ARTHUR C. CLARKE

 

 

 

2061

ODYSSEE III

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

INHALT

 

Widmung

Vorwort des Autors

Erster Teil: Der Zauberberg

1. Die Jahre der Erstarrung

2. Der erste Blick

3. Die Rückkehr

4. Der Magnat

5. Aus dem Eis

6. Die Begrünung Ganymeds

7. Abschied

8. Die Sternenflotte

9. Mount Zeus

10. Das Narrenschiff

11. Die Lüge

12. Ohm Paul

13. Niemand hat gesagt, wir sollten Badeanzüge mitbringen

14. Die Suche

Zweiter Teil: Das Tal des schwarzen Schnees

15. Das Rendezvous

16. Die Landung

17. Das Tal des schwarzen Schnees

18. Old Faithful

19. Am Ende des Tunnels

20. Rückruf

Dritter Teil: Europanisches Roulette

21. Politik im Exil

22. Riskante Fracht

23. Inferno

24. Shaka der Große

25. Die verhüllte Welt

26. Nachtwache

27. Rosie

28. Dialog

29. Sinkflug

30. »Galaxy« gelandet

31. Das galileische Meer

Vierter Teil: Am Wasserloch

32. Umleitung

33. In der Grube

34. Waschanlage

35. Wind und Wellen preisgegeben

36. An fremden Gestaden

Fünfter Teil: Durch die Asteroiden

37. Der Star

38. Eisberge des Weltraums

39. Am Kapitänstisch

40. Monster von der Erde

41. Memoiren eines Hundertjährigen

42. Der Minilith

Sechster Teil: Zuflucht

43. Bergungsaktion

44. Die »Endurance«

45. Die Mission

46. Das Shuttle

47. Scherben

48. Lucy

Siebenter Teil: Die große Mauer

49. Das Grabmal

50. Die offene Stadt

51. Das Phantom

52. Auf der Couch

53. Der Dampfkochtopf

54. Wieder vereint

55. Magma

56. Perturbationstheorie

57. Zwischenspiel auf Ganymed

Achter Teil: Das Königreich des Schwefels

58. Feuer und Eis

59. Dreifaltigkeit

3001

60. Mitternacht auf der Plaza

Danksagungen

Über den Autor

 

 

 

 

In Erinnerung an Judy-Lynn del Rey, eine außergewöhnliche Herausgeberin, die dieses Buch für einen Dollar kaufte – aber nie erfuhr, ob es das Geld wert war.

Vorwort des Autors

 

Ebenso wenig wie »Odyssee 2010« eine direkte Fortsetzung von »2001 – Odyssee im Weltraum« war, ist dieses Buch eine lineare Fortsetzung von »2010«. Alle diese Romane sind als Variationen über dasselbe Thema zu betrachten, viele Personen und Situationen kommen immer wieder vor, sind aber nicht unbedingt im gleichen Universum angesiedelt.

Durch die Entwicklungen seit Stanley Kubricks Vorschlag im Jahre 1964 (fünf Jahre, ehe die ersten Menschen auf dem Mond landeten!), wir sollten versuchen, den »sprichwörtlichen guten Science Fiction Film« zu machen, wird eine völlige Einheitlichkeit unmöglich, da die späteren Geschichten Entdeckungen und Ereignisse mit verarbeiten, die noch nicht einmal stattgefunden hatten, als die früheren Bücher geschrieben wurden. »2010« wurde durch die glänzenden Erfolge der »Voyager«-Sonde 1979 bei ihrem Vorbeiflug am Jupiter ermöglicht, und ich hatte mich mit diesem Gebiet erst wieder beschäftigen wollen, wenn die Ergebnisse der noch ehrgeizigeren »Galileo«-Mission eingegangen waren.

»Galileo« hätte eine Sonde in die Jupiteratmosphäre abgeworfen, während sie selbst im Laufe von fast zwei Jahren alle größeren Satelliten besuchte. Sie hätte im Mai 1986 vom Space Shuttle auf den Weg gebracht werden und ihr Zielgebiet im Dezember 1988 erreichen sollen. Und so hoffte ich, mir um 1990 herum die Flut neuer Informationen vom Jupiter und seinen Monden zunutze machen zu können …

Leider hat die »Challenger«-Tragödie diese Planung zunichte gemacht; die »Galileo« – in ihrem sterilen Raum im Jet Propulsion Laboratory – muss sich nun ein anderes Trägerfahrzeug suchen. Wenn sie den Jupiter mit nicht mehr als sieben Jahren Verspätung erreicht, hat sie Glück gehabt.

Ich habe beschlossen, nicht so lange zu warten.

 

Arthur C. Clarke

Colombo, Sri Lanka, April 1987

 

 

 

ERSTER TEIL

 

 

 

Der Zauberberg

1

Die Jahre der Erstarrung

 

»Für einen Siebzigjährigen sind Sie außerordentlich gut in Form«, bemerkte Dr. Glazunow und schaute vom letzten Ausdruck des Diagnosecomputers auf. »Ich hätte Sie auf höchstens fünfundsechzig geschätzt.«

»Freut mich, das zu hören, Oleg. Besonders, nachdem ich hundertdrei bin – wie Sie ganz genau wissen.«

»Da haben wir es wieder! Man möchte meinen, Sie hätten das Buch von Professor Rudenko nie gelesen.«

»Die gute, alte Katharina! Wir hatten vorgehabt, uns an ihrem hundertsten Geburtstag zu treffen. Es hat mir so leidgetan, dass sie es nicht geschafft hat – das kommt davon, wenn man zu viel Zeit auf der Erde verbringt.«

»Ironie des Schicksals, schließlich war sie diejenige, die den berühmten Slogan ›Schwerkraft macht alt‹ prägte.«

Dr. Heywood Floyd starrte nachdenklich auf das sich ständig verändernde Panorama des schönen, nur sechstausend Kilometer entfernten Planeten, den er nie wieder betreten konnte. Noch ironischer war es, dass er sich durch den dümmsten Unfall seines Lebens immer noch ausgezeichneter Gesundheit erfreute, während praktisch alle seine alten Freunde schon tot waren.

Er war erst eine Woche wieder auf der Erde gewesen, als er, trotz aller Warnungen und obwohl er fest entschlossen war, dass ihm niemals etwas dergleichen zustoßen sollte, von diesem Balkon im zweiten Stock stürzte. (Ja, er hatte gefeiert: Aber das hatte er sich schließlich verdient – er war ein Held auf der neuen Welt, auf die die »Leonow« zurückgekehrt war.) Die zahlreichen Knochenbrüche hatten zu Komplikationen geführt, die man am besten im Pasteur-Weltraumhospital behandeln konnte.

Das war 2015 gewesen. Und jetzt – er konnte es eigentlich gar nicht glauben, aber da an der Wand hing der Kalender – schrieb man das Jahr 2061.

Für Heywood Floyd war die biologische Uhr nicht nur durch das Sechstel Erdschwerkraft, das im Krankenhaus herrschte, verlangsamt, zweimal in seinem Leben war sie sogar tatsächlich zurückgedreht worden. Mittlerweile war man allgemein überzeugt – auch wenn einige Autoritäten es noch bestritten –, dass der Tiefschlaf mehr bewirkte, als nur den Alterungsprozess aufzuhalten; er regte die Verjüngung an. Floyd war auf seiner Reise zum Jupiter und zurück tatsächlich jünger geworden.

»Sie glauben also wirklich, dass ich ohne Gefahr mitfliegen kann?«

»Nichts in diesem Universum ist ohne Gefahr, Heywood. Ich kann nur sagen, dass es vom Physiologischen her keine Einwände gibt. Schließlich werden Sie an Bord der ›Universe‹ praktisch in der gleichen Umgebung leben wie hier. Dort hat man vielleicht nicht ganz den Standard der … ah … überragenden, medizinischen Sachkenntnis, wie wir ihn im Pasteur bieten können, aber Dr. Mahindran ist ein guter Mann. Wenn es ein Problem geben sollte, mit dem er nicht fertig wird, kann er Sie wieder in Tiefschlaf versetzen und Sie per Nachnahme an uns zurückschicken.«

Dieses Urteil hatte Floyd sich erhofft, aber irgendwie mischte sich Trauer in seine Freude. Er würde wochenlang weg sein von seinem Zuhause, in dem er nun seit fast einem halben Jahrhundert lebte, und von den neuen Freunden, die er in späten Jahren gewonnen hatte. Und obwohl die »Universe«, verglichen mit der primitiven »Leonow« (die jetzt als eines der wichtigsten Ausstellungsstücke des Lagrange-Museums hoch oben im Weltraum schwebte) ein Luxusschiff war, gab es auf jeder längeren Weltraumreise noch ein gewisses Risiko. Besonders bei einer Pionierfahrt wie der, zu der er sich nun anschickte …

Aber vielleicht war das genau, was er suchte – auch noch als Hundertdreijähriger (beziehungsweise, nach der komplizierten, geriatrischen Berechnungsweise der verstorbenen Professorin Katharina Rudenko, als gesunder, munterer Fünfundsechziger). Während der letzten zehn Jahre hatte er an sich eine zunehmende Unruhe beobachtet, eine vage Unzufriedenheit mit einem Leben, das zu bequem und wohlgeordnet war.

Trotz all der aufregenden Projekte, die jetzt überall im Sonnensystem in Gang waren – die Marserneuerung, die Errichtung des Merkur-Stützpunkts, die Begrünung Ganymeds – hatte es kein Ziel gegeben, auf das er seine Interessen und seine immer noch beträchtlichen Energien wirklich hätte konzentrieren können. Vor zweihundert Jahren hatte einer der ersten Dichter des wissenschaftlichen Zeitalters genau ausgedrückt, was er selbst empfand, als er durch den Mund seines Ulysses sagte:

 

Leben auf Leben gehäuft,

war alles noch zu wenig; und von einem

bleibt wenig nur noch mir; doch jede Stunde

bewahrt vor ew'ger Stille, ja, noch mehr,

bringt Neues: schändlich wär's,

müsst' in drei Sonnen ich mich packen

und jenen grauen Geist, der sich danach verzehrt

zu folgen der Erkenntnis wie einem sinkenden Stern

bis über die letzte Grenze menschlichen Denkens.

 

Von wegen »drei Sonnen«! Es waren mehr als vierzig: Ulysses hätte sich für ihn geschämt. Aber die nächste Strophe – die er so gut kannte – war noch passender:

 

Mag sein, die Strudel reißen uns hinab:

mag sein, wir landen an den Glücklichen Inseln

und seh'n den großen Achill, den wir einst kannten.

Wird uns auch viel genommen, bleibt doch viel; und haben

wir auch nicht mehr die Kraft, die einst

den Himmel und die Erde hat bewegt; wir sind doch, was wir sind,

die immer gleiche Glut heroischer Herzen,

geschwächt von Zeit und Schicksal, stark jedoch im Willen,

unverzagt zu kämpfen, zu suchen, und zu finden irgendwann.

 

»Zu suchen, zu finden …« Nun, er wusste jetzt, was er suchen und finden würde – weil er genau wusste, wo es sein würde. Wenn nicht ein katastrophaler Unfall passierte, gab es eigentlich keine Möglichkeit, wie es ihm entgehen konnte.

Es war kein Ziel, das er je bewusst angestrebt hatte, und auch jetzt wusste er nicht genau, warum es plötzlich so dominant geworden war. Er hatte gedacht, er sei immun gegen das Fieber, von dem die Menschheit nun wieder erfasst wurde – zum zweiten Mal in seinem Leben –, aber vielleicht irrte er sich. Es war auch möglich, dass die unerwartete Einladung, sich der kurzen Liste illustrer Gäste an Bord der »Universe« anzuschließen, seine Fantasie beflügelt und eine Begeisterung geweckt hatte, die er nicht mehr in sich vermutet hätte.

Es gab noch eine andere Möglichkeit. Auch nach so vielen Jahren konnte er sich noch erinnern, wie wenig die Begegnung von 1985/86 die Erwartungen der breiten Öffentlichkeit erfüllt hatte. Jetzt gab es eine Chance – für ihn die letzte, die erste für die Menschheit –, alle früheren Enttäuschungen mehr als wiedergutzumachen.

Damals, im zwanzigsten Jahrhundert, waren nur Vorbeiflüge möglich gewesen. Diesmal würde eine richtige Landung stattfinden, auf ihre Art eine ebenso große Pionierleistung wie die ersten Schritte von Armstrong und Aldrin auf dem Mond.

Dr. Heywood Floyd, Veteran der Jupitermission von 2010 bis 2015, ließ seine Fantasie hinausfliegen zu dem geisterhaften Besucher, der wieder einmal aus den Tiefen des Weltraums zurückkehrte und Sekunde für Sekunde an Geschwindigkeit zunahm, während er sich anschickte, die Sonne zu umrunden. Und zwischen den Umlaufbahnen von Erde und Venus würde der berühmteste aller Kometen dem jetzt noch unvollendeten Raumschiff »Universe« auf dessen Jungfernflug begegnen.

Der genaue Treffpunkt war noch nicht festgelegt, aber er hatte seine Entscheidung bereits getroffen.

»Halley – ich komme …«, flüsterte Heywood Floyd.

2

Der erste Blick

 

Es ist nicht wahr, dass man erst die Erde verlassen muss, um die volle Pracht des Himmels würdigen zu können. Nicht einmal im Weltraum ist der Sternenhimmel großartiger, als wenn man ihn in einer völlig klaren Nacht, weitab von jeder künstlichen Lichtquelle von einem hohen Berg aus betrachtet. Obwohl die Sterne außerhalb der Atmosphäre heller erscheinen, kann das Auge den Unterschied nicht richtig wahrnehmen; und das überwältigende Schauspiel, die Hälfte der Himmelskugel auf einmal zu sehen, vermag kein Beobachtungsdeck zu bieten.

Heywood Floyd war jedoch mehr als zufrieden mit seiner Privataussicht auf das Universum, besonders während der Zeit, in der sich der Wohnbereich auf der Schattenseite des sich langsam drehenden Raumhospitals befand. Dann gab es in seinem rechteckigen Blickfeld nichts als Sterne, Planeten, Sternennebel – und gelegentlich, alles andere überstrahlend, das gleichmäßige Leuchten Luzifers, des neuen Rivalen der Sonne.

Etwa zehn Minuten vor dem Beginn seiner künstlichen Nacht pflegte er alle Lichter in der Kabine – sogar die rote Notbeleuchtung – auszuschalten, um sich vollständig an die Dunkelheit anzupassen. Ein wenig spät für einen Weltraumingenieur hatte er die Freuden der Astronomie mit bloßem Auge kennengelernt, und jetzt vermochte er praktisch jede Konstellation zu identifizieren, auch wenn er nur einen Teil davon erblickte.

In diesem Mai, in dem der Komet die Marsbahn passierte, hatte Floyd seinen Standort fast jede »Nacht« auf den Sternenkarten nachgeprüft. Obwohl er mit einem guten Feldstecher ein leichtes Ziel war, hatte Floyd ein solches Hilfsmittel hartnäckig abgelehnt; es war ein kleines Spiel, um zu sehen, wie gut seine alternden Augen mit dieser Herausforderung zurechtkamen. Obwohl zwei Astronomen auf dem Mauna Kea behaupteten, den Kometen schon visuell beobachtet zu haben, glaubte ihnen niemand, und ähnliche Erklärungen von anderen Insassen des Pasteur waren mit noch größerer Skepsis aufgenommen worden.

Aber heute Nacht war eine Helligkeit von mindestens sechster Größe vorhergesagt; vielleicht hatte er Glück. Er zog die Linie von Gamma nach Epsilon und starrte auf die Spitze eines darauf stehenden, imaginären, gleichseitigen Dreiecks – fast, als könne er seinen Blick mittels reiner Willenskraft bis über das Sonnensystem hinaus richten.

Und da war er – unauffällig und doch unverwechselbar, genau wie Floyd ihn vor sechsundsiebzig Jahren zum ersten Mal gesehen hatte. Wenn er nicht genau gewusst hätte, wo er suchen musste, hätte er ihn gar nicht bemerkt oder ihn als einen fernen Nebel abgetan.

Mit bloßem Auge war nur ein winziger, kreisförmiger Dunstfleck zu erkennen; so sehr Floyd sich auch anstrengte, er war nicht in der Lage, die Spur eines Schweifs zu entdecken. Aber die kleine Flotte von Sonden, die den Kometen seit Monaten begleitete, hatte schon die ersten Staub- und Gasausbrüche registriert, aus denen bald eine glühende Fahne über die Sterne hinweg entstehen würde, die direkt von ihrem Schöpfer, der Sonne, wegzeigte.

Wie alle anderen hatte auch Heywood Floyd beobachtet, wie sich der kalte, dunkle – nein, fast schwarze – Nukleus veränderte, als er in den inneren Teil des Sonnensystems eintrat. Nachdem sie siebzig Jahre lang tiefgefroren gewesen war, begann die komplexe Mischung aus Wasser, Ammoniak und anderem Eis zu tauen und zu brodeln. Ein fliegender Berg, ungefähr von der Form – und der Größe – der Insel Manhattan, drehte sich alle dreiundfünfzig Stunden um einen kosmischen Spieß; wenn die Hitze der Sonne durch die isolierende Kruste drang, benahm sich Halleys Komet dank der entweichenden Gase wie ein undicht gewordener Dampfkessel. Wasserdampfsäulen, vermischt mit Staub und einem Hexengebräu organischer Stoffe, brachen aus einem halben Dutzend kleiner Krater hervor; der größte – etwa so groß wie ein Fußballfeld – eruptierte regelmäßig zwei Stunden nach Einbruch der Dämmerung auf dem Kometen. Er sah genauso aus wie ein irdischer Geysir, und man hatte ihn prompt »Old Faithful« getauft.

Schon stellte sich Floyd vor, er stünde am Rande dieses Kraters und warte, dass die Sonne über der dunklen, bizarren Landschaft aufging, die er schon so gut von den im Weltraum aufgenommenen Bildern kannte. Sicher, im Vertrag stand nichts davon, dass die Passagiere – im Unterschied zur Besatzung und zum wissenschaftlichen Personal – das Schiff verlassen durften, wenn es auf Halley landete.

Andererseits stand im Kleingedruckten auch nichts, was dies ausdrücklich untersagt hätte.

Es wird nicht einfach sein, mich aufzuhalten, dachte Heywood Floyd; ich bin sicher, dass ich immer noch mit einem Raumanzug umgehen kann. Und wenn ich mich irre …

Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass ein Besucher des Tadsch Mahal einst bemerkt hatte: »Für so ein Monument würde ich morgen sterben.«

Er würde sich gerne mit dem Halleyschen Kometen zufriedengeben.

3

Die Rückkehr

 

Auch abgesehen von jenem peinlichen Unfall, war die Rückkehr auf die Erde nicht leicht gewesen.

Der erste Schock war kurz nach der Wiederbelebung gekommen, als Dr. Rudenko ihn aus seinem langen Schlaf aufgeweckt hatte. Walter Curnow war neben ihr, und Floyd merkte sogar in seinem halb benommenen Zustand, dass etwas nicht stimmte; ihre Freude, ihn wach zu sehen, war ein wenig zu übertrieben und konnte eine gewisse Anspannung nicht verbergen. Erst als er wieder völlig bei sich war, erzählten sie ihm, dass Dr. Chandra nicht mehr unter ihnen weilte.

Irgendwo jenseits des Mars, so unmerklich, dass die Monitoren den Zeitpunkt nicht genau feststellen konnten, hatte er einfach zu leben aufgehört. Seine Leiche, die man im Weltraum ausgesetzt hatte, war ungehindert auf der Bahn der »Leonow« weitergeflogen und schon lange vom Feuer der Sonne verzehrt worden.

Die Todesursache war unbekannt, aber Max Brailowski brachte eine Ansicht zum Ausdruck, die, obwohl äußerst unwissenschaftlich, nicht einmal Oberstabsärztin Katharina Rudenko zu widerlegen versuchte.

»Er konnte nicht ohne Hal leben.«

Ausgerechnet Walter Curnow fügte noch einen Gedanken hinzu.

»Ich frage mich, wie Hal es aufnehmen wird. Irgendetwas da draußen muss alle unsere Sendungen überwachen. Früher oder später wird er es erfahren.«

Und jetzt war auch Curnow nicht mehr da – keiner war mehr da, bis auf die kleine Zenia. Er hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, aber jedes Jahr pünktlich zu Weihnachten kam eine Karte von ihr. Die letzte hing noch über seinem Schreibtisch; sie zeigte eine mit Geschenken beladene Troika, die durch den Schnee eines russischen Winters raste, beobachtet von äußerst hungrig aussehenden Wölfen.

Fünfundvierzig Jahre! Manchmal schien es ihm, als sei es erst gestern gewesen, dass die »Leonow« unter dem Beifall der gesamten Menschheit in den Erdorbit zurückgekehrt war. Es war jedoch ein seltsam gedämpfter Beifall gewesen, respektvoll, aber ohne echte Begeisterung. Die Mission zum Jupiter war insgesamt zu erfolgreich gewesen; sie hatte eine Büchse der Pandora geöffnet, deren ganzer Inhalt erst noch zum Vorschein kommen musste.

Als der unter dem Namen TMA-1 bekannte schwarze Monolith auf dem Mond ausgegraben wurde, wussten nur ein paar Menschen von seiner Existenz. Erst nach der Unglücksreise der »Discovery« zum Jupiter erfuhr die Welt, dass vier Millionen Jahre zuvor eine andere Intelligenzform durch das Sonnensystem gekommen war und ihre Visitenkarte hinterlassen hatte. Die Nachricht war eine Offenbarung – aber keine Überraschung; seit Jahrzehnten hatte man etwas dergleichen erwartet.

Und das alles war geschehen, lange bevor die menschliche Rasse existierte. Obwohl der »Discovery« draußen beim Jupiter ein rätselhafter Unfall zugestoßen war, gab es kein wirkliches Indiz dafür, dass es sich dabei um mehr handelte als um eine Funktionsstörung des Schiffes. Obwohl TMA-1 sehr tiefgehende philosophische Konsequenzen hatte, war die Menschheit in der Praxis immer noch allein im Universum.

Nun stimmte das nicht mehr. Nur Lichtminuten entfernt – nach kosmischen Maßstäben nicht mehr als ein Steinwurf – gab es eine Intelligenzform, die einen Stern schaffen und – aus unerfindlichen Gründen – einen Planeten zerstören konnte, der tausendmal so groß war wie die Erde. Noch bedrohlicher war die Tatsache, dass sie sich der Existenz der Menschheit bewusst war; das zeigte die letzte Botschaft, die die »Discovery« von den Jupitermonden abgestrahlt hatte, unmittelbar bevor die feurige Geburt des Luzifer sie zerstörte.

 

ALLE DIESE WELTEN GEHÖREN EUCH –

BIS AUF EUROPA.

VERSUCHT NIEMALS, DORT ZU LANDEN.

 

Der strahlende, neue Stern, der bis auf ein paar Monate in jedem Jahr, wenn er hinter der Sonne vorbeizog, die Nacht vertrieben hatte, hatte der Menschheit Hoffnung und Angst beschert. Angst – weil das Unbekannte, vor allem, wenn es in Verbindung mit Allmacht auftrat, unweigerlich solche Urgefühle erwecken musste. Hoffnung – wegen der Veränderungen, die er in der globalen Politik bewirkt hatte.

Man hatte oft gesagt, das Einzige, was die Menschheit einen könne, sei eine Bedrohung aus dem Weltraum. Ob Luzifer eine Bedrohung war, wusste niemand; aber eine Herausforderung war er sicherlich. Und wie sich herausstellte, genügte das.

Heywood Floyd hatte vom Pasteur-Hospital aus die geopolitischen Veränderungen verfolgt, fast so, als sei er selbst ein außerirdischer Beobachter. Zuerst hatte er nicht die Absicht gehabt, im Weltraum zu bleiben, nachdem er vollständig genesen war. Zum Staunen und zur Verärgerung seiner Ärzte dauerte das wirklich unvernünftig lange.

Wenn Floyd mit der Gelassenheit der späteren Jahre zurückblickte, wusste er genau, warum seine Knochen nicht hatten heilen wollen. Er wollte einfach nicht zur Erde zurückkehren: da unten, auf der blendend blauweißen Kugel, die seinen Himmel ausfüllte, gab es nichts für ihn. Es gab Zeiten, da konnte er gut verstehen, wie Chandra den Willen zum Leben verloren hatte.

Es war reiner Zufall gewesen, dass Floyd auf jenem Flug nach Europa seine erste Frau nicht begleitet hatte. Jetzt war Marion Teil eines anderen Lebens, das auch jemand anderem gehört haben könnte, und die beiden Töchter aus der Ehe mit ihr waren liebenswürdige Fremde mit eigenen Familien.

Caroline aber hatte er durch seine eigene Handlungsweise verloren, obwohl er in dieser Angelegenheit eigentlich keine Wahl gehabt hatte. Sie hatte nie verstanden (hatte er selbst es denn wirklich verstanden?), warum er das schöne Heim, das sie sich gemeinsam geschaffen hatten, verließ, um sich jahrelang in die kalten Wüsten fern der Sonne verbannen zu lassen.

Obwohl er, noch ehe die Mission halb vorüber war, gewusst hatte, dass Caroline nicht auf ihn warten wollte, hatte er verzweifelt gehofft, dass Chris ihm verzeihen würde. Aber auch dieser Trost war ihm nicht beschieden; sein Sohn war zu lange ohne Vater gewesen. Als Floyd zurückkehrte, hatte der Junge in dem Mann, der seinen Platz in Carolines Leben eingenommen hatte, schon einen neuen Vater gefunden. Die Entfremdung war nicht zu überbrücken; Floyd dachte, er würde darüber nie hinwegkommen, aber natürlich tat er es doch – in gewisser Weise.

Sein Körper hatte sich schlau mit seinen unterbewussten Wünschen verbündet. Als er nach seiner langwierigen Genesung im Pasteur endlich auf die Erde zurückgekehrt war, entwickelte er prompt so beunruhigende Symptome – darunter etwas, das verdächtig nach Knochennekrose aussah –, dass man ihn sofort und in höchster Eile wieder in den Orbit zurückbrachte. Und dort war er, abgesehen von ein paar Ausflügen zum Mond, geblieben, völlig an ein Leben in der Null- bis ein Sechstel-Schwerkraft angepasst, die in dem langsam rotierenden Weltraumkrankenhaus herrschte.

Er war kein Einsiedler – weit gefehlt. Noch während seiner Genesungszeit diktierte er Berichte, machte Aussagen vor wer weiß wie vielen Kommissionen und wurde von Medienvertretern interviewt. Er war ein berühmter Mann, und er genoss diese Erfahrung – so lange sie dauerte. Sie half ihm, seine inneren Verletzungen zu kompensieren.

Das erste, volle Jahrzehnt – 2020 bis 2030 – schien so schnell vergangen zu sein, dass es ihm jetzt schwerfiel, sich genau daran zu erinnern. Es gab die üblichen Krisen, Skandale, Verbrechen, Katastrophen – besonders das große kalifornische Erdbeben, dessen Nachwehen er fasziniert und entsetzt auf den Monitoren der Station beobachtet hatte. Bei stärkster Vergrößerung und günstigen Bedingungen waren darauf einzelne Menschen zu erkennen; aber aus seiner gottähnlichen Perspektive war es ihm unmöglich gewesen, sich mit den dahinhuschenden Punkten zu identifizieren, die aus den brennenden Städten flohen. Erst die Bodenkameras enthüllten den wahren Schrecken.

Während dieses Jahrzehnts bewegte sich, obwohl die Ergebnisse erst später offenbar werden sollten, die politische Erdkruste ebenso unerbittlich wie die geologische – jedoch im entgegengesetzten Sinne, so als liefe die Zeit rückwärts. Denn zu Anfang hatte die Erde den einzigen Superkontinent Pangäa besessen, der im Laufe der Äonen auseinandergebrochen war. Ebenso hatte sich auch die menschliche Gattung in unzählige Stämme und Nationen gespalten; jetzt schloss sie sich wieder zusammen, die alten linguistischen und kulturellen Trennungslinien begannen sich zu verwischen.

Luzifer hatte diesen Vorgang zwar beschleunigt, aber begonnen hatte er schon Jahrzehnte zuvor, als das heraufkommende Jet-Zeitalter eine weltumspannende Tourismusexplosion ausgelöst hatte. Fast gleichzeitig – es war natürlich kein Zufall – hatten Satelliten und Faseroptik das Nachrichtenwesen revolutioniert. Mit der historischen Abschaffung der Gebühren für Ferngespräche am 31. Dezember 2000 wurde jeder Telefonanruf zu einem Ortsgespräch, und die menschliche Rasse begrüßte das neue Jahrtausend, indem sie sich in eine riesige, schwatzende Familie verwandelte.

Wie bei den meisten Familien ging es nicht immer friedlich zu, aber die Streitigkeiten bedrohten nicht länger den gesamten Planeten. Im zweiten – und letzten – Atomkrieg wurden nicht mehr Bomben abgeworfen als im ersten: genau zwei. Und obwohl sie von der Kilotonnage her größer waren, gab es weit weniger Verluste, da sie beide gegen dünn besiedelte Ölförderanlagen eingesetzt wurden. Zu diesem Zeitpunkt reagierten die Großen Drei, China, die USA und die UdSSR lobenswert schnell und klug und riegelten die Kampfzone so lange ab, bis die überlebenden Kombattanten zur Vernunft gekommen waren.

In den zehn Jahren von 2020 bis 2030 war ein größerer Krieg zwischen Großmächten ebenso unvorstellbar wie im Jahrhundert zuvor ein Krieg zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten. Das war nicht auf eine gewaltige Verbesserung der menschlichen Natur oder überhaupt auf einen einzelnen Faktor zurückzuführen, sondern einfach nur darauf, dass den Menschen das Leben lieber war als der Tod. Ein großer Teil der Friedensmaschinerie war nicht einmal bewusst geplant; noch ehe die Politiker bemerkten, was geschah, entdeckten sie, dass sie schon an Ort und Stelle war und gut funktionierte …

Kein Staatsmann, kein Idealist irgendwelcher Couleur erfand die »Friedensgeisel«-Bewegung. Sogar der Name wurde erst später geprägt, lange nachdem jemand festgestellt hatte, dass sich ständig hunderttausend russische Touristen in den Vereinigten Staaten aufhielten – und eine halbe Million Amerikaner in der Sowjetunion, die meisten davon mit dem traditionellen Freizeitvergnügen beschäftigt, sich über die sanitären Einrichtungen zu beklagen. Und was vielleicht noch wichtiger war, beide Gruppen enthielten eine unverhältnismäßig große Zahl von höchst unentbehrlichen Individuen – die Söhne und Töchter Reicher, Privilegierter und politisch Mächtiger.

Und selbst wenn jemand es gewollt hätte, es war nicht länger möglich, einen Krieg in großem Maßstab zu planen. Das Zeitalter der Transparenz war in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts angebrochen, als rührige Nachrichtenagenturen begonnen hatten, Fotosatelliten in den Weltraum zu schießen, in der Auflösung denen vergleichbar, die das Militär seit dreißig Jahren besaß. Das Pentagon und der Kreml waren wütend; aber sie waren Reuters, Associated Press und den stets wachen, vierundzwanzig Stunden am Tag im Einsatz befindlichen Kameras des »Orbital News Service« nicht gewachsen.

Im Jahre 2060 war die Welt zwar nicht vollständig entwaffnet, aber doch wirkungsvoll befriedet, und die fünfzig noch verbliebenen Atomwaffen befanden sich alle unter internationaler Kontrolle. Es gab überraschend wenig Widerstand, als Edward VIII., jener populäre Monarch, zum ersten Planetaren Präsidenten gewählt wurde, nur ein Dutzend Staaten stimmten dagegen. Der Größe und der Bedeutung nach reichten sie von der immer noch hartnäckig neutralen Schweiz (deren Restaurants und Hotels die neue Bürokratie trotzdem mit offenen Armen aufnahmen) bis zu den noch fanatischer unabhängigen Falklands, die sich jetzt gegen alle Versuche der gereizten Briten und Argentinier, sie sich gegenseitig zuzuschieben, wehrten.

Der Abbau der riesigen parasitären Rüstungsindustrie hatte der Weltwirtschaft einen unerhörten – manchmal sogar ungesunden – Aufschwung verschafft. Nicht länger wurden lebenswichtige Rohmaterialien und brillante technische Talente praktisch wie von einem schwarzen Loch verschluckt – oder, noch schlimmer, zur Vernichtung eingesetzt. Stattdessen konnte man sie dazu verwenden, die Verwüstungen und Schlampereien von Jahrhunderten wiedergutzumachen, indem man die Welt wiederaufbaute.

Und neue Welten baute. Nun hatte die Menschheit in der Tat das »moralische Gegenstück zum Krieg« gefunden und eine Herausforderung, die die überschüssigen Energien der Rasse absorbieren konnte – auf so viele Jahrtausende hinaus, wie irgendjemand nur zu träumen wagte.

4

Der Magnat

 

Als William Tsung geboren wurde, hatte man ihn »das teuerste Baby der Welt« genannt; er behielt diesen Titel nur zwei Jahre, dann beanspruchte ihn seine Schwester. Sie hatte ihn noch immer inne, und nachdem die Familiengesetze nun außer Kraft waren, würde ihn ihr auch nie wieder jemand streitig machen.

Ihr Vater, der legendäre Sir Lawrence, wurde geboren, als China die strenge »Ein Kind pro Familie«-Regel wieder eingeführt hatte; seine Generation hatte Psychologen und Sozialwissenschaftlern Material für endlose Studien geliefert. Keine Brüder oder Schwestern – und in vielen Fällen auch keine Onkel oder Tanten – zu haben, das war einmalig in der Geschichte der Menschheit. Ob das Verdienst der Elastizität der Gattung oder den Vorzügen des »Systems der erweiterten Familie« in China zuzuschreiben war, diese Frage würde wohl nie entschieden werden. Die Tatsache blieb bestehen, dass die Kinder jener seltsamen Zeit bemerkenswert frei von Narben waren; aber unberührt waren sie sicher nicht, und Sir Lawrence hatte auf einigermaßen spektakuläre Weise sein Bestes getan, um die Isolation seiner frühen Kindheit auszugleichen.

Als im Jahre 2022 sein zweites Kind geboren wurde, war das Genehmigungssystem Gesetz geworden. Man konnte so viele Kinder haben, wie man wollte, vorausgesetzt, man bezahlte den entsprechenden Preis. (Die noch lebenden Kommunisten der alten Garde waren nicht die Einzigen, die den ganzen Plan für absolut entsetzlich hielten, aber sie wurden von ihren pragmatischen Kollegen im jungen Kongress der Demokratischen Volksrepublik überstimmt.)

Kind Nummer 1 und 2 waren gratis. Nummer 3 kostete eine Million Sol. Nummer 4 zwei Millionen. Nummer 5 vier Millionen, und so weiter. Die Tatsache, dass es, jedenfalls theoretisch, in der Volksrepublik keine Kapitalisten gab, wurde fröhlich ignoriert.

Der junge Mr. Tsung – das war natürlich Jahre, ehe König Edward ihn zum Commander of the Order of Knights of the British Empire machte – ließ nie erkennen, ob er ein bestimmtes Ziel im Auge hatte; er war immer noch ein ziemlich armer Millionär, als sein fünftes Kind geboren wurde. Aber er war erst vierzig, und als der Kauf von Hongkong nicht ganz so viel von seinem Kapital erforderte, wie er befürchtet hatte, entdeckte er, dass ihm eine beträchtliche Menge Kleingeld zur Verfügung stand.

So berichtete es die Legende – aber wie bei vielen anderen Geschichten über Sir Lawrence war es auch hier schwierig, Tatsachen und Mythologie voneinander zu trennen. Es war sicherlich nichts Wahres an dem hartnäckigen Gerücht, dass er sein erstes Vermögen mit der berühmten, schuhschachtelgroßen Raubausgabe der »Library of Congress« verdient hatte. Das gesamte Schwindelgeschäft mit den Molekularspeicherelementen spielte sich außerhalb der Erde ab und wurde dadurch ermöglicht, dass die Vereinigten Staaten es versäumt hatten, den Mondvertrag zu unterzeichnen.

Obwohl Sir Lawrence kein Multibillionär war, machte ihn der Firmenkomplex, den er aufgebaut hatte, zum größten finanziellen Machtfaktor auf der Erde – keine geringe Leistung für den Sohn eines einfachen Hausierers mit Videokassetten in einem Gebiet, das immer noch unter dem Namen »New Territories« bekannt war. Wahrscheinlich merkte er die acht Millionen für Kind Nummer 6 und selbst die zweiunddreißig für Nummer 8 gar nicht. Die vierundsechzig, die er für Nummer 9 hinterlegen musste, erregten weltweites Aufsehen, und nach Nummer 10 mögen die Wetten, die über seine künftigen Pläne abgeschlossen wurden, durchaus die zweihundertsechsundfünfzig Millionen überstiegen haben, die ihn das nächste Kind gekostet hätte. Zu dieser Zeit entschied jedoch Lady Jasmine, die die besten Eigenschaften von Stahl und Seide in bemerkenswertem Verhältnis in sich vereinigte, dass die Tsung-Dynastie ausreichend etabliert sei.

Durch einen reinen Zufall (wenn es so etwas gibt) geriet Sir Lawrence persönlich ins Weltraumgeschäft. Er war natürlich in großem Umfang an Schifffahrtsunternehmen und Fluggesellschaften beteiligt, aber darum kümmerten sich seine fünf Söhne und deren Partner. Sir Lawrences wirkliche Liebe gehörte dem Nachrichtenwesen – Zeitungen (den wenigen, die noch übrig waren), Büchern, Magazinen (auf Papier und elektronisch) und vor allem dem globalen Fernsehnetz.

Dann hatte er das wunderschöne, alte Peninsular Hotel gekauft, das dem armen Chinesenjungen einstmals als der Inbegriff von Reichtum und Macht erschienen war, und es zu seinem Wohnsitz und seinem Hauptbüro umgebaut. Er umgab es mit einem herrlichen Park, indem er einfach die riesigen Einkaufszentren unter die Erde verdrängte (seine neugegründete Laser-Ausschachtungs-Firma machte bei der Sache ein Vermögen und setzte ein Vorbild für viele andere Städte).

Als er eines Tages die unvergleichliche Silhouette der Stadt jenseits des Hafens bewunderte, entschied er, dass noch eine weitere Verbesserung nötig sei. Die Aussicht von den unteren Stockwerken des Peninsular wurde seit Jahrzehnten von einem großen Gebäude versperrt, das aussah wie ein eingedrückter Golfball. Das, so beschloss Sir Lawrence, musste verschwinden.

Der Direktor des Planetariums von Hongkong – weithin als eines der fünf besten der Welt angesehen – hatte andere Vorstellungen, und sehr bald stellte Sir Lawrence mit Entzücken fest, dass er jemanden gefunden hatte, den er zu keinem Preis kaufen konnte. Die beiden Männer wurden enge Freunde; aber als Dr. Hessenstein zum sechzigsten Geburtstag von Sir Lawrence eine Sondervorstellung arrangierte, wusste er nicht, dass er mithalf, die Geschichte des Sonnensystems zu verändern.

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Aus dem Eis

 

Mehr als hundert Jahre, nachdem Zeiss 1924 in Jena den ersten Prototyp gebaut hatte, waren immer noch ein paar optische Planetariumsprojektoren in Betrieb, die sich eindrucksvoll über ihr Publikum erhoben. Aber Hongkong hatte sein Instrument der dritten Generation schon vor Jahrzehnten zugunsten des wesentlich vielseitigeren, elektronischen Systems aus dem Verkehr gezogen. Die große Kuppel war im Wesentlichen ein gigantischer Fernsehschirm, zusammengesetzt aus Tausenden von einzelnen Tafeln, auf denen man jedes nur vorstellbare Bild zeigen konnte.

Das Programm war – zwangsläufig – mit einer Huldigung an den unbekannten Erfinder der Rakete irgendwo in China im dreizehnten Jahrhundert eröffnet worden. Die ersten fünf Minuten waren einem kurzen historischen Überblick gewidmet, der die Verdienste der russischen, deutschen und amerikanischen Pioniere vielleicht nicht ganz gerecht darstellte, danach konzentrierte sich alles auf die Karriere von Dr. Hsue-Shen Tsien. Man konnte es seinen Landsleuten nicht verübeln, wenn sie ihn an einem solchen Ort und zu einem solchen Zeitpunkt als ebenso wichtig für die Geschichte der Raketenentwicklung erscheinen ließen wie Goddard, von Braun oder Koroilew. Und sie hatten sicher triftige Gründe, darüber entrüstet zu sein, dass man ihn wegen erfundener Anschuldigungen in den Vereinigten Staaten inhaftierte, als er sich, nachdem er mitgeholfen hatte, das berühmte Jet Propulsion Laboratory einzurichten und zum ersten Goddard Professor des Cal Tech ernannt worden war, entschloss, in seine Heimat zurückzukehren.

Der Abschuss des ersten chinesischen Satelliten mit der Rakete »Langer Marsch 1« im Jahre 1970 wurde kaum erwähnt, vielleicht, weil zu dieser Zeit die Amerikaner schon auf dem Mond herumspazierten. Ja, der Rest des 20. Jahrhunderts wurde in wenigen Minuten abgehandelt, um die Geschichte zum Jahre 2007 und zum geheimen Bau des Raumschiffs »Tsien« – vor den Augen der ganzen Welt – voranzutreiben.

Der Erzähler zeigte keine ungebührliche Schadenfreude über die Bestürzung der übrigen, raumfahrenden Mächte, als das, was man für eine chinesische Raumstation gehalten hatte, plötzlich aus dem Orbit beschleunigte und auf den Jupiter zuflog, um der russisch-amerikanischen Mission der »Kosmonaut Alexej Leonow« zuvorzukommen. Die Geschichte war so dramatisch – und tragisch –, dass keine Ausschmückungen erforderlich waren.

Leider gab es sehr wenig authentisches, visuelles Material, um sie zu illustrieren: das Programm musste sich großenteils auf Trickaufnahmen und geschickte Rekonstruktionen mit Hilfe späterer Fernbeobachtungen durch Satellitenkameras stützen. Während ihres kurzen Aufenthalts auf der eisigen Oberfläche von Europa war die Besatzung der »Tsien« viel zu beschäftigt gewesen, um Fernsehdokumentationen aufzuzeichnen oder auch nur eine automatische Kamera zu installieren.

Trotzdem vermittelten die damals gesprochenen Worte viel von der Dramatik jener ersten Landung auf den Jupitermonden. Der von der sich nähernden »Leonow« aus von Heywood Floyd gesprochene Kommentar eignete sich großartig dafür, den richtigen Rahmen zu geben, und es standen genügend Archivaufnahmen zur Illustration zur Verfügung.

»Genau in diesem Augenblick betrachte ich Europa durch das stärkste der Schiffsteleskope; bei dieser Vergrößerung ist dieser Mond zehnmal größer als der Erdmond, wie Sie ihn mit bloßem Auge sehen. Und diese Welt sieht wirklich unheimlich aus.

Die Oberfläche ist einförmig rosa, mit ein paar kleinen braunen Flecken, überzogen von einem komplizierten Netzwerk dünner Linien, die sich in alle Richtungen ringeln und schlängeln. Sie erinnern lebhaft an ein medizinisches Schaubild von Venen und Arterien.

Ein paar dieser Linien sind Hunderte – oder sogar Tausende – von Kilometern lang und ähneln den angeblichen Kanälen, die Percival Lowell und andere Astronomen des frühen 20. Jahrhunderts auf dem Mars zu sehen glaubten.

Aber die Kanäle von Europa sind keine Einbildung – und sie sind natürlich auch nicht künstlich geschaffen. Außerdem enthalten sie tatsächlich Wasser – oder wenigstens Eis. Denn der Satellit ist fast völlig von Meer bedeckt, im Durchschnitt fünfzig Kilometer tief.

Weil Europa so weit von der Sonne entfernt liegt, ist seine Oberflächentemperatur extrem niedrig – etwa minus hundert Grad Celsius. Daher könnte man erwarten, dass sein Meer ein einziger, massiver Eisblock ist.

Überraschenderweise ist das nicht der Fall, weil durch Gezeitenkräfte im Innern viel Wärme erzeugt wird – die gleichen Kräfte halten auf dem Nachbarsatelliten Io die großen Vulkane in Tätigkeit.

Daher ist das Eis ständig in Bewegung, es bricht auf, schmilzt, friert wieder zu und bildet Spalten und Risse wie die auf den schwimmenden Eisflächen in den Polarregionen der Erde. Dieses komplizierte Muster von Rissen sehe ich jetzt; die meisten davon sind dunkel und sehr alt – vielleicht Millionen von Jahren. Aber ein paar sind beinahe rein weiß; das sind die neuen, die sich gerade erst geöffnet haben und deren Kruste nur wenige Zentimeter dick ist.

Die ›Tsien‹ ist direkt neben einem dieser weißen Streifen gelandet – neben der fünfzehnhundert Kilometer langen Linie, die man den ›Großen Kanal‹ getauft hat. Vermutlich haben die Chinesen vor, sein Wasser in ihre Treibstofftanks zu pumpen, um das Satellitensystem des Jupiter erforschen und dann zur Erde zurückkehren zu können. Das ist vielleicht nicht ganz einfach, aber sie haben den Landeplatz sicherlich sehr sorgfältig studiert und wissen bestimmt, was sie tun.

Es ist jetzt klar, warum sie ein solches Risiko eingegangen sind – und warum sie Anspruch auf Europa erheben. Als Stützpunkt zum Auftanken könnte der Satellit der Schlüssel zum gesamten äußeren Sonnensystem sein …«

Aber so hatte es nicht funktioniert, dachte Sir Lawrence, als er sich in seinem luxuriösen Stuhl unterhalb der von Streifen und Flecken überzogenen Scheibe, die den künstlichen Himmel ausfüllte, zurücklehnte. Die Meere Europas waren für die Menschheit immer noch unzugänglich, aus Gründen, die immer noch ein Geheimnis waren. Und nicht nur unzugänglich, sondern auch unsichtbar; seit Jupiter zur Sonne geworden war, waren seine beiden inneren Satelliten unter Dampfwolken verschwunden, die aus ihrem Innern heraufbrodelten. Er schaute auf Europa, wie es damals, 2010, gewesen war – nicht wie es sich heute darstellte.

Damals war er fast noch ein Junge gewesen, aber er erinnerte sich noch, mit welchem Stolz es ihn erfüllt hatte, dass seine Landsleute – so sehr er auch ihre Politik missbilligte – unmittelbar davorstanden, als Erste auf einer jungfräulichen Welt zu landen.

Natürlich war keine Kamera dagewesen, die diese Landung aufgezeichnet hätte, aber die Rekonstruktion war großartig gemacht. Man konnte wirklich glauben, dass es das unselige Raumschiff war, das dort lautlos aus dem pechschwarzen Himmel auf die Eislandschaft Europas zufiel und neben dem verfärbten Streifen aus erst vor kurzem zugefrorenem Wasser zum Stehen kam, den man den »Großen Kanal« getauft hatte.

Jedermann wusste, was als Nächstes passiert war; es war vielleicht klug, dass man nicht versucht hatte, es visuell zu reproduzieren. Stattdessen wurde das Bild Europas ausgeblendet und durch ein Porträt ersetzt, das jedem Chinesen so vertraut war wie das Jurij Gagarins jedem Russen.

Die erste Fotografie zeigte Rupert Chang an seinem Examenstag im Jahre 1989 – den ernsthaften, jungen Gelehrten, nicht zu unterscheiden von einer Million anderer, der nicht ahnte, dass er zwei Jahrzehnte später ein Rendezvous mit der Geschichte haben sollte.

Bei gedämpfter Musik im Hintergrund fasste der Kommentator die Höhepunkte von Dr. Changs Karriere zusammen, bis zu seiner Ernennung zum Wissenschaftsoffizier an Bord der »Tsien«. Dann ging es quer durch die Zeit, die Fotos wurden älter bis zum letzten, das unmittelbar vor der Mission aufgenommen worden war.