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Buch

Wegen eines traumatischen Erlebnisses hat Strafverteidiger Eddie Flynn seit einem Jahr nicht mehr praktiziert. Doch nun wird er von dem russischen Mafiaboss Volchek erpresst, ihn vor Gericht zu vertreten. Volchek ist angeklagt, einen Mord an einem Konkurrenten in Auftrag gegeben zu haben. Und er ist schuldig. Es geht ihm jedoch gar nicht darum, dass Eddie einen Freispruch erwirkt. Stattdessen soll dieser unter seinem Jackett eine Sprengstoffweste in den Gerichtssaal schmuggeln, um den Kronzeugen gegen Volchek in die Luft zu jagen. Im anschließenden Chaos will Volchek verschwinden und sich nach Russland absetzen. Der Mafiaboss hat das ultimative Druckmittel gegen Eddie in der Hand, denn seine Männer haben Eddies Tochter entführt und drohen, sie zu töten. Eddie hat nur 48 Stunden Zeit, um den Auftrag zu erledigen. Danach wird er selbst zwar ins Gefängnis gehen, aber seine Tochter – so Volchek – wird am Leben bleiben. Doch Eddie weiß genau, dass weder er noch seine Tochter diese Sache überleben werden, wenn ihm nicht rasch etwas einfällt. Und so unternimmt er den verzweifelten Versuch, den Prozess gegen Volchek zu gewinnen – ohne Vorbereitung und trotz der erdrückenden Beweislast gegen seinen Mandanten. Gleichzeitig muss er alles daransetzen, seine Tochter zu finden und zu befreien. Aber Eddie hat noch ein weiteres Ziel: Wenn sein Plan aufgeht und seine Tochter überlebt, will er Volchek für alle Zeiten aus dem Verkehr ziehen …

Autor

Steve Cavanagh wuchs in Belfast auf und zog mit achtzehn Jahren nach Dublin, wo er Jura studierte. Er arbeitete als Tellerwäscher, Türsteher, für einen Sicherheitsdienst und als Call-Center-Agent, bevor er einen Job bei einer großen Anwaltskanzlei in Belfast ergatterte. Mittlerweile hat Steve Cavanagh sich in seinem Heimatland als Bürgerrechtsanwalt einen Namen gemacht und war bereits in zahlreiche prominente Fälle involviert. Zu wenig Zeit zum Sterben ist sein erster Roman.

Steve Cavanagh

ZU WENIG ZEIT

ZUM STERBEN

Thriller

Deutsch von Fred Kinzel

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Die Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel The Defence bei Orion Books,

an imprint of The Orion Publishing Group Ltd

Orion House, London

1. Auflage

Taschenbucherstausgabe Juni 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © Steve Cavanagh 2015

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und

Dreamstime.com

Redaktion: Gerhard Seidl, text in form

AF · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15784-5

www.blanvalet.de

Für Bridie und Sam

»Erst das Urteil, der Ausspruch der Geschworenen nachher.«

Aus Alice im Wunderland, von Lewis Carroll

1

»Tun Sie genau, was ich Ihnen sage, oder ich jage Ihnen eine Kugel ins Rückgrat.«

Eine männliche Stimme, osteuropäischer Akzent. Ich entdeckte keine Spur von Nervosität, der Ton war ruhig und gemessen. Das war keine Drohung; es war eine Feststellung: Wenn ich nicht kooperierte, würde ich erschossen werden.

Ich nahm das unverkennbare, beunruhigende Gefühl einer Handfeuerwaffe wahr, die in mein Kreuz gedrückt wurde. Instinktiv überlegte ich, mich gegen die Waffe zu lehnen und gleichzeitig blitzschnell nach links zu drehen, um den Schuss von meinem Körper wegzulenken. Der Kerl war vermutlich Rechtshänder, was bedeutete, dass er auf der linken Seite naturgemäß offen war. Ich konnte dem Mann durch diese Lücke beim Umdrehen den Ellbogen ins Gesicht rammen, woraufhin ich genügend Zeit hätte, ihm das Handgelenk zu brechen und die Waffe an seine Stirn zu drücken. Alte Instinkte, aber der Bursche, der all diese Dinge beherrschte, existierte nicht mehr. Ich hatte ihn zusammen mit meiner Vergangenheit begraben. Ich war schlapp geworden. So ist das, wenn man anständig wird.

Mangels Druck auf den Hahn hörte das Wasser auf, in das Keramikbecken zu plätschern. Ich merkte, wie ich zitterte, als ich die nassen Hände nach oben hielt.

»Das ist nicht nötig, Mr. Flynn.«

Er kannte meinen Namen. Ich packte das Waschbecken mit beiden Händen, hob den Kopf und sah in den Spiegel. Den Kerl hatte ich noch nie gesehen. Hochgewachsen, schlank, ein brauner Mantel über einem anthrazitfarbenen Anzug. Sein Schädel war kahl rasiert, und eine Narbe lief von unterhalb dem linken Auge zum Kiefer hinab. Er drückte die Waffe kräftig in meinen Rücken und sagte: »Ich folge Ihnen aus der Toilette. Sie ziehen Ihren Mantel an. Sie bezahlen Ihr Frühstück, und wir verlassen das Lokal zusammen. Wir werden reden. Wenn Sie tun, was ich sage, geschieht Ihnen nichts. Wenn nicht, sind Sie tot.«

Guter Augenkontakt. Keine Rötung im Gesicht oder am Hals, keine unkontrollierte Bewegung, dem Mann war rein gar nichts anzumerken. Ich erkannte einen Gauner, wenn ich einen sah. Ich kannte den Blick. Ich hatte ihn lange genug selbst aufgehabt. Der Kerl hier war kein Gauner. Er war ein Killer. Aber er war nicht der erste Killer, der mich bedrohte, und ich erinnerte mich, dass ich das letzte Mal davongekommen war, weil ich nachgedacht hatte, statt in Panik zu geraten.

»Gehen wir«, sagte er.

Er trat einen Schritt zurück und hielt die Waffe in die Höhe, damit ich sie im Spiegel sehen konnte. Ein kurzläufiger silberfarbener Revolver. Ich hatte vom ersten Moment an gewusst, dass die Drohung ernst war, aber als ich diese fiese, gedrungene Waffe im Spiegel sah, kribbelte meine Haut vor Furcht. Meine Brust zog sich zusammen, und mein Herz gab Gas. Ich war zu lange aus dem Spiel. Es würde auch gehen müssen, indem ich nachdachte und in Panik geriet. Der Revolver verschwand in seiner Manteltasche, und er deutete zur Tür. Die Unterhaltung schien vorbei zu sein.

»Okay«, sagte ich.

Zwei Jahre Jurastudium, zweieinhalb Jahre als Angestellter bei einem Richter und fast neun Jahre als praktizierender Anwalt, und alles, was ich herausbrachte, war okay. Ich wischte mir die seifigen Hände am Gesäß meiner Hose ab und fuhr mit den Fingern durch das schmutzblonde Haar. Er folgte mir aus der Toilette und durch das inzwischen leere Diner. Ich zog meinen Mantel an, schob einen Fünfdollarschein unter die Kaffeetasse und ging zur Tür. Der Mann mit der Narbe folgte mir in kurzer Entfernung.

Ted’s Diner war mein Lieblingsort, um nachzudenken. Ich weiß nicht, wie viele Prozessstrategien ich an diesen Tischen ausgearbeitet habe, nachdem ich medizinische Unterlagen, Fotos von Schusswunden und juristische Dokumente voller Kaffeeflecken darauf ausgebreitet hatte. Früher hätte ich nicht jeden Tag am selben Ort gefrühstückt. Viel zu riskant. In meinem neuen Leben genoss ich die Routine eines Frühstücks bei Ted. Ich war entspannt und hatte aufgehört, über die Schulter zu blicken. Ein Jammer. An diesem Morgen hätte es nicht geschadet, auf der Hut zu sein. Vielleicht hätte ich ihn kommen sehen.

Aus dem Diner ins Herz der Stadt hinauszutreten, vermittelte einem das Gefühl, an einen sicheren Ort zu kommen. Auf dem Gehweg wimmelte es an diesem Montagmorgen von Berufstätigen auf dem Weg zur Arbeit, und das Pflaster fühlte sich beruhigend an unter meinen Füßen. Der Kerl würde mich nicht um Viertel nach acht vor drei Dutzend Zeugen in der Chambers Street mitten in New York City erschießen. Ich stand links von dem Diner vor einer aufgegebenen Eisenwarenhandlung, spürte, wie sich mein Gesicht im beißend kalten Wind rötete, den der November mit sich brachte, und fragte mich, was der Mann wollte. Hatte ich vor Jahren einen Prozess für ihn verloren? Ich erinnerte mich auf jeden Fall nicht an ihn. Der Mann trat zu mir vor das mit Brettern vernagelte Fenster des alten Ladens. Er stand so dicht, dass wir nicht von Passanten getrennt werden konnten. Dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen, bei dem sich die Narbe bog, die seine Wange in zwei Hälften teilte.

»Öffnen Sie Ihren Mantel und schauen Sie hinein, Mr. Flynn.«

Meine Hände fühlten sich unbeholfen und klobig an, als ich meine Taschen durchsuchte und nichts fand. Ich öffnete den Mantel ganz. Auf der Innenseite entdeckte ich etwas, das wie ein Riss aussah, als hätte sich das Seidenfutter von der Naht gelöst. Es war kein Riss. Ich brauchte einen Moment, bis ich bemerkte, dass eine dünne schwarze Jacke in meinem Mantel steckte, wie eine zweite Lage Futter. Ich hatte sie noch nie gesehen. Der Kerl musste die Ärmel der Jacke in meinen Mantel geschoben haben, als ich auf der Toilette war. Als ich mit der Hand über den Rücken fuhr, entdeckte ich den Klettverschluss einer Tasche, die tief unten, knapp über der Taille saß. Ich zog sie herum, damit ich sie ansehen konnte, riss den Verschluss auf und langte hinein. Ich spürte einen losen Faden.

Ich zog ihn aus der verborgenen Tasche. Es war kein Faden.

Es war ein Draht.

Ein roter Draht.

Meine Hände folgten ihm zu etwas, das sich wie ein flaches Plastikgehäuse anfühlte, und zu noch mehr Drähten und von dort zu zwei schmalen, rechtwinkligen Ausbuchtungen in der Jacke, die links und rechts auf meinem Rücken saßen.

Ich bekam keine Luft.

Ich trug eine Bombe am Körper.

Er hatte nicht vor, mich vor drei Dutzend Zeugen in der Chambers Street zu erschießen. Er würde mich zusammen mit weiß der Himmel wie vielen Opfern in die Luft jagen.

»Laufen Sie nicht weg, sonst zünde ich den Sprengsatz. Versuchen Sie nicht, ihn abzumachen. Erregen Sie keine Aufmerksamkeit. Mein Name ist Arturas.« Er sprach es Ar-toras und lächelte ununterbrochen dazu.

Ich sog scharf die Luft ein und zwang mich, langsam wieder auszuatmen.

»Nur die Ruhe«, sagte Arturas.

»Was wollen Sie?«, fragte ich.

»Mein Arbeitgeber hat Ihre Kanzlei angeheuert, damit sie ihn vor Gericht vertritt. Wir müssen noch eine Sache zu Ende bringen.«

Meine Angst ließ ein wenig nach: Es ging gar nicht um mich. Es ging um meine alte Anwaltskanzlei; vielleicht konnte ich Jack Halloran den Kerl unterjubeln. »Tut mir leid, mein Freund, aber das ist nicht mehr meine Kanzlei. Sie reden mit dem Falschen. Für wen genau arbeiten Sie denn?«

»Ich denke, Sie kennen den Namen. Mr. Volchek.«

Oh, verdammt. Er hatte recht. Den Namen kannte ich tatsächlich. Olek Volchek war der Kopf der Russenmafia. Mein früherer Partner Jack Halloran hatte sich, einen Monat bevor Jack und ich uns trennten, bereit erklärt, Volchek zu vertreten. Als er den Fall annahm, erwartete Volchek ein Prozess wegen Mordes – ein Auftragsmord im Bandenmilieu. Ich hatte die Unterlagen in dem Fall nie zu Gesicht bekommen oder gar Volchek getroffen. Ich hatte mich diesen ganzen Monat der Verteidigung von Ted Berkley gewidmet, einem Börsenmakler, der wegen einer angeblichen Entführung angeklagt war – es war der Fall, an dem ich vollständig zerbrach. In den Nachwehen dieses Falls hatte ich zuerst meine Familie verloren und dann mich selbst in einer Whiskeyflasche. Vor knapp einem Jahr war ich dann mit dem, was von meiner Seele noch übrig war, ausgestiegen, und Jack hatte die Kanzlei liebend gern allein übernommen. Ich hatte keinen Fuß mehr in einen Gerichtssaal gesetzt, seit die Jury im Fall Berkley ihr Urteil gesprochen hatte, und ich hatte nicht die Absicht gehabt, in absehbarer Zeit wieder als Anwalt zu arbeiten.

Bei Jack sah die Sache anders aus. Er hatte Probleme mit seinem Hang zum Glücksspiel. Wahrscheinlich hatte er sich aus dem Staub gemacht und Volcheks Vorschuss mitgenommen. Wenn die Russenmafia Jack nicht finden konnte, wandte sie sich eben an mich – wegen einer Erstattung. Und sie ließen die Muskeln spielen. Mit einer Bombe auf dem Rücken spielte es keine Rolle, dass ich pleite war. Ich würde ihm das verdammte Geld besorgen. Das ging schon in Ordnung. Ich konnte diesen Kerl bezahlen. Er war kein Terrorist. Er war ein Mafioso. Mafiosi sprengen keine Leute in die Luft, die ihnen Geld schulden. Sie lassen sich einfach bezahlen.

»Hören Sie, wen Sie brauchen, ist Jack Halloran. Ich kenne Mr. Volchek gar nicht. Jack und ich sind nicht mehr Partner. Aber es ist in Ordnung; wenn Sie Ihren Honorarvorschuss erstattet haben wollen, stelle ich Ihnen gern einen Scheck aus.«

Ob der Scheck eingelöst wurde oder nicht, war ein anderes Problem. Ich hatte etwas mehr als sechshundert Dollar auf dem Konto, meine Miete war überfällig, es gab Rechnungen von der Suchtklinik, die ich nicht bezahlen konnte, und ich hatte kein Einkommen. Die Klinikrechnungen waren das Hauptproblem, aber bei der Menge von Whiskey, die ich in mich hineingeschüttet hatte, wäre ich gestorben, wenn ich mich nicht zu einem Entzug angemeldet hätte. In der Beratung dort war mir klar geworden, dass sich die Erinnerung an die Geschehnisse im Fall Berkley auch mit noch so viel Jack Daniel’s nicht fortspülen ließ. Am Ende war ich vom Suff weggekommen, und in zwei Wochen sollte eine endgültige Einigung mit meinen Gläubigern erfolgen. Zwei Wochen, bis ich wieder ganz von vorn beginnen konnte. Wenn der Russe mehr als ein paar Hundert Dollar haben wollte, war ich geliefert – auf der ganzen Linie.

»Mr. Volchek will sein Geld nicht. Sie können es behalten. Immerhin werden Sie es sich verdienen«, sagte Arturas.

»Was soll das heißen, es verdienen? Hören Sie, ich praktiziere nicht mehr. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr als Anwalt gearbeitet. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich erstatte Mr. Volchek den Honorarvorschuss. Bitte lassen Sie mich einfach dieses Ding abnehmen«, sagte ich und fasste an die Jacke.

»Nein«, sagte er. »Sie verstehen nicht, Anwalt. Mr. Volchek will, das Sie etwas für ihn tun. Sie werden sein Anwalt sein, und er wird Sie bezahlen. Sie tun es. Oder Sie tun in diesem Leben überhaupt nichts mehr.«

Meine Kehle schnürte sich zusammen, als ich zu sprechen versuchte. Das ergab alles keinen Sinn. Jack würde Volchek doch sicher erzählt haben, dass ich aufgehört hatte, dass ich es nicht mehr packte. Eine weiße Stretchlimousine hielt am Straßenrand. Das glänzende Wachs spiegelte mich verzerrt wider. Die hintere Tür auf der Beifahrerseite ging von innen auf und löschte mein Bild aus. Arturas stand neben der offenen Tür und bedeutete mir mit einem Nicken einzusteigen. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Ich atmete tief, verlangsamte meinen Herzschlag und bemühte mich verzweifelt, nicht zu kotzen. Die stark getönten Fenster der Limousine ließen den Innenraum so dunkel erscheinen, als wäre er randvoll mit schwarzem Wasser.

Für einen Moment wurde alles bemerkenswert still – es gab nur mich und diese offene Tür. Wenn ich weglief, würde ich nicht weit kommen – es war keine Option. Wenn ich in den Wagen stieg und in Arturas’ Nähe blieb, konnte er den Sprengsatz nicht zünden. In diesem Augenblick verfluchte ich mich, weil ich meine Fertigkeiten vernachlässigt hatte. Dieselben Fertigkeiten, die mich all die Jahre in den Straßen überleben ließen, die mir halfen, Strafverteidiger mit einem Millioneneinkommen übers Ohr zu hauen, bevor ich auch nur selbst Jura studiert hatte, und dank derer ich diesen Kerl früher bemerkt hätte, ehe er auch nur auf fünf Meter an mich herangekommen wäre.

Ich traf meine Entscheidung und kroch in den Kaninchenbau.

2

Sobald ich mich setzte, spürte ich, wie die Bombe in mein Fleisch drückte.

Vier Männer befanden sich im Fond der Limousine, einschließlich Arturas, der nach mir eingestiegen war und die Tür zugezogen hatte. Er setzte sich links von mir und hatte immer noch dieses beunruhigende Lächeln im Gesicht. Ich konnte den Motor schnurren hören, aber wir parkten weiter am Straßenrand. Der Geruch von Zigarrenrauch und neuem Leder drang mir in die Nase. Noch mehr getöntes Glas trennte den luxuriösen hinteren Teil der Limousine vom Fahrer.

Auf dem Boden stand eine weiße Sporttasche aus Leder.

Rechts von mir füllten zwei Männer in dunklen Mänteln einen Sitz aus, der für sechs Personen gebaut war. Sie waren auf eine monströse Art groß, wie Gestalten aus einem Märchen. Einer hatte langes blondes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Der andere hatte kurzes braunes Haar und sah wahrhaft gewaltig aus. Sein Kopf hatte die Größe eines Basketballs, und er ließ den riesigen Blonden neben ihm winzig erscheinen, aber was mir am meisten Angst machte, war sein Gesichtsausdruck. Sein Gesicht schien bar jeder Emotion zu sein, jedes Gefühls, das kalte, gefürchtete Aussehen einer halb toten Seele. Als Betrüger hängt man davon ab, dass man »verräterische Zeichen« erkennt. Man hängt von seiner Fähigkeit ab, Gefühle und normale menschliche Reaktionen zu manipulieren, aber es gibt eine Gruppe von Individuen, die immun gegen die üblichen Tricks ist, und jeder Betrüger erkennt sie und hält sich um jeden Preis fern von ihnen – Psychopathen. Der Riese mit dem braunen Haar schien ein Psycho wie aus dem Lehrbuch zu sein.

Der Mann mir gegenüber war Olek Volchek. Er trug einen schwarzen Anzug über einem weißen Hemd, das am Kragen offen stand. Graue Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht, dieselbe Farbtönung setzte sich in seinem Haar fort. Er hätte vielleicht gut ausgesehen, wäre nicht diese schwelende Bösartigkeit in seinen Augen gewesen. Ich kannte ihn aus der Presse und dem Fernsehen. Er war ein Mafiaboss, ein Mörder und Drogenhändler.

Aber er würde todsicher nicht mein Klient werden.

Ich hatte mein ganzes Leben lang mit Menschen wie Volchek zu tun gehabt, als Freunde, Feinde und sogar als Klienten. Es spielte keine Rolle, ob sie aus der Bronx, aus Compton, Miami oder Little Odessa waren. Solche Männer respektierten nur eins – Stärke. Obwohl ich eine Scheißangst hatte, durfte ich sie ihn nicht sehen lassen, sonst war ich ein toter Mann.

»Ich arbeite nicht für Leute, die mich bedrohen«, sagte ich.

»Sie haben keine Wahl, Mr. Flynn. Ich bin Ihr neuer Klient«, sagte Volchek. Er sprach mit einem starken russischen Akzent in leicht gebrochenem Englisch. »Shit happens, wie ihr Amerikaner sagt«, fuhr er fort. »Manchmal ist es eben so. Sie können Jack Halloran die Schuld geben, wenn Sie wollen.«

»Dem gebe ich inzwischen die Schuld an den meisten Dingen. Warum vertritt er Sie nicht? Wo ist er?«

Volchek warf einen Blick zu Arturas, und für einen Moment spiegelte er Arturas’ unauslöschliches Lächeln, ehe er mich wieder ansah. »Als Jack Halloran meinen Fall übernahm, sagte er, es sei für die Verteidigung unmöglich zu gewinnen. Das wusste ich bereits. Ich hatte den Fall vor Jack von vier verschiedenen Kanzleien prüfen lassen. Trotzdem, Jack konnte Dinge tun, die andere Anwälte nicht konnten. Also bezahlte ich ihn, und ich gab ihm eine Aufgabe. Leider konnte Jack seinen Teil der Abmachung nicht einhalten.«

»Zu schade auch. Hat aber nichts mit mir zu tun«, sagte ich und bemühte mich, meine Nervosität nicht zu zeigen.

»Das ist der Punkt, wo Sie falschliegen«, sagte Volchek. Er entnahm einem goldenen Etui eine kleine schokoladenfarbene Zigarre, biss das Ende ab und zündete sie an. »Vor zwei Jahren«, sagte er, »befahl ich einen Mord an einem Mann namens Mario Geraldo. Ich bat Little Benny, es für mich zu tun. Benny erledigte seine Aufgabe. Dann wurde er erwischt und redete mit dem FBI. Benny wird bei meinem Prozess aussagen, dass ich den Mord in Auftrag gegeben habe. Alle Anwälte, mit denen ich gesprochen habe, sagten, Benny werde der Starzeuge der Staatsanwaltschaft sein. Seine Aussage wird zu meiner Verurteilung führen, ohne jeden Zweifel.«

Ich presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es begann wehzutun.

»Benny ist in Gewahrsam des FBI. Er wird gut beschützt und ist gut versteckt. Nicht einmal meine Kontakte können ihn finden. Sie sind der Einzige, der in seine Nähe gelangt, denn Sie sind mein Anwalt.«

Er senkte die Stimme. »Bevor Sie Benny ins Kreuzverhör nehmen, werden Sie Ihr Jackett ausziehen, und wenn der Gerichtssaal leer ist, kleben wir die Bombe unter den Sitz im Zeugenstand. Benny nimmt Platz, und wir lassen den Sprengsatz hochgehen. Kein Benny mehr, kein Fall mehr, kein Problem mehr. Sie sind der Bomber, Mr. Flynn. Sie gehen ins Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft wird nicht genügend Beweismaterial für eine Wiederaufnahme haben, und ich bleibe unbehelligt.«

»Sie sind ja komplett verrückt«, sagte ich.

Volchek reagierte zuerst nicht. Er bekam keinen Wutanfall und bedrohte mich nicht. Er saß nur einen Moment da, als würde er seine Möglichkeiten abwägen. Ich hörte kein Geräusch außer dem Hämmern meines eigenen Herzens, und ich fragte mich, ob ich mir soeben eine Kugel verdient hatte. Ich konnte den Blick nicht von Volchek nehmen, aber ich spürte, wie die anderen mich beinahe spöttisch ansahen, wie jemanden, der gerade die Hand in eine Schlangengrube gesteckt hat.

»Werfen Sie mal einen Blick auf das, bevor Sie sich entscheiden«, sagte Volchek und machte Arturas ein Zeichen.

Arturas hob die weiße Sporttasche auf und öffnete sie.

Jacks Kopf lag in ihr.

Mein Magen zog sich zusammen. Mein Mund füllte sich mit Speichel. Ich würgte, bedeckte den Mund mit der Hand und hustete. Ich spuckte und hatte Mühe, bei Sinnen zu bleiben, meine Finger krallten sich in das Leder des Sitzes unter mir. Jeder Anschein einer gelassenen Fassade ging vollständig verloren.

»Wir dachten, Jack könnte es tun. Wir haben uns geirrt. Aber bei Ihnen gehen wir kein Risiko ein, Mr. Flynn.« Volchek beugte sich vor. »Wir haben Ihre Tochter.«

Zeit, Atmung, Blut, Bewegung – alles stand still.

»Wenn Sie sie auch nur anrühren …«

Er holte ein Handy aus seiner Hosentasche und drehte es herum, sodass ich das Display sehen konnte. Amy stand an einer dunklen Straßenecke vor einem Zeitungsstand. Mein kleines Mädchen. Sie war erst zehn Jahre alt. Ich sah sie irgendwo in New York stehen, sie hatte die Arme zum Schutz vor der Kälte um den Körper geschlungen und blickte argwöhnisch in die Kamera. Hinter ihr sah ich den Aufkleber am Zeitungsstand mit der Schlagzeile von dem Frachtschiff, das am Samstagabend auf dem Hudson gesunken war.

Mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich schwitzte. Mein Hemd war durchnässt, mein Gesicht und mein Haar waren schweißnass, aber ich hatte keine Angst mehr. Die Bombe, der Revolver oder das Paar stummer Riesen, das mich aus ihren toten Augen ansah – nichts davon interessierte mich mehr.

»Geben Sie mir meine Tochter zurück, und ich lasse Sie am Leben«, sagte ich.

Darüber mussten Volchek und seine Mannschaft herzhaft lachen. Sie kannten mich als Eddie Flynn, den Anwalt. Den alten Eddie Flynn kannten sie nicht: den Gauner, den Kerl, der sich in Gassen prügelte, den Trickbetrüger. Tatsächlich hatte ich ihn selbst fast vergessen.

Volchek neigte den Kopf, bevor er sprach. Er schien jedes Wort sorgfältig zu bedenken. »Sie sind nicht in der Position, um Drohungen auszusprechen. Seien Sie klug. Ihrer Tochter geschieht nichts, wenn Sie tun, was ich Ihnen sage.«

»Lassen Sie sie gehen. Ich werde nichts tun, bevor ich weiß, dass sie in Sicherheit ist. Töten Sie mich, wenn Sie wollen. Tatsächlich sollten Sie es besser tun, denn ich werde mit meinen Daumen in Ihren Augen ins Grab sinken, wenn Sie sie nicht auf der Stelle gehen lassen.«

Volchek zog an seiner Zigarre, öffnete den Mund und ließ den Rauch für einen Moment über seine fleischigen Lippen strömen, um das Aroma zu genießen.

»Ihre Tochter ist in Sicherheit. Wir haben sie vor ihrer Schule aufgelesen, als sie auf den Bus für ihren Schulausflug gewartet hat. Sie glaubt, die Männer, die auf sie aufpassen, gehören zu einer Wachmannschaft, die für Sie arbeitet. Es gab in der Vergangenheit Morddrohungen gegen Sie, und das weiß sie. Ihre Exfrau glaubt, dass Amy auf dem Schulausflug ist, zum Wandern auf Long Island. Die Schule glaubt, sie ist bei Ihnen. Sie wird ein, zwei Tage lang nirgendwo vermisst werden. Wenn Sie sich weigern, meine Befehle auszuführen, werde ich sie töten. Aber das wird eine Wohltat für sie sein. Ihre Tochter wird leiden, wenn Sie nicht kooperieren. Manche meiner Männer …«

Er sprach absichtlich nicht zu Ende und tat, als würde er nach den richtigen Worten suchen, damit meine Fantasie sich einen Albtraum ausmalen konnte. Mein ganzer Körper verspannte sich, als bereitete er sich darauf vor, einen tätlichen Angriff abzuwehren. Wut und Adrenalin durchströmten mich.

»Nun, manche meiner Männer haben eine ungewöhnliche Vorliebe für hübsche kleine Mädchen.«

Ich stürzte mich auf Volchek. Ich war aus meinem Sitz geschnellt, bevor ich wusste, was ich tat. Trotz der Enge und ohne Raum zum Ausholen, brachte ich einen anständigen rechten Haken zustande, der krachend auf Volcheks linker Wange landete. Die Zigarre flog aus seinem dreckigen Maul. Ich zog die linke Hand zurück und zielte, um ihm einen Boxhieb an die Gurgel zu verpassen.

Bevor ich diesen zweiten Schlag anbringen konnte, packte mich eine riesige Hand und hob mich glatt vom Boden. Ich wandte den Kopf, und sah, dass der hünenhafte Psychopath mich im Griff hatte. Er wollte mich eben auf den Hintern setzen wie ein störrisches Kind, als meine alten Gewohnheiten das Kommando übernahmen. Meine rechte Hand krallte sich in sein fleischiges Gesicht, eine automatische, unbewusste Reaktion und Ablenkung. Die linke ließ ich in das Jackett des Dicken gleiten und angelte mir seine Brieftasche. Es dauerte eine halbe Sekunde. Schnell und leise. Ich hatte doch nicht so viel an Geschwindigkeit eingebüßt im Lauf der Jahre. Der Mann hatte nichts bemerkt. Er war zu sehr damit beschäftigt, mir den Kopf von den Schultern zu hauen. Als ich die Börse in meine Tasche gleiten ließ, tauchte eine Faust von der Größe eines Tellers vor meinem Gesicht auf. Ich drehte mich weg und spürte den Einschlag über dem Hinterkopf brennen. Dann krachte ich mit dem Gesicht auf den Boden der Limousine.

Ich blieb unten, der Schmerz arbeitete sich dröhnend in meinen Schädel. Es war mein erster Taschendiebstahl seit fünfzehn Jahren, und er war instinktiv geschehen. Es passierte einfach, weil das früher meine Natur war.

Nein – weil sie es immer noch war.

Die Fähigkeiten und Techniken, die ich als erfolgreicher Trickbetrüger entwickelt und eingesetzt hatte – Ablenkung, Irreführung, Überredungskunst, Suggestion, Wegstecken, Tauschen, Fallenlassen –, ich hatte sie nicht nur vor vielen Jahren auf der Straße benutzt, sondern genauso in den letzten neun Jahren im Gerichtssaal. Ich hatte mich im Grunde nicht verändert. Ich hatte nur das Betätigungsfeld gewechselt.

Ich schloss die Augen und versank in Dunkelheit.

3

Ich erwachte auf Ledersitzen, mein Hinterkopf schmerzte. Einer der Gorillas hielt mir einen Eisbeutel ins Genick. Es war der große Blonde, der aussah, als hätte er gerade seinen Platz in einer schwedischen Heavy-Metal-Band verloren. Von dem süßlichen Geruch von Volcheks Zigarre wurde mir übel. Ich reimte mir zusammen, dass man mich vom Boden der Limousine aufgehoben und auf den Sitz gelegt hatte. Meine Augen brannten ein wenig von dem Rauch, aber ich brauchte nur einen kurzen Moment, bis ich erkannte, dass der riesenhafte Psychopath, der mich k. o. geschlagen hatte, nicht mehr im Wagen war. Ich nahm den Eisbeutel und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Wir sind jetzt beim Gericht«, sagte Arturas.

Ich setzte mich auf.

»Wieso sind wir beim Gericht?«, fragte ich.

»Weil Mr. Volcheks Prozess heute Morgen anfängt«, erwiderte Arturas.

»Heute Morgen?« Ich beschwor das Bild meiner Tochter auf Volcheks Handy herauf und spürte, wie die Wut neuen Schmerz in meinem Nacken und eine eisenharte Spannung in meinen Muskeln entstehen ließ.

»Der Prozess beginnt in einer Stunde. Bevor Sie gehen, müssen wir wissen, dass Sie das schaffen. Andernfalls töten wir Sie sofort und Ihre Familie später«, sagte Arturas. Er holte den Revolver hervor und legte ihn auf sein Knie.

Arturas gab mir ein teuer aussehendes Glas mit einem Spritzer urinfarbener Flüssigkeit darin. Es roch nach Bourbon. Ich schüttete ihn hinunter und fühlte die vertraute, säuerliche Wärme. Es war mein erster Drink, seit ich die Entzugsklinik wegen meiner Alkoholsucht verlassen hatte. Einen Moment lang dachte ich daran, wie viel Geld ich der Klinik noch schuldete, dann verwarf ich den Gedanken. Es gab eine Zeit und einen Ort, um wieder zur Flasche zu greifen, und hier und jetzt waren so gut wie alle anderen. Ich streckte die Hand nach einem zweiten Drink aus, und Arturas schenkte mein Glas aus einer passenden Kristallkaraffe nach. Ich kippte den Whiskey schnell hinunter und genoss das Brennen. Ein Schauder durchlief mich von dem starken Alkohol, ich schüttelte den Kopf und bemühte mich, klar zu denken.

»Wo ist meine Tochter?«

»Gesund und munter, für den Augenblick«, sagte Arturas. Er schenkte mir noch einen Drink ein.

Ich schüttete ihn hinunter und überlegte. »Warum habt ihr Jack getötet?«, fragte ich.

Volchek nickte in Richtung Arturas. Er überließ es ihm gern, die Einzelheiten zu berichten.

»Alle Anwälte, die wir gefragt haben, sagten, Bennys Aussage würde zu Volcheks Verurteilung führen. Also war es schlicht logisch, Benny zu töten. Eine einfache Lösung, aber wir konnten ihn nicht finden. Wir haben Jack … zugeredet, das Jackett zu tragen, damit wir Benny töten konnten, wenn er ins Gericht kam. Aber Jack konnte es nicht.«

Ich fragte mich, welche Art der Überredung sie bei Jack versucht hatten. Zweifellos hatten sie ihn gefoltert. Er war ein Arschloch und spielsüchtig, aber er war mein Partner gewesen, und meine Gefühle in Bezug auf ihn wurden ein wenig milder. Was immer Jack gewesen war, er war nicht dafür gemacht, eine Bombe am Leib zu tragen. Die meiste Zeit war er froh, wenn er seine Aktentasche tragen konnte, ohne über die eigenen Füße zu fallen. Sie mussten ihn ziemlich hart hergenommen haben.

»Warum Jack?«, fragte ich.

»Es musste eine bestimmte Sorte Anwalt sein. Wir wissen, dass Sie und Jack diese Kanzlei mit Geld von einem Kredithai gestartet haben. Jack hatte einen schlechten Ruf als Lügner, und weil er seine Schulden nicht bezahlte. Er brauchte Geld, Klienten sprangen ab, nachdem Sie ausgestiegen waren, und wir brauchten jemanden, der die Bombe durch die Sicherheitsschleuse brachte. Die Sicherheitsmaßnahmen am Gericht sind gut. Heute werden sie noch besser sein. Wir konnten keine Bombe hineinschmuggeln. Jeder, der da reingeht, wird durchsucht, dann passiert er den Scanner, und anschließend wird er noch einmal durchsucht – jeder außer Jack und Ihnen. Wir wissen es. Wir haben Sie beide monatelang beobachtet, wie Sie ins Gerichtsgebäude gegangen sind. Sie wurden nie durchsucht. Die Wachleute lassen Sie beide einfach durchspazieren – wie alte Freunde. Wir haben Jack befohlen, was wir Ihnen auch befohlen haben: die Bombe zu deponieren und den Mord auf sich zu nehmen.«

Arturas lehnte sich zurück und warf Volchek rasch einen Blick zu. Es war echte Teamarbeit: Arturas hatte die Fakten klar und deutlich dargelegt. Danach ließ er seinen Boss mit Freuden die Einschüchterung übernehmen.

»Jack saß vor gerade mal drei Tagen genau da, wo Sie jetzt sitzen, Mr. Flynn. Er trug dasselbe Jackett wie Sie, mit derselben Bombe darin. Wir haben ihm erklärt, was wir Ihnen erklärt haben. Ich öffnete die Tür dieses Wagens und sagte zu ihm, er solle hinausgehen und seinen Job erledigen.« Volchek senkte den Blick. Dann hob er den Kopf inmitten einer grauen Rauchwolke, die sein Gesicht einrahmte. »Jack wurde starr. Er zitterte wie ein … wie nennen Sie es? Epileptiker? Als hätte er einen Anfall. Pisse lief an seinem Hosenbein hinunter. Wir machten die Tür zu und brachten ihn zu uns.« Er saugte wieder an der Zigarre und betrachtete die heiße Glut an der Spitze. »Ich fesselte ihn an einen Stuhl und sagte, ich würde seine Schwester töten, wenn er nicht machte, was ich verlangte. Viktor …«, er zeigte auf den Blonden, »… bringt die Schwester zu uns. Ich nehme mein Messer und zerschneide ihr vor seinen Augen das Gesicht. Werden Sie es jetzt tun?, frage ich ihn. Nichts. Ich bearbeite sie mit meinem Messer, und er sitzt einfach nur da.«

Ich spürte beinahe, wie sich eine Kralle um meine Brust legte. Dieses Monster hatte mein kleines Mädchen. Ein Geräusch erschreckte mich – es waren meine Knöchel, die knackten, weil ich eine Hand zur Faust ballte. In der anderen Hand hielt ich das leere Bourbon-Glas und überlegte, es Volchek ins Auge zu stoßen, aber dann entschied ich mich dagegen. Nachdem mein letzter Versuch, ihn anzugreifen, schlecht ausgegangen war, wollte ich keinen neuen wagen.

Noch nicht.

»Mir wird klar, dass wir uns nicht auf Jack stützen können. Bevor ich ihn töte, verschaffe ich seiner Schwester etwas Genugtuung. Ich gebe ihr mein Messer. Ich helfe ihr, ihn zu schneiden, böse zu schneiden.«

Ein Höllenfeuer loderte in seinem Blick. Er schien die Erinnerung köstlich zu finden.

»Jack war nicht der richtige Kopf für die Sache, also schnitt ich ihn ab und gab ihn seiner Schwester, bevor ich auch sie tötete. Sie war tapfer. Nicht wie ihr Bruder.«

Ich sah zu der Sporttasche auf dem Boden, die jetzt glücklicherweise geschlossen war, und dachte an Jack. Meine Meinung über ihn pendelte zurück zu Hass. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den abgeschnittenen Kopf in den Hudson gekickt. Jack hätte es verdient gehabt, neben diesem gesunkenen Schiff auf dem Grund des Flusses zu liegen.

»Wir haben keine Zeit mehr für einen Probelauf bei Ihnen«, fuhr Arturas fort. »Sie bringen die Bombe jetzt hinein, Mr. Flynn. Beruhigen Sie sich. Denken Sie an Ihre Tochter. Wenn Sie die Bombe ins Gericht schaffen, sind Sie ihr einen Schritt näher. Wenn Sie erwischt werden, wandern Sie ins Gefängnis, weil Sie versucht haben, ein öffentliches Gebäude in die Luft zu sprengen. Sie bekommen lebenslänglich, ohne vorzeitige Entlassung. Was meinen Sie?«

Ich meinte, dass er recht hatte. Wer in dieser Stadt versucht, öffentliche Gebäude in die Luft zu jagen, kommt normalerweise nicht allzu glimpflich davon. Ich wäre ohne Frage zumindest ein Kandidat für lebenslänglich. Als mildernder Umstand würde mir nur die Drohung gegen meine Tochter angerechnet. Unter extremem Zwang zu handeln, reicht nicht für einen Freispruch, es hätte mir das lebenslänglich aber vielleicht erspart.

Dieses widerliche Grinsen breitete sich wieder auf Arturas’ Gesicht aus. Ich hatte fast den Eindruck, dass er meine Gedanken erriet. Volchek drückte seine Zigarre aus und sah mich durch den dünner werdenden Rauch an. Ich dachte, dass sie beide intelligente und skrupellose Menschen waren, aber jeder mit seiner eigenen Art von Intelligenz. Arturas schien der Beratertyp zu sein, der Mann mit dem Plan, der alle Eventualitäten durchspielte und die Risiken sorgsam abwog, ein kühler Denker. Sein Boss war ganz anders. Volcheks Bewegungen waren langsam und elegant, wie bei einer großen Raubkatze, die sich im hohen Gras an ihre Beute pirscht. Sein Verstand war ursprünglich, instinktgeprägt, beinahe wild. Mein eigener Instinkt sagte mir, dass diese Männer mich nicht am Leben lassen würden, egal was geschah.

»Ich habe seit langer Zeit keinen Fuß mehr in dieses Gebäude gesetzt. Wie kommen Sie darauf, ich könnte heute einfach da hineinspazieren, ohne durchsucht zu werden?«

»Sie kennen die Wachleute, und die Wachleute kennen Sie«, sagte Arturas. Er hob die Stimme und beugte sich vor, um seine Worte zu unterstreichen. »Wir beobachten dieses Gerichtsgebäude schon sehr lange, Anwalt. Ich plane die ganze Sache seit fast zwei Jahren bis in jede Kleinigkeit. Die Bombe kann nur jemand hineinschaffen, dem die Wachleute trauen, bei dem sie es am wenigsten vermuten. Anders bekommt man keine Bombe in das Gebäude. Ich habe Sie persönlich beobachtet, wie Sie mit Verspätung zu einem Prozesstermin hineingejoggt sind und den Wachleuten nur zugewinkt haben, als Sie den Alarm auslösten. Sie haben ihn ignoriert und Sie einfach durchgewunken. Sie reden mit den Wachen. Die Leute kennen Sie. Sie nehmen sogar Gespräche für Sie entgegen.«

Ich habe kein Handy. Mir hat die Vorstellung nie behagt, dass mein Aufenthaltsort anhand des nächstgelegenen Funkmasts bestimmbar ist. Es war ein Überbleibsel aus der alten Zeit, das ich nie ablegt habe, obwohl Jack mir mehr als ein Handy gekauft hat. Ich habe sie alle verloren. Als ich noch praktizierte, war ich einen großen Teil des Tages im Gerichtsgebäude. Wenn mich jemand dringend erreichen musste, rief er in der Eingangshalle an. Meist wusste einer der Wachleute, in welchem Gerichtssaal ich steckte, und ging mich holen. Ein paar Flaschen Whiskey für die Wachmannschaft zu Weihnachten und ein Geschenkkorb für jeden zu Thanksgiving waren ein geringer Preis für diese Art Hilfe.

Mein Kopf wurde allmählich ein wenig klarer.

»Warum können Sie diesen Kerl nicht auf andere Weise töten? Ein Scharfschütze könnte ihn beispielsweise auf dem Weg zum Gericht erledigen.«

Arturas nickte. »Daran habe ich auch gedacht. Ich habe jede Möglichkeit durchgespielt. Wir wissen nicht, wo er ist und wie er ins Gericht gelangen wird. Das ist die einzige Möglichkeit. Die großen Anwaltskanzleien, denen wir den Fall vorgelegt haben, praktizieren in der ganzen Stadt. Sie und Jack dagegen hatten fast alle Ihre Fälle hier in der Chambers Street. Sie kennen das Personal. Die Anwälte in diesen anderen Kanzleien berechnen neunhundert Dollar die Stunde. Glauben Sie, die haben Zeit, mit einem Wachmann zu reden? Nein. Ich wusste, so muss es laufen, als ich Sie und Jack das erste Mal durch die Sicherheitsschleuse laufen und den Alarm auslösen sah, und niemand hat auch nur mit der Wimper gezuckt. Sie haben mir die Lösung aufgezeigt.«

Arturas war hier der Stratege. Das Ganze war eindeutig sein Plan. Er wirkte distanziert, kalt, rational, und ich stellte mir vor, so würde er selbst dann noch sein, wenn es darum ging abzudrücken. Für Volchek galt das Gegenteil. Obwohl er ruhig geblieben war, als ich ihn geschlagen hatte, spürte ich, dass ein Ungeheuer hinter seiner beherrschten Fassade lauerte, das jederzeit durch die Oberfläche brechen konnte.

Ich legte den Kopf in die Hände und atmete tief und langsam durch.

»Da ist noch etwas, Mr. Flynn«, sagte Volchek. »Sie sollten wissen, dass wir Kämpfer sind. Wir sind stolz. Wir sind eine Bratwa, das bedeutet Bruderschaft. Ich vertraue diesem Mann.« Er legte die Hand auf Arturas’ Schultern. »Aber vieles kann schiefgehen. Sie müssen das Jackett in das Gebäude bringen. Der Tod Ihrer Tochter ist nur einen Anruf entfernt. Sie werden hineinkommen. Ich weiß es. Ich erkenne auch in Ihnen einen Kämpfer. Aber kämpfen Sie nicht gegen mich.«

Er hielt inne, um sich eine neue Zigarre anzuzünden.

»Arturas und ich sind vor zwanzig Jahren mit nichts hierhergekommen. Wir haben viel Blut vergossen, um dahin zu gelangen, wo wir sind, und wir laufen nicht kampflos davon. Aber wir sind nicht dumm. Der Prozess ist auf drei Tage angesetzt. Wir geben Ihnen zwei. Mehr können wir nicht riskieren. Zwei Tage, um Little Benny auf diesen Platz zu bekommen, damit wir ihn töten können. Wenn er bis morgen Nachmittag um vier nicht tot ist, haben wir keine andere Wahl. Wir werden fliehen müssen. Je länger das Verfahren dauert, desto wahrscheinlicher wird die Staatsanwaltschaft versuchen, meine Kaution zu widerrufen. Das hat mir einer von diesen Neunhundert-Dollar-Anwälten erklärt. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass er recht hat.«

Ich hatte es schon öfter erlebt. Die meisten Ankläger haben ihren schlagendsten Beweis bei der Vernehmung zur Anklage noch nicht parat, wenn der Beschuldigte Freilassung auf Kaution beantragt. DNA-Nachweise und Expertengutachten brauchen Zeit, bis sie fertiggestellt sind. Bis der Prozess beginnt, hat die Staatsanwaltschaft dann alles beisammen und wird beim Richter möglicherweise beantragen, die Freilassung des Angeklagten gegen Kaution zu widerrufen, wenn sie ihren Beweisen traut. Damit ist das Schicksal des Angeklagten in der Regel besiegelt. Alles, was es braucht, ist eine kleine, aber vorsätzliche Verzögerung durch den festnehmenden Beamten, damit die Jury den Angeklagten in Handschellen sieht. Ein kurzer Blick auf diese Armbänder, und alles ist vorbei – die Jury kommt jedes Mal zu einem Schuldspruch.

Ich nickte. Volchek wusste, dass ich erfahren genug war, um die Kniffe der Staatsanwaltschaft zu kennen, es hatte also keinen Sinn, es zu leugnen.

Während Volchek sein Ultimatum bekannt gab, strengte er sich an, die Brutalität seiner wahren Natur aus seiner Stimme zu halten.

»Das Gericht hat meinen Pass, das gehörte zu den Kautionsbedingungen. Ich lasse dreimal im Jahr Ware aus Russland einfliegen, mit einem privaten Flugzeug zu einem kleinen Geschäftsflughafen nicht weit von hier. Dieses Flugzeug trifft morgen um drei ein und fliegt um sechs zurück. Wenn Benny um vier noch lebt, ist Ihre Zeit um. Ich muss das Gericht um vier Uhr verlassen, um das Flugzeug noch zu erwischen. Es ist meine letzte Chance, aus den Vereinigten Staaten hinauszukommen. Ich möchte aber gern bleiben. Ich möchte kämpfen. Little Benny muss vor vier Uhr morgen Nachmittag sterben, sonst töte ich Sie und … Sie wissen schon. Das schwöre ich feierlich.«

Das Whiskeyglas zersprang in meiner Hand.

Mir war, als würde ich fallen. Ich sackte in mich zusammen, mein Kiefer zitterte, und ich biss die Zähne fest zusammen, damit sie nicht klapperten. Blut tropfte aus einem Schnitt in meiner Handfläche, aber ich fühlte keinen Schmerz. Ich war zu keiner Bewegung fähig. Ich konnte nicht denken. Wenn Amy etwas zustieß, würde mich der Schmerz umbringen. Meine Frau Christine hatte sich mit vielem abgefunden, mit den Überstunden im Büro, den Anrufen um drei Uhr morgens von einem Polizeirevier irgendwo in der Stadt, weil einer meiner Klienten verhaftet worden war, mit den verpassten Verabredungen zum Abendessen und meinen Ausreden, ich würde das alles für sie und Amy tun. Als ich vor einem Jahr dann auch noch zu trinken anfing, warf sie mich hinaus. Ich hatte eins der besten Dinge in meinem ganzen Leben verloren. Der Verlust unserer Tochter wäre ein Horror, den ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.

Von irgendwoher hörte ich die Stimme meines Vaters, des Mannes, der mir beigebracht hatte, wie man krumme Dinger dreht, der mir erklärt hatte, was zu tun war, wenn ich bei einem Betrug aufflog: Was auch passiert, verlier nicht den Kopf.

Ich schloss die Augen und betete leise. Lieber Gott hilf mir. Bitte hilf meiner Kleinen. Ich liebe sie so sehr.

Ich wischte mir über die Augen, bevor die Tränen kamen, schniefte und stellte meine Digitaluhr auf einen Countdown bis morgen 16.00 Uhr ein.

»Sie müssen eine Entscheidung treffen, Anwalt«, sagte Arturas und befingerte seinen Revolver.

»Ich mache es. Tun Sie nur Amy nichts. Sie ist erst zehn.«

Volchek und Arturas sahen einander an.

»Gut«, sagte Arturas. »Gehen Sie jetzt und warten Sie in der Eingangshalle auf mich, nachdem Sie durch den Checkpoint sind.«

»Sie meinen, falls ich durchkomme.«

»Soll ich Ihre Tochter für Sie beten lassen?«, fragte Volchek.

Ich antwortete nicht. Ich stieg allein aus der Limousine und sah, wie Arturas aus dem Wagen zu mir hinaufblickte, als ich auf dem Gehweg stand.

Ich nickte. »Ich werde nicht gegen Sie kämpfen.«

Das war gelogen.

So wie sie mich belogen hatten. Egal, was sie versprachen, selbst wenn Little Benny morgen um vier nur noch ein Fleck auf der Decke des Gerichtssaals sein sollte, würden sie Amy nicht gehen lassen. Sie würden mich und meine Tochter töten.

Ich hatte einunddreißig Stunden.

Einunddreißig Stunden, um die Russenmafia auszutricksen und mir mein kleines Mädchen zurückzuholen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte.

Ich knöpfte meinen Mantel zu, schlug den Kragen hoch und drehte mich zum Gerichtsgebäude um. Die Stimme meines Vaters klang immer noch leise in meinem Ohr: Verlier nicht den Kopf! Meine Hand blutete nicht mehr. Es schien noch kälter geworden zu sein, meine Atemluft kondensierte vor mir. Als sich der Dunst klärte, sah ich etwas, was ich in neun Jahren Tätigkeit an diesem Gericht noch nie gesehen hatte: eine Schlange von vielleicht vierzig Personen, bestehend aus Journalisten, Anwälten, Zeugen, Beklagten und Kamerateams, die alle vor der Sicherheitskontrolle anstanden.