Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
COTTON RELOADED erscheint monatlich. Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book, Audio-Download (ungekürztes Hörbuch) und als Read&Listen E-Book (Text in Verbindung mit Hörbuch).
Tod auf Bestellung
Ein Motorroller knatterte durch die Vorortsiedlung in Richmond, Virginia, vorbei an den gepflegten Vorgärten und den Holzfassaden von Flachdach-Bungalows. Der letzte Schimmer der Abendsonne waberte noch über dem Horizont, bereits überstrahlt vom Licht hinter den Fenstern und dem gelben Schein der Straßenlaternen.
Der Pizzabote stellte seinen Roller vor einem Garten ab, der verwilderter war als die Gärten der benachbarten Häuser. Nachlässig geschnittene Hecken wucherten auf dem ungepflegten Rasen. Der Bote nahm eine Thermobox vom Gepäckträger, legte eine grellrote Tasche darauf ab und balancierte den Stapel auf das Haus zu. Es war eine große Bestellung, und der schlanke Mann hatte schwer daran zu tragen.
Er klemmte seinen Packen zwischen Oberkörper und Hauswand, damit er ihn nicht abstellen musste, und drückte auf die Klingel. Nichts rührte sich. Er klingelte noch einmal.
Endlich ging in dem kleinen Fenster neben der Tür das Licht an. Ein hagerer Mann öffnete. Er war unrasiert, trug nur ein T-Shirt und eine dunkelblaue Jogginghose. Er starrte auf den Lieferanten, auf dessen rote Braincap und die altmodische Fliegerbrille. Der Anblick war bizarr genug, dass der Hausbesitzer verwirrt blinzelte.
»Ihre Pizza!« Der Pizzabote strahlte und streckte seinem Kunden die Thermobox entgegen.
Der Mann musterte ihn. »Hab nichts bestellt.« Er wollte die Tür wieder schließen.
Das Lächeln des Pizzaboten erlosch. Er balancierte die schwere Box auf einem hochgezogenen Knie und nestelte mit der freien Hand an der grellen Polyestertasche herum.
»Augenblick!«, rief er. »Sie sind doch Mr Jason Clegg?«
Clegg hielt inne. »Ja«, sagte er. »Hab trotzdem nichts bestellt.«
Der Pizzabote zog etwas aus der Tasche. Es sah aus wie eine Pistole, aber es war etwas viel Moderneres, wenn auch fast ebenso gefährlich. Ein Taser.
Er schoss sofort. Die Nadeln der Elektroden tackerten Cleggs labberiges Shirt an der Brust fest. Es knisterte. Clegg verkrampfte sich. Einen Augenblick lang stand er steif wie ein Brett.
Der Pizzabote trat durch die Tür und stieß Clegg mit der Thermobox zurück. Der Hausbesitzer krachte schwer auf den Rücken. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus der Lunge. Mit einer geschmeidigen Bewegung stellte der Bote die Box neben Clegg auf dem Boden ab, drehte sich um und drückte die Haustür zu. Dann widmete er sich seinem Opfer.
Er klappte die Thermobox auf. Ein Bohrer, eine kleine Elektrokreissäge, ein paar Tüten und Schachteln und eine Ledertasche kamen zum Vorschein. Der Pizzabote zog ein mit Alkohol getränktes Tuch aus einer Tüte und öffnete eine der kleinen Schachteln. Eine vorbereitete Spritze mit Glaskolben lag darin.
Clegg kämpfte gegen seine zitternden und zuckenden Muskeln an. Er kam halb hoch. »Was …?«, presste er mühsam hervor.
Der Pizzabote drückte mit der linken Hand Cleggs Kinn zurück, strich mit dem Desinfektionstuch über die Haut seines Opfers und ließ das Tuch dann achtlos fallen. Mit dem Finger schnippte er die Schutzkappe von der Nadel und setzte Clegg die Spritze genau in die Halsschlagader, wobei er ihn mit einer Hand am Boden hielt. Clegg wehrte sich schwach, jedoch nur wenige Sekunden lang, dann lag er schlaff und kraftlos da und starrte apathisch ins Leere.
Der Pizzabote summte leise vor sich hin und packte den Inhalt seiner Isobox aus. Er stülpte seinem Opfer eine Haube über, die aus Drahtgeflecht bestand und sich am Kopf festschrauben ließ. Mit kleinen Schnitten an der Kopfhaut legte er den Schädelknochen frei, genau dort, wo feine Rohre an der Haube gegen den Kopf stießen.
Er summte lauter, als sein Bohrer sich durch den Knochen fraß.
Im Hauptquartier des G-Teams herrschte eine gedämpfte Atmosphäre. Draußen tauchte ein sonniger Frühsommertag die Straßen von New York in Licht und Wärme. Die fensterlose, unterirdische Zentrale hingegen war vom immer gleichen Dämmer der Monitore und Neonröhren erfüllt. Die Klimaanlage kämpfte gegen die Abwärme der Technik an und machte die Luft kühl und stickig zugleich. Es war ruhig in dem großen Raum bis auf das Summen der Computer und gelegentliche, geflüsterte Gespräche der Mitarbeiter.
Special Agent Jeremiah Cotton saß vor seinem Rechner, pfiff »You got it« von Roy Orbison und hackte mit vier Fingern vernehmlich auf den Tasten herum.
Decker trat neben ihn. Sie stützte sich herausfordernd auf seinem Schreibtisch ab. »So gut gelaunt, Cotton? Beim Berichteschreiben? Ich dachte, Sie gehen vor Langeweile die Wände hoch.«
Cotton blickte auf. »Ist doch gut, wenn mal wenig los ist. Pünktlich um fünf Feierabend, das Vergnügen hatte ich lange nicht mehr. Und wissen Sie was, Decker? Ich hab mir für heute Abend gleich ein Date geangelt.«
»Ui-ui.« Decker schaute ihn an, ein spöttisches Funkeln in den Augen. »Ein geplantes Date? Haben Sie genug von den Zufallsbekanntschaften? Wie heißt denn die Glückliche?«
»Maria«, antwortete Cotton.
Decker zog die Augenbrauen hoch.
»Ist frisch aus Arizona hergezogen«, erklärte Cotton. »Ich hab ihr in der Metro geholfen, als sie die Orientierung verloren hatte. So kam eins zum anderen …« Er zuckte die Achseln. »Ich sag’s Ihnen, Decker, das könnte was Ernstes sein. Wenn es gut läuft, stelle ich sie demnächst Sarah vor. Das würde ihr bestimmt gefallen.«
Sarah Granger war die Frau, die sich um Cotton gekümmert hatte, nachdem er als Achtzehnjähriger beim Anschlag auf das World Trade Center seine Eltern verloren hatte und in New York geblieben war. Beide hatten den Terroranschlag nur knapp überlebt. Sarah hatte Cotton im Jahr nach der Katastrophe adoptiert und war seitdem so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn.
Decker grinste. »Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück beim Ordnen Ihres Privatlebens.«
»Das Glück ist mit den Tüchtigen.« Mit einem entschiedenen Schlag auf die Entertaste schickte Cotton seinen Bericht in die Tiefen des Servers, sprang auf und griff nach seinem Jackett. »Deshalb mach ich jetzt Schluss, bevor noch was dazwischenkommt. Bye, Decker.«
Er trat zwischen die Reihen der Arbeitsplätze, die sich bis zum Ausgang erstreckten. Das Telefon auf seinem Schreibtisch rief ihn zurück. John D. High, der Chef des G-Teams, war am Apparat.
»Kommen Sie in mein Büro, Cotton. Und bringen Sie Decker mit. Ich möchte Sie beide für Ihren nächsten Fall briefen.«
»Äh … Es ist zehn vor fünf, Sir.«
»Ja«, sagte Mr High. »Ich sehe es gerade auf der Uhr in meinem Büro.«
Er legte auf. Cotton verharrte unschlüssig. Er schaute Decker an. »Mr High will uns sprechen. Kurz vor Feierabend. Wer weiß, wie lange das wieder dauert.«
Decker grinste immer noch. »Ich habe es gehört. Kommen Sie, Cotton. Sie wissen ja, das Verbrechen macht auch keinen Feierabend.«
Cotton stand da und schaute mürrisch Deckers blondem Haarschopf nach, der über dem Kragen ihres teuren Kostüms wippte. Er hasste es, wenn sie seine eigenen Sprüche zitierte.
*
»Das ist Mr Jason Clegg.« High projizierte das Foto eines Mannes an die Wand, der an Schläuche angeschlossen auf einem Krankenhausbett lag. »Er wurde vorgestern Abend von einem Unbekannten in seinem Haus überfallen. Wenig später wurde er mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus eingeliefert. Er liegt im Koma – falls er überhaupt noch lebt. Unsere neuesten Informationen sind zwei Stunden alt. Zu dem Zeitpunkt waren die Ärzte der Ansicht, der Hirntod könne jeden Augenblick eintreten.«
High zögerte einen Moment und fügte hinzu: »Genau genommen waren die Ärzte sich nicht einmal einig, ob der Hirntod nicht längst eingetreten ist. Die Art der Verletzungen macht es nicht leicht, das zu bestimmen.«
»Wie ist das möglich?«, fragte Cotton. »Ich dachte, eine Messung der Gehirnströme wäre die exakteste Methode, um den Tod festzustellen.«
»Der Angreifer hat gezielt das Gehirn verletzt, sodass Teile davon nicht mehr arbeiten. Die messbaren Aktivitäten beschränken sich weitestgehend darauf, den Kreislauf in Gang zu halten.«
Cottons Blick schweifte ab und suchte ein Fenster nach draußen, das in Highs Büro nicht zu finden war. »Einbrecher oder zufällige Gewalt?«, fragte er. »Ich sehe nicht, warum der Fall beim FBI gelandet ist.«
»Ins Koma gefallen …« Deckers Stimme klang nachdenklich. »Das erinnert mich an etwas. Das ist nicht der erste Fall, nicht wahr?«
John D. High nickte. »Den Analysten des FBI kam der Fall auch bekannt vor. In den letzten sechs Monaten hatten wir vier Patienten, die mit ähnlichen Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert wurden und nach kurzer Zeit verstarben. Jedes Mal wurde der Notarzt anonym alarmiert – und es finden sich Hinweise darauf, dass in allen Fällen der Täter der Anrufer war.«
»Ein … Serientäter?« Serienmörder, hatte Cotton sagen wollen. Aber technisch gesehen waren die Opfer ja nicht gleich ermordet worden.
»Das werden wir herausfinden.« High schob den beiden Agents die Akten zu. »Die Begleitumstände sind beunruhigend. Womöglich gibt es noch mehr Opfer – in einem Fall wurden die Kopfverletzungen nur zufällig entdeckt. Die Ärzte hatten zuerst einen Schlaganfall vermutet. Die Analysten überprüfen gerade vergleichbare Patientendaten. Sie sollten zunächst mit Miss Hunter über die medizinischen Details reden.«
Cotton schaute auf die Uhr. Er war um sieben mit Maria verabredet. Wenn sie Sarah Hunter, der Forensikerin des G-Teams, nur einen kurzen Besuch abstatteten und wenn er sich dann schnell umzog und Maria ein wenig Verständnis für Verspätungen zeigte, war sein Date vielleicht noch zu retten.
»Außerdem habe ich für Sie beide einen Flug nach Richmond buchen lassen«, fuhr Mr High fort. »Heute Abend um neun ab Newark. Sie können vor Ort erst einmal Cleggs Umfeld unter die Lupe nehmen und von da aus nach dem roten Faden suchen.«
*
Früh am Morgen standen Cotton und Decker im St. Mary’s Hospital in Richmond. Noch vor ihrem Abflug hatten sie erfahren, dass Jason Clegg verstorben war. Jetzt fragten sie Dr. Mulheimer, den behandelnden Klinikarzt, ob es Verwandte gäbe, mit denen sie reden könnten.
Der schlaksige blonde Arzt zuckte die Achseln. »Der Tote hatte keine Besucher. Wir konnten auch keine Angehörigen ausfindig machen.«
»Können Sie den Leichnam zur Überführung vorbereiten?«, fragte Cotton. »Wir werden ihn selbst obduzieren lassen.«
»Wir können den Toten überführen lassen«, sagte der Arzt. »Aber eine Obduktion hat bereits stattgefunden.«
»Warum die Eile?«, wollte Decker wissen.
»Der Mann hatte einen Organspendeausweis«, erklärte Mulheimer. »Und einen sehr seltenen Phänotyp. Es gibt viele verzweifelte Kranke, die auf ein Spenderorgan warten.«
»Er hatte einen Spenderausweis?«, fragte Cotton. »Ich dachte, die Spendenwilligkeit wird auf dem Führerschein vermerkt.«
Der Arzt zuckte die Achseln. »Manch einer überlegt es sich im Nachhinein anders. Ein entsprechendes Dokument in die Brieftasche zu legen ist einfacher, als einen neuen Führerschein zu beantragen. Das ist ungewöhnlich, aber es beweist, dass der Patient sich eigenständig mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Umso weniger wollten wir Mr Cleggs Gabe zurückweisen, trotz der traurigen Umstände seines Todes.«
»Sie haben den Toten also zerlegt und die Einzelteile in sämtliche Himmelsrichtungen verschickt?« Cotton drückte sich mit Absicht drastisch aus, denn er war wütend. »Das könnten Beweismittel sein!«
Mulheimer schnaubte. »Keine Sorge. Wir wussten natürlich, dass ein Verbrechen vorliegt. Deshalb haben wir bei der Obduktion jede erdenkliche Vorsicht walten lassen. Genau wie bei den Untersuchungen im Vorfeld. Ich glaube, dass Clegg die am sorgfältigsten untersuchte Leiche ist, die Sie je bekommen haben.«
Cotton war da nicht so überzeugt.
»Woher wollen Sie wissen, dass Sie sämtliche Informationen gesammelt haben, die für uns wichtig sind?«, fragte er. »Schließlich fangen wir gerade erst an, die Umstände seines Todes zu ermitteln.«
»Die Umstände seines Todes waren außergewöhnlich, so viel kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Bei jeder Untersuchung, jedem Handgriff an dem Patienten waren mehrere Experten beteiligt und haben sämtliche Möglichkeiten umfassend diskutiert. Und was die Person betrifft, die für die Verletzungen verantwortlich ist, an denen Clegg starb … Ich fürchte, diese Person wird Ihnen noch Probleme bereiten.«
Decker horchte auf. »Wieso? Was können Sie uns über den Täter verraten?«
»Wenig, außer dass er ziemlich genau wusste, was er tat. Er muss über exzellente Kenntnisse der menschlichen Anatomie verfügen, speziell, was den Aufbau des Gehirns angeht – ein seltenes Fachgebiet.«
»Sie meinen, der Täter war Hirnchirurg?«
»Darüber möchte ich nicht spekulieren«, antwortete Mulheimer. »Es handelt sich jedenfalls um eine Person, die sich vor der Tat umfangreiche theoretische Kenntnisse aneignen konnte und obendrein die Möglichkeit hatte, diese Kenntnisse in praktischer Anwendung zu vervollkommnen. Er hat spezielles neurochirurgisches Werkzeug benutzt, um gezielte Läsionen im Hirn des Opfers zu bewirken.«
»Was genau hat der Täter getan?«, fragte Cotton.
»Er hat mit einem Minimum an Verletzungen dafür gesorgt, dass das Opfer zur geistlosen Hülle wird. Die Schäden waren schwer genug, um die Persönlichkeit auszulöschen, den Körper jedoch noch eine Zeit lang am Leben zu erhalten. Aber Cleggs Tod war unausweichlich. Früher oder später musste er den schweren Hirnverletzungen erliegen. Aber es waren keine zufälligen Schäden. Bei wahllosen Stichen ins Gehirn hätte vom sofortigen Tod bis zu mehr oder minder spezifischen Ausfällen alles Mögliche eintreten können. Aber der Täter ist nicht wahllos vorgegangen.«
»Sondern?«, fragte Decker.
»Nun ja, man könnte beinahe sagen …«, der Arzt räusperte sich, »elegant.«
*
Decker und Cotton schauten kurz in dem Krankenzimmer vorbei, in dem Clegg die letzten beiden Tage seines Lebens verbracht hatte. Das Bett war gemacht, die Apparate fortgeräumt; es gab keine Spuren mehr, die den Agents irgendetwas verraten hätten. Es gab auch keine Hinweise auf trauernde Angehörige oder andere Besucher, die etwas über den Hintergrund des Toten hätten aussagen können.