Impressum
Ulisses Spiele
Band US25706
Titelbild: Annika Maar
Aventurien-Karte: Daniel Jödemann
Lektorat: Eevie Demirtel
Korrektorat: Jeanette Marsteller
Umschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick Soeder
Layout und Satz: Mirko Bader
Copyright © 2017 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN und DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.
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Print-ISBN 978-3-95752-652-6
Ebook-ISBN 978-3-95752-654-0
Judith C. Vogt
Brennen soll
Bosparan
Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Präludium
»Hilf uns!«, hörte Yagheer in den Schatten.
Er wäre der Bitte gern nachgekommen – wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre.
Ein Gewicht lastete auf ihm, er konnte kaum den Kopf wenden. Herauszufinden, woher die Stimme kam, ob ihr Besitzer noch weit entfernt war oder schon sehr nah, fiel ihm schwer. Dieses Gewicht … Er versuchte, dagegen anzukämpfen, doch es lähmte seine Glieder. Sogar auf seiner Zunge lag es und verhinderte, dass er dem sich nun in gepresste Atemzüge wandelnden Hilfegesuch nachkommen konnte.
»Hilf … uns …« Kaum hörbar noch.
Schließlich gelang ihm ein Schritt, ein strauchelnder – wenn auch in die richtige Richtung. Zumindest vermutete er das.
Er tastete mit den Armen voraus. Endlich lockerte sich auch seine Zunge. Sie war pelzig, als habe sie sich in seinem Mund in eine Maus verwandelt. Er rang nach Atem, als ihn Übelkeit durchflutete.
»Wo … wo bist du?«
»Am Rand«, kam die Antwort von weitem. Sie hallte wider, Yagheer musste sich in einer Höhle befinden. »Wir werden fallen«, wehte es zu ihm hinüber. Nur ein Flüstern, doch wieder und wieder verstärkt vom Hall der Katakomben. Das Flüstern erhielt vielstimmige Echos, als hätten Schlangen ihre Stimmen hinzugefügt.
»Nur du … kannst verhindern, dass wir fallen …«
Das letzte Wort war so leise, dass er es nicht mehr hörte, er ergänzte es nur in seinem Kopf, und dort klang es nach.
Fallen – fallen – fallen.
Die Maus in seinem Mund bewegte sich. Er röchelte. Er mochte keine Mäuse, Götter, warum hatte er eine Maus gefangen? Kurz glaubte er, Anzuds helles rundes Auge in der Dunkelheit vor sich zu sehen. Der Steppenfalke hatte den Kopf schiefgelegt, sein goldenes Auge schien Yagheer fragend zu durchdringen, als wundere er sich, warum sein menschlicher Freund so viel Aufhebens um das Verschlucken einer Maus machte.
Dann war wieder alles dunkel, und Yagheer fiel auf die Knie. Er hustete, rang nach Luft und versuchte, dieses Ding loszuwerden.
Er erwachte. Die Exzesse der vergangenen Nacht hatten seinen Kopf in eine Trockenpflaume verwandelt. Augenblicklich strömte süßlich riechende Luft in seine Lungen. Zu seinem größten Unbehagen musste er feststellen, dass das Pelzige in seinem Mund sich tatsächlich als seine Zunge erwies.
Stöhnend schlug er die Augen auf. Ein nackter Rücken schirmte ihn vom ärgsten Licht ab, das gnadenlos durch die bunten Vorhänge fiel. Die Frau nahm ihr üppiges schwarzes Haar über der Schulter zusammen und begann, einen losen Zopf zu flechten.
»Es ist dir wohl ungemütlich mit mir geworden, Effendi«, lächelte sie.
»W-was?«, brachte er hervor.
»Wenn du so um dich trittst, Sohn der Freiheit, dann darf ich wohl mutmaßen, dass ich dich zu sehr beengt habe. Was will man auch anderes erwarten, selbst im Schlaf treibt dich die Unrast an.«
»Nein! Es war nur … ein Traum.«
Sie wandte sich um, ein angewinkeltes Bein berührte seine Seite, als sie sich über ihn beugte. Eine schwere goldene Kette mit zahlreichen rätselhaften Anhängern daran lenkte ihn beinahe mehr ab als ihre schweren Brüste darunter. Beinahe.
»Hier, unter den Augen von Baalat Khelevatan, ist nichts nur ein Traum«, lächelte sie.
***
Sie wusste nicht, ob sie über ihre eigenen Füße gestolpert war oder ob jemand sie gestoßen hatte. Vielleicht war es tatsächlich niemand, der ihr Böses wollte. Vielleicht war es Gama, die nach ihr stieß, damit ein Pfeil sie verfehlte oder ein Hieb oder auch nur ein Blick.
Egal, was dafür gesorgt hatte, dass ihre Schläfe Bekanntschaft mit dem hochaufragenden Pfeiler machte, der wie eines von sechs langen Beinen das Gewölbe der Halle trug – es tat kurz weh, ein helles Licht tauchte ihr Bewusstsein in Dunkelheit, und sie brach schlaff wie ein Mehlsack auf dem kalten Boden zusammen. »Shin…«
***
Von der Säule, vor der ihr bewusstloser Körper lag, ging ihr Geist rückwärts. Er wehte die breiten Stufen wieder hinab. Erneut ragte die Pyramide der Drachenhalle wie ein uralter Fingerzeig eines ungestalten Gottes vor ihrem geistigen Auge auf. Der Basar lag zu ihren Füßen, und sie näherte sich ihm, rückwärts die Treppe hinabhuschend. Körperlos schien ihr dieser Weg so viel leichter, trotz der nächtlichen Dunkelheit, trotz des Wissens, dass man sie entdeckt hatte und dass ihr Geist wieder in ihren Körper gehörte, dass sie aufstehen musste.
Doch ihr Geist trat auf das Muster des großen Basarplatzes, sie fühlte die Zeichen in den beinahe gläsern schimmernden Steinen, als trüge sie keine Sandalen. Wie helle Augen schienen diese Zeichen auf sie gerichtet, und sie erinnerte sich zum zweiten Mal an diesem Tag daran, was hier geschehen war.
Sie seufzte tonlos, um sie herum ein Wirbel aus Menschen. Sie bewegten sich schnell umeinander, als hielten sich Shinja und die Zeit auf verschiedenen Bahnen auf.
Und während sich ihre Zehenspitzen in die Glyphen zu ihren Füßen bohrten, während sie eine nach der anderen zu erspüren versuchte, hörte sie, wie jemand ihr die Geschichte der ermordeten Priesterinnen erzählte, und die Stimme erfasste sie wie ein Windstoß und sog sie zurück in die Zeit ihrer Ausbildung.
Sie kehrte zu den Augen einer alten Frau zurück. Die Shinja, deren Körper am Fuß der Säule in der Halle der Drachen lag, kannte die Geschichte bereits, doch die Shinja, an die sie sich erinnerte, kannte sie nicht und lauschte, zunächst mit Erstaunen, dann mit Fassungslosigkeit, schließlich mit Schrecken.
So viele Tode waren in Bey-el-Unukh, der Stadt am Nacken des Meeres, bereits gestorben worden. Geschah solche Barbarei nur hier? War Al’Hani verflucht, so etwas zu erleiden? Erleuchtet von Heshinjas Weisheit – und das Leiden war der Preis dafür?
Doch die lauschende Shinja war jünger und wagte nicht, so etwas zu fragen. Es klang so melodramatisch, so unreif. So wenig wissend für die Tochter der klugen Bilkis, in deren Andenken man sich ihrer angenommen hatte.
Die Priesterinnen auf dem Basar waren von den Anführern eines feindlichen Heers getötet worden. Von jenen, die aus der Ferne, aus dem Westen gekommen waren und Alhanien als ihr Eigentum betrachtet hatten. Die Priesterinnen hatten ihre Seelen sterbend mit dem Ort verbunden, mit dem Mosaik. Sie hatten sich zur Seele Bey-el-Unukhs zusammengeschlossen, ein Schwarm aus getöteten weisen Frauen. Doch dies war nun schon lange her und der Schatten im Westen nicht mehr als das: ein Schatten.
Nur sieben Jahre jedoch war es her, dass ein neuer Feind sich über die Stadt am Nacken des Meeres und das Land Alhanien hergemacht hatte. Erneut waren ihm zahllose weise Priesterinnen zum Opfer gefallen, jenem Feind, der sie von innen heraus zu fressen begonnen hatte wie ein Parasit in einem Bienenstock. Wie ein Pilz, der die Insekten in den Wahnsinn trieb.
Seit sieben Jahren herrschte der Tyrann Amagomer, der Gemahl einer toten Königin, in einem Land, in dem kein Mann herrschen durfte. Doch seine Hand lähmte eines jeden freien Menschen Waffenarm. Der Saum seines mit Zauberzeichen bestickten Königsmantels knebelte jeden Mund, der gegen ihn sprechen wollte, seine Lanze durchbohrte jedes Herz, das gegen ihn Mut fasste.
Vor Shinja auf dem Tisch waren es beinahe kindliche kleine Hände, die sich um einen Tonbecher legten. Die alte Frau, der diese Hände gehörten, beugte sich vor und blies in die heiße Flüssigkeit. Dann trank sie. Dabei wandte sie den Blick nicht ab.
Shinja wusste, dass die Frau erblindet war, das Alter hatte es mit sich gebracht. Sie selbst sagte, dass sie nur noch Helligkeit von Dunkelheit unterscheiden könne, und doch sei das genau die richtige Gabe für sie.
Eine Gabe, kein Fluch, den das Alter brachte. Shinja lächelte. Sie hatte stets geglaubt, dass alte Menschen die jungen beneideten. Ihre Gesundheit. Ihre Schönheit. Die Möglichkeiten, die noch vor ihnen lagen – noch ungenutzt, noch nicht verschwendet. Dass die Alten im Rückblick feststellen würden, was sie vergeudet hatten.
Doch die vergangenen Jahre, all die Scheidewege und die eingeschlagenen Richtungen, egal ob richtig oder falsch, umgaben diese Frau mit Frieden. Und dieser Frieden brachte Shinja Unruhe. Würde sie ebenso gelassen auf ihr eigenes Leben zurückblicken können? Würde sie früh sterben? Würde sie voller Gram sein, weil sie Schlechtes getan haben würde? Sie blinzelte und versuchte, der Alten erneut zu lauschen, die nicht von Amagomer dem Tyrannen sprach, sondern von den Herzen der Menschen im Westen.
»Ich kenne ihre Herzen, Shinja. Ich habe nicht nur hineingeblickt, nein, ich habe ein Herz wie ihres besessen. Ein Mann vollbringt Unrecht auf schlechte Weise, wenn er weiß, dass es Unrecht ist. Nein, ihr Herrscher wähnt sich im Recht, wenn er sich den Untergang Alhaniens wünscht. Er wähnt sich im Recht, wenn er unsere Göttinnen von ihren Sockeln wirft und unsere Priesterinnen tötet. Wir haben seinen Vorvätern in diesem Land getrotzt, und das, nach dem er trachtet, ist ein gerechter Krieg – zumindest von seinem Standpunkt aus.«
»Aber das heißt nicht, dass er siegen wird«, flüsterte Shinja und sah den Dampfschwaden nach, die aus dem Becher stiegen und sich rasch auflösten.
»Doch, das heißt es«, widersprach die Alte mit traurigem Lächeln.
»Aber auch hier werden die Krieger für die richtige Sache kämpfen!«
»Amagomers Krieger, Kind? Amagomer selbst? Nein, er weiß, dass seine Sache Unrecht ist. Er weiß es, wenn er einfache Bauern mit seinem eigenen Schwert hinrichtet, denn jeder letzte Blick sagt ihm: Unrecht. Nein, Amagomer wird nicht siegen, Kind. Er vollbringt Unrecht auf schlechte Weise, weil er weiß, dass es Unrecht ist.« Eine kurze Pause. Ein Nippen am Tee. »Es ist so groß«, lächelte die alte Frau mit einer Sanftmütigkeit, die Shinja sich nicht erklären konnte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß es ist.«
In den blinden Augen lag nun doch ein seltsames Sehnen in die Vergangenheit. Nun war der Frieden, der sie umgab, aufgewühlt. »Bosparan.«
Ihre Lippen bewegten sich noch, als die letzte Silbe verklungen war, als seien sie immer noch mit diesem Wort beschäftigt. Shinja konnte spüren, wonach es schmeckte. Nach blauer Ferne, nach Hügeln im Dunst. Und nach einer Katastrophe, die sie in den Untergang führen würde.
***
Sie riss ihren schmerzenden Kopf in die Höhe. Jemand zerrte an ihrem Arm. »…ja!« Sie hörte noch die letzte Silbe ihres Namens – sie konnte nicht länger als einen Wimpernschlag bewusstlos gewesen sein. Und die Hand gehörte ihrer Meisterin, gehörte Gama. Sie fuhr auf – waren sie noch nicht entdeckt?
»Sie kommen«, sagte Gama, griff nach Shinjas Arm und zog sie in die Höhe. Sie sah, worauf sie ausgeglitten war. Aus dem Stapel Pergamentrollen, den sie unter ihrem Umhang trug, war etwas herausgefallen. Ein flacher Stein oder eine Scherbe, vielleicht verborgen in den Rollen oder zwischen zwei Blättern. So oder so war ihr Fuß darauf ausgerutscht, und der Stein, der fortgeschlittert war, während ihr Kopf zuerst die Säule und dann Wegpunkte der Vergangenheit getroffen hatte, kam erst jetzt am Ende der Treppe zum Halt. Shinja fuhr herum. »Lass es mich holen!«
»Nein!« Das Wort kam wie ein Peitschenknall. Gama mäßigte ihre Stimme. Im inneren Gewölbe der Halle der Drachen stieg alles zur Kuppel auf und wurde lauter als beabsichtigt. »Nein, dazu ist keine Zeit. Wir müssen finden, weshalb wir hier sind – und außerdem brauchen wir ein Versteck!«
Shinja hatte die Aufzeichnungen über die Drachenhalle studiert. Sie würden das Wissen, das sich hier fand, aus den Klauen des gierigen Tyrannen und seiner Verbündeten reißen. Shinja kannte die geheimen alten Stiegen und Gänge, auf denen sie entkommen würden.
Noch einen letzten Blick warf sie auf den Stein, den sie verloren hatte. Wenn Gama ihn mitgenommen hatte, musste er wertvoll sein! Dann fügte sie sich. »Ja, Meisterin.«
Sie riss sich los und sah den gewaltigen geschuppten Drachenleibern entgegen, welche die Halle von drei Seiten einfassten, und deren Schädel in der Kuppel aneinander lagen. Glitzerndes Grün und schimmerndes Türkis in einer Halle, in der selbst ein Tyrann nur ein Insekt darstellte, krabbelnd unter so viel uralter Würde.
Doch dann wurde das marmorne Tor aufgestoßen, das jeden Laut von draußen gedämpft hatte. Der Mechanismus schnarrte und ächzte.
Zugleich waren auch im verborgenen Nebengang, den Shinja und ihre Meisterin als Eingang genutzt hatten, schwere Schritte zu hören. Sie waren entdeckt – doch zu früh, viel zu früh!
»Lauf!«, presste Gama hervor, und Shinja gehorchte.