»Das macht mein Mann.« Ein Satz, der die Autorin in die Verzweiflung treibt, denn der Mann ist ihr Vater und er ist alt und kann vieles nicht mehr erledigen wie gewohnt. Vom Wagen betanken über Bankgeschäfte zu alltäglichen Kleinigkeiten: Wenn Papa ausfällt, ist Mama hilflos. Soll nun die Tochter in die Rolle des Vaters schlüpfen? Die Autorin startet ihr Programm: Mama muss erwachsen werden! Stellenweise urkomisch, tiefsinnig, und mit hohem Wiedererkennungswert beschreibt Michaela Seul liebevoll, wie Frauen dieser Generation lernen, ihren Mann zu stehen.
MICHAELA SEUL
Lieber spät
als nie
WENN MÜTTER
FLÜGGE WERDEN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Ulrike Strerath-Bolz
Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano
Unter Verwendung von Motiven von © Salvadorova/shutterstock
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6341-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Mama
Die Stimme meiner Mutter am Telefon klingt so aufgeregt, dass ich im ersten Moment befürchte, etwas Schlimmes sei geschehen. Mein Vater ist Mitte achtzig, und wann immer meine Mutter mich zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit anruft, höre ich innerlich das Tuten der Alarmstufe Rot aus Raumschiff Enterprise, das wir früher zusammen anschauten, Mama, Papa, Bruder und ich, jeden Samstag.
»Ich habe es getan!«, schreit meine Mutter ins Telefon. Keine Ahnung, wovon sie spricht. Es klingt wie ein Geständnis. Aber das kann nicht sein. Nicht bei uns. Wir sind eine tadellose Familie. Meine Eltern setzen seit einem halben Jahrhundert auf Harmonie, ich muss mir keine Sorgen machen, wenngleich das Konfliktpotenzial, das sie unter den Teppich gekehrt haben, mittlerweile auch erfahrene Familientherapeuten ins Straucheln bringen könnte.
»Was hast du getan?«, brülle ich zurück, obwohl meine Mutter mit ihren über siebzig Jahren noch sehr gut hört.
»Ich war in der Waschanlage!«
»In welcher …?«, will ich nachfragen, werde aber sofort unterbrochen von einem Schwall: »Dreimal bin ich letzte Woche daran vorbeigefahren auf dem Weg zum Aldi. Immer habe ich gedacht, jetzt mach ich es. Gestern habe ich mir alles ganz genau durchgelesen. Vorne dran ist ein Schild. Aber dann bin ich doch in die Tankstelle reingegangen, und da war so ein netter junger Mann an der Kasse, und der hat gesagt, das ist keine große Sache, das kann jeder, und er hat mir alles genau erklärt. Man muss nur die Karte einstecken und auf den grünen Knopf drücken. Dann geht es automatisch.«
»Super«, sage ich.
»Ja, es war ganz einfach, also, das mache ich wieder, überhaupt kein Problem. Und so ein ausnehmend freundlicher junger Mann!« Ihr Strahlen dringt durchs Telefon.
»Das hast du ganz toll gemacht, Mama«, sage ich.
»Ich wollte es dir unbedingt gleich erzählen.«
»Total super, Mama«, lobe ich erneut.
Dann lege ich auf und rufe meine beste Freundin an, um ihr brühwarm zu erzählen, was meine Mutter in Ekstase versetzt. Bei Sanne ist belegt, das nervt mich, weil die Geschichte abkühlen wird. Ich merke es ja jetzt schon, dass ich mich frage, ob das nicht Mutterverrat ist. Sie hat mir die Mission Waschstraße anvertraut. Ist sie bei mir in guten Händen? Oder sollte sie mir peinlich sein? Eine solche Mutter wirft einen Schatten auf meine Souveränität, offenbart sie doch einiges über meine Herkunft. Nein, meine Mutter war nicht maßgeblich beteiligt an der Gleichstellung von Frau und Mann im Grundgesetz oder hat mir zur ersten Menstruation ein Emma-Abo geschenkt. Und ich bin sogar froh um dieses Rollenmodell, das ich um keinen Preis imitieren wollte. Wer weiß, in welcher Küche ich schmoren würde, wäre sie eine gesellschaftspolitische Aktivistin gewesen. Hätte meine Revolution dann im Thermomix stattgefunden? Meine Mutter hat mir verboten, unter der Bettdecke mit Taschenlampe zu lesen, und als ich auf die Idee mit dem Kühlschranklicht kam, gab es Hausarrest. Von Energieverschwendung kein Wort, sie war ja auch nicht bei den Grünen, zumal mein Vater, der Familienpräsident, ihr diktierte, was sie bei Wahlen ankreuzen sollte. Politisch engagiert wäre sie sicher eine Kuchenfrau geworden, die bei Stadtteilfesten mit anderen Ehefrauen und Müttern um das lauteste Mmh gewettbackt hätte. Obwohl sie nicht gern bäckt. Klaglos hätte sie getan, was von ihr erwartet wurde. Heute sind Demut und Achtsamkeit in. Damals waren sie nicht der Rede wert, bei Frauen gehörten sie zur Zier.
Vielleicht sollte ich Mutters Begeisterung für die Waschstraße als Metapher verstehen. Waschen und Straße – Häuslichkeit und Freiheit vereint? Wie würde meine Waschstraße aussehen? Was bedeutet für mich eine Herausforderung? Jeder hat so seine Macken, gestehe ich meiner Mutter welche zu? Allmählich geht mir ein Licht auf. Nachdenklich melde ich mich am Telefon, als Sanne zurückruft. Aus meiner brühwarmen Erzählung ist ein wohltemperierter Bericht geworden.
»So sind sie«, seufzt Sanne, die sich in den letzten Jahren zunehmend dafür beglückwünscht, fünfhundert Kilometer entfernt von ihrer Mutter zu wohnen.
Wir versichern uns gegenseitig, dass wir selbst nie so werden. Später frage ich mich: Wie will ich nie werden? Bin ich nicht schon längst so, ich bin die Tochter meiner Mutter, wenngleich ich seit meinem achtzehnten Lebensjahr, ohne mit der Wimper zu zucken, durch Waschanlagen fahre, ja, ich bleibe sogar im Auto sitzen, ganz ohne Panikattacke. Ich fühle mich schlecht, weil ich mich lustig gemacht habe, und simse meiner Mutter: »Ich bin stolz auf dich.«
Überlege, nachdem ich gesendet habe, ob das der Wahrheit entspricht. Das ist so, wenn man zu Füßen eines Teppichmassivs aufwächst, da sagt man nicht die Wahrheit, sondern das, was erwartet wird. Irgendwer hat einmal vermutet, dass ich aus diesem Grund Schriftstellerin werden musste. Angeblich wollte ich die unter dem Teppich gefangenen Wörter befreien. Ich habe natürlich auch etwas dazuerfunden. Habe mich eingefühlt. Aber in meine Mutter? In die eigene Mutter? Die scheint mir ziemlich fremd geblieben zu sein, sonst hätte ich in all den Jahren wohl nicht an sie hingeredet wie an ein krankes Pferd. Das nun durch die Waschanlage galoppiert. So was kann schon mal geschehen in den unendlichen Weiten des Weltraums, wie ich seit Raumschiff Enterprise weiß, das unterwegs war, um fremde Galaxien zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Viele Lichtjahre von der Erde entfernt dringt die Enterprise in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. So wie ich in meinem Raumschiff Buch auf der Milchstraße einen neuen Mutterstern entdecke.
»Diana, ich ess’ jetzt ein Käsbrot«, sagt mein Vater, und meine Mutter bereitet es ihm mundgerecht zu.
»Diana, ich trink jetzt einen Kaffee«, sagt mein Vater, und meine Mutter setzt Wasser auf. Vor vielen Jahren schob ich mir im Beisein meines Vaters einmal ein Bonbon in den Mund. »Für mich auch«, bat er. Ich reichte ihm eines, er legte es auf die Zunge und rief empört: »Da ist ja noch Papier dran!«
Papa bestimmte die Route des Familienschiffs und hatte das Ruder in der Hand, Mama ordnete sich unter beziehungsweise schob Papas Ruder mit Charme und Diplomatie auf raffinierten Umwegen in die von ihr gewünschte Richtung. Papa traf Entscheidungen. Das war Männersache. Lange wollte meine Mutter nicht wahrhaben, dass der Kapitän schwächelte, dass er vergesslich wurde. Denn das bedeutete, dass sie nun das Ruder in die Hand nehmen und Entscheidungen fällen musste. Dagegen wehrte sie sich mit einer Hartnäckigkeit und Zähigkeit, die mich verblüffte. Wie konnte es mir gelingen, diese Energie der Verweigerung umzuwandeln, wie konnte ich meiner Mutter unter die Arme greifen, sie unter die Fittiche nehmen, damit sie flügge wurde?
Meine Mutter ist beileibe kein Einzelfall. Als ich eingeschult wurde, waren alle Mütter meiner Klassenkameradinnen und -kameraden Hausfrauen. Ich erinnere mich gut an die erste Schulstunde. Jedes Kind nannte den Beruf seines Vaters. Der Beruf der Mutter kam nicht vor, sie hatte nämlich keinen, beziehungsweise nicht mehr. Und wenn sie einen gehabt hatte, war der in der Regel nur ein Lückenbüßer für die Zeitspanne zwischen Volljährigkeit, damals noch mit einundzwanzig, und Ehe. Die kinderlose Zeit währte oft nur kurz, idealerweise neun Monate nach der Hochzeit. Mit dem Kind wurde sie zur Hausfrau und Mutter, und alles war in Ordnung. Männer verdienten das Geld und waren stolz, sich eine Frau zu Hause leisten zu können. Die leistete auch was. Die Wohnungen glänzten proper, die Kinder sagten Bitte und Danke, Mutti trug Verantwortung – vor allem in der Küche und für die Wäsche, wobei Lenor ihr Gehirn weichspülte. Noch früher bekam der Mann sonntags das größte Stück Fleisch auf den Teller.
In dem Mietshaus mit vierundfünfzig Parteien, in dem ich bis zu meinem achten Jahr lebte, gab es ein einziges Ehepaar ohne Kinder. Und diese Frau ging auch noch arbeiten! Da sie nett war, herrschte die Meinung, sie könne keine Kinder bekommen; natürlich sie. Mit Männern haben Kinder nichts zu tun. Dass sie vielleicht keine wollte, darauf wäre niemand gekommen, das wäre ja anormal gewesen! Das Mietshaus stand übrigens in München, also nicht in irgendeinem Kuhdorf, auch wenn das manche behaupten. Später zog eine alleinerziehende (!) Mutter mit zwei Kindern ins Erdgeschoss. Die arbeitete auch und wurde von allen gemobbt, weil sie einen schlechten Charakter hatte, was man daran merkte, dass sie keinen Mann hatte, sonst wäre der wohl nicht weggelaufen. In dieser netten Nachbarschaft wuchs ich auf und hatte schon früh den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte.
Diese Mütter, Frauen sind heute 70 plus. Ihre oft älteren Männer – eine Frau sollte damals mindestens zwei, besser ab vier Jahre jünger sein als ihr Ehemann – sind vielleicht gestorben, dement oder leiden an anderen Altersgebrechen. Auf einmal stehen die Frauen »allein« da. Plötzlich sollen sie Dinge tun, die bis jetzt immer ihr Mann erledigt hat. Das fängt beim Betanken des Wagens an, führt über Bankgeschäfte zu kleinen handwerklichen Tätigkeiten im Haushalt. Wo ist der Sicherungskasten? Haben wir so was überhaupt? Und natürlich sollen sie Entscheidungen fällen, ihren Mann stehen – und das überfordert sie.
Die Kinder, vor allem die Töchter dieser Mütter, haben oft jahrelang an ihre Mütter hingeredet: Mama, denk doch mal an dich. Mama, du musst selbstständiger werden, Mama, du musst ein eigenes Leben führen. Aber die Mütter sahen dazu keine Veranlassung. Es klappte doch alles prima. Papa und ich sind ein gutes Team. Doch eines Tages funktioniert die jahrzehntelang gelebte Rollenaufteilung nicht mehr. Manche Frauen, die jung geheiratet haben, denken jenseits der siebzig zum ersten Mal darüber nach: Was will ich eigentlich? Muss ich bis zum bitteren Ende an einen Griesgram gefesselt bleiben? Habe ich nicht schon genug ertragen in den Jahrzehnten davor? Vielleicht sehen sie an ihren eigenen Töchtern, dass es auch anders geht, dass Beziehungen auf Augenhöhe gelebt werden können anstatt in Dienstboten-Herrschaftsverhältnissen. Im Alter verändern sich Menschen; gerade Männer werden oft ruppig, wortkarg und depressiv, wenn sie nicht mehr so können, wie sie wollen.
Doch bis eine brave, eine »normale« Frau aus dem vergangenen Jahrtausend aufbegehrt, ist es ein langer Weg, und allzu oft wird er nur in der Fantasie beschritten. Denn eigentlich würden sie viel lieber in ihrer Komfortzone bleiben, allein die Umstände – der Mann schwächelt oder ist gestorben – haben sie zu diesem späten Aufbruch gezwungen. Und dann geschieht manchmal doch noch ein kleines Wunder: Sie erobern sich ein eigenes Leben. Und so wie uns vor Jahrzehnten unsere Mütter am Start geholfen haben, unsere ersten Schritte auf krummen Beinchen im Windelgang zu meistern, das erste Mal die Schuhe zuzubinden, ohne Schwimmflügel ins Wasser und ganz allein zur Schule zu gehen … so können wir sie auch unterstützen in ihrem letzten Lebensviertel. Wir können es auch bleiben lassen. Oder nur aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus helfen. Man will ja selbst noch in den Spiegel schauen können. Oder aber wir begreifen es als letzte Gelegenheit, die Beziehung zu unserer Mutter zu verändern. Eine gute Beziehung kann neue Facetten entwickeln, eine schlechte Beziehung kann sich verbessern, auch scheinbar hoffnungslose Fälle, also unglückliche Tochter-Mutter-Liebesgeschichten, können erstaunlicherweise heilen. Bedürftigkeit eröffnet immer eine Chance, wenn wir uns darauf einlassen. Können wir das Potenzial in diesem Wandel erkennen? Die Veränderung im Rollengefüge Mama–Papa wirkt sich auch auf die Beziehung zur Tochter aus und umgekehrt. So kann eine neue Qualität in der Begegnung zwischen Müttern und Töchtern entstehen.
Und dann … heben sie gemeinsam ab, Mutter und Tochter, und zwitschern in den Frühlingsmorgen ihrer neuen Verbundenheit. Vielleicht schaut ihnen die Enkelin und Tochter nach und prägt sich diese Flugroute ein. Ich bin überzeugt davon, sie führt nach Süden, dorthin, wo es warm und schön ist und wo alle reichlich Nahrung finden. Eine gute Beziehung zur Mutter, zur Tochter ist Seelennahrung. Schon ein paar Körnchen können genügen, und die Saat wird keimen, das liegt in der Natur dieser Beziehung. Einer Beziehung, die sich bis zum letzten Atemzug verändern kann.
Bis vor einigen Jahren ging man davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen unveränderbar wäre. So hatte es der »Vater« der Psychoanalyse, Sigmund Freud, gedeutet. Sind nicht alle Wesenszüge in der Kindheit betoniert? Seine Erkenntnisse waren geprägt vom herrschenden Zeitgeist, und der war frauenfeindlich und insgesamt auch nicht besonders menschenfreundlich. Die aktuelle Altersforschung hat belegt, dass wir uns bis ins hohe Alter verändern können, egal wie unsere Flügel in der Kindheit beschnitten wurden. Sie können nachwachsen, »nachreifen« nennt dies die Wissenschaft. Die Erfahrungen, die wir im Leben sammeln, bilden sich zum Teil auch in unseren Genen ab. Wir geben vereinfacht ausgedrückt nicht nur die Farbe unserer Augen und Form unserer Ohren weiter, sondern auch die Farbe unserer Lebenseinstellung, hell oder dunkel. Persönlichkeitsveränderungen sind allerdings nicht durch eine bloße Bitte von der Tochter an die Mutter zu erreichen. Sie brauchen Zeit, und am besten gedeihen sie mit dem Dünger Liebe. Doch auch Leid kann das Leben positiv beeinflussen, wenn es gelingt, Krisen als Chancen zu nutzen. Und nicht selten wachsen in der Krise Flügel, und aus der Vogelperspektive sieht alles ganz anders aus …