1. Kapitel

Ein kleines graues Puscheliges

Eine gute Geschichte muss mindestens tausend Wörter haben, sagt der Uhu, und der muss es wissen, denn er ist das schlauste, weiseste Tier und der beste Geschichtenerzähler zwischen Sommerwiese und Winterwald (behauptet er), auch wenn es natürlich nicht immer die reine Wahrheit ist, was er erzählt, aber das können wir ihm vielleicht verzeihen.

Und spannend muss eine Geschichte sein, sagt der Uhu, und lustig, und manchmal, aber wirklich nur manchmal!, auch ein kleines bisschen traurig. (Nur ein ganz kleines bisschen, versprochen.) Und am Ende müssen alle wieder fröhlich sein.

Das hat er gesagt, und dann hat er mir die Geschichte von Blau-Auge erzählt; und dir erzähle ich sie jetzt weiter, wie er sie erzählt hat (oder vielleicht ein ganz kleines bisschen anders) – aber ob es tausend Wörter werden, müssen wir erst mal sehen. Wenn nicht, ist das vielleicht auch nicht so schlimm: Ich glaube nämlich, dass der Uhu nur angegeben hat und gar nicht bis tausend zählen kann.

Die Geschichte von Blau-Auge fängt genau in dem Augenblick an, als Mama Reh unter dem Heckenrosenstrauch ein kleines graues Puscheliges entdeckt, das den Kopf zwischen seinen Pfoten versteckt.

»Mama!«, weint das kleine graue Puschelige. »Mama!«

»Hat das hier schon die ganze Zeit gelegen?«, fragt Mama Reh verblüfft. »Ich hab es gar nicht gesehen, als wir gekommen sind!« Und sie klingt immer noch ein bisschen außer Atem.

»He, du!«, sagt Papa Kaninchen und hoppelt etwas näher heran. (Auch er schnauft immer noch.) Aber das kleine graue Puschelige anzustupsen, traut er sich denn doch nicht, weil man nie wissen kann, was so ein kleines graues Puscheliges vielleicht sein könnte. »Wer bist denn du? Wie heißt denn du?«

»Mama!«, weint das kleine graue Puschelige wieder. »Mama!«

»Heißt es Mama?«, fragt Glanzfell, das kleinste Rehkitz von allen, und reißt seine Augen weit auf. »Darf das so heißen?« Und daran merkst du schon, Glanzfell ist wirklich noch sehr klein und dumm.

Darum gibt ihr auch niemand eine Antwort.

»Hat irgendwer schon mal so was gesehen, gesehen?«, ruft Mama Waldmaus und guckt suchend und ein bisschen wirr von rechts nach links und von hinten nach vorne und wieder zurück. Sie hat alle Pfoten voll damit zu tun, immer wieder ihre fünf Jungen einzufangen, die erst seit ein paar Tagen die Augen geöffnet haben und nun immerzu unterwegs sind, um die Welt zu erkunden. »Es ist grau wie ich, es ist grau wie ich, aber ein Verwandter von mir ist es nicht, ist es nicht!«

»Das hätte auch niemand vermutet, Waldmaus!«, sagt Papa Wildschwein, der Keiler, schlecht gelaunt. »Immerhin ist es ja tausendmal größer als du!« (Ich weiß gar nicht, ob der Keiler bis tausend zählen kann. Trotzdem, größer als Mama Waldmaus ist das kleine graue Puschelige auf alle Fälle, viel, viel größer, das ist wahr.)

»Nun, wie ihr wisst, bin ich fast ein Uhu!«, ruft da der Waldkauz von einem Zweig irgendwo über ihren Köpfen und plustert sich auf. »Und ist der Uhu nicht das weiseste Tier des Waldes? Darum sage ich euch …«

»Ach, papperlapapp!«, sagt Papa Kaninchen. »Immer musst du dich aufspielen, Waldkauz, auch wenn jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick dafür ist!«

Aber wenn der Waldkauz sich wichtig fühlt, kann nicht mal eine Beleidigung ihn stoppen.

»Darum sage ich euch: Das ist ein Bär!«

»Ein Bär!«, ruft Mama Waldmaus und macht sich schon zur Flucht bereit.

Aber: »Hallo?«, flüstert Mama Reh da ganz leise, und jetzt wagt sie sich sogar ziemlich nah an das kleine graue Puschelige heran. »Hallo, kleines graues Puscheliges? Du musst doch keine Angst vor uns haben! Wir tun dir doch nichts!«

»Das steht noch nicht fest, das ist längst nicht beschlossen!«, ruft der Waldkauz. »Bären, das weiß jede Eule, sind gefährlich! Wenn es also ein Bär ist …«

Die Dachsfamilie hat sich bisher ein bisschen entfernt von den anderen aufgehalten, aber nun drängt Papa Dachs sich nach vorne.

»Langsam kann ich das dumme Geschwätz nicht mehr ertragen!«, ruft er. »Nass wie ein Otter, das arme Kind! Das ist ein Fuchs, hat denn noch niemand von euch einen kleinen Fuchs gesehen? Meine Familie hat viele Sonnenwenden mit einer Fuchsfamilie im selben Bau gelebt, darum erkenne ich einen jungen Fuchs an seiner Nasenspitze, selbst wenn er nass ist, glaubt mir!«

»Ein Fuchs?«, flüstert Mama Reh und macht erschrocken einen Satz zurück. »Wirklich ein Fuchs?«

»Nun, da muss ich aufs Schärfste widersprechen!«, ruft der Waldkauz. »Ein Fuchs ist rot, das wissen sogar die Ameisen, und jemand wie ich, der fast ein weiser Uhu ist, weiß das erst recht!«

Aber du fragst dich bestimmt schon die ganze Zeit, wieso all diese Tiere, die doch sonst überhaupt nicht miteinander befreundet sind, sich an diesem Abend unter den Heckenrosensträuchern versammelt hatten, oder? Dann muss ich dir das wohl doch noch schnell erzählen.

2. Kapitel

Das große Feuer

Versammelt hatten sich die Tiere nämlich eigentlich gar nicht, siehst du. Sie waren nur zufällig alle zusammen dort angekommen, nachdem sie in großer Angst aus ihrem Wald geflohen waren, und ein bisschen von dieser Angst steckte ihnen noch immer in den Gliedern.

Die Zeit der Weißdornblüte ging zu Ende, und schon seit Tagen brütete eine schreckliche Hitze über dem Land. Erst in der Dämmerung kamen darum die Tiere aus ihren Höhlen und Bauen und Mulden, um Nahrung zu suchen; aber solange die Sonne am Himmel stand, suchten sie Schutz im Dämmerlicht des Waldes und im Schatten der Hecken, wo die Heckenrosen mit ihrem zarten Rosa zaghaft mit dem kräftigen Pink und Weiß der Hundsrosen wetteiferten. Am Wegrand schleuderte der Löwenzahn federige kleine Fallschirme in die Luft, und die Butterblumen und Kornblumen, der Mohn und das Kälberkraut warteten auf den Besuch der Hummeln. Die ersten Schmetterlinge taumelten von Blüte zu Blüte, und jedes Tier wusste: Schon bald würde jetzt die Zeit der frühen Früchte kommen, und überhaupt waren es die wunderbarsten Tage des Jahres.

Aber nichts kann immer nur wunderbar sein, das weißt du ja auch. Eines Nachmittags kam ein Sturm auf, der schickte Böen aus allen Richtungen, und der Himmel färbte sich auf einmal so schwarz, als wäre es Nacht. Da wussten die Tiere, die schon einmal einen Sommer erlebt hatten, was kommen würde.

Ein Gewitter tobte über das Land, und Blitze zerteilten den Himmel. Sie erleuchteten Felder, Wiesen und Wälder, bevor ihnen ein Donner folgte, so mächtig und laut, dass jedes Tier, das noch die Zeit dazu fand, voller Angst nach einem Unterschlupf suchte. Die Kaninchen huschten in ihre Baue, und Fuchs und Dachs auch; Rehe und Hasen pressten sich in ihre Mulden, und die Vögel verbargen in ihren Nestern die Köpfe im Gefieder; und nur die Tiere, für die es nicht der erste Sommer war, wussten, dass es bald vorbei sein und der Regen alles frisch und neu machen würde.

Aber dieses Mal ging das Gewitter nicht so schnell vorüber. Ein Blitz, der heller war als alle Blitze zuvor, hatte sich eine abgestorbene alte Fichte ausgesucht, die kahl und morsch in den Himmel ragte, und setzte sie in Flammen. Und kaum hatte die Fichte angefangen zu brennen, da sprühten Funken hierhin und dorthin und entzündeten auch die nächsten Bäume um sie herum, und bevor irgendwer etwas tun konnte – aber was hätten die Tiere wohl auch tun sollen? –, stand der ganze Wald in Flammen.

Was blieb ihnen allen da übrig? Sie rannten, so schnell sie konnten: die Familie Wildschwein und die Familie Reh und die wuselige Familie Waldmaus genauso wie Familie Dachs und Familie Fuchs und die Familie Hase und die Familie Kaninchen und die Familie Igel. Die Vögel stoben aus ihren Nestern, und sogar die Fledermäuse, die doch sonst erst in der Dämmerung zu fliegen beginnen, verließen erschrocken den Wald. Und während der Himmel sich öffnete und einen Regenguss zur Erde schickte, wie du vielleicht noch keinen erlebt hast (jedenfalls war er mindestens so mächtig wie der Wasserfall in der Wolfsschlucht), versuchten sie alle verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen.

Weil sie noch gerade rechtzeitig geflüchtet waren, gelang ihnen das auch; und während der Regen allmählich die wütenden Flammen löschte, sammelten sich die Tiere nass und erschöpft unter den Heckenrosensträuchern am Rande der Sommerwiese, wo unsere Geschichte angefangen hat, und da hocken sie jetzt also.

»Wir werden uns wohl eine neue Bleibe suchen müssen!«, sagt Papa Kaninchen und wirft einen Blick zurück, wo schwarz und qualmend die Baumstämme des Sommerwaldes in den allmählich heller werdenden Himmel ragen. »So schnell wird aus unserem Wald nicht wieder ein Zuhause, in dem wir leben können. Die Kinder der Kinder unserer Kinder werden es erleben – aber für uns alle hier heißt es wohl auswandern.«

»Ärgerlich!«, schnaubt Papa Wildschwein, der Keiler. »Wirklich ärgerlich! Und ich befürchte, die letzten Eicheln sind auch alle verbrannt.«

»Aber wo sollen wir denn hin, denn hin?«, jammert Mama Waldmaus und versucht verzweifelt, ihre klitschnassen wuseligen Jungen einzufangen. »Nun hatte ich mein Nest gerade so wunderbar eingerichtet, und jetzt …«

Ja, jedenfalls hocken sie da nun alle unter den tropfenden Heckenrosensträuchern, froh, dass sie gerettet sind, und ein bisschen in Sorge, wo sie wohl ihr neues Zuhause finden werden; und genau das ist der Moment, in dem Mama Reh das kleine graue Puschelige entdeckt. Da will sie eigentlich gerade ihre Kinder zu sich rufen, drei sind es in diesem Frühjahr gewesen; und jetzt eben haben sie die Gelegenheit genutzt, um ihr Fell mit den weißen Punkten trocken zu schütteln und noch schnell ein bisschen bei ihrer Mutter zu trinken, obwohl sie natürlich auch selbst schon Gras und Kräuter fressen können. »Kommt mit, Kinder. Eine schöne neue Mulde können wir uns überall suchen.« Und sie stupst das kleinste ihrer Kinder an, Glanzfell, die du schon kennengelernt hast, damit sie endlich aufbrechen können, als sie alle das Weinen hören.

Da hat unsere Geschichte angefangen, und inzwischen hat Papa Dachs ja schon erklärt, dass das kleine graue Puschelige ein Fuchs ist, und der Waldkauz hat ihm widersprochen; und vielleicht hätten sie die Wahrheit nie herausgefunden, wenn sich jetzt nicht Papa Wildschwein, der Keiler, ungeduldig eingemischt hätte.

»Ich stimme zu, das da ist ein junger Fuchs!«, sagt der Keiler und schnüffelt mit seinem Wildschweinrüssel an dem kleinen grauen Bündel. »Keine Sorge, Waldkauz, rot wird der schon noch ganz von alleine! Aber daran, dass du das nicht weißt, sieht man mal wieder, dass du eben doch kein weiser Uhu bist!«

Und er stupst das kleine graue Puschelige ein winziges bisschen an, aber nur, damit es endlich seinen Kopf zwischen den Pfoten herausziehen und mit ihnen reden soll. »He, du da! Wo ist deine Familie?«

»Mama!«, weint da das kleine graue Puschelige, von dem wir jetzt ja wissen, dass es ein junger Fuchs ist, und es denkt gar nicht daran, den Kopf zu heben. »Mama!«

»Es sagt schon wieder, dass es Mama heißt!«, sagt Glanzfell empört, aber Mama Reh gibt ihr ein Zeichen, dass sie still sein soll.

»Wie kannst du nach seiner Familie fragen, Papa Wildschwein? Du siehst doch wohl, dass es gerade darum weint, weil es seine Familie verloren hat!«

Und dann stupst Mama Reh den kleinen Fuchs noch einmal genauso an wie Papa Wildschwein, nur ein bisschen sanfter vielleicht, und sie schleckt ihm sogar ein wenig über das Fell, als wäre er eins ihrer eigenen Kinder.

»Er sucht seine Mutter, das seht ihr doch alle! Und wenn er hier so ganz alleine liegt …«

»Dann muss man ja befürchten, muss man ja befürchten!«, ruft Mama Waldmaus erschrocken und dreht sich wild im Kreis, als ob sie ihrem eigenen Schwanz hinterherjagt. Ihre Kinder hat sie alle schon ein ganzes Stück entfernt zusammengetrieben; denn einem Fuchs, das weiß jede Waldmaus aus Erfahrung, ist nicht zu trauen. »Dann muss man ja befürchten, dass seine Familie vielleicht im Feuer, im Feuer?«

»Pst, Mama Waldmaus, sei doch still!«, sagt Mama Reh und schleckt dem kleinen Fuchs noch einmal tröstend über sein Fell. »Davon wollen wir nicht reden, von so traurigen Dingen.«

Aber: »Ja, genau das muss man wohl befürchten!«, sagt Papa Kaninchen wichtig. »Dann gibt es für ihn jetzt keine Familie mehr! Oder habt ihr schon einmal von einer Fuchsmutter gehört, die ihr Junges allein lässt, solange sein Fell noch grau ist?«

Das haben sie nicht.

3. Kapitel

Du sollst Blau-Auge heißen

»Aber was soll denn jetzt bloß aus ihm werden?«, flüstert Mama Reh. »Allein kann er doch ganz sicher noch nicht für sich sorgen, und ihr alle wisst, wie viele Gefahren im Wald und auf den Wiesen lauern! Ich habe sogar gehört, in der Wolfsschlucht soll seit Neuestem wieder ein Wolf sein Unwesen treiben, die Amsel hat ihn gesehen!«

»Ein Wolf in der Wolfsschlucht!«, ruft Mama Kaninchen. »Oh!«

»Oder wenn der Kleine hier womöglich einem Zweifüßler begegnet …«, flüstert Mama Reh.

»Einem Zweifüßler, Zweifüßler!«, sagt Mama Waldmaus erschrocken, und sogar die Frischlinge, die frechen Kinder von Papa Wildschwein, dem Keiler, drängen sich bei diesem Wort erschrocken näher an ihre Eltern.

»… oder den Rundfüßlern!«, ruft Mama Reh. »Ihr wisst, bis sich die Blätter an den Bäumen rot färben, sind unsere Kinder ohne uns noch verloren! Wer nimmt sich seiner an? Wir können ihn hier doch nicht so alleine liegen lassen!«

»Nun, auch wenn er grau ist, wenn er grau ist!«, murmelt Mama Waldmaus. »Ihr seht ja, dass ich schon mit meinen eigenen Kindern genug zu tun habe, zu tun habe!«

Das haben die anderen Tiere wirklich gesehen, und außerdem finden sie alle, dass die Waldmaus viel zu winzig ist, um dem Fuchsjungen seine Mama zu ersetzen; aber sie sind zu höflich, um das zu sagen.

»Natürlich sind wir weisen Uhus hilfsbereiter als jedes andere Tier zwischen Winterwald und Sommerwiese!«, ruft von seinem Zweig der Waldkauz und schlägt aufgeregt mit den Flügeln. »Schon allein wegen unserer Klugheit! Aber jeder weiß, dass Füchse gefährlich sind! Und außerdem wird ja wohl jeder einsehen, dass dieses Fuchsjunge kaum hoch in mein Nest fliegen könnte, und wenn es nicht fliegen kann, wie soll ich mich dann darum kümmern?«

Auch da mag kein anderes Tier widersprechen.

»Wie ist es mit dir, Papa Dachs?«, fragt Mama Reh bittend. »Du hast gesagt, deine Familie hätte früher auch schon mit Füchsen in einem Bau gelebt, dann kennst du dich von uns allen doch am besten mit ihnen aus. Nimm den jungen Fuchs doch mit zu euch in deinen Bau, ich glaube, das wäre am klügsten!«

Aber Papa Dachs hat ihnen schon den Rücken zugewandt und sich mit seiner Familie auf den Weg gemacht, um noch vor dem Sonnenuntergang nach einer schönen Stelle für einen neuen Bau zu suchen. »Einem Fuchs ist nicht zu trauen, glaubt mir!«, ruft er über seine Schulter, während seine Frau versucht, ihre Kinder zusammenzuhalten. »Niemals, niemals! Wer einmal mit einem Fuchs zusammengelebt hat, wird niemals wieder … Der Fuchs ist schlau, trickreich und gerissen! Und wer will sich schon um einen kümmern, der ihn nachher doch nur hereinlegt?« Damit fällt er in einen leichten Trott, und da ist ja klar, dass auch vom Dachs keine Hilfe zu erwarten ist.

»Ja, wir werden uns dann auch auf den Weg machen«, sagt Papa Wildschwein, der Keiler. »Ich wüsste auch nicht … Wir könnten ihm ja auch gar nicht helfen, Mama Reh! Soviel ich weiß, fressen Füchse keine Eicheln! Und hat man jemals gehört, dass sie sich so fest an einem Baum schubbern, bis die Rinde sich löst? Was also sollte ich diesem Jungen beibringen, wenn alles, was ich weiß und kann, ihm nichts nützt?«

Und damit ist auch Familie Wildschwein verschwunden.

»Papa Kaninchen?«, bittet Mama Reh. Aber wahrscheinlich weiß sie sowieso schon, dass auch von dieser Seite keine Hilfe kommen wird.

»Wir sind in Eile, Schwester Reh! Wir müssen uns noch einen neuen Bau suchen, bevor es dunkel wird!«, ruft Papa Kaninchen. »Und wenn ich dann meine Kinder darin versammelt habe – acht sind es in diesem Jahr, das hast du ja wohl gesehen! –, dann ist gewiss kein Platz mehr darin für so einen Fremdling, von dem man ja auch gar nicht weiß …«

In diesem Augenblick hebt das kleine graue Puschelige zum ersten Mal ganz vorsichtig seinen Kopf aus den Pfoten, und alle Tiere sehen erstaunt, dass seine Augen so blau sind wie der Sommerhimmel. Und das Erste, worauf sein Blick fällt, ist Mama Reh.

»Mama?«, flüstert das kleine graue Puschelige, und das klingt so bittend und so ängstlich und so verwirrt, dass Mama Reh weiß, jetzt gibt es nur noch eins, was sie tun kann.

»Nun denn, was bleibt mir anderes übrig«, seufzt sie. »Wenigstens heute Abend kannst du mitkommen, kleines graues Puscheliges, ich wüsste nicht, wie das meinen Kindern schaden sollte. Und morgen ist ein neuer Tag, da sehen wir weiter. Aber einfach so liegen lassen kann ich dich hier ja wohl nicht!« Und sie winkt ihren Kindern, ihr zu folgen.

»Ich werde dir natürlich behilflich sein, wo immer ich kann, Schwester Reh, Schwester Reh!«, ruft Mama Waldmaus aufgeregt und bestimmt auch ein wenig erleichtert. »Du wirst sehen, wir Waldmäuse …«

»Lass gut sein, Schwester Waldmaus, vielen Dank!«, sagt Mama Reh, die viel zu höflich ist, um zu sagen, dass sie sich nun wirklich nicht vorstellen kann, wie ein winziges Tier wie Mama Waldmaus ihr helfen sollte. »Das ist sehr freundlich von dir!«

»Wenn ich noch einmal warnen dürfte?«, mischt sich von hoch oben der Waldkauz ein. Er klingt ein kleines bisschen gekränkt. »Es ist bedauerlich, dass niemand in diesem Wald« – dann sieht er sich erschrocken um, weil ihm wohl erst da wieder eingefallen ist, dass es den Wald ja gar nicht mehr gibt – »nun gut: dass niemand auf dieser Wiese auf den Rat eines gewissermaßen weisen Uhus hören will! Aber ein Fuchs bleibt immer ein Fuchs, auch wenn er ein junger Fuchs ist!«

»Ach, Vetter Waldkauz«, sagt Mama Reh. »Das hier ist ein Kind, und dieses Kind braucht Hilfe und ein Zuhause!«

»Braucht es das, ist das so?«, ruft der Waldkauz und plustert sich auf. »Nun, dann denk doch an den Kuckuck, der sein Ei in die Nester anderer Vögel legt, damit sie es für ihn ausbrüten! Aber wenn der kleine Kuckuck dann geschlüpft ist, wirft er die Kinder der Vogeleltern aus dem Nest! Überleg dir gut, was du tust, Mama Reh!«

»Nun, lieber Waldkauz …«, beginnt Mama Reh, aber der Waldkauz lässt sie nicht ausreden, so aufgeregt ist er.

»Der Fuchs ist stärker als das Reh!«, ruft er. »Wie soll also das Reh dem Fuchs helfen können? Erklärst du das einem weisen Uhu bitte mal?«

Aber dazu hat Mama Reh nun wirklich keine Lust mehr. »Manchmal kann im Leben auch der Schwache dem Starken helfen, Vetter Waldkauz!«, sagt sie bestimmt. Und dabei guckt sie das kleine graue Puschelige unter den Heckenrosen an. »Und dann muss er das auch tun, verstehst du?«

Inzwischen hat sich der kleine Fuchs erhoben und läuft auf seinen tapsigen Pfoten langsam hinter Mama Reh und ihren Kindern her. »Mama?«

Aber jetzt hat Glanzfell genug. »Du heißt gar nicht Mama!«, brüllt sie. (Wenn Rehe denn überhaupt brüllen können.) »Merk dir das mal!«

Mama Reh dreht sich um und guckt lächelnd ihrem Familienzuwachs entgegen.

»Nein, denn ab jetzt soll er Blau-Auge heißen«, sagt sie.

Und damit ist es beschlossen.

4. Kapitel

Ein Fuchs ist ein Fuchs

Zu Hause bei seiner Fuchsfamilie hieß der kleine Fuchs Wildling, auch wenn dieser Name im Augenblick natürlich überhaupt nicht zu so einem traurigen kleinen grauen Puscheligen zu passen scheint. Aber woher soll Mama Reh das wohl wissen?

Auch die Namen ihrer eigenen Kinder hat sie nach dem Aussehen ausgesucht, das ist am einfachsten, findet Mama Reh, und so weiß auch jeder immer gleich, wer gemeint ist. Langbein heißt ihr Erstgeborener, und sie ahnt jetzt schon, dass er einmal ein stolzer, kräftiger Rehbock werden wird; Vielpunkt hat sie den Mittleren genannt, um den sie sich heimlich Sorgen macht, weil er so nachdenklich und darum ängstlich ist und langsamer als die anderen; Glanzfell schließlich ist die Kleinste, und Mama Reh fürchtet, dass sie nicht immer alles schnell genug versteht, und dazu ist Glanzfell manchmal auch noch ein bisschen vorwitzig. Und nun hat sie also noch ein viertes Kind dazubekommen, diesen Blau-Auge hier, es wird schon gehen.

Während sie zielstrebig auf ein Weizenfeld zuspringt, dessen Halme noch immer grün und frühlingshaft sind, denkt Mama Reh, wie traurig es doch ist, dass dieser kleine Fuchs seine Mama verloren hat, und was für ein Glück, dass ihr und ihren Kindern bei dem schrecklichen Feuer nichts passiert ist; aber es hätte doch leicht geschehen können, dass auch sie in den Flammen ihr Leben verloren hätte, und was hätte sie sich in diesem Fall denn wohl für ihre Kinder gewünscht?

»Dass einer sie aufzieht, als wären sie seine eigenen«, murmelt Mama Reh, »und so werde ich es auch mit Blau-Auge halten, wenn wir nicht doch noch seine Familie finden. Das wollen wir hoffen, versuchen will ich es sicherlich. Aber bis dahin soll er bei uns leben, als wäre er einer von uns. Nun, man wird sehen.«

Ein bisschen in Sorge ist sie allerdings doch, weil der Waldkauz, egal was für ein Großmaul und Angeber er auch sein mag, schließlich recht hat, wenn er sagt: Ein Fuchs bleibt immer ein Fuchs. Und dass Füchse noch nie die besten Freunde der Rehe waren, weiß Mama Reh genauso gut wie du.

»Aber Blau-Auge ist ja noch ein Kind, und es soll auch nicht für immer sein!«, murmelt sie und setzt über einen Zaun, den ein Zweifüßler um eine Weide gezogen hat, damit die dummen Kühe, die nicht einmal über das niedrigste Hindernis springen können, ihm nicht irgendwann weglaufen. Aber für ein Reh ist so ein Weidezaun natürlich kein Problem. »Kinder? Ist es euch auch nicht zu hoch?«

Dann beobachtet sie stolz, wie ihre drei Kitze ihr nachkommen – mit Anstrengung zwar und an der niedrigsten Stelle, wo irgendwann einmal der Sturm einen Ast auf den Zaun geschleudert hat, sodass der oberste Draht zerrissen ist; aber sogar Vielpunkt hat es geschafft. Nur Blau-Auge läuft noch immer unruhig auf der anderen Seite des Zauns hin und her.

»Was ist mit dir, Blau-Auge? Warum kommst du nicht zu uns?«

Und Mama Reh denkt, wenn der kleine Fuchs jetzt mit ihnen leben will wie ein Reh, muss er auch springen lernen wie ein Reh, wie soll er denn sonst wohl den Zweifüßlern entkommen und dem Wolf, von dem alle erzählen, und überhaupt all den vielen Gefahren, die auf der Welt auf ihn lauern?

»Du musst Anlauf nehmen, Blau-Auge!«, ruft Glanzfell jetzt, und es klingt ein kleines bisschen, als ob sie ihm helfen will, aber auch ein kleines bisschen hochnäsig. »Du darfst keine Angst haben, sonst wird es nichts! Ich hab auch keine Angst!«