zwei blutdurstigsten Magier des Landes an meiner Seite.« Sein Stolz war unüberhörbar. »Der Krieg wird vorbei sein, ehe er richtig begonnen hat.«

Wird er. Aber aus anderen Gründen, als du denkst.

Ich verfolgte ihn mit meinem Blick, als er mir den Rücken zuwandte und beim Aussteigen etwas zu einem Wachmann sagte. Einen Sekundenbruchteil gab ich mich der Vorstellung hin, wie es wohl wäre, es hier und jetzt zu beenden, den König von Jerar kaltblütig hinterrücks abzustechen und alles Weitere einfach auf mich zukommen zu lassen.

Es lag nicht in meiner Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass am Ende alles gut wurde. Blayne war ein Tyrann. Zählte es angesichts all derer, die seinetwegen unschuldig ihr Leben gelassen hatten, überhaupt, ob er am Leben blieb oder starb? Wenn ich ihn beseitigte, täte ich der Welt einen Gefallen. Sollte sich doch jemand anders darüber den Kopf zerbrechen, wie sich alles wieder gerade rücken ließ.

Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Schuldgefühle. Und zwar gar nicht unbedingt dem Jungen gegenüber, dem ich das Herz brechen würde.

Von jeher hatte ich davon geträumt, eine Heldin zu sein. Deshalb war ich überhaupt Kriegerin geworden. Ich hatte den Zweig der Kampfmagier gewählt, weil er der berühmteste und berüchtigtste war. Wieder und wieder hatte ich mich für den beschwerlichsten Weg entschieden, denn der genoss nun mal das höchste Ansehen.

Nachdem ich im Zuge der Kandidatur vergangenes Jahr so schrecklich neidisch auf Darren gewesen war, hatte ich inzwischen erkannt, woher mein Antrieb rührte: Ehrgeiz. Natürlich war es mir wichtig, Menschen zu retten, aber ich hatte auch stets von dem gesellschaftlichen Ansehen und dem Status geträumt, den das mit sich brachte – ich wollte mich von den anderen abheben, mir einen Namen machen. Die glorreiche Ryiah auf dem Schlachtfeld, die die Bösewichter nur so niederstreckte und dafür die Anerkennung des Königs und seiner Untertanen erhielt, weil sie ihre Sache so gut machte.

Kampfmagier waren ein ehrgeiziges, eitles Völkchen, und wenn nicht, dann brachten sie es nicht weit. Also hatte ich naives Ding beschlossen, mein Leben lang Ruhm und Ehre hinterherzujagen, und erst die Zeit hatte mir die Augen für die Wahrheit hinter dieser Entscheidung geöffnet.

All diese Soldaten im Wald von Caltoth … die hatte nicht Blayne auf dem Gewissen, sondern ich.

Mir wurde heiß und kalt zugleich und noch dazu schwindelig und ich hielt mich schnell am Haltegriff der Kutsche fest.

Das ging auf mein Konto.

Es tat nichts zur Sache, dass ich auf der Mission unter Magierin Miras Kommando gestanden hatte. Ich hatte Männer getötet, die für eine gerechte Sache gekämpft hatten, und alles nur, weil ich einer Lüge aufgesessen war. Diese Menschen hatte ich auf dem Kerbholz. Es war meine Magie gewesen, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.

Und wie viele meiner Landsleute würden wie ich darunter leiden, nur weil sie sich für eine Laufbahn als Soldat, Ritter oder Magier entschieden hatten?

Ich konnte nicht einfach so die Augen davor verschließen. An meinen Händen klebte Blut. Ihnen und all den anderen, die keine Ahnung hatten, wozu ihr gnadenloser Herrscher fähig war, schuldete ich es, diesem ganzen Grauen irgendwie einen Riegel vorzuschieben, ehe auch sie so viel Schuld auf sich luden wie ich.

Bei meiner Magierweihe hatte ich einen Eid geschworen, diejenigen zu verteidigen, die in Not waren. Jetzt durfte ich nicht den leichtesten Weg gehen, nein, ich musste eine wahre Heldin werden.

Es reichte nicht aus, Blayne einfach nur zu töten, sondern es galt, den Krieg zu verhindern. Zwar gab es keine Garantie, dass Pythus seine Truppen wieder abziehen würde, wenn Blayne tot war, keine Garantie, dass die Wahrheit ohne stichhaltige Beweise ans Licht käme, aber ich musste andere davor bewahren, falsch zu entscheiden, denn das war die einzige Möglichkeit, meine eigenen Fehler wiedergutzumachen.

Die Götter lachten sich bestimmt über mich tot: Du willst dich reinwaschen? Dich selbst erlösen? Eine echte Heldin sein, nicht nur so eine, wie du es dir in deiner grenzenlosen Naivität ausgemalt hast? Ja, du sollst deine Chance bekommen, aber die Sache hat einen Haken: Dafür musst du den Jungen hintergehen, den du liebst, und den Bruder verschonen, der deinen eigenen auf dem Gewissen hat.

Das Schicksal trieb ein grausames Spiel mit mir und brachte mich fast um den Verstand.

»Ryiah?«

Erschrocken blickte ich auf und sah, dass Darren an der Tür auf mich wartete. Sein Blick war weich, ganz ohne die übliche Arroganz und Provokation. Er sah aus wie jemand, der einfach glücklich war.

Wie sehr wünschte ich, das hätte ich auch sein können.

»Bereit, Liebes?«

Ich folgte ihm in den Palast.

Schon immer hatte ich mir erträumt, eine Heldin zu sein. Ich hatte nur nicht geahnt, wie hoch der Preis war, den ich dafür zahlen musste.

Ein ums andere Mal wurde auf dem Ball auf unsere Vermählung angestoßen und auf das Wohl unseres Landes getrunken. Zusammen mit meinem frisch Angetrauten und seinem Bruder, der sich auf dem pompösen Stuhl seines Vaters niedergelassen hatte, saß ich an der Spitze der Tafel, zu unserer Linken folgten die Berater. Die nächsten drei Stunden verbrachte ich damit, ein paar klitzekleine Happen Wildbret hinunterzuwürgen, denn der Appetit war mir schon lange vergangen.

Immer wieder warf mir Darren Blicke zu. Unter dem Tisch wanderte seine Hand zu meinem Knie und er beugte sich nah zu mir. »Bitte iss doch was, Ryiah. Ich kann das gar nicht sehen.«

Damit er sich nicht noch mehr Sorgen machte, zwang ich mich, ein wenig Kohl auf meine Gabel zu spießen und zu kauen. Schließlich musste ich den Anschein erwecken, dass alles in bester Ordnung war. »Mir geht’s gut.«

Darren machte ein finsteres Gesicht. »Ryiah, du kannst mir nichts –«

Seine Worte wurden von einer lauten Stimme übertönt, die sich über die anderen Unterhaltungen erhob.

»Sechs Wochen!« Es war einer der Berater, ein massiger Mann in kostbarer, jedoch zerschlissener boreanischer Seide. Mit jedem Glas Bier war er ungestümer geworden. »Dann stechen vierzig pythische Kriegsschiffe Richtung Jerar in See. Ach, wäre ich doch nur ein Ritter, dann könnte ich diesen caltoth’schen Verrätern höchstpersönlich den Bauch aufschlitzen!«

Sechs Wochen. Ich schluckte schwer.

Darren schien dasselbe zu denken. »Was glaubt Ihr, wie lange sie für die Überfahrt brauchen?«

Unter dem intensiven Blick des Kronprinzen schien der Mann noch zu wachsen und erklärte mit schwerem Zungenschlag: »Einen Monat, Euer Hoheit. Keinen Tag weniger.«

Eine andere Beraterin, eine Frau mit markantem Kinn und schmalen Lippen, stellte ihr Glas mit einem demonstrativen Schnauben ab. »Zwei Wochen, Cletus. Das solltet Ihr doch am allerbesten wissen. Schließlich seid Ihr für den Handel der Krone zuständig.« Ihr Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Oder habt Ihr Eure Zeit nur mit Würfelspielen zugebracht?«

Das Gesicht des Mannes bekam vor Scham rote Flecken. »Wie k-könnt Ihr es w-wagen!«, stammelte er.

»Stimmt das, Cletus?« Die Frage kam mit trügerisch ruhiger Stimme von meinem Tischende. Der Mann hatte die Aufmerksamkeit seines Königs auf sich gezogen, und zwar nicht im positiven Sinne.

Cletus schien zu schrumpfen und zuckte so abrupt auf seinem Stuhl zurück, dass die Holzbeine über die Marmorfliesen schabten. »Möglicherweise, Euer Majestät. Dazu müsste ich erst meine Seekarten und Tabellen zu Rate ziehen …«

»Und dabei entlohne ich Euch so fürstlich, dass Ihr sie eigentlich im Kopf haben solltet.« Die Stimme des jungen Königs war ausdruckslos, jegliche Jovialität wie weggeblasen, stattdessen trat Verachtung an deren Stelle. »Hestia hat recht. Nichtsnutze kann ich an meinem Hof nicht gebrauchen. Wachen, bringt diesen Mann augenblicklich weg.«

»Blayne.« Darrens Stimme war so leise, dass nur ich sie hören konnte. »Ist das wirklich nötig? Er hat zu viel getrunken. Du könntest noch einmal mit ihm reden, wenn er nüchtern ist.«

Der wütende Blick des Königs wanderte zu seinem Bruder und dann zurück zu dem Berater. Seine Stimme wurde eiskalt. »In zwei Monaten ziehen wir in den Krieg. Eure ungenauen Kalkulationen könnten meine Soldaten das Leben kosten. Wenn Ihr Euch noch ein einziges Mal an meinem Hofe blicken lasst, werde ich nicht mehr so viel Gnade walten lassen.«

»Ja, Euer Majestät.« Hastig rappelte der Mann sich mit angestrengtem Keuchen aus seinem Stuhl hoch und drängte sich wankend mit hochroten Wangen an Dienern, Spielleuten und Grüppchen ahnungsloser Höflinge vorbei.

»Tut mir leid, Darren«, sagte Blayne, als die Gespräche am Tisch wieder aufgenommen wurden, »aber das musste sein, zum Wohle Jerars.«

Dagegen konnte und wollte Darren nichts einwenden.

Und genau deshalb habe ich keinen Verdacht geschöpft. Denn wer würde es einem König zur Last legen, dass er zum Wohle seiner Untertanen handelte? Wenn er mit harter Hand regierte, dann nur, weil die Alternative einen noch viel höheren Verlust bedeuten würde.

Nur mit handfesten Beweisen wäre ich in der Lage, seinen Schwindel aufzudecken: dass all das eben nicht notwendig war. Dass die Caltothen ein friedliches Volk waren und nur aufgrund von König Lucius’ Gier und Intrigen unser Volk und die Nachbarstaaten etwas anderes unterstellten.

Ich schob meinen Teller weg.

Hatte ich zuvor schon keinen Appetit gehabt, so wurde mir nun vollends übel angesichts der Lobhudelei, mit der die restlichen Berater das Engagement ihres neuen Königs priesen, dem das Wohl Jerars über alles ging. Es war nicht ihre Schuld. Sie hatten ja keine Ahnung … oder vielleicht doch? Ich fragte mich, ob Lucius abgesehen von seinem Erstgeborenen noch weitere Leute in seine Pläne eingeweiht hatte. Ob Blayne außer Mira, der obersten Magieranführerin seines Regiments, noch jemand anderen ins Vertrauen gezogen hatte. Dass Mira Bescheid wusste, hielt ich jedenfalls für sehr wahrscheinlich, wenn man bedachte, wie schnell sie nach König Lucius’ Ermordung aufgestiegen war – aber gab es noch mehr Mitwisser?

Und dann kam mir ein ganz neuer Gedanke: Wie viele von den Beratern des Königs wussten Bescheid?

Plötzlich begann sich das Zimmer um mich zu drehen und ich sackte gegen die Lehne meines Stuhls. Was, wenn sie alle eingeweiht waren?

»Ryiah?«

Ich hatte die Hochzeitszeremonie durchgestanden, eine zweistündige Prozession durch die Straßen von Devon und die ersten drei Stunden des Balls und mich die ganze Zeit in der Gegenwart dieses Mörders zusammengerissen, was eine fast schon übermenschliche Leistung war. Aber jetzt konnte ich nicht mehr. Ich musste hier weg, wenigstens für ein paar Minuten.

Ich wandte mich an Darren und verschränkte meine Finger mit seinen. »Irgendwie wächst mir das gerade alles ein bisschen über den Kopf.« Das war zumindest nicht gelogen. »Meinst du, es macht deinem Bruder was aus, wenn ich mich mal kurz davonstehle?«

Darren sah mich fest an. »Ich werde dich entschuldigen, und wenn er ein Problem damit hat, soll er es mit mir bereden.«

Es schnürte mir die Kehle zu, und ich musste schnell wegschauen, damit ich nicht vor lauter Scham auf die Knie fiel und ihm mein Herz ausschüttete. In solchen Augenblicken wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich Darren gar nicht verdient hatte. Ich brachte gerade noch ein hastig gemurmeltes »Danke« zustande, ehe ich möglichst unauffällig den Tisch verließ, während sich der König angeregt mit einem hochrangigen Gast unterhielt.

Ohne einen Blick für die farbenfrohen Wandteppiche und vergoldeten Säulen des Palasts irrte ich ziellos durch die Hallen und Gänge. Ich hatte den Prunk so über. Wohin ich auch sah, erhellten Wandleuchter die Räume, dabei sehnte ich mich nach Dunkelheit. Sogar mein Kleid mit seinem cremegelben Rock und dem Mieder, das mit goldenen und orangefarbenen Perlen bestickt war, schimmerte hell. Es war das Schönste, was ich je getragen und auch zu Gesicht bekommen hatte, doch es erinnerte mich ständig daran, was nur wenige Stunden zuvor geschehen war. Wie die Erkenntnis mich wie ein Blitz getroffen hatte, an den Moment, als ich auf einmal Blaynes Intrigenspiel durchschaut hatte.

Zehn Minuten später fand ich mich im Türrahmen meiner Kammer wieder, die im Laufe des Tages von den Dienern zu einem Wohnzimmer umgewandelt worden war.

Meine Eichentruhen und das wunderschöne Kirschbaumbett an der Wand waren verschwunden und hatten einem kleinen Tisch und gepolsterten Bänken Platz gemacht, wo ich mit meinem Mann sitzen konnte. Das Einzige, was geblieben war, war die kleine Nebenkammer mit dem Badezuber und dem Nachttopf.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand und einfach nur schaute. Wieder etwas, das unwiederbringlich vorbei war.

Mit ein klein wenig Magie ließ ich das flackernde Kerzenlicht verlöschen, sodass mich Dunkelheit umfing. Ohne mich umzudrehen, griff ich hinter mich und schloss die Tür. Noch mit der Hand an der Klinke begann meine Brust, sich heftig zu heben und zu senken, und ich ließ die Maske fallen.

Die Minuten verrannen und ich klammerte mich noch immer an der Tür fest. Zehn Minuten? Zwanzig? Eine Stunde? Ich weinte und weinte und verlor jegliches Zeitgefühl. Es war auch egal. Ich befand mich irgendwie außerhalb der Zeit. Hier und da ein paar Minuten für mich allein konnten nicht auffangen, was ich wusste. Sie konnten mir nicht das Gewicht der Welt nehmen, das schwer auf meinen Schultern lastete, und auch nicht die Schuldgefühle, die mich schon jetzt plagten, noch ehe ich Dinge tat, die zwar dem Wohle vieler dienten, aber natürlich auch auf Kosten einiger weniger gingen.

Ich wusste nicht, wie ich den Beweis auftreiben sollte, den mein Bruder nicht gefunden hatte. Ich wusste nicht, ob ich die Rebellen davon überzeugen konnte, dass ich auf ihrer Seite stand, obwohl ich der Krone angehörte. Nicht einmal mein Zwillingsbruder vertraute mir. Und Pythus und die Boreanischen Inseln? Wie in aller Welt sollte ich sie dazu bringen, der Neuen Allianz, dem Vertrag, der mit meiner Vermählung mit Darren nun vollständig in Kraft getreten war, zuwider zu handeln? Wie sollte eine junge Frau einen König und einen Kaiser zweier benachbarter Reiche dazu bewegen, ein Abkommen zu brechen, das sie mit ihrem eigenen Land – dem der jungen Frau – geschlossen hatten? Und selbst wenn ich Beweise in der Hand hatte … würden sie mir Gehör schenken?

Ich hätte meinen Wein trinken sollen, dachte ich. Auch wenn er mir nicht schmeckte, so hätte er doch wenigstens meine Gefühle, allem voran meine Angst, betäubt, und ich hätte das alles für eine Weile verdrängen können. Ich hatte gehofft, ich würde mich im Schutz der Finsternis besser fühlen, ein wenig befreit, doch in gewisser Weise machte das Loslassen es nur noch schlimmer.

Vielleicht würde es sich mit der Zeit nicht mehr ganz so schrecklich anfühlen. Aber genau das hatte ich nicht: Zeit. Die Stunden zerrannen mir zwischen den Fingern, und wenn es stimmte, was die Berater gesagt hatten, dann blieben uns sechs Wochen, bis die Pythier die Segel setzten, und acht Wochen, bis ihre Schiffe an unserer Küste eintrafen. Und nicht lange darauf würden unsere Armeen gemeinsam auf Caltoth vorrücken.

Mein altes Ich sehnte sich zurück in das schattenhafte Zwischenreich, in dem ich nach Derricks Tod wie ein Geist gewandelt war, wollte alles hinwerfen, verzweifeln und die Welt am liebsten nur noch wie durch einen Schleier wahrnehmen.

Aufgeben war so viel leichter, als stark sein.