Cover

Ulrike Schweikert

Nosferas

Die Erben der Nacht

Karte von Rom

PROLOG:
EIN GEHEIMES TREFFEN

 

Die Schwüle drückte schwer wie Unheil auf das Tal herunter, in dem sich der Genfer See mit seinem tiefen Wasser ausbreitete. Noch war das Wasser spiegelglatt. Kein Windhauch verschaffte Kühlung, doch zwischen den Berggipfeln ballten sich bereits die ersten dunklen Wolken zusammen und verhüllten die Sterne. Schwarz und drohend stießen sie immer höher in den Himmel. Das Donnergrollen sprang von einer Felswand zur anderen. Ein erster Blitz zuckte über den Himmel und spiegelte sich gleißend im Wasser. Und dann kam der Wind, der den Spiegel zu schäumenden Wellen aufwühlte und an den Zweigen der Bäume zerrte. Wie das Heulen von Wolfsrudeln fegte er aus den Bergen herab und brauste über das Tal.
Die Burganlage lag wie ein am Ufer vertäutes Schiff in den Wellen des Sees. Ihre Mauern verbanden sich mit dem Felsen, der unter ihr steil ins schwarze Wasser abfiel. Schon im Mittelalter hatte die Burg die Straße zwischen dem Großen Sankt Bernhard und Lausanne bewacht und Zoll von jedem Reisenden verlangt, der den schmalen Durchgang zwischen den steilen Bergen und dem Seeufer passieren wollte. Dann war die Burg als Zeughaus und Waffenlager benutzt worden, und auch als Gefängnis. Heutzutage wohnte hier kein Burgvogt mehr, und es gab so manche, die die massigen Mauern von Chillon gern für den Bau der Eisenbahnlinie verwendet hätten.
Ein Donnerschlag ließ das alte Gemäuer erbeben. Regen rauschte herab.
»Nun, ist Euch der Boden neutral und abgelegen genug?«, durchbrach eine Stimme die Gedanken der Frau, die sich über die Fensterbrüstung gelehnt und auf das aufgewühlte Wasser hinabgesehen hatte. Der Wiener Akzent ließ die Worte länger und weicher klingen, als sie in ihrer Heimat im Norden des Deutschen Reiches ausgesprochen wurden.
»Ich habe nicht auf diesem Theater bestanden!« Sie drehte sich um und nahm sich erst Zeit, die andere Frau zu betrachten, ehe sie sie begrüßte.
»Antonia, es ist lange her.« In ihrer Stimme lag weder Freude noch Ablehnung.
»Baronesse* Antonia, Dame Elina«, korrigierte die Frau im Türrahmen in säuerlichem Ton und kam mit rauschenden Röcken näher. Wie ein Wasserfall ergossen sich Rüschen aus pflaumenfarbenem Satin über einer weit schwingenden Krinoline*. Ihr üppiges Dekolleté wurde von einem Rahmen aus schwarzer Spitze eindrucksvoll zur Geltung gebracht. Das schöne Gesicht mit der makellosen Haut war geschminkt und ihr dunkles Haar so kunstvoll aufgesteckt, als wollte sie heute Nacht noch auf einen Ball in der Wiener Hofburg gehen. Ihre Erscheinung war von berückender Perfektion.
»Baronesse Antonia«, wiederholte Dame Elina mit einem unterdrückten Lächeln und hauchte rechts und links der geschminkten Wangen einen Kuss in die Luft.
»Trägt man diese Ungetüme von Reifröcken in Wien noch immer? Ich dachte, selbst die Kaiserin habe schon vor zehn Jahren die Tornüre* entdeckt. – Wobei ich nicht sagen kann, was von beidem unbequemer ist«, fügte sie hinzu und zog eine Grimasse.
»Aus welcher Epoche Euer Kleid stammt, möchte ich lieber nicht fragen«, gab Baronesse Antonia zurück und schürzte verächtlich die Lippen, als ihr Blick an dem schlichten Kleid aus dunkelblauem Tuch hinabglitt, unter dessen Saum die Spitzen von Reitstiefeln hervorlugten. Das ergraute Haar hatte Dame Elina zu einem einfachen Knoten geschlungen. Sie trug keinen Schmuck und war ungeschminkt. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen
• Alle mit * gekennzeichneten Begriffe werden im Anhang näher erläutert.
strahlten ihre Züge eine würdevolle, alterslose Schönheit aus. Auch ihre Haut war ohne jeden Makel und sehr bleich.
»Es ist vielleicht nicht das Eleganteste, aber ungemein praktisch und bequem«, sagte sie absichtlich mit einem Hauch von plattdeutschem Akzent, sodass sich die hübschen Züge der Baronesse noch mehr verzerrten. Die beiden Frauen musterten einander noch immer voller Abneigung, als die Tür geöffnet wurde und einige Männer eintraten, wie sie von Kleidung und Statur her nicht unterschiedlicher hätten sein können:
Ein kleiner, untersetzter Mann mit mausgrauem Haarkranz watschelte auf die Damen zu und küsste ihnen die Hände. »Baronesse Antonia, Dame Elina, ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise. Ist Euer werter Bruder auch gekommen, Baronesse?« Bei jedem Wort entwich süßlicher Verwesungsgestank aus seinem Mund.
Die Wienerin klappte ihren Fächer auf. »Aber natürlich, Conte* Claudio, er ist der Fürst der Dracas. Ich bin lediglich seine – nun sagen wir, Ratgeberin.«
Conte Claudio verneigte sich so tief, wie es seine Körperfülle zuließ. Sein Gewand schimmerte im Schein der Kerzen rubinrot. Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf den Mann, der gerade den Saal betrat. Er war groß gewachsen und wirkte athletisch, sein dunkelbraunes Haar war nach der herrschenden Mode gekämmt, seine Kleider elegant geschnitten und aus teuerstem Stoff.
»Ah, wenn man vom Teufel spricht! Da seid Ihr ja, Baron Maximilian.« Er drückte auch noch den beiden grobschlächtigen Brüdern Lucien und Thibaut vom Pariser Clan der Pyras die Hand und begrüßte den stattlichen Lord* Milton aus London.
»Nun, findet unser Treffpunkt die Zustimmung der werten Herren und Damen?«, fragte der Brite und sah in die Runde.
Dame Elina trat zu ihm und ließ es zu, dass er sich mit der Andeutung eines Kusses über ihre Hand beugte. »Abgelegen und neutral, wie wahr, und fast überirdisch schön, wie für uns erbaut«, sagte sie mit einem Anflug von Spott. »Ich habe bereits die Folterkammer besucht, um den Blick über das Wasser zu genießen. Und wenn ich die Ritzereien in der Kerkerwand richtig entziffert habe, dann hat auch Lord Byron zu seinen Lebzeiten diesen Ausblick bewundert.«
Lord Milton nickte. »Oh ja, sein Gedicht Der Gefangene von Chillon ist sehr gelungen.«
»Ich hoffe, er befindet sich wohl?«, erkundigte sich Dame Elina höflich. »Ich hatte ja noch nicht das Vergnügen, aber man hört Gerüchte …«
Der große Brite schmunzelte. »Ja, er ist nun seit mehr als fünfzig Jahren ein geschätztes Mitglied unserer Gemeinschaft.«
Dame Elinas graue Augen blitzten. »Ich habe von seinem Tod gehört. Schwäche und zu viel Aderlass, heißt es.«
Lord Milton zeigte seine kräftigen weißen Zähne. »Ja, man könnte sagen, der Blutverlust hat unserem großen Dichter das Leben geraubt.«
Sie wandten sich den beiden letzten Ankömmlingen zu. Conte Claudio begrüßte bereits den drahtigen, älteren Mann im irischen Kilt. »Donnchadh, ich grüße Euch. Wie stehen die Dinge auf der grünen Insel?«
Die Männer reichten einander die Hände, doch statt seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, starrte der dicke Römer auf die Frau, die ein Stück hinter dem irischen Clanführer stehen geblieben war.
Sie war wunderschön, mit reiner weißer Haut. Dichte rötliche Locken wallten über ihre Schultern. Ihr seidiges Gewand umschmeichelte ihre schlanke Gestalt. Sie erwiderte seinen Blick aus dunkelgrünen Augen, schwieg jedoch und reichte ihm auch nicht die Hand.
In ihrem menschlichen Leben konnte sie die Zwanzig nicht überschritten haben. Wann dieses Leben allerdings gewesen war und wann es geendet hatte, das konnten weder Dame Elina noch Conte Claudio sagen. Nun war sie jedenfalls kein Mensch mehr, sondern ein Vampir, wie alle anderen auch, die sich heute Nacht hier auf Schloss Chillon versammelt hatten. Und doch gab es Unterschiede. Bedeutende Unterschiede!
»Sie ist ein Schatten!«, stotterte Conte Claudio und zeigte mit dem Finger auf sie. Auch die anderen Vampire wurden nun auf die Frau aufmerksam und starrten sie unverhohlen an.
»Schickt sie raus«, knurrte Baron Maximilian. »Wir werden solch wichtige Dinge doch nicht vor den Ohren einer Unreinen besprechen. Was denkt Ihr Euch eigentlich, Donnchadh? Habt Ihr nicht gesehen, dass wir alle unsere Diener in der Halle zurückgelassen haben?«
Der Ire drehte sich zu der jungen Frau um. Für einen Moment sahen sie sich stumm an, dann senkte sie die langen, dunklen Wimpern.
»Ich erwarte Euch unten«, sagte sie mit erstaunlich tiefer Stimme, nickte ihm einmal zu und verließ dann geräuschlos den Raum. Die Tür schloss mit einem leisen Klicken.
Dame Elina zog einen Sessel zurück und ließ sich auf das Lederpolster sinken. »Es sind alle da. Wollen wir anfangen?« Sie sah in die Runde. Die anderen folgten ihrem Beispiel und ließen sich um den schweren ovalen Eichentisch nieder. Für eine Weile herrschte Stille. Abschätzende Blicke wanderten durch den Raum, kreuzten sich und streiften über die Anwesenden. Die Anspannung war fast greifbar.
Dame Elina von den Vamalia begann, sie offiziell einander vorzustellen. Sie nickte dem stattlichen blonden Vampir mit den kantigen Zügen an ihrer Seite zu. »Lord Milton vom Clan der Vyrad.« Er erhob sich halb und deutete eine Verbeugung an. Dame Elina wandte sich an die beiden Vampire zu seiner Rechten.
»Seigneurs* Lucien und Thibaut de Pyras.« Die beiden grobschlächtigen Vampire aus den Labyrinthen unter Paris verzogen keine Miene, Lucien knurrte leise, aber Dame Elina ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem kleinen, untersetzten Vampir aus Rom.
»Conte Claudio de Nosferas!« Er lächelte und nickte ihr zu. Die Gesichter der nächsten beiden zeigten dagegen Abscheu. Dennoch begrüßte Dame Elina auch die Geschwister aus Wien. »Baron Maximilian und Baronesse Antonia vom Clan der Dracas.« Wie schön sie waren! Man konnte sich ihrer Ausstrahlung nur schwer entziehen.
Zuletzt richtete Dame Elina ihren Blick auf den irischen Clanführer, aus dessen Haar bereits der letzte rötliche Schimmer gewichen war. »Donnchadh vom Clan der Lycana.« Er lächelte nicht, erwiderte ihren Blick jedoch aus seinen dunklen Augen mit einer Intensität, die Dame Elina schaudern ließ.
Sie räusperte sich und sah zu Lord Milton zurück, der das Wort ergriff, ehe sie ihre Begrüßung beenden konnte. Er benutzte die kehlige Sprache der Vampire, die sie vom Anbeginn der Zeit miteinander verband.
»Wir sind hier zusammengekommen, weil uns allen inzwischen klar geworden sein dürfte, wie ernst die Lage ist. Ich denke, wir sind uns einig …«
»Wir sind uns überhaupt nicht einig!«, unterbrach ihn Baron Maximilian in scharfem Ton. »Mit welchem Recht übernehmt Ihr den Vorsitz?«
»Nun, einer muss die Misere aussprechen«, gab Lord Milton genauso scharf zurück. Die Männer funkelten einander an. Die Seigneurs Lucien und Thibaut fauchten und entblößten ihre Reißzähne.
»Es ist eine Tatsache, dass es um den Fortbestand unserer Familien erschreckend steht!«, erhob Dame Elina ihre Stimme.
»Ach ja? Und deshalb ermuntert Ihr Eure Unreinen, die Herrschaft zu ergreifen«, rief Baronesse Antonia.
»Wir leben frei und gleichberechtigt mit unseren Servienten – wir bevorzugen, sie so zu nennen! Doch Ihr mit Eurem Verhalten fordert einen Umsturz geradezu heraus!«
»Sklaven muss man wie Sklaven behandeln.« Die spitzen Zähne der Baronesse blitzten.
»Sie sind unsere Schatten, die uns dienen, ja, aber keine Sklaven«, widersprach Conte Claudio und faltete seine Hände über dem runden Bauch.
»Sklaven, Diener, Umsturz, darum geht es doch gar nicht«, schimpfte Seigneur Lucien. »Es geht um die Kinder. Um unsere Kinder!«
»Dass Euch in Frankreich eine Revolte nicht schreckt, wundert mich nicht«, gab Baron Maximilian zurück. »Ihr habt damit ja reichlich Erfahrung. In Österreich-Ungarn sind die Verhältnisse noch, wie sie sein sollen, und jeder kennt seinen Platz!«
Dame Elina lachte hell auf. »Das hätte Euer Kaiser wohl gern! Sein Festhalten an Ungarn, Böhmen und Kroatien wird ihm das Genick brechen und ihm mehr Revolutionen einbringen, als Frankreich je hatte! Und dann auch noch die Herzegowina! Er kann den Hals nicht voll kriegen. Österreich hätte die Völker ziehen lassen und sich dem großen Deutschen Reich anschließen sollen. So hat der Zerfall für Euch bereits begonnen. Seht Euch Italien an! Es hat sich seine Länder zurückgeholt und sich vom verhassten österreichischen Joch befreit!«
»Weib, schweigt und sprecht nicht von politischen Dingen, von denen Ihr nichts versteht!« Alle redeten durcheinander.
»Ruhe!«, rief Lord Milton und schlug so hart mit der Faust auf den Tisch, dass ein Knacken durch das Eichenholz lief. »Was interessiert uns die Politik der Menschen?«
Plötzlich sprang Seigneur Lucien auf. »Menschenblut.« Die Vampire verstummten. »Ich kann es wittern. Drunten in der Halle.«
Conte Claudio schüttelte den fast kahlen Schädel. »Seigneur, Ihr müsst Euch irren. In der Halle sind nur unsere Schatten.«
»Er irrt sich nicht«, bestätigte Seigneur Thibaut. Seine Augen leuchteten rot. Sie starrten auf die Türklinke, die sich langsam senkte.
Alle sprangen von ihren Stühlen auf. Die Tür öffnete sich und eine Gestalt in einem dunkelgrünen Gewand trat herein. Zuerst konnten die Versammelten nur erkennen, dass sie selbst für einen Menschen ungewöhnlich klein und schmächtig war. Die Gesichtszüge blieben unter einer Kapuze verborgen. Zwei Wölfe folgten ihr und setzten sich, als sie stehen blieb, zu beiden Seiten. Aufrecht saßen die beiden Raubtiere da, nur ihre gelben Augen bewegten sich und musterten die Vampire durchdringend.
»Habe ich es mir doch gedacht, dass ihr euch gegenseitig an die Kehle geht, kaum dass ihr euch hier versammelt habt«, sagte eine warme Stimme mit einem Lachen. Eine faltige Hand kam aus dem weiten Ärmel und schob die Kapuze zurück. Die kleine Frau betrachtete die Anwesenden aus grünen Augen, die die gleiche Farbe hatten wie ihr wallendes Gewand. Ihr Gesicht war vom Alter ausgemergelt, tiefe Furchen legten die Haut, die die Sonne gebräunt hatte, in Falten. Die Frau lächelte und hielt sich erstaunlich gerade, als sie auf einen leeren Stuhl zustrebte. Den Stab in ihrer Hand benötigte sie jedenfalls nicht als Stütze.
Donnchadh legte die Hand auf die Brust. »Tirana*, es ist uns eine Ehre.« Er kam auf sie zu, doch sie setzte sich, ehe er den Stuhl erreichte.
»Du weißt, dass ich kein Landlord bin. Das Land ist frei! Es gehört den Tieren und den Pflanzen. Wir sind nur geduldet.«
»Ja, Lady Tara«, sagte er nur und kehrte zu seinem Platz zurück.
Dame Elina reckte den Hals. »Ihr seid also die Druidin Tara.« Die Vampire nahmen wieder ihre Plätze ein. Die alte Frau nickte. Sie zeigte keine Furcht.
»Menschenblut«, sagte Seigneur Thibaut noch einmal leise. Auch Dame Elina konnte das Blut der alten Frau riechen, doch sie spürte noch etwas anderes. Starke, uralte Magie, wie man sie in der freien Hansestadt Hamburg schon lange nicht mehr finden konnte. Verstohlen ließ sie ihren Blick schweifen. Die anderen Clanführer starrten die alte Menschenfrau an. In ihren Gesichtern konnte sie Misstrauen oder gar Feindseligkeit lesen. Nur Donnchadh schien erleichtert.
»So, da seid ihr also alle hier auf Schloss Chillon zusammengekommen – zumindest alle, die die Zeichen erkannt haben und vielleicht auch bereit sind, zu handeln und das zu tun, was nötig ist!«
Interessiert lehnte sich Dame Elina ein Stück in ihrem Stuhl nach vorn und lauschte den Worten der Alten. Sie hatte das Gefühl, sie dürfe nicht ein einziges davon verpassen. War das die Magie, die sie wie eine Wolke umgab? Baron Maximilian öffnete den Mund, um sie zu unterbrechen, doch die Druidin hob die Hand, und so klappte er ihn stumm wieder zu.
»Ihr werdet nachher noch genug Gelegenheit bekommen, euch zu streiten. Darin seid ihr Clans seit jeher mehr als nur gut gewesen!« Dieses Mal war es Baronesse Antonia, die sie unterbrechen wollte, doch wieder setzte sich die Druidin durch.
»Lasst mich das Problem in kurze Worte fassen: Eure Kräfte versiegen, euer Einfluss schwindet und bald werdet auch ihr von dieser Erde getilgt sein. Nicht einmal die Erinnerung an euch wird bleiben.«
Die Vampire schrien empört auf. Für einige Augenblicke ließ die Alte sie gewähren und die Worte schwappten von einer massigen Steinwand zur anderen. Dann hob die Druidin wieder die Hand und die Stimmen verebbten.
»Sagt mir, wann euch das letzte Kind geboren wurde.« Sie sah in die Runde. »Vor zehn Jahren oder elf?«
»Neun«, sagte Dame Elina leise. »Unser jüngster Sohn Thankmar ist neun.«
»Also neun.« Die Druidin nickte. »Seit langer Zeit ist schon kein Kindergeschrei mehr zu hören. Eure Hallen sind vergreist. Wie viele Altehrwürdige habt ihr dagegen zu versorgen, die sich nicht mehr fortbewegen wollen und nur noch Nacht für Nacht das Schwinden ihrer Kräfte beweinen?«
»Oh, mit Kindergeschrei können wir dienen«, warf Conte Claudio ein.
»So?« Die Druidin hob die Augenbrauen. »Du willst mir sagen, dass eine Reine deiner Familie im vergangenen Jahr ein Kind geboren hat?«
Der dicke Römer senkte den Blick. »Äh, nein, das nicht.«
»Sie hat sich also ein Kind geholt, weil sie selbst keines bekommen konnte? Sie hat ein Kleinkind zum Vampir gemacht und es damit verurteilt, auf alle Zeiten ein hilfloser Säugling zu bleiben? Und nun wird sie das von ihr geschaffene Wesen versorgen, bis sie seiner überdrüssig geworden ist. Ist es so?« Conte Claudio murmelte etwa Unverständliches. Die Druidin fixierte ihn noch eine Weile, dann sah sie wieder in die Runde der Clanführer.
»Ihr fürchtet euch, dass ihr von den Wesen, die ihr selbst geschaffen habt, verdrängt werdet? Ja, fürchtet euch zu Recht! Ihr habt euch früh eure eigenen Gräber gegraben. Und es sind weder die Servienten noch die Menschen, die euch für immer darin verbannen werden. Ihr selbst habt dafür gesorgt! Seit Jahrhunderten bekriegt ihr euch und sorgt dafür, dass eure Familien ihre Blutlinien rein halten. Ihr pflegt nur noch die Kräfte und das Wissen, die euer Stamm hervorgebracht hat, und habt alles andere verdrängt und vergessen. Wenn ihr so weitermacht, dann sehe ich keine Hoffnung für euch.«
»Warum müssen wir uns das Gerede einer alten Menschenfrau anhören?« Seigneur Thibaut fauchte leise.
»Wir müssen nicht«, gab Dame Elina zurück. »Wir können uns auch weiterhin vor der Wahrheit verschließen, denn dass sie die Wahrheit sagt, das ist wohl nicht zu leugnen!«
»Und was bringt uns das?«, fragte Baronesse Antonia, klappte ihren Fächer auf und gähnte gelangweilt.
»Vielleicht die Einsicht und den Willen etwas zu ändern?«, schlug die alte Druidin vor.
»Und das wäre?«, verlangte Baron Maximilian zu wissen.
»Gebt eure Isolation auf und lernt voneinander. Verbindet eure Stärken und merzt eure Schwächen aus.« Sie machte eine kleine Pause, ehe sie die Ungeheuerlichkeit aussprach: »Und lasst zu, dass sich eure Blutlinien vermischen.«
Die Vampire starrten die Druidin für einige Augenblicke sprachlos an, dann erhob sich ein Proteststurm. Der gegenseitige Hass der Clans, der über Jahrhunderte geschürt worden war, zerfetzte das dünne Gewand der Höflichkeit, das sie für diesen Abend übergeworfen hatten. Reißzähne wurden drohend gebleckt, die menschlichen Stimmen wandelten sich zum Gebrüll wilder Tiere. Die Druidin erhob sich und ging langsam zur Tür. Ihre Wölfe folgten ihr. Als sie schon im Türrahmen stand, wandte sie sich noch einmal um und hob ihren Stab. Die Vampire verstummten.
»Ich habe es geahnt, dass ihr verloren seid. Ihr seid zu alt – nicht eure Körper, aber euer Geist! Eure Hoffnung liegt in euren Kindern – euren letzten Kindern! Ich werde nun ein wenig am Ufer entlangspazieren und mit meinen Wölfen den Vollmond betrachten, der sich nach dem reinigenden Gewitter im Wasser spiegelt. Es ist eine herrliche Nacht! Ehe die Sonne aufgeht, komme ich zurück. Dann sagt mir, ob ihr meinen Rat annehmen wollt.«
Sie schloss die Tür, ihre Schritte verhallten. Die Stimmen der Vampire erhoben sich wieder, doch es fehlte ihnen an Kraft. Dame Elina ließ sich in ihren Stuhl fallen und lauschte auf die tobenden Gefühle in sich, die noch stärker waren als der Blutdurst nach jedem Erwachen. Sie spürte einen Blick auf sich ruhen und hob die Lider, bis ihre grauen Augen auf das dunkle Augenpaar gegenüber trafen. Donnchadh wich ihrem Blick nicht aus.
»Werden wir es schaffen?«, fragte Dame Elina leise, denn sie wusste, dass er sie trotz des Stimmengewirrs verstehen konnte.
»Nur wenn wir uns nicht länger gegen jede Veränderung sträuben. Die Welt wandelt sich immer schneller, doch wir sind schon lange stehen geblieben.«
»Können wir es schaffen?«, fragte die Führerin des Hamburger Clans fast beschwörend.
Der alte Ire überlegte. »Lady Tara ist eine weise Frau. Ich denke, sie hat recht. Unsere Kinder können es schaffen!«

DAS HAUS AM KEHRWIEDER

 

Die Sonne war eben erst hinter einem Wald aus Masten, Wanten und Segeln in der Elbe versunken, als Alisa den Deckel der länglichen Kiste aufklappte, in der sie die Zeit des grellen Tageslichts verschlief. Gähnend erhob sie sich von ihrem spartanischen Lager.
»Einen guten Abend wünsche ich, Fräulein Alisa«, ertönte eine Stimme. Ein großer, schlanker Mann um die Zwanzig kam auf sie zugeschlendert.
»Guten Abend, Hindrik.« Alisa konnte sich an keinen Abend ihres dreizehnjährigen Lebens erinnern, an dem er sie nicht mit diesen Worten begrüßt hätte. Und während sie sich mit den Jahren veränderte und von einem Kind zu einem jungen Mädchen heranwuchs, blieb Hindrik in seiner Gestalt unverändert, wie alle Servienten, die einst als Mensch gelebt und dann von einem Vampir der reinen Blutlinie verwandelt worden waren. Selbst sein Haarschnitt und seine Bartstoppeln, die bei seinem Tod drei Tage alt gewesen waren, blieben stets die gleichen. Den Versuch, sich zu rasieren oder sich eine modernere Frisur zuzulegen, hatte Hindrik längst aufgegeben. Einmal hatte er sich den Kopf völlig kahl geschoren, doch als er sich am Abend aus seiner Kiste erhob, war das Haar wieder lang und lockig gewesen wie immer. Wie alt er genau war, wusste Alisa nicht, nur dass er aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte.
»Schläfst du denn gar nicht?«, fragte sie und unterdrückte ein erneutes Gähnen.
»Doch, natürlich Fräulein, jeden Tag wie ein Toter. Doch wenn ich erwache, bin ich ein wenig flinker als du.«
»Du hast auch mehr Übung«, konterte Alisa, zerrte sich ihr langes Leinenhemd über den Kopf und warf es in die Kiste. Dann zog sie eine ausgebleichte Hose und einen weiten Kittel an.
Genauso wenig, wie es sie überraschte, dass Hindrik schon auf war, wunderte es sie, dass die beiden anderen Kisten noch geschlossen waren. Ihr Bruder und ihr Vetter, mit denen sie die Kammer auf dem oberen Speicher teilte, hatten es bei Sonnenuntergang nie eilig, aus ihren Kisten zu steigen. Alisa war das ganz recht. Ihr jüngerer Bruder Thankmar, den alle außer Dame Elina nur Tammo nannten, war aufsässig und rechthaberisch und ging ihr die meiste Zeit auf die Nerven. Und Sören ließ es sie gern spüren, dass er ein Jahr älter war.
»Und, was gibt es Neues? Irgendetwas Besonderes, das ich wissen sollte?«, fragte sie Hindrik, als sie ihr rotblondes Haar zu einem Knoten drehte und unter einer Schiebermütze verstaute. Hindrik zögerte, doch dann verneinte er.
Die Hände noch an der Mütze drehte Alisa sich um. »Kann es sein, dass du mich gerade anlügst?« Sie sah ihn streng an, doch er hielt dem Blick ihrer hellblauen Augen mühelos stand.
»Aber nein, Fräulein! Du hast gefragt, ob du es wissen müsstest.«
Alisa lächelte. »Aha, ich sollte in Zukunft meine Worte sorgsamer wählen.«
Hindrik lächelte zurück, trat heran und schloss den Deckel ihrer Schlafkiste. »Ja, vielleicht solltest du das.«
»Also, was ist es, von dem du meinst, ich müsste es nicht wissen, das aber garantiert mein Interesse erwecken wird?«
Hindrik schüttelte den Kopf. »Warte es ab. Du wirst es dann erfahren, wenn Dame Elina es für richtig hält.«
Alisa zog schmollend die Lippe hoch. »Du hast doch nicht etwa Angst vor ihr?«
»Ich kenne das Gefühl von Angst nicht mehr«, sagte Hindrik schlicht. »Aber ich bringe Dame Elina Respekt entgegen und werde daher nicht gegen ihre Wünsche verstoßen.«
Alisa wusste, dass das sein letztes Wort war, und verzichtete daher darauf, ihn weiter zu drängen. Sie würde einen anderen Weg finden müssen. In einer der Kisten regte sich etwas.
Alisa hastete zur Tür. »Ich geh dann lieber.«
»Wo willst du hin?«, fragte Hindrik.
»Die übliche Runde«, gab sie ausweichend zurück.
»Du weißt, dass Dame Elina das nicht schätzt! Du solltest nicht allein durch die Gassen laufen.«
»Ach ja?« Empört stemmte Alisa die Hände in die Hüften. »Und die anderen? Die dürfen sich jede Nacht amüsieren! Sie sind im Hafen unterwegs, streifen durch die Stadt oder mischen sich unter die Nachtschwärmer am Spielbudenplatz!«
Hindrik nickte. »Ja, denn sie sind erwachsen.«
»Pah!«, schnaubte Alisa und wandte sich zum Gehen. Vor der Treppe drehte sie sich noch einmal um und sah zu dem Mann in den längst aus der Mode gekommenen Kniehosen und dem Rüschenhemd zurück. »Du wirst mich doch nicht verraten?«
»Wenn mich niemand fragt, dann brauche ich auch nichts zu erzählen. Und nun mach, dass du fortkommst. Du hast es gehört, dein Bruder ist aufgewacht. Wenn er dich sieht, will er dich bestimmt begleiten.«
»Davor mögen mich die Geister der Nacht bewahren!«, sagte Alisa mit einem Schaudern und eilte die vielen Treppen bis in die große Diele hinunter, deren mittlerer Balken die Jahreszahl 1680 trug. Damals hatten sich reiche Kaufleute diese prächtigen Häuser im Barockstil erbauen lassen, die sich am Fleet entlang bis zum Binnenhafen reihten. Außer in den letzten beiden Gebäuden, die die Vamalia schon vor über einhundert Jahren für ihre Familie erworben hatten, lebten und arbeiteten noch immer einige der wohlhabendsten Hamburger Kaufleute in diesen Häusern, die Wohnraum für den Kaufmann und seine Familie und für seine Gehilfen und Bediensteten boten, in denen es aber auch Platz für den Kontor gab und – auf zwei Stockwerken unter dem Dach – Speicher für die Waren. Der schönste Raum im Haupthaus der Vamalia war die Diele, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, mit einer umlaufenden Galerie, die von geschnitzten Säulen getragen wurde. Auch die Kassettendecke war mit Schnitzereien verziert, die Felder kunstvoll bemalt und mit Blattgold überzogen. Von der Galerie gingen die Wohn- und Schlafräume der führenden Mitglieder der Familie ab. Im Nebenhaus wohnten die Altehrwürdigen. Die ehemals offenen Speicherböden waren in Kammern unterteilt worden, in denen die jungen Vampire und die Servienten schliefen.
Alisa spürte das vertraute Ziehen in ihrem Kiefer, dem bohrender Hunger und dann betäubende Gier folgen würden. Sie hätte das Gefühl gern ignoriert, doch sie wusste aus Erfahrung, dass ihr der Spaziergang keine Freude bereiten würde, wenn sie versuchte, ihre Natur zu unterdrücken. Daher ging sie in die ehemalige Küche, in der noch immer der große Herd stand, von dem aus man auch den Kachelofen in der Stube befeuern konnte. Seit der Clan der Vamalia das Haus bewohnte, war der Ofen nicht mehr benutzt worden. Die Vampire spürten weder die Kälte des Winters noch die Hitze des Sommers.
»Guten Abend, Alisa«, begrüßte sie eine Frau in der Uniform eines Hamburger Dienstmädchens. Sie war wie Hindrik eine Servientin, aber erst vor wenigen Jahren ins Haus gekommen.
»Guten Abend, Berit.«
Unaufgefordert reichte die junge Frau ihr einen Becher. Alisa stürzte das noch warme Tierblut, das zwei der Bediensteten jeden Abend vom nahen Schlachthof holten, gierig hinunter. Dann verließ sie das Haus. Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Gaslampen auf den Brücken und in den breiteren Gassen verströmten in einem kleinen Kreis ihr gelbliches Licht. Alisa zögerte. Sie wusste, dass ihre Aussicht auf Beute in den reicheren Vierteln und um die Börse am größten war, dennoch zog es sie wie magisch zum Wandrahm und zu den Häusern am Doverfleet. Es war nur eines der Gängeviertel* in Hamburg, doch sicher das mit den übelsten Lebensbedingungen für die Menschen. Und dennoch waren selbst die stets feuchten Wohnungen im Erdgeschoss bewohnt, die bei jeder Sturmflut oft tagelang unter Wasser standen. Dicht an dicht drängten sich die winzigen Wohnungen mehrere Stockwerke hoch um Höfe mit drei oder vier Hinterhäusern. Männer, Frauen und Kinder schliefen zusammen in den schmalen Betten, meist gab es noch fremde Schlafgänger, die in den letzten freien Ecken für ein paar Pfennige die Nacht ihr Lager aufschlugen.
Der Geruch der vielen Menschen war betäubend und hüllte Alisa wie eine Wolke ein. Die Menschen auf der Wandrahminsel rochen nicht so verführerisch süß wie die jungen Fräulein, die in ihren engen Tornürenkleidern über den neuen Jungerfernstieg trippelten, oder die Herren in den dunklen Anzügen, die sich nach ihrer Arbeit an der Börse oder in den Handelskontoren zu einem abendlichen Bier trafen. Dies war eine Mischung wie aus zu vielen exotischen Gewürzen, säuerlich und wild und vielleicht gerade deshalb so erregend. Alisa schlenderte zwischen den Menschen hindurch, die ihr anstrengendes Tagewerk beendet hatten. Sie passierte Männer, die auf alten Kisten auf der Gasse saßen und eine Buttel kreisen ließen. Frauen standen beisammen, lachten oder zankten. Und zwischen ihnen liefen kreischend Kinder hin und her und spielten Fangen.
Nicht zum ersten Mal dachte Alisa darüber nach, wie ihr Blut wohl schmecken würde. Bisher hatte sie noch kein Menschenblut gekostet. »Zu gefährlich«, hatte Dame Elina verkündet und für jeden Verstoß drakonische Strafen angedroht. Alisa würde warten müssen, bis sie alt genug war, wie die jungen Vampire anderer Clans auch. Sie würden sich in ihrem ersten Blutrausch verlieren, wenn sie noch nicht stark genug dafür waren, lautete die Erklärung. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – konnte Alisa nur schwer widerstehen.
Sie unterdrückte einen Seufzer und wandte sich der Brücke zu. Es war Zeit zu gehen. Erstens wollte sie ihre Beute nicht an die Marktfrauen oder andere Interessierte verlieren und zweitens musste sie ihr aufgewühltes Gemüt beruhigen. Es war berauschend und gefährlich, sich so nah unter die heißblütigen, schwitzenden Leiber zu mischen!
Alisa blieb auf der Brücke stehen, die beim Kornhaus über den Fleet führte, und atmete die brackige Luft ein. Es hatte gerade Niedrigwasser, und so lagen einige Boote, deren Kiele auf dem Schlick aufgesetzt hatten, etwas schief im flachen Wasser. Sie setzte ihren Weg fort und fühlte, wie ihre Beine schwer wurden, doch sie ließ sich nicht beirren. Die Vamalia hatten längst gelernt, die Fleete bei jedem Wasserstand zu überqueren. Nur diese Schwere in den Knochen erinnerte sie noch daran, dass sie einst fließendes Wasser nur bei einsetzendem Gezeitenwechsel hatten queren können.
Alisa nahm die Gasse zum Nikolaifleet und folgte ihm bis zur Börse. Dann ging sie zu dem Platz, auf dem noch immer Reste des gesprengten Rathauses auf einen Neubau warteten. Seit dem großen Brand im Jahr 1842 tagte der Hamburger Senat in einem Waisenhaus in der Admiralitätsstraße. Alisa schritt über eine schmale Brücke und schlenderte dann an der Alster entlang, auf der noch einige beleuchtete Boote unterwegs waren.
Mit einem dicken Bündel unter dem Arm kehrte sie zum Binnenhafen und zu den Kaufmannshäusern am Kehrwieder zurück.
»Nun?«, erkundigte sich Hindrik, als sie gegen Mitternacht in die schlichte untere Stube trat, wo er allein am Tisch saß und an einem neuen Kunstwerk arbeitete.
»Was wird das?« Alisa beugte sich über seine Schulter.
»Es wird ein Modell der Wappen von Hamburg II, ein Konvoischiff, das sechzehnhundertsechsundachtzig vom Stapel lief. Natürlich ist jedes Detail in genau der richtigen Größe nachgebaut. Nicht so wie bei den Bastelarbeiten der Menschen, die nur grobe Ähnlichkeit mit dem Original aufweisen.«
Alisa deutete auf eine Reihe von Luken im Rumpf. »Waren das alles Kanonen?«
»Aber ja, die Admiralität hat ihre Konvois nach Spanien und Portugal gut gerüstet. Und dennoch haben wir nicht nur einmal in das Mündungsfeuer von Piraten geblickt.«
»Du bist auf diesem Schiff mitgefahren?«, sagte Alisa fast ehrfürchtig. Hindrik erzählte nicht oft aus seinem Leben.
Er nickte nur knapp und wechselte das Thema. »Und? Was gibt es Neues aus der so spannenden Menschenwelt zu berichten? Was hast du bekommen?«
Alisa strahlte und rollte das Papierbündel auseinander. Feierlich legte sie die Zeitungen nebeneinander: »Eine Norddeutsche Allgemeine Zeitung von gestern, eine Kölnische Volkszeitung von vorgestern, ein Hamburger Fremdenblatt von heute und die Altonaer Nachrichten von gestern.«
»Das ist nicht schlecht«, stimmte ihr Hindrik zu und befestigte mit spitzen Fingern eine Rahe.
»Fangen wir mit den Neuigkeiten und dem Verdruss aus Hamburg an«, sagte Alisa und schlug das vorletzte Blatt von hinten auf.
»Die Reepschläger* protestieren gegen die Pläne der Stadt, die Reeperbahnen am Hamburger Berg abzureißen und noch mehr Vergnügungsetablissements wie um den Spielbudenplatz zu bauen. Die Männer der Seilervereinigung meinen, ihre Taue, die sie dort in ihren langen Bahnen drehen, werden in der Schifffahrt und anderswo immer gebraucht werden«, fasste sie den ersten Artikel zusammen. »Außerdem haben sich vor zwei Tagen die Anwohner von Altona zusammengerottet und den Transiedern* gedroht, sie samt ihren Kesseln in die Elbe zu werfen, wenn sie den Waltran weiterhin unter freiem Himmel am Strand auskochen. Sie sagen, der Gestank sei so bestialisch, dass eine Gerberei dagegen himmlisch dufte.«
Hindrik nickte wissend. »Da haben die Menschen nicht unrecht. Aber das Problem wird sich bald von selbst lösen. Es gibt fast keine Grönlandwale mehr, und alle anderen Wale schwimmen zu schnell, um mit den Ruderschaluppen an sie ranzukommen. Außerdem wird nicht mehr so viel Tran gebraucht. Die Straßenlaternen verbrennen jetzt Gas, und auch das Petroleum, das sie in Fässern aus den Vereinigten Staaten bringen, wird den Tran an vielen Stellen ersetzen.«
Alisa seufzte. »Du hast sicher recht. Sie sind dort drüben mit ihren Erfindungen schon viel weiter. Das muss fantastisch sein! Ach, wie gern würde ich mich auf eines der Auswandererschiffe schmuggeln und einfach mitfahren, um das alles mit eigenen Augen zu sehen.«
Hindrik sah sie erschrocken an. »Du wirst doch keine Dummheiten machen? So schön ist das gar nicht. Ich war erst vor ein paar Jahrzehnten drüben und bin gerne zurückgekommen. Ich muss wohl noch besser auf dich aufpassen, wenn dir solche Gedanken im Kopf herumspuken.«
Sie betraten dünnes Eis, und so schien es Alisa klüger, das Thema zu wechseln. »Wo sind denn alle? Das Haus war wie ausgestorben, als ich zurückkam.«
Hindrik schnitzte zwei weitere Wanten. »Die neue Centralhalle wird eröffnet. Das ist ein riesiges Spektakel. Sie haben sie dieses Mal aus Stein gebaut, mit pompösem Säulenportal und was sonst noch so in Mode ist.« Er zog eine Grimasse.
»Die alte ist abgebrannt, nicht?«
Hindrik nickte.
»Und warum bist du nicht mitgegangen?«
Hindrik seufzte. »Weil ich ein Auge auf dich und die Jungen haben soll.«
»Na mich hast du ja jetzt im Auge.« Alisa blätterte in ihrer Zeitung und wollte gerade weiterlesen, als die Tür aufgerissen wurde und ihr Bruder Thankmar hereinstürmte.
»Wir werden in eine Schule gehen«, sprudelte er hervor.
Alisa runzelte die Stirn. »Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?«
»Das ist kein Blödsinn! Dame Elina hat es genau so gesagt! – Äh, ja, nicht direkt zu mir, aber ich habe es deutlich gehört.«
»Tammo, du hast gelauscht!«
Er nickte stolz. »Und was sagst du dazu?«
»In eine Schule? Das ist doch lächerlich.«
Tammo schüttelte den Kopf. »Ich schwöre es. In eine Akademie für junge Vampire, die gerade gegründet wurde.«
Alisa runzelte die Stirn und sah Hindrik fragend an. »Und wo soll diese Akademie sein?«
Tammo hob nur die Schultern. »Das habe ich nicht gehört.«
»Was kommst du dann überhaupt mit solch halben Nachrichten«, schimpfte seine Schwester und lief hinaus. Tammo sah ihr nach und setzte sich dann neben Hindrik.
»Ich wette, sie findet es heraus«, sagte er und grinste, dass seine Eckzähne im trüben Licht schimmerten.
»Da wette ich nicht dagegen«, erwiderte Hindrik. »Doch wäre es nicht auch eine Möglichkeit, einfach abzuwarten, bis Dame Elina euch sagt, was ihr wissen müsst?«
Tammo sah ihn an, als sei er völlig verrückt geworden. Hindrik fing den Blick auf. Ein Laut zwischen einem Lachen und einem Seufzen entfuhr ihm. »Nein, anscheinend schließt du diese Möglichkeit aus.«
*
Alisa schlich sich in den ersten Stock und folgte der Galerie zu der bemalten Tür, hinter der einst die Wohnstube des Kaufmanns gewesen war. Heute pflegte Dame Elina hier ihre Besprechungen mit den wichtigsten Mitgliedern der Familie abzuhalten. Alisa schob sich vorsichtig näher. Sie hatte zwar wie alle Vampire einen nahezu lautlosen Gang, doch Dame Elina und ein paar andere Familienmitglieder verfügten über ein äußerst feines Gehör! Und so war es alles andere als einfach, ihre Gespräche zu belauschen. Alisa hielt den Atem an. Sie wollte nicht riskieren, erwischt zu werden. So wohlwollend die Clanführerin ihre Position meist ausfüllte, sie konnte auch sehr unangenehm werden, wenn man gegen ihre Anweisungen verstieß. Und die Gespräche des geschlossenen Zirkels zu belauschen, gehörte sicher zu den Dingen, die sie nicht billigte!
Endlich lag Alisas Ohr am Schlüsselloch und die Worte wehten zu ihr herüber.
»Natürlich werden sie nicht alleine nach Rom reisen. Wir werden einen aus unserem Kreis bestimmen, der mit ihnen fährt, und ihnen auch ein oder zwei erfahrene Begleiter aus den Reihen der Servienten mitgeben, die den Fortschritt ihrer Erziehung überwachen. Vielleicht reise ich auch selbst mit.«
Rom? Hatte sie richtig gehört? Hatte Dame Elina wirklich Rom gesagt?
»Und wie sollen die Kinder gefahrlos dort hinkommen? Das ist nicht nur eine Reise ins Alte Land am Südufer der Elbe! Und selbst das würde ich heute nicht mehr wagen.« Es war die krächzende Stimme des Altehrwürdigen, der zu Beginn des Jahrhunderts die Familie angeführt hatte.
»Nun, zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen für den Landweg nur Pferde und Kutschen zur Verfügung standen. Wir werden mit der Eisenbahn reisen. Es besteht inzwischen die Möglichkeit, die Alpen zu queren! Soweit es mir bekannt ist, werden sogar schon zwei Pässe befahren.«
Mit dem Zug! Nach Rom! Alisa konnte es nicht fassen.
»Diese Ungetüme von Dampfrössern?«, rief ein anderer Altehrwürdiger. »Ich würde keinen Fuß in so etwas setzen. Die Menschen haben doch überhaupt noch keine Erfahrung mit diesen schnellen Maschinen. Warum nicht ein Schiff?«
»Die Menschen experimentieren immerhin bereits seit fünfzig Jahren mit Dampflokomotiven. Das kann man, glaube ich, als genug Erfahrung bezeichnen«, widersprach Dame Elina.
»Fünfzig Jahre«, rief der Altehrwürdige. »Was sind schon fünfzig Jahre?«
»Eine ganze Menge für ein Menschenleben«, konterte die Clanführerin.
»Die Kinder und ihre Begleiter werden mit dem Zug fahren!«, wiederholte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ. »Und nun lasst die Kinder kommen. Da wir nun schon den zweiten Lauscher vor der Tür haben, halte ich es für angebracht, ihnen das volle Ausmaß unserer Entscheidung mitzuteilen.«
Alisa fuhr zurück. Wie war das möglich? Sie war sich sicher, nicht das kleinste Geräusch verursacht zu haben! Das war fast unheimlich. Wieder mal zeigte sich, dass Dame Elina nicht zufällig zum Oberhaupt des Clans gewählt worden war!
»Du kannst Thankmar und Sören holen«, sagte Dame Elina mit leicht erhobener Stimme. »Und bring auch Hindrik mit.«
Alisa lief los und kehrte schon nach wenigen Augenblicken mit den dreien zurück. Mit einem flauen Gefühl im Bauch öffnete sie die Tür und trat ein.
Auf der einen Seite des Tisches saßen in bequemen Sesseln jene acht Altehrwürdigen, die ihre Kammern ab und zu verließen und sich noch für die Geschicke der Familie interessierten. Auf der anderen Seite blickten ihnen Dame Elina und die Vampire entgegen, die als die erfahrensten des Clans galten: Elinas jüngerer Bruder Olaf, ihre Vettern Jacob und Reint und Anneke, eine Cousine zweiten Grades, sowie die beiden Servienten Marieke und Morten. Dame Elina winkte die jungen Vampire und Hindrik näher.
»Da ihr bereits über die Worte spekuliert, die ihr erlauscht habt, hört nun die ganze Geschichte.«
Sie berichtete von dem geheimen Treffen am Genfer See und von dem ungeheuerlichen Vorschlag, den die Druidin aus Irland ihnen unterbreitet hatte. In Alisas Kopf begann es zu rauschen.
Sie würde mit der Dampfeisenbahn nach Rom fahren und ein ganzes Jahr bei den Nosferas wohnen. Sie würde Unterricht erhalten in Abwehr gegen Kirchenkräfte und in anderen magischen Künsten. Aber auch die Sprache des Landes und die Geschichte ihrer Menschen würde sie erlernen. Und nicht nur das. Sie würde die jungen Vampire der anderen Clans kennenlernen: der Lycana aus Irland, der Dracas aus Wien, der Vyrad aus London und der Pyras aus Paris. Wie viele Geschichten hatte sie schon über diese Familien gehört, deren Mitglieder hinterhältig und böse sein sollten und mit denen die Vamalia schon seit Jahrhunderten im Krieg lagen. Und mit diesen Vampiren sollte sie zusammen unterrichtet werden?
Eigentlich hätte sie nun Abscheu empfinden müssen oder so etwas wie Furcht, stattdessen fühlte es sich eher an wie freudige Erregung. Sie und die beiden Jungen – nun, das war ein kleiner Nachteil, aber den würde sie in Kauf nehmen müssen – würden nach Rom gehen und der Langenweile, die so sehr an ihr zehrte, endgültig entfliehen!
*
Über der Ewigen Stadt senkte sich der Abend herab. Es würde wieder eine der lauen Spätsommernächte werden, die zum Lustwandeln einluden, zum Besuch eines der Theater oder Musikhäuser, eines der Gasthäuser mit seinen weißen Leinentischdecken oder einer der zahlreichen Bars, um an dem hölzernen Tresen einen guten Schluck zu genießen. Im Verlauf des Abends würde es dann viele der männlichen Nachtschwärmer zu den Häusern ziehen, die sich in den engen Gassen etwas abseits der prächtigen Palazzi und Kirchen wie Unrat vermehrten. Die freizügige Kleidung der Damen – die eigentlich keine waren – und ihre meist grell bemalten Gesichter sprachen deutlich davon, welcher Art von Vergnügung die Besucher hier nachgingen.
Eines dieser Mädchen hatte an einer düsteren Ecke Position bezogen. Die Zeit verstrich, und sie begann, unruhig auf und ab zu gehen. Immer wenn sie sich der Tür der nahe gelegenen Bar näherte, offenbarte der Lichtschein, der sie umschmeichelte, dass sie ungewöhnlich hübsch und sauber war und in ihrem Gesicht noch die feine Unschuld lag, die sich auf der Straße nur zu schnell verliert. Eine seltene Erscheinung an diesem Ort und zu dieser Zeit. Und es war auch kein Zufall, der sie hierher geführt hatte. Sie tastete nach dem Beutel unter ihren Röcken. Für so viel Geld wäre sie auch bereit gewesen, noch viel merkwürdigere Aufträge auszuführen!
Der Mann, der sie ausgesucht und hier postiert hatte, trat zu ihr und reichte ihr ein Glas mit einer grünlichen Flüssigkeit. »Trink, er wird bald da sein. Und pass auf, dass er dir nicht entwischt. Er hat ein verlockendes Ziel vor Augen und will sich hier ganz sicher nicht aufhalten. Es ist deine Aufgabe, dass er es sich anders überlegt!«
Das Mädchen trank das Glas leer und gab es dem Mann zurück. Das bittere Gebräu trieb ihr Tränen in die Augen. Sie schüttelte den Kopf, um den aufsteigenden Schwindel zu vertreiben. Hoffentlich kam er bald. Sie fühlte, wie ihre Beine schwer wurden.
Da sah sie ihn. Kein Zweifel. Ihr Auftraggeber hatte ihr gesagt, sie würde ihn an seinem Gang erkennen, und richtig, sie hatte noch keinen Mann gesehen, der sich mit solch einer Anmut bewegte. Es war, als würden seine Schuhe kaum das Straßenpflaster berühren. Das Mädchen atmete einmal tief durch, dann trat es ihm entgegen. »Verzeiht, Signore!«
*
Erado marschierte flotten Schrittes durch die Gassen. Er freute sich auf diesen Abend, den er ohne die anderen Clanmitglieder zu verbringen gedachte, die ihm zunehmend auf die Nerven gingen. Immer die gleichen Gelage, immer die gleichen Gesichter und die gleichen Gespräche. Dabei gab es so viel mehr, was sie schon gesehen hatten. Selbst Erado, der einer der Jüngsten in der Runde war, hatte die Zeit unter Napoleon und seiner Familie erlebt, die ersten zaghaften Regungen von Rebellion nach seinem Sturz, Geheimbünde und Gegengeheimbünde, Aufstände und deren Niederschlagung – und dann Garibaldi, der mit seinen wenigen Männern durch das Land marschierte, um es zu einen. Nun also war Italien ein Königreich, den Kirchenstaat gab es nicht mehr. Stattdessen saß der ehemalige Herrscher Sardinien-Piemonts Vittorio Emanuele II. hier auf seinem römischen Thron, während Papst Pius IX. sich schmollend in den kläglichen Rest seines Vatikans zurückgezogen hatte. Das Angebot der Franzosen, ihm Asyl zu gewähren, hatte er abgelehnt, und dennoch kreuzte das Franzosenschiff noch immer vor der Küste. Es waren spannende Jahrzehnte gewesen, doch die anderen interessierten sich nur für ihre Völlerei und ihre Experimente, wie man Blut mit einem Hauch edler Weine noch schmackhafter machen konnte. In ihren Sänften ließen sie sich von ihren Schatten durch die Stadt tragen, zu träge, die Nacht auf ihren eigenen Beinen zu erkunden.
Erado schüttelte den Kopf, um die Gedanken an die anderen Clanmitglieder zu vertreiben. Diese Nacht gehörte ihm allein und er wollte sie sich nicht verderben lassen. Er genoss die Gerüche und den warmen Abendhauch, schwang seinen eleganten Stock und eilte mit fast tänzelndem Schritt über das Pflaster. Sein weiter Mantel blähte sich. Er war ein Vampir in den besten Mannesjahren. Sein schwarzes Haar war gepflegt, nur die Schläfen zeigten die ersten silbrigen Strähnen. Er fühlte sich stark und freute sich auf die Genüsse dieser Nacht, die ihn im Salon einer gewissen Dame erwarteten: Gesang und feinsinnige Kunst, vielleicht ein wenig Kartenspiel und interessante Gespräche über Politik, Oper und andere Themen, die die römischen Gemüter im Moment erhitzten. Natürlich würde seine Lust nicht zu kurz kommen. Aber diskret! Er hatte vor, dieses Etablissement noch öfter aufzusuchen, und da wäre ein blutiger Skandal sicher nicht angebracht!
Ein junges Mädchen trat ihm in den Weg, als er in eine schmale Gasse einbog. »Verzeiht, Signore!«
Er brauchte sie nicht zu fragen, was ihr Begehr sei. Ihre Aufmachung zeigte das deutlich. Erado blieb stehen und hob abwehrend die Hand. Für so etwas hatte er heute keine Zeit. Dann fiel ihm auf, dass sie sauber und gepflegt wirkte. Und hübsch war sie auch noch. Er konnte das Blut in den Adern an ihrem Hals pulsieren sehen. Ihr Duft war süß und ließ seine Gier aufwallen. Vielleicht war es nicht verkehrt, den ersten Hunger bereits vorher zu stillen. Sie roch nach junger Haut und ein wenig bitter nach etwas, was er nicht sofort einordnen konnte. Sicher hatte sie an diesem Abend bereits ein paar alkoholische Getränke genossen, die nun in ihrem Blut kreisten, aber das würde ihn nicht besonders beeinträchtigen. Er war daran gewöhnt. Warum also nicht? Er lächelte und trat auf sie zu. »Signorina, wollen wir nicht in den Hof nebenan treten. Hier ist es zu hell und zu belebt.«