Der Erzähler Michel ist Beamter im Kultusministerium und nach Dienstschluss einsamer Peep-Show-Erotomane. Die Urlaubspauschalreise ins Traumland Thailand verspricht diesem »ziemlich mittelmäßigen Individuum« paradiesisches Glück und sexuelle Erlösung. Zusammen mit seiner Mitreisenden Valérie, in die er sich verliebt, erfindet er ein rettendes Programm für die Reisebranche: Wenn mehrere Hundert Millionen alles haben, bloß keine erfüllende Sexualität, und mehrere Milliarden nichts haben als ihren Körper, dann ist das »eine Situation des idealen Tauschs«. Doch das Glück, nach dem Houellebecqs Erzähler Michel verzweifelt sucht, wird bei einem islamistischen Terroranschlag jäh zerstört.
 
Michel Houellebecq wurde 1958 geboren. Er gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart, seine Bücher werden in über vierzig Ländern veröffentlicht. Auf Deutsch ist nahezu sein gesamtes Werk bei DuMont verlegt. Zuletzt erschienen der mit dem renommiertesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnete Roman ›Karte und Gebiet‹ (2011), der Gedichtband ›Gestalt des letzten Ufers‹ (2014) sowie der Roman ›Unterwerfung‹ (2015).

Michel Houellebecq

Plattform

aus dem Französischen von Uli Wittmann

Je elender das Leben ist, desto stärker klammert sich der Mensch daran; dann wird es zu einem Protest, zu einer Rache an allem.

Honoré de Balzac

Erster Teil

Tropic Thai

1

Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Ich glaube nicht an die Theorie, wonach man beim Tod seiner Eltern richtig erwachsen wird; man wird nie richtig erwachsen.

Vor dem Sarg des alten Mannes gingen mir unangenehme Gedanken durch den Kopf. Er hatte vom Dasein profitiert, dieser alte Sack; er hatte sich verdammt gut durchs Leben geschlagen. »Du hast Kinder gehabt, du Sau …«, sagte ich beschwingt zu mir. »Du hast deinen dicken Pimmel in die Möse meiner Mutter geschoben.« Na ja, ich war ein bißchen angespannt, das stimmt schon; man hat eben nicht jeden Tag einen Todesfall in der Familie. Ich hatte mich geweigert, den Leichnam zu sehen. Ich bin vierzig und hatte bereits Gelegenheit, Leichen zu sehen; jetzt vermeide ich es lieber. Das hat mich immer davon abgehalten, mir ein Haustier anzuschaffen.

Ich habe auch nicht geheiratet. Gelegenheit dazu bot sich mir mehrfach; aber ich habe jedesmal abgelehnt. Dabei mag ich Frauen sehr. Daß ich ledig geblieben bin, ist eines der Dinge im Leben, die ich ein wenig bedaure. Vor allem im Urlaub wirkt sich das störend aus. Im Urlaub bringen die Leute unverheirateten Männern ab einem gewissen Alter ziemliches Mißtrauen entgegen: Sie vermuten bei ihnen einen starken Egoismus und wohl auch einen gewissen Hang zum Laster; ich kann ihnen nur recht geben.

Nach der Beerdigung bin ich in das Haus gegangen, in dem mein Vater seine letzten Jahre verbracht hat. Die Leiche war eine Woche zuvor gefunden worden. Auf den Möbeln und in den Ecken hatte sich bereits ein wenig Staub angesammelt; in einer Fensternische bemerkte ich eine Spinnwebe. Die Zeit, die Entropie und all diese Dinge nahmen also dieses Haus allmählich schon in Besitz. Die Gefriertruhe war leer. In den Küchenschränken lagen vor allem Einzelportionen von Weight Watchers-Gerichten, Dosen mit aromatisierten Proteinen und kraftspendende Müsliriegel. Ich ging durch die Zimmer im Erdgeschoß und knabberte dabei mit Magnesium angereichertes Sandgebäck. Im Heizungskeller setzte ich mich auf das Trimmrad und trat in die Pedale. Mit über siebzig Jahren war mein Vater in viel besserer körperlicher Verfassung gewesen, als ich es bin. Er trieb jeden Tag eine Stunde intensiv Gymnastik und drehte zweimal in der Woche im Schwimmbad seine Runden. Am Wochenende spielte er Tennis und fuhr mit Gleichaltrigen Rad; ich hatte einige von ihnen im Krematorium getroffen. »Er hat uns alle auf Trab gebracht!« hatte ein Gynäkologe zu mir gesagt. »Er war zehn Jahre älter als wir, aber auf einer zwei Kilometer langen Steigung hat er uns mit einem Vorsprung von einer Minute abgehängt.« Vater, Vater, sagte ich zu mir, wie verdammt eitel du doch warst! Im linken Winkel meines Blickfelds entdeckte ich einen Hometrainer und Hanteln. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich einen Idioten in Shorts vor mir – mit einem Gesicht voller Falten, das ansonsten aber dem meinen sehr glich –, der mit verzweifelter Energie die Brustmuskeln spannte. Vater, sagte ich zu mir, Vater, du hast dein Haus auf Sand gebaut. Ich trat immer noch in die Pedale, aber allmählich ging mir die Puste aus und die Schenkel taten mir weh, dabei war ich erst auf Stufe eins. Ich dachte an die Begräbnisfeier zurück und war mir sicher, daß ich einen ausgezeichneten Gesamteindruck hinterlassen hatte. Ich bin immer glattrasiert, habe schmale Schultern, und da ich mit Anfang dreißig den Ansatz einer Glatze entwickelt habe, bin ich dazu übergegangen, mir das Haar kurz schneiden zu lassen. Ich trage im allgemeinen graue Anzüge, unauffällige Krawatten, und ich mache keinen sonderlich fröhlichen Eindruck. Mit meinem kurzgeschorenen Haar, meiner dünnrandigen Brille und meinem mürrischen Gesicht, den Kopf leicht gesenkt, um einem Sampler mit christlicher Trauermusik zu lauschen, hatte ich mich in dieser Situation sehr wohl gefühlt – sehr viel wohler als auf einer Hochzeit zum Beispiel. Beerdigungen sind eben mein Ding. Ich hörte auf, in die Pedale zu steigen, und hustete leicht. Die Dunkelheit legte sich über die Weiden ringsumher. In der Nähe der Betonkonstruktion, in die der Heizkessel eingelassen war, konnte man einen bräunlichen, unzureichend gereinigten Fleck erkennen. Dort hatte man meinen Vater in Shorts und einem Sweatshirt mit dem Aufdruck »I love New York« mit zerschmettertem Schädel aufgefunden. Dem Gerichtsmediziner zufolge war der Tod drei Tage zuvor eingetreten. Man hätte es, wenn man unbedingt wollte, für einen Unfall halten können, er hätte auf einer Ölpfütze oder was weiß ich ausrutschen können. Der Fußboden des Raums war jedoch vollkommen trocken; und der Schädel war an mehreren Stellen geplatzt, etwas Gehirnmasse war sogar auf den Boden gespritzt; es handelte sich also mit größerer Wahrscheinlichkeit um einen Mord. Hauptmann Chaumont von der Gendarmerie in Cherbourg würde im Laufe des Abends vorbeikommen.

Als ich wieder im Wohnzimmer war, stellte ich den Fernseher an, einen Sony 16:9 mit einem 82 cm Bildschirm, dolby surround-Klang und integriertem DVD-Player. Im ersten Programm lief eine Episode aus Xena, die Kriegerin, eine meiner Lieblingsserien; zwei ausgesprochen muskulöse Frauen, die Mieder aus Metall und Miniröcke aus Wildleder trugen, gingen mit Säbeln aufeinander los. »Deine Herrschaft hat schon viel zu lange gedauert, Tagrathâ!« schrie die Blonde. »Ich bin Xena, die Kriegerin der Ebenen des Westens!« Es klopfte an die Tür; ich stellte den Ton leiser.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Der Wind bewegte sanft die regennassen Zweige hin und her. Eine junge Frau nordafrikanischen Typs von etwa fünfundzwanzig Jahren stand im Eingang. »Ich heiße Aïcha«, sagte sie. »Ich habe bei Monsieur Renault zweimal in der Woche geputzt. Ich komme, um meine Sachen abzuholen.«

»Ach so …«, sagte ich, »ach so …« Ich machte eine Geste, die einladend aussehen sollte, irgendeine Geste. Sie kam herein und warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm: Die beiden Kriegerinnen kämpften jetzt mit bloßen Fäusten in unmittelbarer Nähe eines Vulkans; ich nehme an, daß dieser Anblick für manche Lesbierinnen eine gewisse aufreizende Wirkung hat. »Ich will Sie nicht stören«, sagte Aïcha, »es dauert nur ein paar Minuten.«

»Sie stören mich nicht«, sagte ich, »nichts kann mich im Grunde stören.« Sie nickte, als könne sie das verstehen, ihre Augen blieben einen Moment auf meinem Gesicht ruhen; sie versuchte vermutlich die äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Vater zu erkennen, schloß vielleicht daraus auf eine gewisse moralische Ähnlichkeit. Nachdem sie mich ein paar Sekunden gemustert hatte, wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf, die zu den Schlafzimmern führt. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte ich mit erstickter Stimme, »lassen Sie sich ruhig Zeit …« Sie erwiderte nichts, verlangsamte nicht einmal den Schritt; wahrscheinlich hatte sie es nicht gehört. Erschöpft von der Begegnung, setzte ich mich wieder aufs Sofa. Ich hätte sie auffordern sollen, ihren Mantel abzulegen; normalerweise tut man das, fordert die Leute auf, ihren Mantel abzulegen. Da wurde mir bewußt, wie lausig kalt es in dem Raum war – eine feuchte, durchdringende Kälte, eine Grabeskälte. Ich wußte nicht, wie man die Heizung anstellt, hatte keine Lust, es auszuprobieren. Jetzt war mein Vater tot, und ich hätte sofort wieder wegfahren sollen. Ich wechselte gerade rechtzeitig zum dritten Programm, um die letzte Runde von Fragen an den Champion zu verfolgen. In dem Augenblick, als Nadège aus Le Val-Fourré zu Julien Lepers sagte, daß sie bereit sei, ihren Titel zum drittenmal aufs Spiel zu setzen, kam Aïcha mit einer leichten Reisetasche über der Schulter die Treppe hinunter. Ich stellte den Fernseher ab und ging schnell auf sie zu. »Ich habe Julien Lepers schon immer sehr bewundert«, sagte ich zu ihr. »Selbst wenn er die Stadt oder das Dorf, aus dem der Kandidat stammt, nicht direkt kennt, gelingt es ihm immer, ein paar Worte über das Departement oder die Gegend zu sagen; er besitzt eine zumindest ungefähre Kenntnis vom Klima und den Sehenswürdigkeiten der näheren Umgebung. Und vor allem kennt er das Leben: Die Kandidaten sind für ihn menschliche Wesen, er kennt ihre Schwierigkeiten und er kennt ihre Freuden. Nichts von dem, was die menschliche Wirklichkeit der Kandidaten ausmacht, ist ihm wirklich fremd oder stößt ihn ab. Ganz gleich, wer der Kandidat ist, es gelingt ihm immer, ihn etwas über seinen Beruf, seine Familie oder seine Leidenschaften erzählen zu lassen, also alles, was in seinen Augen ein Leben ausmacht. Ziemlich oft spielen die Kandidaten in einer Blaskapelle mit oder singen in einem Chor; sie opfern ihre Zeit für die Veranstaltung eines lokalen Festes oder stellen sich in den Dienst einer humanitären Sache. Ihre Kinder sitzen häufig unter den Zuschauern im Saal. Die Sendung vermittelt im allgemeinen den Eindruck, daß die Leute glücklich sind, und man selbst fühlt sich glücklicher und besser. Finden Sie nicht?«

Sie betrachtete mich, ohne zu lächeln. Ihr Haar war zu einem Knoten hochgesteckt, ihr Gesicht kaum geschminkt, ihre Kleidung eher nüchtern; eine seriöse junge Frau. Sie zögerte ein paar Sekunden, ehe sie mit leiser, durch die Schüchternheit etwas heiserer Stimme sagte: »Ich habe Ihren Vater sehr gemocht.« Ich wußte nicht, was ich ihr darauf erwidern sollte; das erschien mir zwar seltsam, aber durchaus möglich. Der alte Mann hatte sicher eine ganze Menge zu erzählen gehabt: Er war nach Kolumbien, nach Kenia oder was weiß ich wohin gereist; er hatte Gelegenheit gehabt, Nashörner mit dem Fernglas zu beobachten. Jedesmal wenn wir uns trafen, hatte er sich darauf beschränkt, ironische Bemerkungen über meinen Status als Beamter und über die Sicherheit, die damit verbunden war, zu machen. »Du hast den richtigen Job gewählt, um eine ruhige Kugel zu schieben …«, sagte er immer, ohne seine Verachtung zu verbergen; in einer Familie gibt es eben oft ein paar Schwierigkeiten. »Ich lasse mich zur Krankenschwester ausbilden«, fuhr Aïcha fort, »aber da ich von zu Hause weggegangen bin, bin ich gezwungen, als Putzfrau zu arbeiten.« Ich zermarterte mir das Hirn, um eine passende Antwort zu finden: Hätte ich sie über die Höhe der Mieten in Cherbourg befragen sollen? Ich entschloß mich schließlich für ein »Ja, ja …«, in das ich eine gewisse Lebenserfahrung hineinzulegen versuchte. Das schien ihr zu genügen, sie schritt zur Tür. Ich drückte das Gesicht an die Scheibe, um ihren VW Polo zu beobachten, der auf dem schlammigen Weg wendete. Im dritten Programm wurde ein Fernsehfilm gezeigt, der sich wohl im 19. Jahrhundert auf dem Land abspielte, mit Tchéky Karyo in der Rolle eines Landarbeiters. Zwischen zwei Klavierstunden gewährte die Tochter des Gutsherrn, der von Jean-Pierre Marielle dargestellt wurde, dem verführerischen Burschen vom Land gewisse Freiheiten. Ihre Liebesspiele fanden in einer Scheune statt; ich nickte in dem Augenblick ein, als Tchéky Karyo ihr energisch das Höschen aus Organza vom Leibe riß. Die letzte Einstellung, an die ich mich noch erinnerte, war ein Zwischenschnitt, eine kleine Gruppe von Schweinen.

Ich wurde vom Schmerz und der Kälte geweckt; ich muß wohl in einer verkehrten Stellung eingeschlafen sein, meine Halswirbel waren wie gelähmt. Ich hustete schwer, als ich aufstand; mein Atem erfüllte die eisige Atmosphäre des Raums mit feuchtem Dunst. Seltsamerweise lief im Fernsehen Ein toller Hecht, eine Sendung des ersten Programms; ich mußte wohl zwischendurch aufgewacht sein oder wenigstens soweit das Bewußtsein wiedergefunden haben, daß ich in der Lage gewesen war, die Fernbedienung zu betätigen; ich konnte mich absolut nicht daran erinnern. Die Nachtsendung war den Welsen gewidmet, riesigen Fischen ohne Schuppen, die in den französischen Flüssen aufgrund der Klimaerwärmung immer zahlreicher geworden sind; die Nähe von Atomkraftwerken mögen sie ganz besonders. Die Reportage bemühte sich, gewisse Mythen zu erhellen: Ausgewachsene Welse erreichen tatsächlich eine Länge von drei oder vier Metern; in der Drôme habe man sogar Exemplare gemeldet, die fünf Meter überstiegen; daran war nichts unwahrscheinlich. Dagegen sei es völlig ausgeschlossen, daß diese Fische das Verhalten von Fleischfressern zeigten oder badende Menschen angriffen. Der volkstümliche Argwohn, der die Welse umgab, schien sich in gewisser Weise auf jene auszudehnen, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, sie zu angeln; die kleine Bruderschaft der Welsangler war in dem größeren Kreis der Angler scheel angesehen. Sie litten darunter und hatten offensichtlich den Wunsch, diese Sendung zu benutzen, um ihr negatives Image aufzubessern. Zugegeben, gastronomische Motive könnten sie keine geltend machen: Das Fleisch des Welses sei völlig ungenießbar. Aber es handele sich dabei um ein schönes Angelvergnügen, das sowohl Intelligenz wie Sportsgeist erfordere und durchaus mit dem Angeln von Hechten vergleichbar sei, und es verdiene, eine größere Anhängerschaft zu finden. Ich machte ein paar Schritte durch den Raum, ohne daß es mir gelang, mich aufzuwärmen; ich ertrug nicht den Gedanken, im Bett meines Vaters zu schlafen. Schließlich ging ich nach oben, um mir Kopfkissen und Decken zu holen, und versuchte, es mir so gut es ging auf dem Sofa bequem zu machen. Ich stellte den Fernseher kurz nach dem Abspann vom Ende des Mythos der Welse ab. Die Nacht war undurchdringlich, die Stille ebenfalls.

2

Alles geht irgendwann zu Ende, sogar die Nacht. Ich wurde durch Hauptmann Chaumonts klare, sonore Stimme aus einer echsenhaften Lethargie gerissen. Er entschuldigte sich, er habe keine Zeit gehabt, am Abend zuvor vorbeizukommen. Ich bot ihm einen Kaffe an. Während ich das Wasser aufsetzte, stellte er seinen Laptop auf den Küchentisch und schloß den Drucker an. Auf diese Weise könne ich meine Aussage noch einmal durchlesen und unterzeichnen, ehe er fortgehe; ich gab ein zustimmendes Murmeln von mir. Die Gendarmerie sei zu sehr mit Verwaltungsangelegenheiten eingedeckt, leide darunter, daß sie ihrer eigentlichen Aufgabe, der Ermittlung, nicht genügend Zeit widmen könne, sagte ich, das hätte ich verschiedenen Fernsehberichten entnommen. Diesmal stimmte er mir warmherzig zu. Das war mal eine Vernehmung, die unter guten Voraussetzungen begann und sich in einer Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens abspielte. Windows setzte sich mit einem leisen, fröhlichen Geräusch in Gang.

Der Tod meines Vaters war am Abend oder in der Nacht des 14. November eingetreten. Ich hatte an jenem Tag gearbeitet; am 15. ebenfalls. Selbstverständlich hätte ich meinen Wagen nehmen, meinen Vater umbringen und in der Nacht wieder zurückfahren können. Was ich am Abend oder in der Nacht des 14. November getan hätte. Soweit ich weiß, nichts; nichts Besonderes. Auf jeden Fall konnte ich mich an nichts erinnern; dabei war das noch nicht einmal eine Woche her. Ich hatte weder einen festen Sexualpartner noch einen wirklich engen Freund; wie sollte ich mich unter diesen Bedingungen schon erinnern? Die Tage vergingen, das war alles. Ich warf Hauptmann Chaumont einen Blick des Bedauerns zu; ich hätte ihm gern geholfen, ihm irgendeinen Anhaltspunkt gegeben, der ihn weiterbrachte. »Ich sehe mal in meinem Terminkalender nach …«, sagte ich. Ich versprach mir nichts davon; seltsamerweise aber stand neben dem Datum des 14. eine Handynummer und darunter ein Vorname: »Coralie.« Was für eine Coralie? Dieser Terminkalender war wirklich das letzte.

»Ich habe ein Gehirn wie ein Haufen Scheiße …«, sagte ich mit einem enttäuschten Lächeln. »Ich weiß nicht, aber vielleicht war ich auf einer Vernissage.«

»Einer Vernissage?« Er wartete geduldig, wobei seine Finger ein paar Zentimeter über der Tastatur verharrten.

»Ja, ich arbeite im Kulturministerium. Ich stelle Dossiers zur Finanzierung von Ausstellungen oder Veranstaltungen zusammen.«

»Veranstaltungen?«

»Ja … zeitgenössischer Tanz oder ähnliches …« Mich überkam ein Gefühl der Verzweiflung, ich schämte mich zutiefst.

»Also kurz gesagt, Sie sind in der Kulturszene tätig.«

»Ja, so ist es … So kann man das sagen.« Er blickte mich mit einer Mischung aus Sympathie und Ernst an. Er wußte, daß es einen kulturellen Sektor gab, hatte davon eine reale, wenn auch undeutliche Vorstellung. Er hatte in seinem Beruf sicherlich mit allen möglichen Leuten zu tun; kein gesellschaftliches Milieu dürfte ihm völlig fremd sein. Die Gendarmerie ist ein Humanismus.

Das weitere Gespräch verlief recht normal; ich hatte im Fernsehen schon Filme über gesellschaftliche Themen gesehen, war also auf diese Art von Dialogen vorbereitet. Ob mein Vater Feinde besessen habe. Nein, aber ehrlich gesagt auch keine Freunde. Wie dem auch sei, mein Vater war nicht bedeutend genug, um Feinde zu haben. Wem könne sein Tod Vorteile bringen? Nun, mir natürlich. Wann ich ihn zuletzt besucht hätte. Vermutlich im August. Im August gibt es im Büro nie viel zu tun, aber meine Kollegen sind gezwungen, in Urlaub zu fahren, da sie Kinder haben. Ich bleibe in Paris, spiele Solitär auf dem Computer und gönne mir ein verlängertes Wochenende um den 15. August herum; in diesem Rahmen spielten sich meine Besuche bei meinem Vater ab. Ob ich mich übrigens mit meinem Vater gut verstanden hätte. Ja und nein. Eher nicht gut, aber ich besuchte ihn ein- oder zweimal im Jahr, das sei ja schon nicht schlecht.

Er nickte. Ich spürte, daß die Befragung zu Ende ging; ich hätte ihm gern mehr gesagt. Ich spürte, wie eine unbegründete, anormale Sympathie für Hauptmann Chaumont in mir aufkam. Er schaltete bereits seinen Drucker ein. »Mein Vater war sehr sportlich!« stieß ich abrupt hervor. Er blickte fragend zu mir auf. »Ich weiß nicht …«, sagte ich und breitete dabei die Hände verzweifelt aus, »ich wollte nur sagen, daß er sehr sportlich war.« Mit einer unwilligen Geste setzte er das Druckprogramm in Gang.

Nachdem ich meine Aussage unterzeichnet hatte, begleitete ich Hauptmann Chaumont zur Tür. Mir sei klar, daß ich ein enttäuschender Zeuge sei, sagte ich zu ihm. »Alle Zeugen sind enttäuschend …«, erwiderte er. Ich sann eine Weile über diesen Aphorismus nach. Vor uns breitete sich die grenzenlose Langeweile der Felder aus. Hauptmann Chaumont stieg in seinen Peugeot 305; er werde mich über den Fortgang der Ermittlungen auf dem laufenden halten. Beim Tod eines direkten Verwandten hat man im öffentlichen Dienst Anrecht auf drei freie Tage. Ich hätte also gemächlich heimkehren und mir noch ein paar Camemberts aus örtlicher Produktion kaufen können; aber ich fuhr sofort über die Autobahn nach Paris zurück.

Meinen letzten freien Tag verbrachte ich in verschiedenen Reisebüros. Ich mochte die Urlaubskataloge, ihre Abstraktion, ihre Art, Orte aus der ganzen Welt auf eine begrenzte Sequenz von Tarifen und möglichem Glück zu reduzieren; mir gefiel vor allem das Sternchensystem, um die Größe des Glücks anzuzeigen, die man berechtigterweise erwarten durfte. Ich war nicht glücklich, aber ich schätzte das Glück und sehnte mich weiterhin danach. Dem Modell von Marshall zufolge ist der Käufer ein rationales Wesen, das sein Bedürfnis unter Berücksichtigung des Preises zu maximieren sucht; das Modell von Veblen dagegen analysiert den Einfluß der Gruppe auf den Kaufprozeß (je nachdem, ob sich das Individuum mit ihr identifizieren oder sich ihr im Gegenteil entziehen will). Das Modell von Copeland zeigt, daß der Kaufprozeß je nach Kategorie des Produkts bzw. der Serviceleistung (alltäglicher Kauf, überlegter Kauf, spezialisierter Kauf) unterschiedlich ist; aber das Modell von Baudrillard und Becker vertritt die Ansicht, daß der Akt des Konsumierens zugleich bedeutet, Zeichen zu produzieren. Im Grunde fühlte ich mich eher von dem Modell von Marshall angezogen.

Als ich meine Arbeit wieder aufnahm, kündigte ich Marie-Jeanne an, daß ich Urlaub nötig habe. Marie-Jeanne ist meine Kollegin; gemeinsam bereiten wir die Ausstellungsunterlagen vor, sind für die Gegenwartskultur tätig. Sie ist fünfunddreißig, hat blondes, glattes Haar und hellblaue Augen; ich weiß nichts über ihr Privatleben. Sie ist von der Rangordnung her eigentlich meine Vorgesetzte; aber das ist ein Aspekt, den sie lieber zu umgehen sucht, sie bemüht sich, den Teamgeist in unserer Abteilung hervorzukehren. Jedesmal, wenn wir Besuch von einer wirklich bedeutenden Persönlichkeit bekommen – einem Vertreter des Gremiums für bildende Kunst oder einem Mitarbeiter aus dem Stab des Ministers – hebt sie den Begriff des Teams hervor. »Und das ist der wichtigste Mann in unserer Abteilung!« ruft sie aus, wenn sie in mein Büro kommt, »der Mann, der mit den Buchhaltungsbilanzen und den Zahlen jongliert … Ohne ihn wäre ich rettungslos verloren.« Anschließend lacht sie; die wichtigen Besucher lachen ebenfalls oder lächeln wenigstens zufrieden. Auch ich lächele, soweit mir das möglich ist. Ich versuche mich in der Rolle des Jongleurs zu sehen; aber in Wirklichkeit brauche ich nur einfache Rechenoperationen zu beherrschen. Auch wenn Marie-Jeanne im Grunde nichts tut, ist ihre Arbeit in Wirklichkeit äußerst komplex: Sie muß sich über die Entwicklung von Bewegungen, künstlerischen Netzwerken und Tendenzen auf dem laufenden halten. Da sie eine kulturelle Verantwortung auf sich genommen hat, besteht die Gefahr, daß man ihr Fortschrittsfeindlichkeit oder sogar Obskurantismus vorwirft; das ist eine Gefahr, gegen die sie sich und damit auch die Institution schützen muß. Und so steht sie in ständigem Kontakt mit Künstlern, Galeristen und Herausgebern von Zeitschriften, die mir ziemlich obskur vorkommen; Telefongespräche versetzen sie immer wieder in Freude, denn ihre Leidenschaft für zeitgenössische Kunst ist nicht geheuchelt. Was mich angeht, stehe ich der Kunst nicht feindlich gegenüber: Aber ich bin eben kein Insider dieses Metiers und auch kein Verfechter der Rückkehr zur Tradition in der Malerei; ich nehme stets die reservierte Haltung ein, die dem Buchhaltungsangestellten angemessen ist. Für ästhetische und politische Fragen bin ich nicht zuständig, meine Aufgabe ist es nicht, neue Einstellungen oder Beziehungen zur Welt zu entwickeln oder zu vertreten. Ich habe in dem Augenblick darauf verzichtet, als meine Schultern sich zu wölben begannen und mein Gesicht immer trauriger wurde. Ich habe so manche denkwürdig gebliebene Ausstellung, Vernissage und Performance besucht. Die Schlußfolgerung, die ich daraus gezogen habe, steht unwandelbar fest: Die Kunst kann das Leben nicht verändern. Auf jeden Fall nicht mein Leben.

Ich hatte Marie-Jeanne von dem Trauerfall unterrichtet; sie empfing mich voller Mitgefühl und legte mir sogar die Hand auf die Schulter. Mein Urlaubsgesuch kam ihr völlig normal vor. »Du mußt einfach mal Bilanz ziehen, Michel«, meinte sie, »dich wieder dir selbst zuwenden.« Ich versuchte, mir die vorgeschlagene Bewegung bildlich vorzustellen, und schloß daraus, daß sie zweifellos recht hatte. »Cécilia kann die Budgetkosten an deiner Stelle fertig machen«, fuhr sie fort, »ich spreche mit ihr darüber.« Worauf spielte sie eigentlich an, und wer war diese Cécilia? Ich blickte mich um und entdeckte den Entwurf für ein Plakat, und dann fiel es mir wieder ein. Cécilia war eine dicke rothaarige junge Frau, die ständig Cadbury-Riegel aß und seit zwei Monaten in der Abteilung arbeitete: Sie hatte einen zeitlich befristeten Vertrag oder eine ABM-Stelle, kurz gesagt, sie war jemand, der ziemlich belanglos war. Und tatsächlich, kurz vor dem Tod meines Vaters hatte ich an den Budgetkosten für die Ausstellung »Hände hoch, ihr Schlingel!« gearbeitet, die im Januar in Bourg-la-Reine eröffnet werden sollte. Es handelte sich um Fotos vom brutalen Vorgehen der Polizei im Departement Les Yvelines, die mit dem Teleobjektiv aufgenommen worden waren; das Ganze war aber nicht als Dokumentation aufgezogen, sondern eher als Theatralisierungsprozeß des Raums, begleitet von kleinen Anspielungen auf verschiedene Krimiserien, die das Los Angeles Police Department als Rahmen hatten. Der Künstler hatte einen humorvollen statt des zu erwartenden gesellschaftskritischen Ansatzes bevorzugt. Kurz gesagt, ein interessantes Projekt, das weder zu teuer noch zu komplex war; selbst eine Nulpe wie Cécilia war fähig, die Sollkostenrechnung durchzuführen.

Wenn ich aus dem Büro kam, sah ich mir im allgemeinen erst mal eine Peepshow an. Das kostete fünfzig Franc oder manchmal siebzig, wenn die Ejakulation auf sich warten ließ. Der Anblick von sich bewegenden Mösen brachte mich auf andere Gedanken. Die widersprüchlichen Tendenzen der zeitgenössischen Videokunst, das Gleichgewicht zwischen Erhaltung des Kulturguts und Unterstützung des lebendigen Kunstschaffens … all das verschwand schnell vor der einfachen Magie sich bewegender Mösen. Ich entleerte gemächlich meine Hoden. Zur gleichen Zeit stopfte sich Cécilia in einer Konditorei in der Nähe des Ministeriums mit Schokoladenkuchen voll; unsere Motivation war in etwa die gleiche.

Nur ganz selten nahm ich mir eine Privatkabine für fünfhundert Franc; und zwar nur, wenn mein Pimmel nicht auf der Höhe war, wenn ich den Eindruck hatte, daß er einem kleinen anspruchsvollen, nutzlosen Fortsatz ähnelte, der nach Käse roch; dann war es mir ein Bedürfnis, daß ihn eine Frau in die Hand nahm und über die kraftstrotzende Steifheit des Glieds und seinen Samenreichtum in Ekstase geriet, auch wenn die nur geheuchelt war. Wie dem auch sei, ich war vor halb acht wieder zu Hause. Ich begann mit der Sendung »Fragen an den Champion«, die ich auf meinem Videorecorder mit Hilfe der Vorprogrammierung aufgenommen hatte; dann folgten die Nachrichten. Die Krise des Rinderwahns interessierte mich nicht sonderlich, ich ernährte mich hauptsächlich von Kartoffelpüree mit Käse aus der Tüte. Dann ging der Abend weiter. Ich war nicht unglücklich, ich hatte hundertachtundzwanzig Kanäle. Gegen zwei Uhr morgens gab ich mir den letzten Kick mit türkischen Musikkomödien.

So verliefen ein paar Abende ziemlich friedlich, ehe ich einen erneuten Anruf von Hauptmann Chaumont erhielt. Die Ermittlung war gut vorangekommen, sie hatten den mutmaßlichen Mörder gefaßt, es war sogar mehr als ein Verdacht, der Mann hatte die Tat gestanden. Sie wollten in zwei Tagen einen Lokaltermin durchführen, ob ich daran teilnehmen möchte. O ja, sagte ich, o ja.

Marie-Jeanne beglückwünschte mich zu diesem mutigen Entschluß. Sie sprach von Trauerarbeit, vom Rätsel der Abstammung; sie benutzte gesellschaftlich akzeptable, aus einem begrenzten Register stammende Wendungen, aber das war unwichtig: Ich spürte, daß sie eine gewisse Zuneigung für mich hegte, das überraschte mich, tat mir aber gut. Frauen können trotz allem noch Zuneigung hegen, sagte ich mir, als ich in den Zug nach Cherbourg stieg. Selbst im Beruf tendieren sie dazu, affektive Beziehungen zu entwickeln, sie haben Schwierigkeiten, sich in einer Welt zu bewegen, in der es keine affektiven Beziehungen gibt, das ist eine Atmosphäre, in der sie sich nur schwer entfalten können. Sie leiden unter dieser Schwäche, die Rubrik »Seele & Gemüt« in Marie Claire stößt sie immer wieder darauf: Sie täten besser daran, den beruflichen und den affektiven Bereich deutlich zu trennen; aber es gelingt ihnen nicht, und die Rubrik »Liebe & Sex« bestätigt das mit gleicher Regelmäßigkeit. Auf der Höhe von Rouen ging ich nochmals die Einzelheiten der Affäre durch. Die große Entdeckung, die Hauptmann Chaumont gemacht hatte, bestand darin, daß Aïcha eine »intime Beziehung« mit meinem Vater unterhalten hatte. Wie häufig und in welcher Form? Das wußte er nicht, und das stellte sich auch für den Fortgang der Ermittlungen als nebensächlich heraus. Einer von Aïchas Brüdern gab sehr bald zu, daß er den alten Mann aufgesucht hatte, »um eine Erklärung zu verlangen«, und daß das Gespräch ausgeartet war und er ihn leblos auf dem Betonboden des Heizungskellers zurückgelassen hatte.

Der Lokaltermin wurde im Prinzip vom Untersuchungsrichter durchgeführt, einem kleinen hageren, strengen Mann, der eine Flanellhose und ein dunkles Polohemd trug und dessen Gesicht ständig von einem gereizten, krampfhaften Lächeln verzerrt wurde; aber Hauptmann Chaumont setzte sich schnell als der eigentliche Zeremonienmeister durch. Lebhaft und munter empfing er die Teilnehmer, sagte zu jedem ein Wort des Willkommens, führte sie an ihren Platz: Er machte einen äußerst glücklichen Eindruck. Es war sein erster Mordfall, und er hatte ihn in einer knappen Woche gelöst. In dieser finsteren, banalen Geschichte war er der einzige wirkliche Held. Sichtlich bedrückt, das Gesicht von einem schwarzen Kopftuch umrahmt, saß Aïcha in sich zusammengesunken auf einem Stuhl und hob bei meiner Ankunft kaum die Augen; sie wandte ostentativ den Blick von der Stelle ab, an der ihr Bruder stand. Der war von zwei Gendarmen eingerahmt und starrte mit bockiger Miene zu Boden. Er hatte ganz das Aussehen eines gewöhnlichen kleinen Rohlings; ich empfand nicht die geringste Sympathie für ihn. Als er die Augen hob, kreuzte er meinen Blick und erkannte mich sicher. Welche Rolle ich hier spielte, wußte er, man hatte ihn bestimmt eingeweiht: Seinen brutalen Vorstellungen zufolge hatte ich ein Anrecht auf Rache, ich konnte Rechenschaft für das Blut meines Vaters fordern. Mir war die Beziehung klar, die sich zwischen uns herstellte, ich sah ihn starr an, ohne die Augen abzuwenden; langsam ließ ich in mir den Haß hochsteigen und atmete freier, es war ein angenehmes, starkes Gefühl. Hätte ich eine Waffe zur Hand gehabt, ich hätte ihn ohne zu zögern niedergeknallt. Diesen kleinen Dreckskerl zu töten erschien mir nicht nur als eine banale, sondern als eine wohltuende, positive Handlung. Ein Gendarm zeichnete mit Kreide Markierungen auf den Boden, und die Rekonstruktion begann. Nach Aussage des Angeklagten lag die Sache ganz einfach: Im Laufe der Diskussion hatte er sich aufgeregt und meinen Vater mit Gewalt zurückgestoßen. Dieser war nach hinten gefallen, sein Schädel war auf dem Boden zerschmettert; in panischer Angst hatte er sofort die Flucht ergriffen.

Selbstverständlich log er, und Hauptmann Chaumont hatte keine Mühe, ihm das nachzuweisen. Die Schädeluntersuchung des Opfers hatte einwandfrei ergeben, daß der Täter mit Härte und Verbissenheit vorgegangen war; an der Leiche waren zahlreiche Prellungen festgestellt worden, die vermutlich auf eine Reihe von Fußtritten zurückgingen. Das Gesicht meines Vaters war außerdem so brutal über den Boden geschleift worden, daß praktisch ein Auge aus der Augenhöhle gesprungen war. »Ich weiß nicht mehr …«, sagte der Angeklagte, »ich habe einen Wutanfall bekommen.« Wenn man seine sehnigen Arme, sein schmales, böses Gesicht betrachtete, fiel es einem nicht schwer, ihm das abzunehmen: Er hatte ohne Vorsatz gehandelt, war vermutlich in Panik geraten durch das Aufprallen des Schädels auf den Boden und den Anblick des ersten Blutes. Seine Verteidigungsstrategie war klar und glaubhaft, vor Gericht würde er sich damit sehr gut aus der Affäre ziehen: ein paar Jahre mit Bewährung, mehr nicht. Befriedigt über den Ablauf des Nachmittags schickte sich Hauptmann Chaumont an, die Sache abzuschließen. Ich stand von meinem Stuhl auf, ging auf die Fenstertür zu. Es wurde dunkel: Ein paar Schafe beendeten ihren Tag. Auch sie sind dumm, vielleicht noch dümmer als Aïchas Bruder; aber in ihren Genen ist keine Gewaltreaktion programmiert. Am letzten Abend ihres Lebens blöken sie vor Aufregung, ihr Herzrhythmus beschleunigt sich, ihre Beine bewegen sich verzweifelt; dann fällt ein Schuß aus der Pistole, das Leben verläßt sie, und ihr Körper verwandelt sich in Fleischerware. Nachdem wir dem einen oder anderen die Hand geschüttelt hatten, gingen wir auseinander; Hauptmann Chaumont bedankte sich, daß ich gekommen war.

Ich sah Aïcha am folgenden Tag wieder; auf den Rat des Häusermaklers hin hatte ich beschlossen, das Haus vor den ersten Besichtigungen gründlich saubermachen zu lassen. Ich gab ihr die Schlüssel, dann begleitete sie mich zum Bahnhof von Cherbourg. Der Winter ergriff Besitz vom Bocage, Nebelmassen türmten sich über den Hecken. Zwischen ihr und mir war die Sache nicht einfach. Sie hatte die Sexualorgane meines Vaters kennengelernt, was leicht zu einer etwas unangebrachten Vertrautheit führen konnte. All das war im ganzen genommen ziemlich überraschend: Sie machte den Eindruck einer seriösen jungen Frau, und mein Vater hatte nichts von einem Verführer. Er muß wohl doch gewisse anziehende Züge, gewisse liebenswerte Seiten gehabt haben, die mir entgangen waren; tatsächlich hatte ich sogar Mühe, mich an seine Gesichtszüge zu erinnern. Die Männer leben nebeneinander wie die Rinder; es gelingt ihnen höchstens von Zeit zu Zeit, gemeinsam eine Flasche Schnaps zu kippen.

Aïchas VW hielt auf dem Bahnhofsvorplatz; mir war klar, daß es besser wäre, wenn ich ein paar Worte sagen würde, ehe wir auseinandergingen. »Also …«, sagte ich. Nach ein paar Sekunden wandte sie sich mit dumpfer Stimme an mich: »Ich habe vor, diese Gegend zu verlassen. Ich habe einen Freund, der mir einen Job als Kellnerin in Paris besorgen kann; ich setze meine Ausbildung dort fort. Meine Familie betrachtet mich sowieso als Hure.« Ich gab ein verständnisvolles Gemurmel von mir. »In Paris sind mehr Menschen …«, versuchte ich schließlich gequält mein Glück; sosehr ich mir auch den Kopf zerbrach, das war alles, was mir zu Paris einfiel. Diese äußerst magere Erwiderung schien sie nicht zu entmutigen. »Von meiner Familie habe ich nichts zu erwarten«, fuhr sie mit unterdrückter Wut fort. »Sie sind nicht nur arm, sondern außerdem noch blöd. Vor zwei Jahren hat mein Vater eine Pilgerreise nach Mekka gemacht; seither ist nichts mehr mit ihm anzufangen. Meine Brüder sind noch schlimmer: Sie unterstützten sich gegenseitig in ihrer Dummheit, besaufen sich mit Pastis und behaupten gleichzeitig, die Verfechter des wahren Glaubens zu sein; und sie erlauben sich, mich als Schlampe zu bezeichnen, weil ich Lust habe zu arbeiten, anstatt einen Idioten wie sie zu heiraten.«

»Ja, das stimmt, im großen und ganzen sind die Muslime nicht gerade berauschend …«, sagte ich verlegen. Ich nahm meine Reisetasche und öffnete die Tür. »Sie schaffen es bestimmt …«, murmelte ich ohne Überzeugung. In diesem Augenblick hatte ich eine Art Vision von den Migrationsströmen, die sich wie Blutgefäße durch Europa zogen; die Muslime tauchten wie Gerinnsel darin auf, die sich langsam auflösten. Aïcha blickte mich zweifelnd an. Die Kälte drang in den Wagen ein. Vom Kopf her gelang es mir, eine gewisse Anziehung für die Scheide muslimischer Frauen zu empfinden. Ein wenig gezwungen lächelte ich. Da lächelte auch sie, aber offener. Ich drückte ihr lange die Hand, spürte die Wärme ihrer Finger, ich drückte sie so lange, bis ich fühlte, wie das Blut sanft in der Höhlung des Handgelenks pochte. Ein paar Meter vom Auto entfernt drehte ich mich um und winkte ihr leicht zu. Immerhin hatte eine Begegnung stattgefunden; immerhin hatte sich schließlich etwas ereignet.

Als ich mich im Zugabteil niederließ, sagte ich mir, ich hätte ihr Geld geben sollen. Andererseits hätte sie das wahrscheinlich falsch ausgelegt. Seltsamerweise wurde mir in diesem Augenblick zum erstenmal bewußt, daß ich bald ein reicher Mann sein würde; na ja, ein relativ reicher Mann. Die Überweisung von den Konten meines Vaters war bereits erfolgt. Ansonsten hatte ich eine Autowerkstatt mit dem Verkauf des Wagens und einen Häusermakler mit dem des Hauses beauftragt; alles war sehr einfach vonstatten gegangen. Der Wert dieser Güter wurde durch die Gesetze des Marktes festgesetzt. Natürlich war da noch Verhandlungsspielraum: 10 % in beiden Fällen, mehr nicht. Der Steuersatz war ebenfalls kein Geheimnis: Man brauchte nur die sehr gut gemachten kleinen Broschüren lesen, die auf dem Finanzamt auslagen.

Vermutlich hatte mein Vater mehrfach daran gedacht, mich zu enterben; letztlich hatte er anscheinend darauf verzichtet. Er hatte sich wohl gesagt, daß es zu kompliziert war und zu viele Formalitäten erforderte, und das alles für ein unsicheres Ergebnis (denn es ist nicht einfach, seine Kinder zu enterben, das Gesetz bietet einem nur begrenzte Möglichkeiten: Die kleinen Drecksäcke versauen einem nicht nur das Leben, sondern anschließend profitieren sie auch noch von allem, was man unter Aufbietung größter Anstrengungen hat zur Seite schaffen können). Er hatte sich wohl vor allem gesagt, daß sich die Sache einfach nicht lohnte – denn was konnte ihn das schon kratzen, was nach seinem Tod geschah. So hatte er meiner Ansicht nach argumentiert. Wie dem auch sei, der alte Arsch war tot, und ich würde das Haus verkaufen, in dem er seine letzten Jahre verbracht hatte; ich würde ebenfalls den Toyota Land Cruiser verkaufen, der ihm dazu gedient hatte, Sechserpacks Evian aus dem Supermarkt Casino Géant in Cherbourg nach Hause zu bringen. Was hätte ich, der ich in der Nähe des Jardin des Plantes wohne, schon mit einem Toyota Land Cruiser anfangen sollen? Ich hätte mit Ricotta gefüllte Ravioli vom Markt in der Rue Mouffetard nach Hause bringen können, das war auch schon fast alles. Bei Erbschaft in direkter Linie ist die Erbschaftssteuer nicht sehr hoch – selbst wenn die Gefühlsbande ihrerseits nicht sehr stark gewesen sind. Nach Abzug der Steuern konnte ich etwa drei Millionen Franc dabei herausschlagen. Das entsprach etwa dem Fünfzehnfachen meines Jahresgehalts. Das entsprach auch dem, was ein unqualifizierter Arbeiter in Westeuropa im Laufe eines Arbeitslebens hoffen konnte zu verdienen; das war gar nicht so schlecht. Fürs erste war ich damit aus dem Schneider. Das war einen Versuch wert.

In ein paar Wochen würde ich sicherlich einen Brief von der Bank erhalten. Der Zug näherte sich Bayeux, ich konnte mir schon den Ablauf des Gesprächs vorstellen. Der gut geschulte Sachbearbeiter in meiner Zweigstelle würde einen hohen Saldo auf meinem Konto bemerken und den Wunsch zum Ausdruck bringen, sich einmal mit mir zu unterhalten – wer benötigt nicht irgendwann in seinem Leben einen Anlageberater? Ein wenig mißtrauisch würde ich einer sicheren Anlage den Vorzug geben wollen; er würde diese – so weit verbreitete – Reaktion mit einem leichten Lächeln quittieren. Die meisten unerfahrenen Investoren, das wußte er nur zu gut, legten größeren Wert auf die Sicherheit als auf die Rendite; im Kollegenkreis machten sie sich oft darüber lustig. Ich solle ihn nicht falsch verstehen: In Sachen Vermögensverwaltung verhielten sich ältere Leute wie blutige Anfänger. Was ihn angehe, wolle er sich bemühen, meine Aufmerksamkeit auf ein etwas anderes Vorgehen zu lenken – wobei er mir selbstverständlich genug Zeit lassen werde, um darüber nachzudenken. Wie wäre es, wenn ich zwei Drittel meines Guthabens in eine Anlage ohne böse Überraschungen, aber mit geringer Rendite investierte? Und das letzte Drittel für eine Anlage verwendete, die zwar etwas abenteuerlicher war, dafür aber eine echte Möglichkeit der Wertsteigerung bot? Nach mehrtägigem Nachdenken, das wußte ich, würde ich mich seinen Argumenten beugen. Er würde sich durch meine Zustimmung bestätigt fühlen und die Unterlagen mit einem Prickeln der Begeisterung vorbereiten – und unser Händedruck beim Abschied würde ausgesprochen herzlich ausfallen.

Ich lebte in einem Land, das durch einen sanften Sozialismus geprägt war, in dem der Besitz materieller Güter durch eine strenge Gesetzgebung garantiert und das Bankenwesen von hohen staatlichen Garantien untermauert war. Solange ich mich nicht außerhalb der Grenzen der Legalität bewegte, bestand keine Gefahr der Veruntreuung oder eines betrügerischen Bankrotts. Kurz gesagt, ich brauchte mir keine allzu großen Sorgen mehr zu machen. Ich hatte sie im übrigen nie wirklich kennengelernt: Nach einem ernsthaften, wenn auch nicht gerade glänzenden Studium hatte ich mich ziemlich schnell dem staatlichen Sektor zugewandt. Das war Mitte der achtziger Jahre gewesen, in den Anfängen der Modernisierung des Sozialismus, zu der Zeit, da der illustre Jack Lang die staatlichen Kulturinstitutionen mit Glanz und Gloria überhäufte; mein Anfangsgehalt war durchaus annehmbar gewesen. Dann war ich älter geworden und hatte ohne Unruhe den verschiedenen politischen Veränderungen beigewohnt. Ich war höflich, korrekt, wurde von meinen Kollegen und Vorgesetzten geschätzt; doch da mir ein herzlich-einnehmendes Wesen fehlt, ist es mir nicht gelungen, echte Freundschaften zu schließen. Die Dunkelheit legte sich schnell über die Umgebung von Lisieux. Warum hatte ich in meiner Arbeit nie eine ähnliche Leidenschaft entwickelt wie Marie-Jeanne? Warum hatte ich, ganz allgemein gesagt, nie eine wirkliche Leidenschaft in meinem Leben entwickelt?

Es vergingen noch ein paar Wochen, die mir auch keine Antwort darauf gaben. Am Vormittag des 23. Dezember fuhr ich dann mit dem Taxi nach Roissy.

3

Und jetzt stand ich allein, wie ein Vollidiot, ein paar Meter vor dem Schalter von Nouvelles Frontières. Es war ein Samstagmorgen in der Weihnachtszeit und der Flughafen Roissy wie gewöhnlich überfüllt. Sobald die Bewohner Westeuropas ein paar freie Tage haben, rasen sie ans andere Ende der Welt, fliegen um den halben Erdball und führen sich buchstäblich auf wie aus dem Zuchthaus Entflohene. Ein Tadel liegt mir fern; ich schicke mich an, das gleiche zu tun.

Meine Träume sind beschränkt. Wie alle Bewohner Westeuropas möchte ich reisen. Aber es gibt da gewisse Schwierigkeiten: die Sprachbarrieren, die schlecht organisierten öffentlichen Verkehrsmittel, die Gefahr, bestohlen oder übers Ohr gehauen zu werden. Um die Dinge beim Namen zu nennen: Mein Wunsch besteht im Grunde darin, Tourismus zu betreiben. Man träumt nur davon, was man sich leisten kann; und mein Traum besteht darin, endlos die »Rundreisen der Leidenschaft«, die »farbenfrohen Aufenthalte« und die »Freuden nach Wahl« aneinanderzureihen – um die Themen der drei Kataloge von Nouvelles Frontières aufzugreifen.

Mein Entschluß stand schnell fest: eine Rundreise; allerdings habe ich ziemlich lange gezögert zwischen »Rum und Salsa« (Code CUB CO 033, 16 Tage/14 Nächte, 11 250 Franc im Doppelzimmer, Aufpreis für Einzelzimmer: 1350 Franc) und »Tropic Thai« (Code THA CA 006, 15 Tage/13 Nächte, 9950 Franc im Doppelzimmer, Aufpreis für Einzelzimmer: 1175 Franc). Tatsächlich reizte mich Thailand mehr; aber Kuba hat den Vorteil, daß es eines der letzten kommunistischen Länder ist und in dieser Form vermutlich nicht mehr lange bestehen wird, also der Aspekt des baldigen Untergangs eines Regimes, ein gewisser politischer Exotismus usw. Schließlich habe ich mich für Thailand entschieden. Ich muß zugeben, daß der Werbetext für diese Reise geschickt aufgesetzt war und sich vorzüglich dazu eignete, die Durchschnittsseelen zu ködern:

»Eine organisierte Rundreise mit einem Hauch von Abenteuer, die Sie von den Bambuswäldern am River Kwai zur Insel Koh Samui führt, ehe sie nach einer herrlichen Fahrt quer über den Isthmus von Kra auf der Insel Koh Phi Phi auf der Höhe von Phuket endet. Eine ›coole‹ Reise in tropischer Umgebung.«

Um Punkt halb neun schlägt Jacques Maillot die Tür seines Hauses am Boulevard Blanqui im 13. Arrondissement hinter sich zu, steigt auf seinen Motorroller und durchquert die Hauptstadt von Osten nach Westen. Sein Ziel: der Firmensitz Nouvelles Frontières am Boulevard de Grenelle. Jeden zweiten Tag macht er unterwegs in drei oder vier von seinen Reisebüros halt: »Ich bringe die neuesten Kataloge mit, sammle die Post ein und mache mir ein Bild von der Stimmung, die dort herrscht«, erklärt dieser tatkräftige Boß, der stets mit einer unmöglichen, farbenprächtigen Krawatte ausstaffiert ist. Ein geeignetes Mittel, um die Angestellten aufzuputschen: »In den darauffolgenden Tagen gehen die Verkaufszahlen in diesen Büros schlagartig in die Höhe …«, erklärt er lächelnd. Offensichtlich noch seinem Charme erlegen, drückt die Journalistin von Capital ein paar Zeilen weiter ihre Verwunderung aus: Wer hätte 1967 schon voraussagen können, daß die kleine, von einer Handvoll antiautoritärer Studenten gegründete Gesellschaft einen solchen Aufstieg erleben würde? Gewiß nicht die Tausende von Demonstranten, die im Mai 68 vor dem ersten Büro von Nouvelles Frontières auf der Place Denfert-Rochereau in Paris vorbeimarschierten. »Wir waren haargenau an der richtigen Stelle, den Fernsehkameras gegenüber …«, erinnert sich Jacques Maillot, der ehemalige Pfadfinder und linke Katholik, der sich in der Studentenorganisation UNEF engagiert hatte. Es war der erste werbewirksame Coup des Unternehmens, dessen Name auf John F. Kennedys Reden über die »neuen Grenzen« Amerikas zurückgeht.

Als überzeugter Anhänger des Liberalismus hatte Jacques Maillot mit Erfolg das Monopol von Air France bekämpft, um den Luftverkehr zu demokratisieren. Die Odyssee seines Unternehmens, das in gut dreißig Jahren zum größten französischen Reiseveranstalter aufgestiegen war, faszinierte die Wirtschaftszeitschriften. So wie die FNAC und der Club Méditerranée symbolisierte Nouvelles Frontières – dessen Entstehung mit den Anfängen der Freizeitgesellschaft zusammenfällt – ein neues Gesicht des modernen Kapitalismus. Im Jahr 2000 war die Tourismusindustrie vom Umsatz her erstmals zum wichtigsten Wirtschaftssektor der Welt aufgestiegen. Auch wenn Tropic Thai nur eine durchschnittliche körperliche Verfassung voraussetzte, wurde sie den »Abenteuerreisen« zugerechnet: unterschiedliche Kategorien der Unterbringung während der Reise (einfach, Standard, Hotels der ersten Kategorie); Anzahl der Teilnehmer auf zwanzig begrenzt, um einen besseren Zusammenhalt der Gruppe zu gewährleisten. Ich sah, wie sich zwei hübsche schwarze Miezen mit Rucksäcken näherten, und gab mich der Hoffnung hin, daß sie die gleiche Rundreise gewählt hatten; dann senkte ich den Blick und holte meine Reiseunterlagen ab. Der Flug dauerte gut elf Stunden.

Leibesvisitation