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ÜBER DIE AUTORIN

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, Eine Nacht, Markowitz (2013), dem der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde, wird derzeit verfilmt. Ayelet Gundar-Goshen lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv.

ÜBER DAS BUCH

Es ist ein einziger Moment, der das Leben des Neurochirurgen Etan Grien von Grund auf verändert: der Moment, in dem er nachts auf einer einsamen Straße einen illegalen Einwanderer überfährt. Um Karriere und Familie zu schützen, entscheidet sich Etan, den Mann nach dem tödlichen Aufprall liegen zu lassen und den Unfall nicht zu melden. Doch dann kontaktiert ihn plötzlich die Ehefrau des Opfers: Sie habe den Unfall beobachtet, und für ihr Schweigen solle er ab sofort Nacht für Nacht den übrigen Einwanderern medizinische Hilfe leisten. Etan geht darauf ein, doch der gravierenden Auswirkungen dieses Paktes auf sein Leben wird er sich erst bewusst, als er wirklich alles zu verlieren droht.

Eine spannungsgeladene Geschichte über einen Mann, der einen falschen Schritt tut und diesen Weg dann weiterverfolgen muss – und ein brisanter Beitrag zu der Frage, welchen Wert »illegales Leben« in unseren Köpfen hat.

Für Yoav

Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Er hört die Tür des Jeeps aufgehen und weiß, er ist derjenige, der sie öffnet, er derjenige, der nun aussteigt. Aber dieses Wissen ist nur lose mit seinem Körper verbunden, wie das Wandern der Zunge übers Zahnfleisch kurz nach der Betäubungsspritze, alles da, aber anders. Seine Füße treten auf den groben Wüstensand, er hört ein Knirschen bei jedem Schritt, und dieser Laut beweist ihm, dass er tatsächlich geht. Und irgendwo am Ende des nächsten Schritts erwartet ihn der Mann, den er umgefahren hat, von hier kann man ihn nicht sehen, aber er ist dort, noch einen Schritt, und er ist da. Der Fuß ist schon in der Luft, verlangsamt jedoch, möchte ihn hinausschieben, den nächsten, den endgültigen Schritt, nach dem nichts anderes mehr übrig bleibt, als den am Straßenrand liegenden Mann anzusehen. Könnte man diesen Schritt nur einfrieren, aber natürlich kann man diesen Schritt nicht einfrieren, ebenso wenig wie man den Moment davor einfrieren kann, den genauen Moment, in dem ein Jeep einen Menschen umfuhr, das heißt, den genauen Moment, in dem der Mann, der den Jeep lenkte, den Mann, der zu Fuß ging, umfuhr. Dieser Mann, der zu Fuß ging – erst der nächste Schritt wird zeigen, ob er noch ein Mensch ist oder bereits etwas anderes, ein Wort, das man nur denken braucht, und schon erstarrt der Fuß in der Luft, mitten im Schritt, denn am Ende des Schritts könnte sich zeigen, dass der Mann, der zu Fuß ging, kein gehender Mensch mehr ist, oder überhaupt kein Mensch mehr, nur noch die Hülle eines Menschen, eine aufgesprungene Hülle, und der Mensch ist weg. Und wenn der liegende Mann kein Mensch mehr ist, dann ist kaum auszudenken, was mit dem stehenden, bebenden Mann wird, der sich nicht einmal überwinden kann, einen einfachen Schritt fertig zu tun. Was mit ihm wird.

Erster Teil

1

Der Staub war überall. Eine dünne, weiße Schicht, wie der Puderzucker auf einer Geburtstagstorte, die kein Mensch wollte. Er sammelte sich auf den Wedeln der Palmen, auf den erwachsenen Bäumen, die von Lastwagen angekarrt und auf dem Hauptplatz in den Boden gesteckt worden waren, weil niemand jungen Setzlingen zutraute, in dieser Erde Wurzeln zu schlagen; er bedeckte die Wahlplakate, die drei Monate nach den Kommunalwahlen immer noch von den Balkonen der Häuser baumelten: Glatzköpfige, schnurrbärtige Männer spähen durch den Staub auf ihre potenziellen Wähler, einige mit kompetentem Lächeln, andere mit ernstem Blick, je nach Empfehlung des angeheuerten Medienberaters. Staub auf den Reklameschildern, Staub auf den Busstationen, Staub auf den Bougainvilleen, die schlapp vor Durst am Straßenrand rankten, Staub überall.

Trotzdem schien kein Mensch darauf zu achten. Die Einwohner von Beer Scheva nahmen den Staub genauso hin, wie sie alles Übrige hinnahmen – Arbeitslosigkeit, Kriminalität, mit zerbrochenen Flaschen übersäte Grünanlagen. Die Stadtbewohner erwachten allmorgendlich in staubbedeckten Straßen, gingen verstaubt zur Arbeit, machten Sex unter einer Staubschicht und gebaren Kinder, denen der Staub aus den Augen schaute. Manchmal überlegte er, wen er mehr hasste – den Staub oder die Einwohner von Beer Scheva. Vermutlich den Staub. Die Einwohner von Beer Scheva klebten ihm nicht jeden Morgen auf dem Wagen. Der Staub ja. Eine dünne, weiße Schicht, die das leuchtende Rot des Jeeps trübte und es in ein verblichenes Rosa verwandelte, eine Parodie seiner selbst. Wütend fuhr Etan mit einem Zeigefinger über die Windschutzscheibe und wischte etwas von der Schmach ab. Der Staub klebte auch noch an seiner Hand, als er sie an der Hose abgewischt hatte, und er wusste, er würde bis zum Händewaschen im Soroka-Krankenhaus warten müssen, um sich wieder wirklich sauber zu fühlen. Beschissen, diese Stadt.

(Manchmal hörte er seine eigenen Gedanken und erschrak. Dann erinnerte er sich daran, dass er kein Rassist war. Er wählte die Menschenrechtspartei Meretz. Er war mit einer Frau verheiratet, die früher, bevor sie sich in Liat Grien verwandelte, Liat Samocha geheißen, also einen echt irakischen Familiennamen getragen hatte. Nach dieser Aufzählung beruhigte er sich ein wenig, und dann konnte er diese Stadt wieder reinen Gewissens hassen.)

Als er ins Auto stieg, achtete er darauf, jede Berührung mit dem beschmutzten Finger zu vermeiden, als sei er gar nicht Teil seines Körpers, sondern eine Gewebeprobe, die er zur Untersuchung in der Hand hielt. Gleich würde er sie Prof. Sakkai vorlegen, damit sie sie gemeinsam mit wissbegierigen Blicken prüfen konnten – verrate uns, wer du bist! Aber Prof. Sakkai war jetzt viele Kilometer weit weg, erwachte an einem staubfreien Morgen in den grünen Straßen Raananas, setzte sich gemütlich in seinen silbrigen Mercedes und schlängelte sich durch die Verkehrsstaus der Landesmitte zum Krankenhaus.

Während Etan noch zügig durch die leeren Straßen von Beer Scheva fuhr, wünschte er Prof. Sakkai mindestens eine Stunde und fünfzehn Minuten Stillstand an der Geha-Kreuzung, mit kaputter Klimaanlage und verschwitztem Hemd. Doch er wusste sehr wohl, Mercedes-Klimaanlagen gingen nicht kaputt und die Staus an der Geha-Kreuzung waren nur eine süße Erinnerung an das, was er bei seinem Umzug hierher zurückgelassen hatte – die Metropole. Den Ort, wo alle hinwollten. Stimmt, in Beer Scheva gab es keine Verkehrsstaus, und das betonte er auch in jedem Gespräch mit Bekannten aus dem Landeszentrum. Aber wenn er das tat – mit dem gefälligen Lächeln und dem klaren Blick eines edlen Wüstenbewohners –, dachte er immer, dass es auch auf dem Friedhof keine Staus gebe, und doch wollte er dort nicht wohnen. Die Häuser entlang der Reger-Allee erinnerten tatsächlich an einen Friedhof. Eine verblichene, einheitliche Reihe von Steinklötzen, die einmal weiß gewesen waren, heute jedoch an Grau grenzten. Riesige Grabmäler, aus deren Fenstern hier und da ein müdes, staubiges Gespenstergesicht blickte.

Auf dem Parkplatz des Soroka traf er Dr. Zendorf, der ihn mit breitem Lächeln fragte, »und wie geht es Dr. Grien heute?«, worauf Etan sich ebenfalls ein schiefes Lächeln abrang, es nach besten Kräften übers Gesicht verteilte und antwortete, »alles in Ordnung«. Dann passierten sie gemeinsam das Krankenhaustor, tauschten das Klima und die Uhrzeit, die die Natur ihnen aufzwang, gegen die dreiste Anmaßung von Klimaanlagen und künstlicher Beleuchtung, die ewigen Morgen und nie vergehenden Frühling verhießen. Am Eingang zur Station verließ Etan Dr. Zendorf, um sich den staubigen Finger lange am Waschbecken zu schrubben, bis eine junge Schwester vorbeikam und anmerkte, er habe die Finger eines Pianisten. Das stimmt, dachte er, er hat die Finger eines Pianisten. Frauen sagten ihm das immer. Aber das einzige Instrument, das er spielte, waren defekte, angeknackste Neuronen, auf denen er mit behandschuhten Händen klimperte, um zu sehen, ob er ihnen eine Melodie entlocken konnte.

Ein sonderbares Instrument, das Gehirn. Man wusste nie richtig, welchen Ton man bekam, wenn man diese oder jene Taste anschlug. Natürlich würde jemand, dessen Occipital- oder Hinterhauptslappen man mit einem leichten Stromstoß reizte, mit hoher Wahrscheinlichkeit Farben sehen, ebenso wie ein Druck auf die Neuronen im Temporal- oder Schläfenlappen in den meisten Fällen die Illusion von Tönen und Stimmen erzeugte. Aber welche Töne? Welche Bilder? Da wurde die Sache kompliziert. Denn während die Wissenschaft klare, einheitliche Gesetze liebte, hoben sich die Menschen offensichtlich liebend gern voneinander ab. Wie erschreckend zäh versteiften sie sich darauf, neue, abweichende Symptome zu entwickeln, die zwar nichts als Variationen eines musikalischen Themas sein mochten, aber doch zu weit auseinanderlagen, um sie in einer allgemeingültigen Aussage zusammenzufassen. Zwei Patienten mit der gleichen Schädigung des orbitofrontalen Kortex würden niemals so gut sein, sich auf dieselben Nebenerscheinungen zu einigen. Der eine wurde grob und raubeinig, der andere lachte obsessiv. Einer gab unsinnige Witze von sich, den zweiten befiel der unbeherrschbare Drang, jeden Gegenstand, der ihm in die Quere kam, aufzuheben. Stimmt, die Erklärung gegenüber den entsetzten Angehörigen würde immer gleich lauten: Aus irgendeinem Grund (Verkehrsunfall? Krebsgeschwür? Querschläger?) ist der orbitofrontale Kortex geschädigt, der das Verhalten steuert. In neurokognitiver Hinsicht ist alles in Ordnung: Das Gedächtnis arbeitet, und die Denkfunktionen sind gleich geblieben. Aber der Mensch, den Sie gekannt haben, ist nicht mehr. Wer würde an seine Stelle treten? Das war unklar. Bisher. Von diesem Punkt an: eine Welt der Zufälle. Die Zufälligkeit, dieses aufreizende Hürchen, tanzte zwischen den Betten der Station herum, spuckte auf die Arztkittel, kitzelte die Ausrufezeichen der Wissenschaft, bis sie sich gesenkten Hauptes zu Fragezeichen rundeten.

Wie soll man denn dann überhaupt noch was wissen?!, hatte Etan mal zum Holzpodium im Hörsaal emporgerufen. Fünfzehn Jahre war das her, und immer noch erinnerte er sich an seine jähe Erregung, als ihm an einem schläfrigen Novembermittag aufgegangen war, dass sein Studienfach nicht berechenbarer war als jeder andere Tätigkeitsbereich. Eine Studentin, die neben ihm eingenickt war, schreckte bei dem Zwischenruf auf und blitzte ihn feindselig an. Die übrigen Hörer warteten auf die Fortsetzung der Vorlesung, deren Inhalt sicher Prüfungsstoff sein würde. Der Einzige, der die Frage nicht als störend empfand, war Prof. Sakkai selbst, der ihm einen belustigten Blick vom Lehrerpult zuwarf. »Und wie ist Ihr Name, bitte?«

»Etan. Etan Grien.«

»Die einzige Möglichkeit, Erkenntnis zu erlangen, Etan, besteht darin, dem Tod nachzuspüren. Der Tod lehrt Sie alles, was Sie wissen müssen. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall von Henry Molaison, einem Epileptiker aus Connecticut. 1953 vermutete ein Neurochirurg namens William Scoville, die Epilepsie gehe von den beiden medialen Temporallappen aus, und Henry Molaison wurde einer neuartigen Operation unterzogen, bei der die angeblich krankheitsauslösenden Hirnpartien entfernt wurden, darunter ein Großteil des Hippocampus. Wissen Sie, was danach passiert ist?«

»Ist er gestorben?«

»Ja und nein. Henry Molaison war nicht tot, denn er überstand die Operation und lebte weiter. Aber in anderer Hinsicht war Molaison doch gestorben, denn nach seinem Erwachen aus der Narkose war er unfähig, auch nur eine einzige neue Erinnerung zu bilden. Er konnte sich nicht verlieben oder einen Groll nachtragen oder einen neuen Gedanken entwickeln, denn nach zwei Minuten war das Objekt der Liebe oder des Grolls oder der neue Gedanke schlichtweg ausgelöscht. Er wurde als Siebenundzwanzigjähriger operiert, und obwohl er erst mit zweiundachtzig starb, blieb er praktisch ewig siebenundzwanzig. Verstehen Sie, Etan, erst nachdem man ihm den Hippocampus weitgehend entfernt hatte, erkannte man, dass der die Speicherung im Langzeitgedächtnis steuert. Wir müssen warten, bis etwas zerstört ist, um zu begreifen, was vorher richtig funktioniert hat. Das ist praktisch die Basismethode der Hirnforschung – wobei Sie nicht einfach hingehen und jemandem Hirnteile entnehmen können, um zu prüfen, was dabei herauskommt, sondern Sie warten ab, bis der Zufall für Sie arbeitet. Und dann stürzen sich die Wissenschaftler wie die Aasgeier auf das, was nach der Arbeit des Zufalls übrig geblieben ist, und versuchen, dasselbe zu erlangen wie Sie – ein wenig Wissen.«

War damals, in jenem Hörsaal, der Köder ausgelegt worden? Hatte Prof. Sakkai da bereits erfasst, dass dieser strebsame, faszinierte Student ihm wie ein treuer Hund überallhin folgen würde? Als Etan jetzt seinen weißen Kittel überzog, war er fast amüsiert über seine damalige Naivität. Er, der nicht an Gott glaubte, der schon als Kind keine Geschichte hören wollte, die auch nur einen Hauch von Übernatürlichem aufwies, hatte diesen Dozenten zum wandelnden Halbgott erhoben. Und als der treue Hund sich dann partout nicht tot stellen oder den Taubblinden mimen wollte, hatte der wandelnde Halbgott seinen Zorn über ihn ausgegossen, ihn aus dem Tel Aviver Garten Eden in diese Ödnis, ins Soroka-Krankenhaus vertrieben.

»Dr. Grien?«

Die junge Schwester blieb bei ihm stehen und berichtete ihm von den Vorkommnissen der Nacht. Er hörte mit einem Ohr zu und begab sich dann auf den Weg zur Kaffeemaschine. Beim Gang durch den Korridor warf er einen kurzen Blick auf die Patienten: Eine junge Frau weinte leise vor sich hin. Ein Russe mittleren Alters versuchte sich mit zitternden Händen an einem Sudoku. Vier Angehörige einer Beduinenfamilie starrten mit glasigen Augen auf einen Fernseher an der Wand. Etan blickte schräg auf den Bildschirm: Ein Gepard knabberte stur die letzten Fleischreste von dem, was vorher einmal – wenn man dem Sprecher Glauben schenkte – ein Fuchs gewesen war. Siehe da, die Tatsache, dass alles Leben dem Vergehen geweiht ist, diese Tatsache, die man um Himmels willen nicht auf den Krankenhausfluren erwähnen durfte, konnte also wenigstens noch im Fernsehen folgenlos thematisiert werden. Würde Dr. Etan Grien durch diesen Betondschungel namens Soroka wandern und schlicht und einfach vom Tod reden, würden die Patienten ausrasten. Tränen, Schreie, tätliche Angriffe auf das Krankenhauspersonal. Unzählige Male hatte er einen gerührten Patienten sie »Engel in Weiß« nennen hören. Und obwohl er wusste, es steckten keine Engel, sondern Menschen aus Fleisch und Blut unter den weißen Kitteln, reagierte er nicht kleinlich. Wenn die Menschen nun mal Engel brauchten – wie käme er dazu, sie ihnen zu verweigern? Was machte es, wenn eine Schwester nur haarscharf einer Anklage wegen Fahrlässigkeit entgangen war, weil sie einer heiseren Kehle ein Medikament eingeflößt hatte, das für eine andere heisere Kehle bestimmt war? Auch Engel irrten sich mal, besonders, wenn sie dreiundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatten. Wenn von Trauer und Wut überwältigte Angehörige sich auf einen verängstigten Praktikanten oder eine erschrockene Fachärztin stürzten, wusste Etan, sie wären über wahre Engel genauso hergefallen, um ihnen die Federn aus den Flügeln zu reißen, damit sie nicht durchs goldene Himmelreich schwirrten, während ihr geliebter Anverwandter in Grabesfinsternis verbannt wurde. Und all diese Seelen, die dem Tod sonst nicht mal flüchtig ins Gesicht sehen konnten, betrachteten ihn nun gelassen, sogar wohlwollend, als er seinen Schrecken in der afrikanischen Savanne verbreitete. Denn jetzt schauten nicht mehr nur die Beduinen auf den Bildschirm – auch der Russe löste sich von seinem Sudoku und reckte den Hals, und sogar die tränenerstickte Frau verfolgte das Geschehen durch feuchte Wimpern. Der Gepard kaute emsig an den letzten Fleischresten des Fuchses mit dem roten Schwanz. Der Sprecher redete von Dürre. Bei Regenmangel fingen die Savannentiere an, ihre Jungen zu fressen. Die Szene wechselte, und die Besucher der neurochirurgischen Station betrachteten nun fasziniert »die seltene Dokumentation«, wie der Sprecher sagte, eines afrikanischen Löwen, der seine eigenen Nachkommen verspeiste, und Etan Grien wusste in tiefstem Herzen, er hatte dem Gott der Wissenschaft nicht für das Morphium zu danken, sondern für den Toshiba-33-Zoll.

Vor vier Jahren hatte eine kahlköpfige Patientin ihn einen Zyniker geschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Er spürte im Geist immer noch den Speichel über seine Wange rinnen. Sie war jung, nicht besonders hübsch. Trotzdem war sie mit einer Grazie durch die Flure gewandelt, die Mitpatienten und Schwestern veranlasste, ihr unwillkürlich den Weg freizumachen. Doch eines Tages, bei der Morgenvisite an ihrem Bett, hatte sie ihn als Zyniker beschimpft und ihm ins Gesicht gespuckt. Vergeblich hatte er über den Auslöser dieses Verhaltens gerätselt. Bei den früheren Visiten hatte er stets sachliche Fragen gestellt und knappe Antworten erhalten. Nie war er von ihr auf dem Korridor angesprochen worden. Gerade weil er keinen Grund finden konnte, betrübte ihn der Vorfall. Unwillkürlich kamen ihm Gedanken über Blinde, die einen bestens durchschauten, über kahlköpfige Frauen, denen der nahe Tod möglicherweise einen Herz und Nieren durchdringenden Röntgenblick verliehen hatte. In jener Nacht, auf dem Doppelbett, dessen Laken nach Sperma roch, hatte er Liat gefragt: Bin ich ein Zyniker?

Sie hatte gelacht, und er war eingeschnappt gewesen.

Ist es so schlimm?

Nein, hatte sie gesagt und ihm einen Kuss auf die Nasenspitze gegeben, nicht zynischer als andere.

Und er war wirklich kein Zyniker. War nicht zynischer als andere. Dr. Etan Grien wurde seine Patienten nicht mehr – und nicht weniger – leid als üblich auf den Stationen. Und doch hatte man ihn über den Ozean von Staub und Sand hinweg ins Exil geschickt, ihn aus dem Schoß des Krankenhauses im Landeszentrum in die Betonwüste des Soroka verbannt. »Du Idiot«, fauchte er sich an, als er das ratternde Klimagerät in seinem Dienstzimmer in Gang zu setzen versuchte, »du naiver Idiot.« Denn was hätte einen begnadeten Mediziner zu einem Frontalzusammenstoß mit seinem Chef bewegen können, wenn nicht Idiotie? Was, wenn nicht die reinste Idiotie, hatte ihn veranlasst, auch dann noch auf seiner Meinung zu beharren, als dieser Chef, sein ehemaliger Mentor, ihm geraten hatte, sich vorzusehen? Welche neuen Formen von Idiotie hatte der begnadete Mediziner erfunden, als er in schlecht gemimter Forschheit auf den Tisch gehauen und gesagt hatte, »das ist Korruption, Sakkai, und ich werde es auffliegen lassen«? Und als er sich an den Krankenhausdirektor wandte und ihm von den prall gefüllten Briefumschlägen und den darauf folgenden dringenden »Operationen außerhalb der Reihe« berichtete – war er da wirklich dumm genug gewesen, den überraschten Blick in seinen Augen für echt zu halten?

Das Schlimmste war, er würde es wieder tun. Alles. Und um ein Haar hätte er das Ganze noch einmal gesagt, als er zwei Wochen später entdeckte, dass der Direktor nichts unternommen hatte, außer für seine Versetzung zu sorgen.

»Ich geh damit an die Medien«, hatte er zu Liat gesagt, »ich mach so einen Skandal, dass sie mich nicht zum Schweigen bringen können.«

»Sehr richtig«, hatte Liat geantwortet, »gleich nachdem wir Jahalis Kindergarten und das Auto und die Wohnung abbezahlt haben.«

Später sagte sie, es sei seine Entscheidung gewesen, sie hätte ihn in jedem Fall unterstützt. Aber er erinnerte sich, wie ihre warmen, honigfarbenen Augen sich mit einem Schlag in harte Nüsse verwandelt hatten, erinnerte sich, wie sie sich die ganze Nacht im Bett gewälzt, mit Albträumen gequält hatte, deren Inhalt er hatte erraten können. Am nächsten Morgen war er ins Büro des Krankenhausdirektors gegangen und hatte seiner Versetzung zugestimmt.

Und nur drei Monate später war er hierhergekommen, in die weiß getünchte Villa in Omer. Jahali und Itamar spielten auf dem Rasen. Liat überlegte, wo sie die Bilder aufhängen sollte. Und er stand da und starrte auf die Flasche Whisky, die seine Stationskollegen ihm zum Abschied geschenkt hatten, unschlüssig, ob er lachen oder weinen sollte.

Letzten Endes nahm er die Flasche mit ins Krankenhaus und stellte sie auf das Bord mit den Urkunden. Schließlich versinnbildlichte auch sie etwas. Eine abgeschlossene Periode, eine beherzigte Lektion. Hatte er einmal ein paar Minuten Muße zwischen zwei Visiten, nahm er die Flasche in die Hand und betrachtete sie eingehend, studierte die Grußkarte. »Für Etan, weiterhin viel Erfolg.« Die Worte kamen ihm wie Hohn vor. Er erkannte deutlich Prof. Sakkais Handschrift, kleine Braille-Punkte, die die Studenten zur Verzweiflung getrieben hatten. »Entschuldigen Sie bitte, was steht da?« »Ich würde der Frau Studentin lieber raten, lesen zu lernen.« »Aber das ist unklar.« »Die Wissenschaft, meine Herrschaften, ist eine unklare Angelegenheit.« Und alle murrten und schrieben und entluden ihre Wut in besonders giftigen Bewertungen am Ende des Studienjahrs, die nie etwas bewirkten. Im nächsten Semester stand Prof. Sakkai wieder im Hörsaal, und seine Handschrift an der Tafel glich unlesbarem Taubendreck. Der Einzige, der ihn gern wiedersah, war Etan. Nach und nach, mit begeisterter Strebsamkeit, lernte er, Sakkais Handschrift zu entziffern, aber der Charakter des Professors blieb ihm ein Rätsel.

»Für Etan, weiterhin viel Erfolg.« Die widerliche Karte hing der Whiskyflasche um den Hals, in ewiger Umarmung. Ein paarmal hatte er erwogen, sie zu zerreißen und in den Papierkorb zu werfen, vielleicht die ganze Flasche zu entsorgen. Aber immer hatte er im letzten Moment davon Abstand genommen, hatte Prof. Sakkais Worte ebenso eingehend studiert wie in seiner Jugend eine schwierige Gleichung.

Er hatte zu viel gearbeitet in jener Nacht, und er wusste es. Die Muskeln taten ihm weh. Der Kaffee wirkte nicht mehr länger als eine halbe Stunde. Hinter vorgehaltener Hand gähnte er, als wollte er das ganze Wartezimmer verschlingen. Um acht Uhr rief er an, um den Kindern eine gute Nacht zu wünschen, und war so müde und nervös, dass er Jahali kränkte. Der Junge hatte ihn gebeten, wie ein Pferd zu wiehern, und er hatte in einem Ton »Jetzt nicht« gesagt, der sie beide erschreckte. Danach übernahm Itamar, fragte, wie es bei der Arbeit sei und ob er spät heimkomme, und Etan musste sich selbst in Erinnerung rufen, dass dieser aufmerksame, versöhnliche Junge noch keine acht Jahre alt war. Während er mit Itamar redete, hörte er Jahali im Hintergrund schniefen, sicher sollte sein großer Bruder nicht merken, dass er weinte. Als Etan das Gespräch beendete, war er noch müder als zuvor und fühlte sich sehr schuldig.

Er hatte fast immer Schuldgefühle, wenn er an seine Kinder dachte. Egal, was er tat, es schien ihm zu knapp, zu wenig zu sein. Schließlich konnte Jahali gerade dieses Gespräch, bei dem sich sein Vater strikt geweigert hatte, wie ein Pferd zu wiehern, noch Jahre später in Erinnerung behalten. Solche Momente bildeten doch auch genau die Erinnerungen an seine eigene Kindheit – nicht all die Küsse und Umarmungen, die er bekommen hatte, sondern die, die ihm verweigert worden waren. Wie damals, als er bei einem Rundgang im Labor seines Vaters an der Universität Haifa in Tränen ausgebrochen war, seine Mutter aber nur bei den anderen Besuchern gestanden und ihm zugeflüstert hatte, er solle sich schämen. Vielleicht hatte sie ihn hinterher noch in die Arme geschlossen. Oder als Umarmungsersatz fünf Schekel aus dem Portemonnaie genommen und ihn losgeschickt, um sich mit einem Eis zu trösten. Das spielte keine Rolle. Das war nicht im Gedächtnis haften geblieben. Er erinnerte sich ja auch nicht an all die Male, als er beim Sprung aus dem Baum im Hof sanft auf der Erde gelandet war, sondern nur an das eine Mal, als er sich das Bein gebrochen hatte.

Wie alle Väter wusste er, es gab keine Wahl. Er war dazu verdammt, seinen Sohn zu enttäuschen. Und wie alle Väter hoffte er insgeheim, von diesem Schicksal verschont zu bleiben. Vielleicht würde es bei ihnen nicht passieren. Vielleicht würde es ihm gelingen, Itamar und Jahali genau das zu geben, was sie brauchten. Ja sicher, Kinder weinten manchmal, aber bei ihm würden sie nur weinen, wenn es wirklich einen Grund dafür gab. Weil sie versagt hatten, nicht er.

Er ging durch den Stationsflur, geröstet von den eisigen Flammen der Neonröhren, und versuchte zu überlegen, was jetzt zu Hause vor sich ging. Itamar ist in seinem Zimmer, reiht Dinosaurier der Größe nach auf. Jahali hat sich sicher schon beruhigt. Dieses Kind ist wie Liat, schnell auf heiß und schnell auf kalt. Nicht wie Etan, dessen Ärger einer Warmhalteplatte für Schabbat gleicht, die man an- und dann für anderthalb Tage nicht wieder abschaltet. Ja, Jahali hat sich schon beruhigt. Er sitzt jetzt auf dem Sofa und guckt zum tausendsten Mal »Pinguine unterwegs«. Etan kannte diesen Film in- und auswendig. Die Witze des Sprechers, die Begleitmusik, sogar die Reihenfolge der Namen im Abspann. Und nicht weniger als den Film kannte er Jahali: wann er lachen, wann er mit dem Sprecher einen Lieblingssatz rezitieren, wann er hinter einem Kissen hervor auf den Bildschirm lugen würde. An den lustigen Stellen lachte er jedes Mal wieder, und an den furchterregenden fürchtete er sich immer von Neuem, und das war merkwürdig, denn wie oft konnte man über einen Witz lachen, den man schon kannte, und wie oft konnte man sich ängstigen bei einem lauernden Seehund, wenn man mit Sicherheit wusste, dass es der Pinguin zum Schluss schaffen würde, ihn reinzulegen und die Flucht zu ergreifen. Und doch, kaum war der Seehund auf der Bildfläche erschienen, tauchte Jahali hinters Kissen ab und verfolgte von Weitem das Schicksal des Pinguins. Und Etan sah erst ihn, dann den Pinguin an und fragte sich, wann Jahali endlich diese DVD aufgeben würde, wann Kinder grundsätzlich das Neue dem Vertrauten vorzogen.

Andererseits, wie schön und beruhigend, schon in der Mitte des Films zu wissen, wie er ausging. Und wie viel erträglicher war der gefährliche Sturm in der 32. Minute, wenn man wusste, er würde sich in der 43. legen. Gar nicht zu reden von den Seehunden und den Möwen und den übrigen Übeltätern, die auf das Ei lauerten, das die Königin der Pinguine gelegt hatte, es aber nicht zu fassen bekamen, und als auch der Seehund, wie bekannt, scheiterte, jubelte Jahali, kam mit dem Gesicht hinter dem Kissen hervor und sagte – Papa, kann ich einen Kakao bekommen?

Kann er, natürlich kann er das. In dem lila Glas, aus keinem anderen würde er ihn trinken. Drei Teelöffel Schokopulver. Gut umrühren, damit keine Klümpchen bleiben. Jahali daran erinnern, dass er, wenn er seinen Kakao jetzt trinkt, später keinen mehr bekommen wird, weil das nicht gesund ist. Wissen, dass er zwei Stunden später wieder aufwachen und doch noch um einen betteln wird. Und ziemlich gute Chancen hat, ihn auch zu erhalten, weil Liat sein Weinen nicht aushält. Sich fragen, warum er selbst das Weinen durchaus aushält. Ist er ein so hervorragender Pädagoge, ein durchsetzungsfähiger, konsequenter Vater, oder steckt etwas anderes dahinter?

In Itamar hatte Etan sich gleich nach der Geburt verliebt. Bei Jahali hatte er Zeit gebraucht. Er redete nicht darüber. Das gehörte nicht zu den Dingen, die man über seine Kinder sagte. Über Frauen ging das. Zum Beispiel: Wir gehen schon einen Monat miteinander. Ich bin noch nicht in sie verliebt. Doch dein Kind solltest du gleich auf der Stelle lieben, selbst wenn du es noch gar nicht kanntest. Bei Itamar lief es tatsächlich so. Noch ehe sie ihn gebadet hatten, noch ehe seine Gesichtszüge richtig zu sehen waren, hatte Itamar schon einen Platz in seinem Herzen erobert. Vielleicht weil Etan in den Wochen vor der Geburt nichts anderes getan hatte, als Platz freizumachen. Platz im Schrank für die Kleidung, Platz in der Kommode für die Spielsachen, Platz im Regal für die Windeln. Und als Itamar endlich da war, flutschte er ganz natürlich in diesen Platz, nistete sich dort ein und wich nicht mehr.

Liat hatte sich damals etwas schwerer getan als Etan. Sie waren übereingekommen, es sei wegen der Schmerzen und wegen des Hormonabfalls, und falls sie innerhalb von zehn Tagen nicht aufhören würde zu weinen, würden sie einen Arzt aufsuchen. Sie hörte nach weniger als zehn Tagen auf zu weinen, aber es dauerte eine Weile, bis sie anfing zu lächeln. Sie sprachen nicht darüber, weil es nichts zu besprechen gab, aber beide wussten, Etan hatte Itamar sofort lieb gewonnen und Liat sich ihm zwei Wochen später angeschlossen. Und bei Jahali war es umgekehrt gewesen. Wobei immer die Frage offenblieb, ob der Elternteil, der die Liebe des anderen Elternteils in schuldbewusstem, atemlosem Lauf eingeholt hatte, jetzt wirklich Gleichschritt hielt oder immer noch ein wenig hinterherhinkte.

Sechs Stunden später, als es ihnen endlich gelungen war, die Verletzten eines Verkehrsunfalls in der Arava zu stabilisieren, zog er seinen Kittel aus. Sie sehen erledigt aus, sagte die junge Schwester, vielleicht schlafen Sie hier? Etan war zu müde, um etwaige versteckte Andeutungen in ihren Worten zu entschlüsseln. Er dankte der Schwester höflich, wusch sich das Gesicht und trat in die Nachtluft hinaus. Schon beim ersten Schritt spürte er, was neunzehn Stunden in klimatisierten Räumen ihn hatten vergessen lassen: dass er sich inmitten drückender und staubiger Wüstenhitze befand. Das sanfte Summen der Krankenhausflure – eine zarte Sinfonie aus Monitorticken und Aufzugsklingeln – verwandelte sich schlagartig in die nächtlichen Klänge Beer Schevas. Die Grillen hatten tagsüber zu viel geschwitzt, um zu zirpen, die Straßenkatzen waren zu ausgedörrt, um zu schreien. Nur ein Radiogerät in einer Wohnung auf der anderen Straßenseite plärrte stur einen bekannten Popsong.

Vom Krankenhaustor überblickte man bereits den leeren Parkplatz, und Etan wagte zu hoffen, der Jeep sei gestohlen. Liat würde natürlich ausrasten, ihre Verbindungen ankurbeln, die Beduinen verfluchen, wie nur sie es konnte. Danach würde das Geld von der Versicherung eingehen, und sie würde darauf bestehen, dass er einen neuen kaufte. Aber diesmal würde er Nein sagen, das Nein, das er ihr damals nicht zu sagen gewagt hatte, als sie ihn für den Umzug unbedingt verwöhnen wollte. Sie hatte »verwöhnen«, nicht »entschädigen« gesagt, aber sie wussten beide, es war dasselbe. »Wir brettern damit über die Dünen von Beer Scheva«, hatte sie gesagt, »mach deinen Doktor im Geländefahren.« Es hatte überzeugend geklungen, und in den ersten Tagen des Packens hatte er sich noch mit Gedanken an starke Gefälle und steile Hänge getröstet. Aber als sie in Beer Scheva gelandet waren, versank Liat in ihrer neuen Arbeit, und Jeep-Touren am Schabbat schienen ferner denn je. Anfangs versuchte er noch, Sagi und Nir zum Mitkommen zu bewegen, aber seit seinem Abgang vom Krankenhaus in Tel Aviv wurden die Gespräche mit ihnen immer seltener, bis allein schon der Gedanke an gemeinsame Unternehmungen seltsam anmutete. Der rote Jeep fand sich schnell ab mit seiner Verwandlung vom Steppenwolf zum zahmen Pudel, und abgesehen von dem leichten Aufheulen beim Beschleunigen an der Ortsausfahrt von Omer glich er einer gewöhnlichen Familienkutsche. Von Woche zu Woche verabscheute Etan ihn mehr, und als er ihn jetzt hinter dem Wächterhäuschen erreichte, unterdrückte er nur mühsam den Drang, an die Stoßstange zu treten.

Aber als er die Tür aufmachte, stellte er überrascht fest, dass er hellwach war. Ein letzter Rest Noradrenalin war gerade von einem vergessenen Gehirnfach ausgeschüttet worden und jagte ihm einen unerwarteten neuen Energiestoß durch die Adern. Der Vollmond hoch über ihm strahlte in vielversprechendem Weiß. Als er den Jeep startete, brummte der Motor fragend: Vielleicht heute Nacht?

Und entschlossen drehte Etan das Lenkrad linksherum statt rechtsherum, raste zu den Hügeln im Süden der Stadt. Eine Woche vor dem Umzug hatte er im Internet über eine besonders anspruchsvolle Route in der Nähe des Kibbuz Tlalim gelesen. Um diese Uhrzeit, auf freien Straßen, wäre er in zwanzig Minuten dort. Er hörte förmlich das frohe Grummeln des Motors, als der Tacho die 120 überschritt. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte Etan sich lächeln. Das Lächeln verwandelte sich in helle Freude, als er, nur achtzehn Minuten später, erkannte, dass die Route beim Kibbuz Tlalim ihrem Ruf gerecht wurde. Der riesige Mond überflutete die weiße Staubpiste, und die Räder des Jeeps rasten weiter in die Wüste hinein. Nach vierhundert Metern kamen sie schlitternd zum Stehen. Mitten auf dem Weg stand ein ausgewachsenes Stachelschwein. Etan hatte fest geglaubt, das Tier würde davonrennen, aber es blieb einfach stehen und beäugte ihn. Machte sich nicht mal die Mühe, die Stacheln aufzustellen. Das musste er Itamar erzählen. Er dachte kurz daran, das Telefon zu zücken und ein Foto zu machen, wusste jedoch, es würde der Geschichte nur schaden. Das Stachelschwein vor ihm maß keinen Meter, und das Stachelschwein, das er Itamar beschreiben würde, wäre mindestens anderthalb Mal so groß. Dieses Stachelschwein richtete seine Stacheln nicht auf, jenes würde Stachelpfeile in alle Richtungen verschießen. Das Stachelschwein hier gab keinen Ton von sich, und das Stachelschwein in der Geschichte würde fragen: Verzeihung, wie viel Uhr haben wir?

Etan lächelte stillvergnügt, als er sich Itamars Lachen vorstellte. Wer weiß, vielleicht würde er die Geschichte seinen Klassenkameraden weitererzählen. Würde seine Mitschüler kraft eines verzauberten Stachelschweins für sich gewinnen. Aber Etan wusste, es brauchte weit mehr als ein sprechendes Stachelschwein, um die gläserne Wand zwischen seinem Sohn und den anderen Kindern zu durchbrechen. Er verstand einfach nicht, wo Itamar dieses Introvertierte herhatte. Weder er noch Liat gehörten doch zu denen, die dem Leben von der Seite zuschauten. Beide besaßen zwar ein gewisses Maß an Distanz, manchmal sogar Arroganz, aber das behielten sie stets für sich. Sagen wir, auf einer Party über die anderen Tänzer lästern. Oder bei einem Abendessen mit befreundeten Paaren lachen und sie nachher auf dem Heimweg zerpflücken. Mit Itamar war das anders. Sein Sohn betrachtete die Welt von außen. Und obwohl Liat dauernd sagte, man solle das nicht überbewerten, so sei es eben gut für ihn, war Etan sich keineswegs sicher, dass es aus freier Wahl geschah. Nicht, dass er geächtet war. Er hatte Nitai. Aber das wars eigentlich. (Das sei völlig in Ordnung, sagte Liat ihm immer wieder, manche Kinder seien Gruppenmenschen, andere suchten sich wenige, engere Beziehungen.) Das beruhigte Etan nicht. Er war ausnehmend nett zu Nitai, bestellte Pizza, verwöhnte die beiden mit einem Film, tat alles, damit Nitai sich wohlfühlte. Und gleichzeitig sah er ihm prüfend in die Augen: Möchte er wirklich hier sein, oder ist dieser Besuch nur eine Notlösung (weil ein anderes Kind heute nicht konnte; weil seine Mutter mal schnell medizinischen Rat einholen wollte). Liat brachte das auf die Palme. »Hör doch auf mit diesen Pizzas. Er soll bloß nicht denken, dass du ihm Freunde kaufst. Er findet von selbst welche.«

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht musste er das entspannter betrachten. Nichts deutete darauf hin, dass Itamar in der Schule litt. Und doch sorgte er sich. Denn er, Etan, war nicht so gewesen. Wenn alle Jungs freitagabends raus auf den Platz gingen, kam er mit. Stand nicht im Zentrum, war aber dabei. Sein Sohn jedoch nicht. Und obwohl es ihm eigentlich nichts ausmachen sollte, machte es ihm etwas aus. (Oder vielleicht war es gar nicht die Sorge um Itamar, die ihn so umtrieb, sondern die Angst, Itamar könnte seine Enttäuschung bemerken. Gerade weil sie sich in anderen Dingen so ähnlich waren. Beinahe siamesische Zwillinge. Also nahm er diese Enttäuschung, sperrte sie ins Hinterstübchen und zog den Schlüssel ab. Doch es bestand immer noch die Gefahr, dass sie plötzlich hervorschnellte, in Itamars Beisein, völlig ungeplant.)

Draußen kehrte das Stachelschwein dem Jeep den Rücken und lief weiter. Etan schaute ihm nach, als es sich entfernte. Langsam, hochmütig, die Stacheln nachschleifend. Er sah es zwischen den dunklen Felsen verschwinden. Der Weg vor ihm war wieder leer, einladend. Plötzlich merkte er gerade an diesem Zwischenhalt, wie hungrig er auf Bewegung, aufs Lospreschen war. Aber Moment, eine ordentliche Rennstrecke brauchte einen Soundtrack. Eine Weile schwankte er zwischen Janis Joplin und Pink Floyd, bis er fand, nichts eigne sich besser für eine nächtliche Spritztour als Joplins gepeinigtes Kreischen. Und sie kreischte tatsächlich, voll aufgedreht, und auch der Motor kreischte, und kurz darauf stimmte Etan selbst mit ein – kreischte begeistert auf der rasanten Abfahrt, kreischte übermütig beim Schwung bergauf, kreischte aufgelöst in der Kurve am Hügel. Und dann fuhr er stumm (Janis Joplin sang weiter, unglaublich, die Stimmbänder dieser Frau), fiel jedoch gelegentlich, wenn sie ihm gar zu einsam klang, in den Refrain mit ein. Jahrelang war er allein nicht mehr so ausgelassen gewesen, ohne ein weiteres Auge zum Mitstaunen, ohne jemanden, der seine Freude teilte. Im Rückspiegel schielte er nach dem Mond, der mächtig und majestätisch schien.

Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen.

Im ersten Augenblick konnte er nichts anderes denken, als dass er dringend kacken musste. Es war ein starker, alles überwältigender Drang, den er nur mit großer Mühe unterdrücken konnte. Als sackte sein Magen plötzlich komplett ab, und im nächsten Moment käme alles unkontrolliert aus ihm hervor. Und dann war der Körper schlagartig abgekoppelt. Das Gehirn schaltete auf Autopilot. Er spürte nicht mehr, dass er kacken musste. Er fragte sich nicht mehr, ob er es überhaupt bis zum nächsten Atemzug schaffen würde.

Es war ein Eritreer. Oder ein Sudaner. Oder weiß Gott was. Ein Mann von dreißig, vielleicht vierzig Jahren, er konnte das Alter dieser Menschen nie gut schätzen. Am Ende der Safari in Kenia hatte er dem Fahrer ein Trinkgeld gegeben. Die Dankbarkeit des Mannes hatte ihm geschmeichelt, sodass er in einer plötzlichen Anwandlung von Sympathie ein paar banale Fragen angefügt hatte. Wie er heiße und wie viele Kinder er habe und wie alt er sei. Er hieß Hussu, hatte drei Kinder und war so alt wie Etan, obwohl er zehn Jahre älter wirkte. Diese Menschen wurden alt geboren und starben jung und in der Mitte was? Als Etan ihn dann nach dem genauen Datum fragte, erfuhr er, dass ihre Geburtstage nur einen Tag auseinander waren. Das hatte keinerlei Bedeutung, aber trotzdem. Jetzt lag dieser andere Mann, von vierzig oder vielleicht dreißig Jahren, auf der Straße, mit geborstenem Schädel.

Janis Joplin flehte ihn an, noch ein Stück ihres Herzens zu nehmen, doch er kniete am Boden nieder und näherte das Gesicht den rissigen Lippen des Eritreers. Ein Arzt vom Soroka-Krankenhaus beendet die Arbeit um zwei Uhr nachts nach neunzehn Stunden Dienst. Statt zum Schlafen nach Hause zu fahren, beschließt er, die Leistungsfähigkeit seines Jeeps zu testen. Im Dunkeln. Mit hohem Tempo. Wie viel bekommt man für so was? Etan blickte flehentlich auf das Loch im Kopf des Mannes, aber der Schädel machte keine Anstalten, sich wieder zu schließen. In der Prüfung am Ende des fünften Studienjahrs hatte Prof. Sakkai gefragt, was man mache, wenn ein Patient mit offenem Schädel eingeliefert würde. Stifte wurden geknabbert, Tuscheleien ausgetauscht, und doch fielen alle durch. Ihr Problem ist, dass Sie meinen, man könnte etwas machen, sagte Sakkai, als die Einsprüche sich auf seinem Tisch zu stapeln begannen. Wenn die Calvaria zerschmettert und eine weitreichende neurologische Schädigung entstanden ist, kann man nur noch einen Kaffee trinken. Trotzdem maß Etan den Puls, der schnell und schwach ging, prüfte die kapilläre Rückfüllung, die erstaunlich langsam verlief, stellte lächerlich eingehend sicher, dass die Atemwege frei waren. Zum Teufel, er konnte doch nicht einfach dasitzen und dem Mann beim Sterben zusehen.

Zwanzig Minuten, hörte er Sakkais ruhige Stimme. Keine Minute länger. Es sei denn, Sie glauben neuerdings an Wunder. Etan untersuchte noch einmal die Kopfverletzung des Eritreers. Es brauchte weit mehr als ein Wunder, um die graue Masse, die unter den Haarbüscheln hervorschimmerte, wieder abzudecken: nackte, freigelegte Neuronen, die im Mondlicht glänzten. Blut rann aus den Ohren des Mannes, hell und wässrig wegen der Zerebrospinalflüssigkeit, die schon aus dem offenen Schädel zu tropfen begann. Und doch stand er auf, lief zum Jeep und kam mit dem Verbandskasten zurück, hatte schon ein Verbandspäckchen aufgerissen, als er jäh erstarrte. Was soll das. Dieser Mann wird sterben.

Und als es endlich auftauchte, das klare Wort, spürte er, wie alle Organe in seinem Bauch sich schlagartig mit Eis überzogen. Eine weiße Reifschicht breitete sich aus, von der Leber zum Magen, vom Magen zum Darm. Der gewundene Dünndarm misst sechs bis acht Meter, über drei Mal mehr, als ein Mensch groß ist. Sein Durchmesser beträgt um die drei Zentimeter, aber die Dicke variiert nach Altersstufe. Der Dünndarm gliedert sich in Zwölffingerdarm, Leerdarm und Krummdarm. Etan fand seltsame Ruhe in diesen Daten, eine weiße und eisige Ruhe. Er blieb beim Dünndarm. Er untersuchte ihn. Seine innere Oberfläche beispielsweise wird durch fingerförmige Erhebungen der Schleimhaut, die sogenannten Zotten, um das Fünfhundertfache auf zweihundertfünfzig Quadratmeter vergrößert. Verblüffend. Einfach verblüffend. Jetzt wusste er sein Studium wirklich zu schätzen. Ein Bollwerk an Wissen, das ihn von diesem so dreckigen Wort abschottete, »sterben«. Dieser Mann wird sterben.

Du musst im Soroka anrufen, sagte er sich, damit sie einen Krankenwagen schicken. Damit sie den OP-Saal vorbereiten. Damit sie mir Prof. Tal herbringen.

Damit sie die Polizei anrufen.

Denn das würden sie tun. Das taten sie immer, wenn eine Unfallmeldung einging. Der Umstand, dass der Arzt vor Ort zufällig auch der Unfallfahrer war, würde daran nichts ändern. Sie würden die Polizei anrufen, und die Polizei würde kommen, und er würde ihnen erklären, es sei dunkel gewesen. Er habe nichts gesehen. Es sei nicht damit zu rechnen gewesen, dass um diese Uhrzeit jemand am Straßenrand ging. Liat würde ihm helfen. Schließlich war er nicht umsonst mit einer höheren Kriminalbeamtin verheiratet. Sie würde es ihnen erklären, und sie würden es verstehen. Sie müssten es verstehen. Stimmt, er hatte die zulässige Höchstgeschwindigkeit weit überschritten, und ja, er hatte seit über zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, aber die Verantwortung lag in diesem Fall bei dem Eritreer, er selbst hatte keinerlei Grund anzunehmen, hier sei jemand unterwegs.

Und der Eritreer hatte Grund anzunehmen, du würdest hier unterwegs sein?

Liats Stimme war kalt und trocken. Er hatte sie schon so sprechen hören, aber stets mit anderen. Mit der Putzfrau, die schließlich gestand, ihre Perlenohrringe gestohlen zu haben, mit dem Handwerker, der zugab, überhöhte Preise verlangt zu haben. Wie gern stellte er sie sich bei der Arbeit vor, distanziert und belustigt den Verhörten vor sich fixierend, eine träge Löwin, die ein wenig mit ihrer Beute spielte, ehe sie sie ansprang. Doch nun sah er sich selbst vor ihr, ihre braunen Augen auf den Mann am Boden gerichtet. Und dann zu ihm aufschauend.

Er sah wieder auf den Eritreer. Blut strömte ihm aus dem Kopf und befleckte seinen Hemdkragen. Wenn er Glück hatte, würde der Richter es bei ein paar Monaten belassen. Aber er würde nicht mehr operieren dürfen. Das war sicher. Kein Mensch stellte einen Chirurgen an, der wegen eines Tötungsdelikts verurteilt war. Und dann die Medien und Jahali und Itamar und Liat und seine Mutter und die Leute, denen er zufällig auf der Straße begegnete.

Und der Eritreer blutete weiter, als täte er es mit Absicht.

Und plötzlich wusste er, er musste weg. Jetzt. Diesen Mann konnte er nicht mehr retten. Da sollte er wenigstens versuchen, sich selbst zu retten.

Die Möglichkeit stand in der Nachtluft, schlicht und klar: in den Jeep steigen und abhauen. Etan betrachtete sie von Weitem, verfolgte angespannt ihre Bewegungen. Und da sprang die Möglichkeit auch schon auf ihn zu und packte ihn, packte ihn mit Haut und Haaren, eine eisige, drängende Panik, die ihm in den Ohren kreischte – zum Jeep. Jetzt.

Doch in diesem Augenblick öffnete der Eritreer die Augen. Etan erstarrte. Die Luft wurde dünner, und die Zunge im Mund fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Zu seinen Füßen, eng neben seinen Schuhen mit den orthopädischen Einlagen, die er im Duty-free-Shop gekauft hatte, lag ein Eritreer mit geborstenem Schädel und weit aufgerissenen Augen.

Er sah Etan nicht an, lag nur da und starrte in den Himmel, starrte so konzentriert hinauf, dass Etan nicht anders konnte, als dem Blick zu folgen, zu dem Punkt, den der Mann fixierte, vielleicht war da doch etwas. Da war nichts. Nur ein faszinierender Mond und ein so tiefblau funkelnder Himmel, dass er aussah wie mit Photoshop bearbeitet. Als Etan den Blick wieder zu Boden richtete, waren die Augen des Eritreers geschlossen, und sein Atem ging ruhig. Und Etans Atem ging kurz und rasselnd, und er zitterte am ganzen Leib. Wie sollte er hier wegfahren, wenn die Augen dieses Mannes noch offen waren, sich noch öffnen konnten. Doch andererseits besagten offene Augen gar nichts, sehr viel mehr besagte die Zerebrospinalflüssigkeit, die ihm jetzt aus der Nase lief, aus dem Mund schäumte. Die Extremitäten des Eritreers waren steif und gestreckt, ein Zeichen des drohenden Versagens des Mittelhirns. Selbst beim besten Willen hätte Etan kein Fünkchen Leben gefunden, um das er hätte kämpfen können. Wirklich.

Und wirklich schien der Eritreer sich mit der berühmten afrikanischen Gelassenheit in sein Schicksal zu fügen, denn er war so gut, die Augen zuzulassen, atmete nur ruhig, im Gesicht eine Grimasse, die sich nicht viel von einem Lächeln unterschied. Etan blickte ihn noch einmal an, ehe er sich dem Jeep zuwandte. Jetzt war er schon sicher, dass der Eritreer ihn anlächelte, mit seinen geschlossenen Augen zustimmte.