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Inhaltsverzeichnis

DAS BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
EPILOG
Der Autor
Copyright

DER AUTOR

Robert Ludlum (1927–2001) zählt zu den erfolgreichsten Autoren der Welt, seine Thriller faszinieren seit vierzig Jahren ein Millionenpublikum. Seine beispiellose Schriftstellerkarriere nahm im Jahre 1971 seinen Anfang, als sein Debütroman sozusagen aus dem Stand Platz Eins der Bestsellerliste erreichte. Dieser Erfolg erlaubte es Ludlum, sich fortan nur noch dem Schreiben zu widmen. Inzwischen wurden viele seiner Romane, allen voran die Bestseller um den Agenten Jason Bourne, erfolgreich verfilmt. Allein im deutschsprachigen Raum wurden über 7 Millionen seiner Bücher verkauft.

Der Autor

Robert Ludlum wurde am 25. Mai 1927 in New York City geboren. Mit vierzehn Jahren verlässt er sein Elternhaus, um zur Bühne zu gehen. Nachdem er von seiner Mutter nach Hause zurückgeholt wird, schafft er drei Jahre später den Absprung und geht zunächst zum Militär. Nach Ende des Zwei – ten Weltkriegs beginnt er eine Karriere als Schauspieler. Trotz seines Erfolges am Theater, im Fernsehen und auch als Produzent beschließt er mit vierzig, diese Karriere an den Nagel zu hängen und studiert Kunstgeschichte. Seine »vierte« Karriere als Schriftsteller beginnt 1971 mit seinem ersten Buch Das Scarlatti-Erbe, an dem Ludlum achtzehn Monate arbeitet und welches auf Anhieb Platz eins der Bestsellerlisten erreicht. Als ähnlich erfolgreich erweisen sich auch alle folgenden Ludlum-Romane wie zum Beispiel Das Osterman-Wochenende, Die Scorpio-Illusion oder Der Ikarus-Plan. Seine Erfahrung als Schauspieler kommt ihm auch beim Schreiben zugute: »Man lernt, wie man die Aufmerksamkeit des Publikums behält«, erklärt Ludlum. Jeden Morgen sitzt er um 4.30 Uhr an seinem Schreibtisch, um in Ruhe an seinen Thrillern zu arbeiten. Seine Bücher werden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, in mehr als 40 Ländern veröffentlicht und erreichen eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Zahlreiche seiner Romane wurden erfolgreich verfilmt, zuletzt die legendären Bourne – Thriller mit Matt Damon in der Hauptrolle. Robert Ludlum lebte bis zu seinem Tod am 12. März 2001 mit seiner Frau Mary und seinen Kindern in Florida und Connecticut.

 

»Der größte Thrillerautor aller Zeiten.« The New Yorker

 

»Robert Ludlum ist der perfekte Thrillerautor.« Newsweek

EPILOG

Die blaugrünen Wellen der Karibik spiegelten die heiße Nachmittagssonne in zahllosen anschwellenden, blendenden Reflexen. Der Sand fühlte sich warm und weich unter den Füßen an. Dieses isolierte Inselstück befand sich im Frieden mit sich und der Welt, die es nicht kannte.

Matlock ging ans Wasser hinunter und ließ sich die Knöchel von den Wellen umspülen. Ebenso wie der Sand am Strand war auch das Wasser warm.

Er hatte eine Zeitung bei sich, die Greenberg ihm geschickt hatte. Ein Stück von einer Zeitung, genauer gesagt.

MASSAKER IN CARLYLE, CONN.

23 Menschen getötet, Neger und Weiße, die Stadt erschüttert, Universitätspräsident verschwunden.

 

CARLYLE, 10. Mai – Am Rande dieser kleinen Universitätsstadt fand gestern in einem Villenviertel ein bizarrer Massenmord statt. Dreiundzwanzig Männer wurden getötet; die Bundesbehörden nehmen an, daß es sich bei dem Massaker um einen Kampf ...

Dann folgte eine kurze Liste von Identitäten und Stellen aus Polizeiakten.

Julian Dunois befand sich darunter.

Das Schemen des Todes war nicht falsch gewesen; Dunois war nicht entkommen. Die Gewalt, die er ausgelöst hatte, mußte auch die Gewalt sein, die sein Leben nahm.

Der Rest des Artikels enthielt komplizierte Spekulationen über die Bedeutung und die Motive der seltsam zusammengewürfelten Opfer des Massakers. Dann ließ der unbekannte Journalist sich über die möglichen Bezüge zum Verschwinden von Adrian Sealfont aus.

Nur Spekulationen. Kein Hinweis auf Nimrod, keiner auf ihn selbst; kein Wort von umfangreichen Recherchen der Bundesbehörden. Nicht die Wahrheit; nichts, was mit der Wahrheit zu tun hatte.

Matlock hörte, wie sich die Türe seiner Strandhütte öffnete und drehte sich um. Pat stand auf der kleinen Veranda, fünfzig Meter von ihm entfernt. Sie winkte ihm zu und kam die Stufen herunter.

Sie trug Shorts und eine leichte Seidenbluse, sie war barfuß und lächelte. Man hatte ihr die Verbände von Beinen und Armen abgenommen. Die Sonne der Karibik hatte ihre Haut bronzebraun getönt. Sie trug ein breites orangerotes Kopfband, das sie so geschickt drapiert hatte, daß es die Wunden über ihrer Stirn verdeckte.

Sie wollte ihn nicht heiraten. Sie hatte gesagt, daß sie nicht aus Mitleid oder aus Schuldgefühl heiraten wollte – ob nun eingebildet oder echt. Aber Matlock wußte, daß sie heiraten würden. Wenn nicht, dann würde keiner von ihnen je heiraten. Dafür hatte Julian Dunois gesorgt.

»Hast du Zigaretten mitgebracht?«

»Nein. Keine Zigaretten«, antwortete sie. »Streichhölzer.«

»Das klingt aber mysteriös.«

»Dieses Wort – mysteriös – habe ich Jason gegenüber verwendet. Erinnerst du dich?«

»Ja. Du warst richtig wütend.«

»Das war ich. Gehen wir zum Anlegesteg.«

»Warum hast du Streichhölzer gebracht?« Er griff nach ihrer Hand und klemmte sich die Zeitung unter den Arm.

»Ein Scheiterhaufen. Archäologen messen Scheiterhaufen große Bedeutung bei.«

»Was?«

»Du trägst diese verdammte Zeitung schon den ganzen Tag herum. Ich will sie verbrennen.« Sie lächelte ihn an.

»Wenn du sie verbrennst, ändert das nichts an ihrem Inhalt.«

Pat ging darauf nicht ein. »Warum glaubst du wohl, daß Jason sie dir geschickt hat? Ich dachte, wir wollten ein paar Wochen untertauchen. Keine Zeitungen, kein Radio, kein Kontakt mit irgend etwas außer warmem Wasser und weißem Sand. Er hat die Regeln aufgestellt und sie gebrochen.«

»Er hat die Regeln empfohlen und gewußt, daß es schwierig sein würde, nach ihnen zu leben.«

»Dann hätte er sie von jemand anderem brechen lassen sollen. Er ist kein so guter Freund, wie ich dachte.«

»Vielleicht sogar ein noch besserer.«

»Das ist sophistisch.« Sie drückte seine Hand. Eine einzelne Welle, die sich zu weit vorgewagt hatte, spülte um ihre Füße. Eine lautlose Möwe schoß aus dem Himmel herunter ins Wasser, schlug die Schwingen, und ihr Hals zitterte. Dann stieg der Vogel kreischend wieder auf, ohne eine Beute im Schnabel zu haben.

»Greenberg weiß, daß ich eine sehr unangenehme Entscheidung treffen muß.«

»Die hast du getroffen. Das weiß er auch.«

Matlock sah sie an. Natürlich wußte das Greenberg; sie wußte es auch, dachte er. »Es wird noch sehr viel Schmerz geben; vielleicht mehr, als gerechtfertigt ist.«

»Das werden sie dir sagen. Sie sagen dir, du sollst es sie auf ihre Art tun lassen. Lautlos und effizient, ohne irgend jemand auf die Zehen zu treten. Für alle.«

»Vielleicht ist es so am besten; vielleicht haben sie recht.«

»Du glaubst das keine Sekunde lang.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Sie gingen eine Weile schweigend dahin. Der Hafendamm lag jetzt vor ihnen, mit Felsen, die vor Jahrzehnten, vielleicht vor Jahrhunderten aufgehäuft waren, um eine Strömung zu bändigen, die schon lange vergessen war. Jetzt wirkte die Mole wie von der Natur geschaffen.

So wie Nimrod ein Naturphänomen geworden war, eine logische Ausdehnung des Erwarteten; unerwünscht, aber nichtsdestoweniger erwartet. Etwas gegen das man einen unsichtbaren Kampf führte.

Mini-Amerika ... unter der Oberfläche.

Firmenpolitik, Mann.

Überall.

Der Jäger, die Erbauer. Die Mörder und ihr Opfer schlossen ein Bündnis.

Sehen Sie die Kinder. Die begreifen ... Wir haben sie in unseren Dienst genommen.

Die Führer lernen nie.

Ein Mikrokosmos des Unvermeidbaren? Unabwendbar, weil die Bedürfnisse echt waren? Seit Jahren echt gewesen waren?

Und doch würden die Führer nichts lernen.

»Jason hat einmal gesagt, daß die Wahrheit weder gut noch böse ist. Nur Wahrheit. Deshalb hat er mir das hier geschickt.« Matlock setzte sich auf einen großen flachen Felsbrocken; Pat stand neben ihm. Die Flut kam jetzt herein, und die Gischthauben der kleinen Wellen spritzten nach oben. Pat nahm ihm die Zeitung weg.

»Dies ist also die Wahrheit.« Eine Feststellung.

»Ihre Wahrheit. Ihr Urteil. Man braucht nur offenkundige Etiketten aufzukleben und das Spiel fortzusetzen. Die Braven und die Bösen. Der Sheriff und sein Aufgebot werden den Paß noch rechtzeitig erreichen. Genau rechtzeitig. Diesmal.«

»Und was ist deine Wahrheit?«

»Ich werde zurückkehren und die Geschichte erzählen. Ganz.«

»Sie werden anderer Ansicht sein. Sie werden dir Gründe nennen, warum du das nicht tun solltest. Hunderte von Gründen.«

»Sie werden mich nicht überzeugen.«

»Dann werden sie gegen dich sein. Sie haben gedroht, sie werden keine Einmischung dulden. Das will Jason dir mitteilen.«

»Er will, daß ich darüber nachdenke.«

Pat hielt die Zeitung vor sich und riß jetzt ein hölzernes Streichholz an der trockenen Fläche eines Felsbrockens an.

Das Papier brannte zögernd, an einigen Stellen hatte die Gischt es durchnäßt. Aber es brannte.

»Ein sehr eindrucksvolles Grabfeuer ist das nicht«, sagte Matlock.

»Es wird reichen, bis wir zurückkehren.«

1

Loring verließ das Justizministerium durch den Seitenausgang und sah sich nach einem Taxi um. Es war fast halb sechs, ein Freitag im Frühling, und die Straßen Washingtons waren völlig verstopft. Loring stand am Straßenrand und hob die linke Hand, hoffte auf sein Glück. Er war gerade im Begriff aufzugeben, als ein Taxi, das dreißig Fuß weiter unten an der Straße einen Fahrgast aufgenommen hatte, vor ihm anhielt.

»Fahren Sie in östlicher Richtung, Mister? Der Herr hat gesagt, es würde ihm nichts ausmachen.«

Loring war es immer peinlich, wenn so etwas geschah. Er zog unbewußt den rechten Arm zurück, so daß sein Ärmel den größten Teil seiner Hand bedeckte – und damit die dünne, schwarze Kette, die sich um sein Handgelenk schlang und es mit dem Griff der Aktentasche verband.

»Danke, sehr liebenswürdig. Aber ich muß an der nächsten Ecke abbiegen.«

Er wartete, bis das Taxi sich wieder in den Verkehrsstrom eingereiht hatte, und setzte dann sein vergebliches Winken fort.

Gewöhnlich war sein Geist in einer solchen Lage wach, waren seine Gefühle auf Wettbewerb ausgerichtet. Normalerweise pflegten seine Augen dann in beide Richtungen zu huschen, nach Taxis zu suchen, die gerade im Begriff waren, ihre Fahrgäste aussteigen zu lassen, suchten die Ecken nach den schwach beleuchteten Lichtzeichen auf dem Dach ab, die anzeigten, daß dieses spezielle Fahrzeug zu haben war, wenn man nur schnell genug rannte.

Aber heute war Ralph Loring gar nicht nach Laufen zumute. An diesem Freitag stand sein ganzes Bewußtsein unter dem Druck einer schrecklichen Realität. Er war gerade Zeuge gewesen, wie man einen Mann zum Tode verurteilt hatte. Einen Mann, dem er noch nie begegnet war, aber von dem er viel wußte. Ein Mann von dreiunddreißig Jahren, der in einer kleinen Stadt in New England, vierhundert Meilen entfernt, lebte und nichts von der Existenz Lorings wußte, geschweige denn von dem Interesse, das das Justizministerium ihm entgegenbrachte.

Lorings Gedanken kehrten immer wieder in den großen Konferenzsaal mit dem mächtigen rechteckigen Tisch zurück, an dem die Männer saßen, die das Urteil gefällt hatten.

Er hatte heftigen Widerstand geleistet. Das war das mindeste, was er für den Mann tun konnte, dem er nie begegnet war, den Mann, den man mit solcher Präzision in eine solch unerträgliche Position manövrierte.

»Darf ich Sie darauf hinweisen, Mr. Loring«, sagte ein stellvertretender Staatsanwalt, der einmal Marinerichter gewesen war, »daß man in jeder Kampfsituation einige grundlegende Risiken eingeht. Man erwartet immer einen gewissen Prozentsatz an Ausfällen.«

»Die Umstände sind hier anders. Dieser Mann ist nicht ausgebildet. Er wird nicht wissen, wer oder wo der Feind ist. Wie könnte er das? Wir wissen es selbst nicht.«

»Genau.« Diesmal hatte ein weiterer stellvertretender Staatsanwalt gesprochen. Er stammte aus irgendeiner Rechtsabteilung einer großen Firma. Ein Mann, der Ausschußsitzungen liebte und, wie Loring vermutete, überhaupt nicht imstande war, ohne einen solchen Ausschuß Entscheidungen zu treffen. »Unser Objekt ist hochgradig beweglich. Sehen Sie sich doch das psychologische Profil an: ›defekt, aber außergewöhnlich mobil‹. Genauso steht es da. Er ist die logische Wahl.«

»›Defekt, aber mobil‹! Was, um Himmels willen, bedeutet das? Darf ich diesen Ausschuß daran erinnern, daß ich fünfzehn Jahre im Feld gearbeitet habe. Psychologische Profile sind nur Richtlinien aus einem groben Raster, aufs Geratewohl getroffen. Ich würde ebensowenig einen Mann mit einem Infiltrationsproblem betrauen, ohne ihn gründlich zu kennen, wie ich die Verantwortung für ein NASA-Projekt übernehmen würde.«

Der Vorsitzende des Ausschusses, ein Profi, der Karriere gemacht hatte, hatte Loring geantwortet.

»Ich kann Ihre Vorbehalte verstehen; normalerweise würde ich Ihnen beipflichten. Aber hier handelt es sich nicht um normale Umstände. Wir haben kaum drei Wochen Zeit. Der Zeitfaktor ist wichtiger als die üblichen Vorsichtsmaßnahmen.«

»Das ist ein Risiko, mit dem wir leben müssen«, sagte der ehemalige Marinerichter würdevoll.

»Sie leben ja nicht damit«, erwiderte Loring.

»Wollen Sie von dem Kontakt entbunden werden?« Der Vorsitzende meinte das Angebot absolut ehrlich.

»Nein, Sir. Ich werde es tun. Widerstrebend. Ich möchte, daß das festgehalten wird.«

»Eines noch, ehe wir die Sitzung schließen.« Der Mann aus der Rechtsabteilung beugte sich vor. »Und das kommt von ganz oben. Wir waren alle übereinstimmend der Ansicht, daß unser Objekt hochgradig motiviert ist. Das geht ganz deutlich aus dem Profil hervor. Ebenso klar muß aber gesagt werden, daß jede Unterstützung, die diesem Ausschuß seitens des Objekts zuteil wird, aus freien Stücken und freiwillig gegeben wird. Wir sind in dem Punkt leicht verletzbar. Wir können nicht, ich wiederhole, können unter keinen Umständen Verantwortung übernehmen. Wenn es möglich ist, sollte aus den Akten hervorgehen, daß das Objekt an uns herangetreten ist.«

Ralph Loring hatte sich angewidert von dem Mann abgewandt.

Der Verkehr war inzwischen eher noch dichter geworden. Loring hatte sich schon beinahe dafür entschieden, die ungefähr zwanzig Blocks bis zu seiner Wohnung zu Fuß zu gehen, als neben ihm ein weißer Volvo anhielt.

»Steigen Sie ein! Mit so erhobener Hand sehen Sie ja albern aus.«

»Oh, Sie sind es. Vielen Dank.« Loring öffnete die Tür und schob sich auf den engen Vordersitz. Er stellte sich die Aktentasche auf den Schoß.

Er brauchte die dünne schwarze Kette um sein Handgelenk nicht zu verbergen. Cranston war ebenfalls ein Außendienst-Mann, ein Spezialist für Übersee. Cranston hatte den größten Teil der Vorarbeiten für den Auftrag geleistet, für den Loring jetzt verantwortlich war.

»Das war eine lange Sitzung. Haben Sie etwas erreicht?«

»Grünes Licht.«

»Höchste Zeit.«

»Wir hatten zwei stellvertretende Staatsanwälte und ein besorgtes Memorandum vom Weißen Haus.«

»Gut. Die Geo-Abteilung hat heute morgen die letzten Berichte von Force-Mediterranean bekommen. Eine Unmenge von Routen sind geändert worden. Alles bestätigt. Die Felder in Ankara und in Konya im Norden, die Projekte in Sidi Barrani und Rashid, selbst die algerischen Kontingente reduzieren systematisch ihre Produktion. Das wird recht schwierig werden.«

»Was zum Teufel wollen Sie denn? Ich dachte, es ginge darum, sie auszumerzen. Ihr seid doch nie zufrieden.«

»Das wären Sie auch nicht. Routen, die wir kennen, können wir unter Kontrolle halten; aber was um Gottes willen wissen wir schon von Orten wie ... Porto Belocruz, Pilcomayo, ein halbes Dutzend Namen in Paraguay, Brasilien und Guayana, die keiner aussprechen kann? Die Dinge haben sich völlig verändert, Ralph.«

»Dann holen Sie doch die Südamerika-Spezialisten. Die CIA wimmelt doch förmlich von den Leuten.«

»Geht nicht. Nicht einmal Karten dürfen wir verlangen.«

»Das ist doch albern.«

»Das ist Spionage. Wir halten uns sauber. Wir gehen streng nach den Regeln von Interpol vor; keine Sondertouren. Ich dachte, das wissen Sie.«

»Weiß ich auch«, erwiderte Loring müde. »Trotzdem ist es albern.«

»Sie kümmern sich um New England, USA. Wir übernehmen die Pampas oder was sie sonst sind – so läuft das.«

»New England, USA, ist ein verdammter Mikrokosmos. Das ist es, was mir Angst macht. Was ist denn aus all diesen poetischen Schilderungen von rustikalen Gartenzäunen, Yankeegeist und mit Efeu bedeckten Ziegelmauern geworden?«

»Die Poesie ist anders geworden. Sie müssen eben zusehen, daß Sie da irgendwie mitkommen.«

»Ihr Mitgefühl ist überwältigend. Vielen Dank.«

»Sie klingen so entmutigt.«

»Die Zeit reicht nicht ...«

»Das tut sie doch nie.« Cranston lenkte den kleinen Wagen in eine schnellere Spur, nur um dann an der Ecke Nebraska und Achtzehnte Straße festzustellen, daß die Spur verstopft war. Seufzend schaltete er in den Leerlauf und zuckte die Achseln. Er sah zu Loring hinüber, der seinerseits ausdruckslos die Windschutzscheibe anstarrte. »Zumindest haben Sie grünes Licht bekommen. Das ist schon etwas.«

»Sicher. Aber das falsche Personal.«

»Oh ..., verstehe. Ist er das?« Cranston deutete mit einer Kopfbewegung auf Lorings Aktentasche.

»Das ist er. Vom Tag seiner Geburt an.«

»Wie heißt er denn?«

»Matlock. James B. Matlock II. Das B steht für Barbour, sehr alte Familie — zwei sehr alte Familien. James Matlock, B.A., M.A., Ph.D. Eine Koryphäe auf dem Gebiet der gesellschaftlichen und politischen Einflüsse auf die Literatur des Elisabethanischen Zeitalters. Was sagen Sie jetzt?«

»Du großer Gott! Und das ist seine Qualifikation? Wo fängt er denn an, Fragen zu stellen? Beim Fakultätstee für pensionierte Professoren?«

»Nein. Das wäre nicht so schlimm; jung genug ist er. Seine Qualifikation wird von der Sicherheitsabteilung mit ›defekt, aber außergwöhnlich mobil‹ umschrieben. Ist das nicht ein reizender Satz?«

»Richtig anregend. Und was soll das bedeuten?«

»Das soll einen Mann beschreiben, der nicht besonders nett ist. Wahrscheinlich wegen irgendwelcher dunkler Punkte in seinen Militärakten oder einer Scheidung – ich bin sicher, daß es diese Militärgeschichte ist –, aber er ist trotz dieses unüberwindlichen Handikaps sehr beliebt.«

»Ich mag ihn bereits.«

»Das ist mein Problem. Ich nämlich auch.«

Die beiden Männer verstummten. Cranston war lange genug im Außendienst tätig gewesen, um es zu spüren, wann ein Kollege für sich alleine denken mußte. Gewisse Schlüsse – oder zumindest Rechtfertigungen – alleine ziehen mußte. Die meiste Zeit war das einfach.

Ralph Loring dachte über den Mann nach, dessen Leben so vollständig in seiner Aktentasche ruhte, aus einem Dutzend Datenbanken zusammengezogen. James Barbour Matlock war sein Name, aber die Person, die hinter dem Namen stand, wollte noch keine Form annehmen. Und das störte Loring: Matlocks Leben war von unangenehmen, ja gewaltsamen Ungereimtheiten bestimmt worden.

Er war der einzige überlebende Sohn zweier ältlicher, ungemein wohlhabender Eltern, die ihre Pension unter sehr angenehmen Lebensumständen in Scarsdale, New York, verlebten. Die Ausbildung, die er mitgemacht hatte, war typisch für das Establishment der Ostküste: Andover und Amherst, in der angemessenen Erwartung einer beruflichen Karriere in Manhattan – im Bankwesen, als Makler oder in der Werbebranche. In den Aufzeichnungen, die seine Schulzeit und seine frühen Universitätsjahre schilderten, gab es nichts, was auf eine Abweichung von diesem Muster deutete. Tatsächlich schien seine Verehelichung mit einem Mädchen aus der prominenten Gesellschaft von Greenwich das noch zu bestätigen.

Und dann widerfuhr James Barbour Matlock einiges, und Loring wünschte, er könnte es verstehen. Zuerst die Militärzeit.

Es war Anfang der sechziger Jahre, und wenn Matlock einer sechsmonatigen Verlängerung seiner Dienstzeit zugestimmt hätte, hätte er irgendwo ein bequemes Leben hinter einem Schreibtisch, als Offizier in der Zahlmeisterei oder dergleichen, verleben können — wahrscheinlich, wenn man die Beziehungen seiner Familie bedachte, sogar in Washington oder New York. Statt dessen las sich seine Dienstakte wie die eines Halbstarken: eine Anzahl von Verstößen und Insubordinationen, die ihm einen höchst unerwünschten Einsatz eintrugen — Vietnam und die dort schnell eskalierenden Feindseligkeiten. Als er dann im Mekong Delta war, trug ihm sein militärisches Verhalten zwei summarische Kriegsgerichtsurteile ein.

Und doch schien hinter seinem Verhalten keinerlei ideologische Motivation zu stehen, nur eine schlechte Anpassung  – wenn man überhaupt von Anpassung reden konnte.

Seine Rückkehr ins Zivilleben zeichnete sich durch weitere Schwierigkeiten aus, zuerst mit seinen Eltern und dann mit seiner Frau. Unerklärlicherweise nahm sich James Barbour Matlock, dessen schulische Karriere durchaus die eines Gentleman, wenn auch keine hervorragende, gewesen war, eine kleine Wohnung in Morningside Heights und trat in die Columbia Universität ein, mit dem Ziel, sich dort zu habilitieren.

Seine Frau ertrug das dreieinhalb Monate lang, entschied sich dann für eine unauffällige Scheidung und verließ Matlocks Leben.

Die folgenden paar Jahre boten nur wenig Interessantes. Matlock, der Unverbesserliche, war im Begriff, Matlock, der Gelehrte, zu werden. Er arbeitete unermüdlich, erhielt sein Master’s Degree in vierzehn Monaten und zwei Jahre später den Doktortitel. Es kam zu einer Art Aussöhnung mit seinen Eltern und anschließend einer Stellung im English Department der Carlyle Universität in Connecticut. Seitdem hatte Matlock eine Anzahl Bücher und Artikel veröffentlicht und sich in der akademischen Gemeinschaft eine beneidenswerte Reputation erworben. Er war offensichtlich populär – »außergewöhnlich mobil« (ein verdammt alberner Ausdruck); er erfreute sich bescheidenen Wohlstands und hatte offensichtlich die streitsüchtigen Wesenszüge abgelegt, die er während seiner aggressiven Jahre an den Tag gelegt hatte. Natürlich hatte er kaum Anlaß, unzufrieden zu sein, dachte Loring. James Barbour Matlock II. hatte sein Leben mit angenehmer Routine erfüllt; er war ringsum abgesichert, was auch ein Mädchen einschloß. Augenblicklich unterhielt er mit angemessener Diskretion eine Beziehung zu einer Studentin der oberen Semester, die Patricia Ballantyne hieß. Sie unterhielten separate Wohnungen, waren aber nach den Akten liiert. Soweit festzustellen war, stand jedoch keine Verehelichung bevor. Das Mädchen war damit beschäftigt, ihre Doktorarbeit in Archäologie abzuschließen, anschließend erwarteten sie ein Dutzend Stipendien. Stipendien, die in ferne Länder und zu unbekannten Fakten führten. Patricia Ballantyne war nicht der Typ, der heiratete; wenigstens nicht nach Ansicht der Datenbanken.

Aber wie stand es um Matlock? überlegte Ralph Loring. Was entnahm er den Fakten? Wie konnten sie seine Wahl rechtfertigen?

Das konnten sie nicht. Unmöglich. Nur ein ausgebildeter Profi konnte den Forderungen der gegenwärtigen Lage gerecht werden. Die Probleme waren viel zu kompliziert, wimmelten für einen Amateur geradezu von Fußangeln.

Die schreckliche Ironie daran war, daß dieser Matlock, wenn er Fehler machte und in diesen Fußangeln hängen blieb, viel mehr und viel schneller erreichen konnte als jeder Profi.

Und dabei sein Leben verlieren.

»Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß er akzeptieren wird?« Cranston näherte sich inzwischen Lorings Wohnung und begann neugierig zu werden.

»Was? Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

»Welches Motiv hat der Mann denn zu akzeptieren? Warum sollte er denn zusagen?«

»Ein jüngerer Bruder. Zehn Jahre jünger, um es genau zu sagen. Die Eltern sind ziemlich alt. Sehr reich und sehr distanziert. Dieser Matlock gibt sich die Schuld.«

»Wofür?«

»Den Bruder. Er hat sich vor drei Jahren mit einer Überdosis Heroin umgebracht.«

 

Ralph Loring steuerte seinen gemieteten Wagen langsam die breite, von Bäumen gesäumte Straße entlang, vorbei an den großen alten Häusern, die auf gepflegten Rasenflächen standen. Bei einigen handelte es sich um die Häuser von Verbindungen, aber davon gab es viel weniger, als es noch vor zehn Jahren gegeben hatte. Die gesellschaftliche Exklusivität der fünfziger und der frühen sechziger Jahre war am Schwinden. Einige der großen Gebäude trugen jetzt andere Namen. The House, Aquarius (natürlich), Afro-Commons, Warwick, Lumumba Hall.

Die Carlyle Universität von Connecticut war eine jener mittelgroßen ›Prestige‹-Anstalten, von denen Neuengland wimmelt. Eine Verwaltung unter Leitung ihres brillanten Präsidenten, Dr. Adrian Sealfont, war dabei, dem College eine neue Struktur zu geben, und gab sich Mühe, es in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinüberzuleiten. Es gab natürlich die unvermeidlichen Proteste, die Zahl der Bärte nahm zu und auch die der afrikanischen Seminare als Gegengewicht zu stillem Wohlstand, Club-Blazers und Segelregatten, die von ehemaligen Zöglingen der Anstalt finanziert wurden. Hard Rock und Fakultätstänze suchten nach Möglichkeiten der Koexistenz.

Während Loring sich das friedliche Universitätsgelände im hellen Frühlingssonnenlicht ansah, überlegte er, daß es eigentlich kaum vorstellbar schien, daß eine solche Gemeinschaft wirkliche Probleme barg.

Jedenfalls ganz sicher nicht das Problem, das ihn hierher geführt hatte.

Und doch war es so.

Carlyle war eine Zeitbombe, die, wenn sie einmal detonierte, außergewöhnliche Opfer fordern würde. Und daß sie explodieren würde, war für Loring unvermeidbar. Was vorher geschah, war nicht vorauszusehen. Ihm oblag es, hier lenkend einzugreifen. Und James Barbour Matlock, B.A., M.A., Ph.D., war der Schlüssel dazu.

Loring fuhr an dem attraktiven zweistöckigen Fakultätshaus vorbei, das vier Apartments enthielt, jedes mit separatem Eingang. Es galt als eines der besseren Fakultätshäuser und wurde gewöhnlich von jungen Familien bewohnt, die noch nicht ganz den Status erreicht hatten, dessen es bedurfte, um ein eigenes Haus zugewiesen zu bekommen. Matlocks Wohnung lag im Obergeschoß und blickte nach Westen.

Loring fuhr um den Block herum und parkte auf der anderen Straßenseite vor Matlocks Türe. Er konnte nicht lange bleiben; er drehte sich immer wieder im Sitz herum und sah sich die Wagen und die Sonntagmorgen-Spaziergänger an und vergewisserte sich, daß er nicht seinerseits beobachtet wurde. Das war sehr wichtig. Am Sonntag pflegte der junge Professor, nach den Geheimdienstakten, bis Mittag Zeitung zu lesen. Dann fuhr er zum nördlichen Ende von Carlyle, wo Patricia Ballantyne in einem der Apartments wohnte, die man für graduierte Studenten bereit hielt. Das heißt, er fuhr dann zu ihr, wenn sie nicht die Nacht mit ihm verbracht hatte. Dann pflegten die beiden aufs Land zu fahren, um zu Mittag zu essen. Anschließend kehrten sie entweder in Matlocks Apartment zurück oder fuhren nach Süden, nach Hartford oder New Haven. Es gab natürlich Variationen. Häufig fuhren Matlock und die Ballantyne gemeinsam ins Wochenende und trugen sich irgendwo als Mann und Frau ein. Aber dieses Wochenende nicht. Das hatte man ihm bestätigt.

Loring sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr vierzig, aber Matlock hielt sich noch in seiner Wohnung auf. Die Zeit begann knapp zu werden. In ein paar Minuten erwartete man Loring an der Crescent Street. 217 Crescent. Dort sollte ein Kontakt stattfinden und dann sein zweiter Fahrzeugtausch.

Er wußte, daß für ihn keine Notwendigkeit bestand, Matlock zu beobachten. Schließlich hatte er die Akte gründlich gelesen, sich Dutzende von Fotografien angesehen und sogar kurz mit Dr. Sealfont, dem Präsidenten von Carlyle, gesprochen. Nichtsdestoweniger hatte jeder Agent seine eigenen Arbeitsmethoden. Zu der seinen gehörte, daß er seine Objekte stundenlang beobachtete, ehe er den Kontakt herstellte. Einige Kollegen im Justizministerium behaupteten, daß ihm das ein Gefühl der Macht verliehe. Loring wußte nur, daß es ihm ein Gefühl des Vertrauens vermittelte.

Matlocks Haustüre öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann trat ins Freie. Er trug Khakihosen, Slipper und einen hellbraunen Rollkragenpullover. Loring sah, daß er einigermaßen gut aussah, scharfe Züge und ziemlich langes, blondes Haar hatte. Er vergewisserte sich, daß die Türe abgeschlossen war, setzte eine Sonnenbrille auf und ging um den Bürgersteig herum zu einem kleinen Parkplatz, wenigstens nahm Loring das an. Wenige Minuten später fuhr James Barbour Matlock in einem Triumph-Sportwagen aus der Einfahrt.

Der Agent überlegte, daß sein Objekt wirklich ein angenehmes Leben zu führen schien. Ausreichendes Einkommen, keinerlei Verpflichtungen, Arbeit, die ihm Spaß machte, und sogar eine bequeme Beziehung zu einem attraktiven Mädchen.

Loring überlegte, ob alles für James Barbour Matlock in drei Wochen noch genauso sein würde. Denn Matlocks Welt war im Begriff, in einen Abgrund gestürzt zu werden.

2

Matlock drückte das Gaspedal seines Triumph bis zum Boden durch; der schnittige Wagen vibrierte, als das Tachometer zweiundsechzig Meilen pro Stunde erreichte. Nicht, daß er es eilig hatte – Pat Ballantyne würde nicht weggehen –, er war nur verärgert. Nun, eigentlich nicht verärgert, eher irritiert. Das war er gewöhnlich, wenn er von zu Hause angerufen worden war. Daran würde auch die Zeit nie etwas ändern. Auch Geld nicht, falls er je nennenswerte Beträge verdiente – Beträge, die sein Vater für angemessen hielt. Was ihn so irritierte, war diese Herablassung. Und die wurde schlimmer, je älter sein Vater und seine Mutter wurden. Statt sich mit der Situation abzufinden, hackten sie beständig darauf herum. Sie bestanden darauf, daß er die nächsten Ferien in Scarsdale verbrachte, damit er und sein Vater täglich in die Stadt fahren konnten, um dort die Banken aufzusuchen, die Anwälte. Um sie auf das Unvermeidbare vorzubereiten, falls und wenn es je geschah.

»... Es gibt eine ganze Menge, was du verdauen mußt, mein Sohn«, hatte sein Vater mit Grabesstimme gesagt. »Du bist ja nicht darauf vorbereitet, weißt du ...«

»... Du bist alles, was uns noch bleibt, Liebling«, hatte seine Mutter mit spürbarem Schmerz in der Stimme gesagt.

Matlock wußte, daß sie den Märtyrerabschied von dieser Welt genossen, auf den sie sich vorbereiteten. Sie hatten der Welt ihren Stempel aufgedrückt — zumindest hatte sein Vater das getan. Was ihn freilich immer wieder daran amüsierte, war, daß seine Eltern so stark wie Packesel waren und so gesund wie Wildpferde. Ohne Zweifel würden sie ihn um Jahrzehnte überleben.

In Wahrheit war ihr Wunsch, ihn dort zu haben, viel stärker als der seine. So war es die letzten drei Jahre gewesen, seit Davids Tod. Vielleicht, dachte Matlock, als er vor Pats Apartment anhielt, wurzelte seine Gereiztheit in seiner eigenen Schuld. Was David anging, hatte er nie seinen Frieden mit sich gemacht. Das würde er auch nie.

Und er wollte auch seine Ferien nicht in Scarsdale verbringen. Er wollte die Erinnerungen nicht. Er hatte jetzt jemanden, der ihm half die schrecklichen Jahre zu vergessen – die Jahre des Todes, ohne Liebe, die Jahre der Unschlüssigkeit. Er hatte versprochen, mit Pat nach St. Thomas zu fahren.

 

Die Landgaststätte nannte sich Cheshire Cat. Sie war, wie der Name schon andeutete, sehr britisch. Das Essen war ordentlich, die Drinks reichlich, alles Faktoren, die zur Beliebtheit des Lokales beitrugen. Sie hatten ihre zweite Bloody Mary intus und Roastbeef und Yorkshire Pudding bestellt. In dem geräumigen Speisesaal hielten sich vielleicht ein Dutzend Paare und einige Familien auf. In der Ecke saß ein einzelner Mann, der die New York Times las. Er hatte die Seiten senkrecht gefaltet, so wie man es in der Eisenbahn tat.

»Wahrscheinlich ein zorniger Vater, der hier auf einen Sohn wartet, welcher sich volllaufen lassen möchte. Ich kenne den Typ. Solche Leute fahren jeden Tag im Scarsdale-Zug.«

»Er ist zu entspannt.«

»Die lernen es, innere Spannung zu verbergen. Das wissen nur ihre Apotheker. Das ganze Gelusil.«

»Trotzdem gibt es immer äußere Zeichen, und er hat keine. Er sieht wirklich zufrieden aus. Du hast unrecht.«

»Du kennst bloß Scarsdale nicht. Selbstzufriedenheit ist dort ein eingetragenes Markenzeichen. Ohne das kann man kein Haus kaufen.«

»Weil wir schon davon reden, was wirst du jetzt machen? Ich finde wirklich, wir sollten St. Thomas streichen.«

»Ich nicht. Der Winter war hart; wir haben uns ein wenig Sonne verdient. Außerdem sind sie sehr unvernünftig. Ich will gar nichts über die Matlock-Manipulationen lernen; das ist Zeitvergeudung. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß sie je wirklich sterben, werden das andere übernehmen.«

»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, daß das Ganze nur ein Vorwand ist. Die wollen dich eine Weile um sich haben. Ich finde es rührend, daß sie es so anpacken.«

»Es ist gar nicht rührend; das ist ein typischer, durchsichtiger Versuch meines Vaters, mich zu bestechen ... Schau. Unser Bahnfahrer hat aufgegeben.« Der Mann mit der Zeitung leerte sein Glas und erklärte der Bedienung, daß er nichts zu essen bestellen würde. »Ich wette, er hat sich gerade die Haare und die Lederjacke seines Sohnes vorgestellt – vielleicht auch die nackten Füße – und dann hat er es mit der Angst bekommen.«

»Ich glaube, du wünschst das dem armen Mann nur.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Da bin ich zu mitfühlend. Ich kann nur den Ärger nicht ertragen, der immer mit dieser Auflehnung einhergeht. Ich schäme mich dann immer.«

»Du bist ein sehr komischer Mann, Schütze Matlock«, sagte Pat und spielte damit auf Matlocks ruhmlose Militärlaufbahn an. »Wenn wir gegessen haben, möchte ich nach Hartford fahren. Dort wird ein guter Film gespielt.«

»Oh, tut mir leid, das habe ich ganz vergessen. Das geht heute nicht ... Sealfont hat mich heute morgen angerufen, heute abend soll eine Besprechung stattfinden. Er hat gesagt, es wäre wichtig.«

»Worum geht es denn?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es Schwierigkeiten mit den Afrika-Studien. Dieser ›Tom‹, den ich mir von Howard geholt habe ... Ich glaube, er steht eine Spur rechts von Ludwig XIV.«

Sie lächelte. »Wirklich, du bist schrecklich.«

Matlock nahm ihre Hand.

 

Die Residenz – das Wort Haus wäre hier unpassend gewesen — von Dr. Adrian Sealfont war angemessen imposant. Es handelte sich um eine große weiße Villa im Kolonialstil mit breiten Marmorstufen, die zu einer mächtigen Doppeltüre mit Reliefschnitzereien hinaufführten. Die Vorderseite des Gebäudes wurde über die ganze Breite von ionischen Säulen gesäumt. Bei Sonnenuntergang wurden im Rasen verteilte Scheinwerfer eingeschaltet.

Matlock ging die Treppe hinauf und drückte den Klingelknopf. Dreißig Sekunden später wurde er von einem Hausmädchen eingelassen, die ihn durch die Halle in Dr. Sealfonts Bibliothek führte.

Adrian Sealfont stand mit zwei anderen Männern mitten im Raum. Matlock war wie stets von der Persönlichkeit des Mannes beeindruckt. Er war knapp über sechs Fuß groß, hager, mit scharf geschnittenen Zügen, und strahlte eine Wärme aus, die alle erfaßte, die in seiner Nähe waren. Von ihm ging eine echte Bescheidenheit aus, die seinen brillanten Geist vor allen verbarg, die ihn nicht kannten. Matlock schätzte ihn ungemein.

»Hello, James.« Sealfont streckte Matlock die Hand hin. »Mister Loring, darf ich Ihnen Dr. Matlock vorstellen?«

»Wie geht es Ihnen? Tag, Sam.« Damit begrüßte Matlock den dritten Mann, Samuel Kressel, den Dekan von Carlyle.

»Hello, Jim.«

»Wir sind uns schon irgendwo begegnet, nicht wahr?« fragte Matlock und sah Loring an. »Ich versuche, mich zu erinnern.«

»Das wäre mir sehr peinlich.«

»Da wette ich!« lachte Kressel, dessen Sinn für Humor immer etwas beleidigend war. Matlock mochte Sam Kressel auch. Mehr weil er wußte, welchen Schmerz ihm seine Stellung bereitete – das, was er ertragen mußte –, als um des Mannes selbst willen.

»Was wollen Sie damit sagen, Sam?«

»Das will ich beantworten«, unterbrach Adrian Sealfont. »Mr. Loring ist für die Bundesregierung tätig, im Justizministerium. Ich habe mich bereit erklärt, ein Zusammentreffen von Ihnen drei zu arrangieren, aber dem, was Mr. Loring und Sam gerade erwähnten, habe ich nicht zugestimmt. Offenbar hat es Mr. Loring für richtig gehalten, Sie — wie sagt man da? – zu überwachen. Ich habe mich dagegen verwahrt.« Sealfont sah Loring gerade an.

»Sie haben mich was?« fragte Matlock leise.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Loring. »Das ist eine persönliche Idiosynkrasie und hat mit unserem Anliegen nichts zu tun.«

»Sie sind der Bahnfahrer im Cheshire Cat.«

»Der was?« fragte Sam Kressel.

»Der Mann mit der Zeitung.«

»Richtig. Ich wußte, daß Sie mich heute nachmittag bemerkt hatten. Ich dachte, Sie würden mich sofort wiedererkennen. Ich wußte nicht, daß ich wie ein Bahnfahrer aussah.«

»Das war die Zeitung. Wir nannten Sie einen zornigen Vater.«

»Das bin ich manchmal. Aber nicht oft. Meine Tochter ist erst sieben.«

»Ich denke, wir sollten anfangen«, sagte Sealfont. »Übrigens, James, ich bin erleichtert, daß Sie so verständnisvoll reagieren.«

»Ich reagiere nur mit Neugierde. Und mit einem gesunden Maß an Furcht. Um ehrlich zu sein, ich habe schreckliche Angst.« Matlock lächelte zögernd. »Was soll das Ganze?«

»Trinken wir doch einen Schluck, während wir uns unterhalten.« Adrian Sealfont erwiderte sein Lächeln und ging zu seiner mit Kupferblech überzogenen Bar in der Ecke. »Sie nehmen doch Bourbon und Wasser, nicht wahr, James? Und Sam, einen doppelten Scotch auf Eis, stimmt’s? Wie stehts mit Ihnen, Mr. Loring?«

»Scotch wäre mir recht. Nur Wasser.«

»Kommen Sie, James, helfen Sie mir.« Matlock ging zu Sealfont hinüber und half ihm.

»Ich muß wirklich über Sie staunen, Adrian«, sagte Kressel und nahm in einem Ledersessel Platz. »Wie kommen Sie dazu, sich die Trinkgewohnheiten Ihrer Untergebenen zu merken?«

Sealfont lachte. »Das hat einen ganz logischen Grund. Und es beschränkt sich ganz sicherlich nicht auf meine ... Kollegen. Ich habe für diese Anstalt ganz bestimmt mehr Geld mit Alkohol zusammengebracht als mit Hunderten von Berichten, die die besten analytischen Geister den entsprechenden Kreisen vorgelegt haben.« Adrian Sealfont hielt inne und lachte glucksend – ein Lachen, das ebenso sich selbst, wie den im Raum Anwesenden galt. »Einmal habe ich vor der Organisation der Universitätspräsidenten eine Rede gehalten. Als dann die Diskussion eröffnet wurde, fragte man mich, welchem Umstand ich Carlyles reichliche Dotationen zuschrieb ... Ich fürchte, meine Antwort war, ›jenen alten Völkern, die die Kunst der Gärung der Weintraube erfunden haben‹ ... Meine verstorbene Frau brüllte vor Lachen, sagte mir aber nachher, ich hätte den Stiftungsfond um ein Jahrzehnt zurückgeworfen.«

Die drei Männer lachten; Matlock verteilte die Gläser.

»Auf Ihr Wohl«, sagte der Präsident von Carlyle und hob bescheiden sein Glas. Als alle getrunken hatten, meinte er: »Das ist jetzt etwas peinlich, James ... Sam. Vor einigen Wochen hat Mr. Lorings Vorgesetzter mit mir Verbindung aufgenommen. Er bat mich, nach Washington zu kommen, in einer Angelegenheit, die von äußerster Wichtigkeit sei und sich auf Carlyle beziehe. Ich kam der Bitte nach und wurde mit einer Situation vertraut gemacht, die ich mich immer noch zu glauben weigere. Gewisse Informationen, die Mr. Loring Ihnen vermitteln wird, scheinen an der Oberfläche betrachtet unwiderlegbar. Aber dies ist die Oberfläche: Gerüchte; aus dem Zusammenhang gerissene Erklärungen, schriftlich und verbal; Indizienbeweise, die vielleicht ohne Bedeutung sind. Andererseits ist es natürlich möglich, daß die Vermutungen Substanz haben, wenigstens in gewissem Maße. Und wegen dieser Möglichkeit habe ich dieser Zusammenkunft zugestimmt. Ich möchte jedoch eindeutig klarstellen, daß ich nichts damit zu tun haben werde. Carlyle wird nichts damit zu tun haben. Was immer in diesem Raum jetzt geschehen wird, wird von mir gebilligt, aber nicht offiziell sanktioniert. Sie handeln als Einzelpersonen, nicht als Mitglieder der Fakultät oder der Leitung von Carlyle. Falls Sie überhaupt beschließen, tätig zu werden ... So, James, wenn das Ihnen jetzt nicht ›Angst macht‹, weiß ich nicht, was sonst.« Sealfont lächelte wieder, aber das war nur Fassade.

»Es macht mir Angst«, sagte Matlock tonlos.

Kressel stellte sein Glas ab und beugte sich in seinem Sessel nach vorne. »Sollen wir aus dem, was Sie gesagt haben, entnehmen, daß Sie Lorings Anwesenheit in diesem Raum nicht gutheißen? Oder das, was er will, was immer es auch sein mag?«

»Das ist eine Art Grauzone. Wenn seine Behauptungen Substanz haben, kann ich nicht gut den Rücken kehren. Andererseits wird heutzutage kein Universitätspräsident auf bloße Spekulationen hin offen mit einer Regierungsbehörde kollaborieren. Sie werden mir verzeihen, Mr. Loring, aber zu viele Leute in Washington haben die akademischen Gemeinschaften ausgenützt. Ich beziehe mich dabei ganz speziell auf Michigan, Columbia und Berkeley ... unter anderem. Einfache Polizeiangelegenheiten sind eine Sache, Infiltration ... nun, das ist etwas völlig anderes.«

»Infiltration? Das ist ein ziemlich starkes Wort«, sagte Matlock.

»Vielleicht ist es zu stark. Ich will die Terminologie Mr. Loring überlassen.«

Kressel griff nach seinem Glas. »Darf ich fragen, weshalb wir – Matlock und ich – ausgewählt worden sind?«

»Auch darauf wird Mr. Loring eingehen. Aber da ich dafür verantwortlich bin, daß Sie hier sind, Sam, will ich Ihnen meine Gründe nennen. Als Dekan sind Sie besser als irgend jemand sonst auf die Angelegenheiten des Campus eingestimmt... Sie werden es bemerken, wenn Mr. Loring oder seine Kollegen ihre Grenzen überschreiten ... Ich glaube, das ist alles, was ich zu sagen habe. Ich muß jetzt in die Versammlung. Dieser Filmemacher, Strauss, spricht heute abend, und ich muß mich zeigen.«

Sealfont ging zur Bar und stellte sein Glas auf das Tablett. Die drei anderen Männer erhoben sich.

»Eines noch, ehe Sie gehen«, sagte Kressel mit gerunzelter Stirn. »Angenommen, einer von uns oder auch wir beide beschließen, daß wir nichts mit Mr. Lorings ... Geschäften zu tun haben wollen?«

»Dann lehnen Sie ab.« Adrian Sealfont ging zur Türe der Bibliothek. »Sie haben keinerlei Verpflichtungen. Das möchte ich klarstellen. Mr. Loring ist sich darüber ebenfalls im klaren. Guten Abend, Gentlemen.« Sealfont ging in die Halle hinaus und schloß die Türe hinter sich.