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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74094-296-0
»Noch etwas Kaffee, Franziska?« erkundigte sich Lena Holzer, nachdem sie bereits Magdalena Walkhofer eingeschenkt hatte.
Franziska Löbl schüttelte den Kopf und deutete mit der Hand ein »Danke« an.
»Aber ich hätte gern noch Kaffe, Lena.« Anton Löbl hielt der Hausmagd seinen Becher entgegen. »Das war vielleicht ein Sturm letzte Nacht«, wandte er sich an seine Familie. »Hoffentlich hält sich der Schaden, den er angerichtet hat, in Grenzen.«
»Diese Hoffnung dürfte reine Illusion sein, Onkel Anton«, erwiderte sein Stiefneffe Paul. »Ich werde nachher zur Hütte hinauffahren, um nachzusehen, ob in unserem Waldstück Bäume beschädigt wurden oder umgestürzt sind.«
»Wenn du nichts dagegen hast, begleitet ich dich«, schlug der Bauer vor.
»Nein, natürlich nicht, Onkel Anton«, antwortete Paul erfreut. Nach dem schweren Unfall, den sein Stiefonkel im Frühjahr gehabt hatte, hatte es lange Zeit so ausgesehen, als würde er nie wieder laufen können. Doch in den letzten Wochen war es von Tag zu Tag aufwärts gegangen, so daß Anton Löbl sich inzwischen ganz gut auf Krücken bewegen konnte und nur noch selten den Rollstuhl brauchte.
»Das ist eine gute Idee, Anton«, sagte Magdalena Walkhofer, die ihrem Bruder und dessen Tochter seit Jahren den Haushalt führte. »Du wirst sehen, nächstes Jahr wirst du wahrscheinlich schon wieder auf dem Traktor sitzen können.«
Franziska schrieb etwas auf den kleinen Block, den sie ständig bei sich trug, seit sie als Kind nach einem Unfall, der ihrer Mutter das Leben gekostet hatte, nicht mehr sprechen konnte. Sie schob ihn ihrem Vater entgegen.
Anton Löbl nickte. »Ja, du kannst dich darauf verlassen, Franziska, ich werde mir auch weiterhin viel Mühe geben. Seit ich wieder auf eigenen Beinen stehen kann, erscheint mir die Welt nicht mehr so trübe, und vor allen Dingen bin ich überzeugt, schon bald auch die Krücken los zu sein.«
»Wir werden dir nach Kräften dabei helfen, Bauer«, versprach Christian Wolf, einer der Knechte des Löblhofes.
Franziska stand auf, griff nach ihrer Handtasche, die sie neben sich auf die Eckbank gelegt hatte, küßte ihren Vater auf die Stirn, winkte den anderen zu und ging zur Küchentür.
»Grüß Dr. Baumann von uns«, bat Magdalena Walkhofer.
Ihre Nichte nickte. Gleich darauf schloß sich die Tür hinter
ihr.
Anton Löbl stand schwerfällig auf. Seine Schwester hätte ihm gern geholfen, doch sie wußte aus Erfahrung, wie unwillig ihr Bruder reagieren konnte, wenn man ihm Hilfe aufdrängte. Auf beide Krücken gestützt humpelte er in den Korridor und verschwand kurz darauf in seiner Schlafstube, die solange er noch keine Treppen steigen konnte, im Erdgeschoß des alten Bauernhauses lag.
»Männer«, bemerkte Lena, nachdem auch Christian die Küche verlassen hatte, und räumte den Tisch ab.
»Ja, darin hast du gar nicht so unrecht«, meinte die Wirtschafterin. Sie setzte sich wieder an den Tisch, um einen Einkaufszettel zu schreiben.
Anton Löbl und sein Stiefneffe fuhren im Geländewagen vom Hof. Der Bauer verlor kein Wort darüber, daß die Fahrt zur Hütte hinauf ziemlich beschwerlich für ihn war und ihn jede Unebenheit der schmalen Straße, die durch Felder und Wiesen aufwärts führte, schmerzte. Er ahnte, daß er für diese Fahrt später mit erheblichen Beschwerden würde büßen müssen, doch das war es ihm wert.
Anton Löbl wartete, bis ihm sein Stiefneffe beim Aussteigen helfen konnte. Er wollte sich auf die Bank vor der Hütte setzen, so lange Paul das Waldstück inspizierte. »Ich bin schon ewig nicht mehr hiergewesen«, sagte er und blickte an der Hütte hinauf. Sein wettergegerbtes Gesicht wurde weich, als er daran dachte, wie er sich oft als junger Bursche mit seiner späteren Frau getroffen hatte.
»Da stimmt etwas nicht«, bemerkte Paul stirnrunzelnd.
»Wie meinst du das?« Der Bauer stützte sich schwer auf seine Krücken.
Paul wies zu einem der Hüttenfenster, das einen Spaltbreit offenstand. Es sah aus, als wäre es um den Fenstergriff herum eingeschlagen worden. »Warte hier, Onkel Anton«, sagte er und huschte fast lautlos die schmale Holztreppe hinauf, die zum Eingang führte. Leise steckte er den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum.
In der Hütte regte sich nichts, als der junge Mann die Tür aufstieß. Durch die Fenster fiel das Morgenlicht. »Hallo, ist hier jemand?« fragte er, dann sah er den umgestürzten Becher, der vor einem Bett im hintersten Winkel des Raumes auf dem Boden lag. Im selben Moment nahm er schwere, keuchende Atemzüge wahr und zwischen ihnen ein langgezogenes Wimmern.
Erschrocken trat der junge Mann ans Bett. Unwillkürlich hielt er den Atem an, als sein Blick auf das Mädchen fiel, das zwischen den zerwühlten Kissen und Decken lag. Es mochte zehn, elf Jahre alt sein. Seine wirren, dunklen Haare breiteten sich wie ein Schleier auf dem Kissen aus. Sein bleiches Gesicht war schweißbedeckt. Das Kind schien halb bewußtlos zu sein. Bewegungslos lag es da, die Hände im Laken verkrampft.
Paul berührte sanft die Wange des Mädchens. Die Haut fühlte sich glühend heiß an. »Wer bist du?« fragte er. »Wo kommst du her?«
Das Mädchen schien seine Stimme überhaupt nicht zu hören. Ununterbrochen wimmerte es vor sich hin.
Paul rannte nach draußen und stürzte die Treppe hinunter. Hastig berichtete er seinem Onkel von dem Kind. »Es scheint hohes Fieber zu haben«, sagte er. »Ich glaube, es sieht gar nicht gut aus.«
»Hilf mir die Treppe hinauf, Paul«, wies Anton Löbl seinen Neffen an.
Es dauerte ein paar Minuten, bis der Bauer es geschafft hatte, die Stufen zu bewältigen. Schweratmend, auf seine Krücken gestützt, stand er einen Moment im Eingang der Hütte, dann schleppte er sich zum Bett. Mit Pauls Hilfe setzte er sich neben das Mädchen.
»Bitte, hol Wasser«, bat er den jungen Mann. »Aber erst gib mir eines der Tücher, die im Schrank sind.«
Paul kam seiner Bitte nach. »Was ist mit ihr?« fragte er fast flüsternd, wartete jedoch nicht die Antwort seines Onkels ab, sondern griff nach einem Krug und eilte zu dem Brunnen, der vor dem Haus stand.
Anton Löbl tupfte ganz behutsam das Gesicht des Mädchens ab. Liebevoll sprach er auf es ein. »Es wird alles wieder gut«, sagte er immer wieder. »Jetzt sind wir da, und man wird dir helfen. Du mußt keine Angst haben.«
Paul kehrte mit dem Wasser zurück, füllte einen Becher und reichte ihn seinem Onkel. Ohne, daß dieser ihn darum bat, hob er vorsichtig den Kopf der Kleinen an, so daß Anton Löbl ihr den Becher an die Lippen setzen konnte.
Es dauerte ein paar Sekunden, aber dann trank das Mädchen etwas von dem Wasser.
»Gib mir bitte einen Teelöffel«, sagte Anton Löbl, »dann kann ich ihr hin und wieder zu trinken geben, während du zum Hof zurückfährst, um von dort aus Dr. Baumann anzurufen. Sag ihm, daß es eilt.«
Paul gab ihm den Löffel. »Ich bin so schnell es geht zurück«, versprach er. »Ein Glück, daß du mitgekommen bist.«
»Das kann man wohl sagen.« Der Bauer wandte sich wieder dem Mädchen zu. Er flößte ihm etwas von dem Wasser ein.
Das Kind schlug die Augen auf. Sie glänzten vor Fieber und Schmerzen. »Nicht schlagen«, flüsterte es ängstlich. »Bitte, nicht schlagen.« Wie zum Schutz hielt sie die Hände vor ihr Gesicht.
»Keiner wird dich schlagen«, versprach Anton Löbl. »Es wird alles wieder gut. Bitte glaube mir, es wird alles wieder gut.« Ganz sanft ergriff er die Hände des Mädchens und hielt sie fest.
*
Dr. Eric Baumann parkte vor der Garage. Als er ausstieg, wurde er so stürmisch von Franzl begrüßt, als hätte der Hund ihn schon tagelang nicht mehr gesehen. »Ist ja gut, Franzl«, sagte er begütigend und tätschelte den Kopf und den Rücken des Tieres. »Ich bin doch nur im Sankt Agnes-Stift gewesen, weil es der alten Frau Stefan nicht besonders gut geht.«
Franzl stieß erneut die Schnauze gegen das Bein des Arztes. Dabei wedelte er so heftig mit der Rute, als wäre sie ein Propeller, der nicht mehr abgestellt werden konnte.
»Komm, gehen wir frühstücken.«
Franzl horchte auf. Das Wort »Frühstück« klang überaus verlockend. Vergnügt tänzelte es neben seinem Herrn her, als dieser das Haus betrat und sich der Küche zuwandte.
»Guten Morgen, Franziska«, grüßte Eric die junge Frau, die zusammen mit seiner Haushälterin am Tisch saß. »Ist für mich auch noch etwas Kaffee da?«
»Ich habe für dich extra noch einmal frischen Kaffee aufgebrüht«, erwiderte Katharina. »Franziska ist vor ein paar Minuten gekommen. Stell dir vor, ihr Vater ist mit dem Paul zur Hütte hinaufgefahren. Sieht aus, als sei der Löbl auf dem besten Weg, wieder der alte zu werden.«
»Das freut mich«, meinte Dr. Baumann. »Was wollen die beiden bei der Hütte?«
Franziska schrieb rasch ein paar Worte.
»Ja, es könnte durchaus sein, daß der Sturm letzte Nacht einige Schäden angerichtet hat«, bestätigte Eric, nachdem er einen Blick auf den Block geworfen hatte. »Danke.« Er griff nach dem Kaffeebecher, den ihm Katharina Wittenberg reichte, und setzte sich an den Tisch.
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon.
»Bleib nur sitzen, ich geh schon«, sagte die Haushälterin. Wenige Minuten später kehrte sie zurück. »Paul Walkhofer ist am Telefon. Du sollst sofort zur Hütte hinauskommen. Sein Onkel und er haben dort oben ein kleines Mädchen gefunden, das offenbar schwer krank ist.«
Franziska sah sie erschrocken an. »Wie ist das Kind in die Hütte gekommen?« schrieb sie.
Katharina hob die Schultern. »Du wirst Hunger haben, Eric. Nimm ein belegtes Brötchen mit. Sieht aus, als sei das wieder einer der Tage, an denen du nicht zum Essen kommst.«
»Ich esse später etwas.« Eric nahm ein paar Schlucke von seinem Kaffee, dann eilte er hinaus. Franzl, der auf ein zweites Frühstück gehofft hatte, sah ihm enttäuscht nach.
»Wenn Eric so weitermacht, wird er eines Tages Magengeschwüre bekommen«, schimpfte Katharina vor sich hin, obwohl sie durchaus einsah, daß es auf jede Minute ankam.
Als Dr. Baumann bei der Hütte ankam, sah er, daß auch Paul Walkhofer bereits wieder zu ihr zurückgekehrt war. Sein Wagen stand im Schuppen, so daß er selbst direkt davor parken konnte. Er griff nach seiner Arzttasche, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus.
Paul ging ihm entgegen. »Ich habe heißen Kamillentee mitgebracht. Ein wenig hat sie getrunken«, sagte er. »Gut, daß Sie gleich kommen konnten, Herr Doktor.«
»Das ist doch selbstverständlich«, meinte Eric. »Das mit dem Kamillentee ist eine gute Idee gewesen.«
Anton Löbl saß noch immer am Bett des Kindes. »Es sieht nicht gut aus«, raunte er dem Arzt zu, als dieser die Hütte betrat. »Janina heißt sie, soviel habe ich inzwischen herausbekommen.« Er beugte sich über die Kleine. »Der Doktor, von dem ich dir erzählt habe, ist jetzt da. Du wirst sehen, wie schnell es dir wieder besser geht.«
Paul half seinem Onkel beim Aufstehen. Er führte ihn an den Tisch, wo der Bauer auf einem der Stühle Platz nahm. »Soll ich hinausgehen?« fragte der junge Mann.
»Nein, bleib nur da, Paul. Vielleicht brauche ich deine Hilfe.« Dr. Baumann setzte sich aufs Bett. Er erkannte auf den ersten Blick, wie schlecht es um das Kind stand. »Hallo, Janina«, sagte er freundlich und griff nach dem Handgelenk der Kleinen, um ihren Puls zu fühlen.
Das Mädchen antwortete ihm nicht. Es hatte wieder die Augen geschlossen.
»Kannst du mir sagen, wo du herkommst?«
Wieder keine Antwort.
Eric nahm an, daß die Kleine auch weiterhin stumm bleiben würde. Trotzdem sprach er freundlich und sanft auf sie ein, während er ihr erst die Jacke und dann das T-Shirt auszog, das sie trug. Erschrocken starrte er auf die blauen Flecke und Striemen, die Brust und Rücken des Mädchens bedeckten.
»Paul, bitte halte Janina fest, während ich sie abhorche«, bat er.
Paul war mit zwei Schritten am Bett. Er warf dem Arzt einen entsetzten Blick zu. »Wer um alles in der Welt…«
Eric winkte ab. »So, jetzt werden wir mal sehen, was mit dir ist«, sagte er zu Janina. Er nahm sein Stethoskop aus der Tasche und setzte es vorsichtig erst auf die Brust, dann auf den Rücken des Kindes. »Hast du Schmerzen beim Atmen?« fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Ja«, flüsterte Janina. Sie hielt noch immer die Augen geschlossen. Es war ihr so schwindlig, daß sich alles um sie herum zu drehen schien.
»Sieht aus, als hättest du eine doppelseitige Rippenfellentzündung«, sagte Eric. »Aber das bekommen wir schon in den Griff. Ich werde dich ins Krankenhaus nach Tegernsee bringen. Dort gibt es eine Menge netter Ärzte, Schwestern und Pfleger, die nur darauf warten, dich zu verwöhnen.«
Mit Pauls Hilfe zog er Janina wieder an, dann hüllte er sie in eine warme Decke, die der junge Mann ebenfalls vom Hof mitgebracht hatte.
Auf seine Krücken gestützt schleppte sich Anton Löbl zum Bett. »Wir werden dich besuchen, Janina«, versprach er. »Der Paul und ich sind deine Freunde. Und der Onkel Doktor natürlich auch.« Er holte tief Luft. »Es ist schon schrecklich, was manche Leute mit ihren Kindern anstellen«, meinte er zu Eric gewandt.
»Da gebe ich dir allerdings recht«, erwiderte der Arzt. »Paul, bitte lauf voraus und öffne die Hintertür meines Wagens. Ich werde über Autotelefon die Klinik verständigen, damit alles bereit ist, wenn wir kommen.« Er berührte die Schulter des Bauern. »So gegen Mittag werde ich mich bei dir melden, Anton«, versprach er. »Bis dann.«
»Alles Gute«, wünschte Anton Löbl und blickte ihm nach, als er mit dem Kind im Arm Paul folgte. Er fragte sich, wann man Janina wohl gefunden hätte, wenn sie an diesem Morgen nicht gezwungen gewesen wären, zur Hütte zu fahren.
*
Eva-Maria Winkler klopfte an die Tür des Krankenzimmers und trat ein. Auf den ersten Blick sah sie, daß Andrea Greiner, das zehnjährige Töchterchen ihrer Putzfrau, nicht mehr allein war. In dem Bett am Fenster lag ein weiteres Mädchen. Es schien zu schlafen, ganz sicher war sich die junge Frau da allerdings nicht.
Andrea richtete sich auf. »Fein, daß du mich besuchst, Tante Eva-Maria«, sagte sie. »Hast du dir extra meinetwegen freigenommen?«
»Ja.« Eva-Maria schloß die Kleine in die Arme. »Wie geht es dir?« fragte sie. »Hast du noch Schmerzen?«
Andrea schüttelte den Kopf. »Ich kann mich wieder richtig bewegen.« Über ihr rundes Gesicht legte sich ein Schatten. »Aber es kann wiederkommen«, fügte sie hinzu.
»Ja, deine Mutter hat davon gesprochen«, erwiderte die junge Frau und strich ihr durch die blonden Locken. »Rheumatisches Fieber ist eine sehr ernste Krankheit. Zum Glück gibt es in unserer Zeit Penizillin, und damit kann ein erneuter Ausbruch verhindert werden.«
»Ich mag keine Spritzen.« Andrea verzog das Gesicht.
»Wer mag die schon?« fragte Eva-Maria. »Schau, was ich dir mitgebracht habe.« Sie gab dem Mädchen eine Barbie-Puppe, die ein rosafarbenes Abendkleid trug. »Gefällt sie dir?«
Andrea nickte. »Danke, Tante Eva-Maria.« Für einen Moment schloß sie erneut die Arme um den Nacken der jungen Frau, dann griff sie wieder nach der Puppe.
»Und Schokolade gibt es auch noch.«
»Meine Mama würde jetzt wieder sagen, daß du mich nicht so verwöhnen sollst«, meinte Andrea. Sie blickte zu ihrer Bettnachbarin hinüber und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Sie heißt Janina«, sagte sie. »Sie spricht fast überhaupt nicht. Sie liegt immer nur da und hält die Augen geschlossen.«
»Weshalb liegt Janina im Krankenhaus?« erkundigte sich Eva-Maria ebenso leise.
»Sie hat eine schwere Rippenfellentzündung. Vor fünf Tagen hat man sie von der Intensivstation gebracht.« Andrea warf einen erneuten Blick auf das andere Mädchen. Sie brach die Schokoladentafel in zwei Teile. »Kannst du ihr die eine Hälfte geben?«
»Natürlich.« Eva-Maria nahm die Schokolade, stand auf und ging um Andreas Bett herum. »Hallo, Janina«, sagte sie und beugte sich über das Mädchen. Dabei stellte sie fest, daß Janina wohl nur so tat, als würde sie schlafen. »Ich habe Andrea Schokolade mitgebracht. Sie möchte, daß du die Hälfte bekommst.« Behutsam berührte sie den Arm des Kindes.
Janina zuckte heftig zusammen.
»Du mußt keine Angst vor mir haben.« Eva-Maria legte die Schokolade auf Janinas Nachttisch.
Janina drehte ihr Gesicht der jungen Frau zu. Sie blinzelte. »Danke«, formten ihre Lippen so leise, daß Eva-Maria sie kaum verstehen konnte, dann preßte sie die Augen wieder fest zusammen.
»Laß dir die Schokolade schmecken«, sagte Eva-Maria und kehrte zu Andreas Bett zurück.
»Ich glaube, sie hat große Angst«, meinte Andrea. Sie nahm ihren Gameboy aus der Nachttischschublade und zeige ihrer Besucherin das neue Spiel, das sie von ihrer Mutter bekommen hatte.
Es klopfte. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Dr. Baumann kam ins Zimmer. »Guten Tag«, sagte er und sah überrascht Eva-Maria an. »Das nenn ich eine Überraschung, Frau Winkler. Mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet.«
»Und ich nicht mit Ihnen, Dr. Baumann«, erwiderte die junge Frau und reichte ihm die Hand. Sie lachte leise auf. »Ist das Leben nicht seltsam? Da wohnen wir nur ein paar Häuser voneinander entfernt, aber auf der Straße begegnen wir uns kaum, dafür dann hier im Krankenhaus.«
»Ich bin wegen Janina hier. Wir sind gute Freunde.« Er nickte ihr zu und ging zu Andreas Bettnachbarin. »Hallo, Kleines«, grüßte er. »Schau her, was ich dir mitgebracht habe.«
»Onkel Eric?« Janina schlug langsam die Augen auf.
»Ja, ich bin es.« Er setzte sich zu ihr aufs Bett. Während der vergangenen Tage hatte er Janina immer wieder besucht. Bisher war es ihm allerdings nicht gelungen, ihr mehr als ein paar Worte zu entlocken. Der Arzt empfand es schon als großen Erfolg, daß sie ihn »Onkel Eric« nannte. »Hast du schon einmal einen so schönen Teddy bekommen?« Er zog einen cognacfarbenen Plüschbären aus einer großen Plastiktüte und legte ihn dem Mädchen in den Arm.
Janina strich sehnsüchtig über das seidige Fell. »Nein«, sagte sie. »Darf ich ihn behalten?«
»Ja, er gehört dir.«
»Ich werde ihn sehr liebhaben und niemals hauen.«
»Wenn du traurig oder einsam bist, mußt du ihn nur in den Arm nehmen. Gleich was du ihm auch erzählst, er wird dir geduldig zuhören und dich trösten.« Eric umfaßte Janinas Hand. »Mit ihm zusammen mußt du auch keine Angst mehr haben.«
»Er wird dich beschützen.« Janina schloß die Augen.
»Janina, willst du uns nicht endlich sagen, woher du kommst und wie dein Nachname ist?«
»Nein«, flüsterte das Mädchen. »Wenn ich es sage, muß ich wieder zurück, und ich will nie wieder dorthin.«
»Okay.« Eric strich ihr durch die dunklen Haare. »Ich habe dir doch schon von meiner Haushälterin erzählt. Katharina heißt sie. Heute morgen hat sie mir gesagt, daß sie dich auch gern besuchen würde. Darf sie das?«
Janina gab ihm keine Antwort. Den Teddy an sich gepreßt, schlief sie ein.
Dr. Baumann wartete noch ein paar Minuten, dann stand er auf und verließ mit einem Gruß das Zimmer. Leise schloß sich die Tür hinter ihm.
Kurz darauf verabschiedete sich auch Eva-Maria Winkler von Andrea. Sie mußte in ihr Geschäft zurück. »In zwei, drei Tagen besuche ich dich wieder«, versprach sie. »Streng dich mit dem Gesundwerden an.«
Andrea nickte. »Worauf du dich verlassen kannst«, sagte sie und schaltete ihren Gameboy ein.
Eva-Maria fuhr mit dem Aufzug in die Halle hinunter. Sie wollte sich gerade dem Ausgang zuwenden, als sie von Dr. Baumann angesprochen wurde. Überrascht blieb sie stehen. »Ich dachte, Sie hätten längst das Weite gesucht«, scherzte sie.
»Ich habe mich noch mit einem früheren Kollegen unterhalten«, erwiderte er.
Die junge Frau dachte an das kleine Mädchen, mit dem Andrea das Zimmer teilte. Auf eine ganz eigenartige Weise hatte es ihr Herz berührt. »Kennen Sie Janina näher?« erkundigte sie sich, während sie gemeinsam zum Parkplatz gingen.
»Nein.« Dr. Baumann erzählte ihr, daß Anton Löbl und sein Stiefneffe das Mädchen vor zwei Wochen in ihrer Berghütte gefunden hatten.
»Das ist also das Kind, von dem in der Zeitung stand«, meinte sie. »Es war ja nur ein ganz kurzer Artikel. Hat man inzwischen herausgefunden, wer ihre Eltern sind?«
»Bis jetzt noch nicht. Wie es aussieht, wird Janina nirgends vermißt.«
»Und das Jugendamt?«
»Hat sich natürlich des Falles angenommen.«
»Vermutlich ist Janina von zu Hause ausgerissen, was aber nicht erklärt, weshalb sich nicht ihre Eltern, oder wer immer sie betreut hat, um ihr Verschwinden kümmern. Was mag das nur für ein Zuhause gewesen sein?«
»Wie es aussieht, kein sehr gutes«, sagte Eric. »Janina ist schwer mißhandelt worden. Selbst wenn herausgefunden wird, woher sie kommt, ich kann mir nicht vorstellen, daß das Jugendamt sie wieder dorthin zurückschicken wird. Man wird wahrscheinlich Pflegeeltern für sie suchen oder sie in einem Kinderheim unterbringen.«
»Hoffentlich hat sie in Zukunft etwas mehr Glück«, meinte die junge Frau.
»Ja, das hoffe ich auch«, erwiderte der Arzt und verabschiedete sich von ihr.
Auf der Fahrt zu seiner Praxis dachte Eric daran, daß auch Eva-Maria Winkler in ihrem Leben noch nicht sehr viel Glück gehabt hatte. Vor fünf Jahren hatte sie ihren kleinen Sohn durch einen Autounfall verloren. Ihr Mann war mit Marc bei strömendem Regen auf dem Weg nach München gewesen und von der Straße abgekommen. Ihm selbst war nicht viel passiert, doch Marc hatte einige Wochen im Koma gelegen und war dann gestorben. Ihre Ehe hatte den Tod des Kindes nicht verkraftet und war geschieden worden. Sebastian Winkler lebte jetzt in Amerika.
»So eine Tragödie kann die beste Ehe auseinanderbringen«, hatte sein verstorbener Vater damals gesagt. »Es ist ein Jammer. Ich hielt die Winklers immer für ein besonders glückliches Paar.«
Ob Sebastian Winkler noch manchmal an seine geschiedene Frau dachte? Eric hielt am See und schaute nachdenklich auf das Wasser hinaus. Wenn sie einander wirklich so geliebt hatten, dann konnte er sie nicht einfach vergessen haben. Oder gab es in seinem Leben doch längst eine andere?
*
»Pünktlich, pünktlich, Herr Doktor«, scherzte Tina Martens, als Eric Punkt vier Uhr seine Praxis betrat. »Das Wartezimmer ist bereits voll.«
»Ich eifere Ihnen nach, Tina«, erwiderte er lachend. Seine Sprechstundenhilfe kam frühmorgens meistens auch erst in der letzten Minute.
»Au, das tat weh«, bemerkte die junge Frau und stimmte in sein Lachen ein. »Soll ich die erste Patientin gleich zu Ihnen hineinschicken, oder möchten Sie erst in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken?«
»Um wen handelt es sich denn?« fragte er.
»Frau Becker«, antwortete Tina genüßlich. Sie schaute ihm
ins Gesicht. »Ihre Begeisterung scheint sich in Grenzen zu halten, Herr Doktor.«
»In sehr engen Grenzen«, antwortete er. »Bringen Sie mir bitte erst eine Tasse Kaffee, bevor Sie Frau Becker auf mich loslassen.«
»Wird gemacht, Herr Doktor.« Tina stand auf und wandte sich der Kaffeemaschine zu.
Dr. Baumann ging rasch am Wartezimmer vorbei. Er verspürte nicht die geringste Lust, früher als unbedingt nötig mit Lina Becker zu sprechen. Davon abgesehen, daß es sich bei dieser Frau um eine der schlimmsten Klatschbasen in Tegernsee handelte, waren es meistens nur Bagatellen, wegen denen sie ihn aufsuchte. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde sie nur in seine Praxis kommen, um im Wartezimmer den neuesten Klatsch zu verbreiten.
Es war Franziska Löbl, die ihm den Kaffee brachte. Sie stellte die Tasse vor ihn auf den Schreibtisch. »Tina telefoniert gerade mit Herrn Preiß«, schrieb sie auf ihren Block. »Sie hat mir erzählt, wie sehnsüchtig du auf deine erste Patientin an diesem Nachmittag wartest.«
»Wer den Schaden hat…« Er drohte ihr mit dem Finger. »Paß nur auf! Gleich, was Frau Becker auch diesmal haben mag, werde ich ihr etwas Krankengymnastik verschreiben.«
Franziska machte ein entsetztes Gesicht und verdrehte die Augen. »Diese Strafe wäre wirklich zu hart«, schrieb sie. »Sag mal, hast du Samstagabend in einer Woche schon etwas vor? – Im Musikpavillon findet ein Konzert statt.«
»Wenn nichts dazwischen kommt, könnten wir es gemeinsam besuchen«, erwiderte Eric. »Aber versprechen kann ich es noch nicht. Notfalls mußt du allein gehen.«
»In Ordnung.«
Der Arzt nahm einen Schluck Kaffee. »Tina soll Frau Becker hereinschicken. Ich fühle mich jetzt stark genug, ihr gegenüberzutreten.«
Lina Becker ließ nicht lange auf sich warten. Sehr geräuschvoll schloß sie die Tür hinter sich. Dr. Baumann stand sofort auf und ging ihr entgegen. »Ach, Herr Doktor, ich fühle mich gar nicht wohl«, klagte sie, kaum, daß sie einander die Hand gegeben hatten.
»Wo drückt denn der Schuh, Frau Becker?« erkundigte er sich, wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, und nahm wieder Platz, um ihre Krankenkarte aufzuschlagen.
»Ich habe in letzter Zeit fast nach jeder Mahlzeit schreckliches Sodbrennen«, erwiderte die Frau. »Ich bin schon richtig verzweifelt. Schließlich kann ich nicht ständig Natron nehmen.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Dr. Baumann. »Handelt es sich bei Ihrem Sodbrennen um einen stark brennenden Schmerz unmittelbar hinter dem Brustbein oder den Rippen? – Strahlt der Schmerz bis in den Rücken aus?«
»Nein, Gott sei Dank nicht«, erklärte Lina Becker erschrocken. »Kann Sodbrennen denn so schlimm werden?«
»Wenn eine ernste Krankheit dafür verantwortlich ist, ja.« Eric erkundigte sich nach ihren weiteren Beschwerden, doch sie sagte ihm, daß ihr sonst nichts fehlte. »Dann liegt bei Ihnen vermutlich nur eine Übersäuerung des Magens vor«, meinte er und fragte sie nach ihren Mahlzeiten.
Lina Becker gab unbekümmert an, daß sie und ihr Mann viel Fleisch, Nudeln, Kuchen und Brötchen aßen. »Aber daran kann es wohl nicht liegen«, meinte sie zweifelnd.
»Ich bin überzeugt, daß Ihr Sodbrennen daran liegt, Frau Becker«, antwortete Eric. »All diese Nahrungsmittel erzeugen im Magen Säure.« Er griff in seinen Schreibtisch und gab ihr eine Liste, auf der getrennt basischwirkende und säureerzeugende Nahrungsmittel standen und zudem Ernährungsvorschläge gemacht wurden. »Versuchen Sie, sich während der nächsten vierzehn Tage an die Ernährungsvorschläge zu halten, sollten Sie dann noch immer nach jeder Mahlzeit Sodbrennen bekommen, muß ich Sie zu einer eingehenden Untersuchung in die Klinik überweisen.«
»Muß ich dort einen Schlauch schlucken?«
»Es könnte durchaus sein, daß man eine Endoskopie vornimmt«, bestätigte der Arzt.
»Das fehlte mir gerade noch.« Lina Becker schüttelte sich und blickte stirnrunzelnd auf die Liste. »Gut, ich werde versuchen, mich daran zu halten.« Entschlossen steckte sie das Faltblatt in ihre Handtasche, dann hob sie ruckartig den Kopf. »Haben Sie wieder einmal etwas von dem Mädchen gehört, das in der Hütte der Löbls gefunden wurde?«
»Sie meinen Janina?«
»Ja.«
»Soweit geht es ihr ganz gut. Sie liegt noch immer im Krankenhaus. Mit einer doppelseitigen Rippenfellentzündung ist nicht zu spaßen.«
»Und ihre Eltern?«
»Bisher noch unbekannt.«
Lina Becker streckte das Kinn vor. »Mein Mann und ich haben darüber gesprochen, ob wir uns nicht an das Jugendamt wenden sollen, um die Kleine aufzunehmen.«
Eric brauchte seine ganze Beherrschung, um ihr nicht zu sagen, was er von dieser Idee hielt. Die Beckers gehörten gewiß nicht zu den Leuten, denen er ein Kind anvertrauen würde. »Und wie haben Sie sich entschieden?« fragte er.
»Dagegen«, antwortete sie mit einem Seufzen. »Einerseits tut uns das Kind von Herzen leid und man sollte unbedingt etwas für die Kleine tun, andererseits kann man nie wissen, wie sie sich entwickeln wird. Immerhin ist es schon vorgekommen, daß angenommene Kinder ihren Pflegeeltern das Dach über den Kopf angesteckt haben.«
»Diese Fälle dürften eher selten sein«, bemerkte der Arzt.
»Mag sein, nur woher sollen wir wissen, ob diese Janina nicht zu den Kindern gehört, die keine Dankbarkeit empfinden können.«
Dr. Baumann verzichtete darauf, ihr zu antworten. Er stand auf. »Soweit hätten wir dann alles besprochen«, meinte er und brachte die Patientin zur Tür. »Einen schönen Tag noch, Frau Becker.«
»Ihnen auch, Herr Doktor«, erwiderte sie und trat in den Gang.
Eric kehrte an seinen Schreibtisch zurück und bat Tina per Wechselsprecher, den nächsten Patienten aufzurufen, doch mit den Gedanken war er bei Janina. Man mußte verhindern, daß sie womöglich Leuten wie diesen Beckers in die Hände geriet. Nach allem, was das Kind durchgemacht hatte, brauchte es Menschen, die es von Herzen liebten, und nicht nur anderen Leuten ihr soziales Engagement demonstrieren wollten.
Es war kurz nach sieben, als Dr. Baumann seine Praxis verließ. Franzl rannte ihm mit einem Ball in der Schnauze entgegen. Demonstrativ ließ er ihn direkt vor den Füßen des Arztes zu Boden fallen.
»Das ist überdeutlich, alter Knabe, aber du mußt noch etwas warten«, meinte Eric und tätschelte den Kopf des Hundes. »Erst möchte ich etwas mit Katharina besprechen, dann machen wir einen langen Spaziergang am See.«
Die Haushälterin kam aus der Küche. »Was möchtest du mit mir besprechen, Eric?« fragte sie.
»Sieht aus, als hättest du mich und Franzl belauscht«, sagte er lachend und legte den Arm um ihre Schultern. »Es geht um Janina. Sag mal, könntest du dir vorstellen, noch einmal für ein Kind zu sorgen?«
Katharinas Augen begannen zu strahlen. »Du meinst, wir können sie aufnehmen?«
»Wenigstens für einige Zeit. Vermutlich wird man Pflegeeltern für sie suchen, doch bis man ein geeignetes Ehepaar gefunden hat, wird man sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in ein Heim einweisen. Ich möchte ihr das gern ersparen.«
»Ich würde nichts lieber tun, als mich um sie zu kümmern. Sie könnte eines der beiden Gästezimmer bekommen. Gleich morgen werde ich es für sie richten.«
»Erst einmal muß ich mit dem Jugendamt sprechen.«
»Wie ich das sehe, wird man dir die Kleine mit Freuden anvertrauen.« Katharina küßte ihn auf die Wange. »Du hast wirklich immer die besten Ideen, Eric«, meinte sie glücklich.
»Hast du jemals daran gezweifelt?« Er wußte, wie sehr Katharina Kinder liebte und auch, daß sie alles tun würde, um Janina das Schlimme, das hinter ihr lag, vergessen zu lassen.
*
Janina stand am Fenster ihres Krankenzimmers und schaute in den Garten hinunter. Sie beobachtete zwei Kinder, die dort unten Ball spielten. Ihr ging es bereits so gut, daß man ihr schon vor drei Tagen erlaubt hatte, das Krankenzimmer zu verlassen und sich in den Garten zu setzen, aber sie hatte es nie getan. Am liebsten wäre sie für immer in diesem Zimmer geblieben. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen, was draußen auf sie wartete, das wußte sie nicht.
»Hallo, Janina!«
Das Mädchen drehte sich langsam um. »Onkel Eric.« Über sein schmales Gesicht flog ein Freudenschimmer. Impulsiv rannte es zu Dr. Baumann und schlang die Arme um ihn.
»Freust du dich, daß du heute entlassen wirst, Janina?« Er strich ihr durch die Haare.
»Ich weiß nicht.« Janina löste sich von ihm. »Hier ist es schön gewesen.« Sie schaute zu ihrem Bett. Andrea war vor zwei Tagen entlassen worden. Es hatte ihr nichts ausgemacht, allein im Zimmer zu liegen.
»Dir wird es auch bei mir und Katharina gefallen«, sagte der Arzt. »Sie freut sich schon so auf dich.«
Janina kannte Katharina Wittenberg. Erics Haushälterin hatte sie alle zwei Tage besucht. »Ich mag Tante Katharina«, gestand sie.
»Na, siehst du«, meinte Eric. Er nahm die Reisetasche, die auf Janinas Bett stand. »Und auf den Franzl bist du doch auch neugierig. Du wirst sehen, ihr werdet bald die besten Freunde sein.«
Das Mädchen nickte.
»So, jetzt sagen wir noch allen auf Wiedersehen und dann fahren wir«, schlug Dr. Baumann vor. Er ergriff Janinas Hand. »Hast du auch nichts vergessen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und wo ist dein Teddy?«
»In der Tasche.« Sie blickte zu ihm auf. »Ich habe ihn nicht gern in die Tasche gesteckt, aber ich kann nicht mit einem Teddy im Arm auf die Straße hinauslaufen.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich dazu schon viel zu alt bin.«
»Wie alt bist du denn?« fragte Eric vorsichtig.
»Elf«, erwiderte Janina. »Nächstes Jahr im April werde ich zwölf.«
»Und wann im April?«
»Am vierten.«
Dr. Baumann ließ sich nicht anmerken, wie wichtig ihm diese Informationen waren. Bisher kannten sie noch immer nicht ihren Nachnamen und wußten nicht, woher sie kam. Auch ihr Geburtsdatum hatte sie ihnen bis zu diesem Tag nicht genannt.
»Dann komm jetzt«, sagte er und führte sie in den Gang hinaus.
Zwanzig Minuten später verließen sie den Aufzug. Im selben Moment entdeckte Janina Frau Winkler, die sich mit dem Portier unterhielt. »Hallo!« rief sie und winkte.
Eva-Maria Winkler erwiderte den Gruß, dann verabschiedete sie sich von dem Portier und ging den beiden entgegen. »Wirst du heute entlassen?« fragte sie Janina, als ihr Blick auf die Reisetasche fiel. »Guten Tag, Dr. Baumann.« Sie reichte ihm die Hand.
»Janina wird die nächste Zeit bei mir und Frau Wittenberg wohnen«, sagte Eric.
»Onkel Eric hat einen Hund, der Franzl heißt«, erzählte das Mädchen. »Wolltest du zu mir, Tante Eva-Maria?« Auch Frau Winkler hatte sie in den letzten Tagen öfters besucht, und sie hatte Vertrauen zu ihr gefaßt.
»Ja, das hatte ich vor«, erwiderte die junge Frau.
»An und für sich hätte Janina erst nächste Woche entlassen werden sollen«, sagte Eric. »Aber sie hat sich so gut erholt, daß alle der Meinung sind, es wäre unsinnig, sie noch länger hierzubehalten.«
Eva-Maria nahm ein Buch aus ihrer Tasche und gab es Janina. »Ich nehme an, es wird dir gefallen. Es handelt von Tieren.«
»Danke.« Janina schenkte ihr ein Lächeln.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Janina hin und wieder besuche, Dr. Baumann?« fragte die junge Frau. »Wir haben uns angefreundet und…«
»Natürlich sind Sie uns jederzeit willkommen, Frau Winkler«, versicherte der Arzt. »Und im übrigen darf Janina auch Sie besuchen.«
»Das freut mich.«
Sie verließen das Krankenhaus und gingen über den Parkplatz. Eva-Maria stieg in ihren Wagen, um zu ihrem Geschäft zurückzukehren. Sie konnte es kaum noch erwarten, daß Janina sie besuchte, und überlegte bereits, womit sie ihr eine Freude machen sollte. Vom ersten Augenblick an hatte sie eine tiefe Bindung zu dem Mädchen empfunden, obwohl sie sich das noch immer nicht erklären konnte.
»Hat dich Frau Winkler oft besucht?« fragte Eric, nachdem sie sich von Eva-Maria verabschiedet hatten.
Janina nickte. »Ich mag sie«, stellte sie fest und setzte sich in seinen Wagen. »Sie ist traurig.«
Eric schnallte sie an. »Hat sie dir das gesagt?« erkundigte er sich.
»Nein.« Janina nagte an ihrer Unterlippe. »Ich spüre es. Ich spüre immer, wenn Leute traurig sind.«
Dr. Baumann nahm hinter dem Steuer Platz und fuhr vom Parkplatz. Er erzählte seinem Schützling von dem Unfall, bei dem Eva-Marias Sohn ums Leben gekommen war.
»Bestimmt hat sie ihn sehr lieb gehabt.«
»Ja.«
»Meine Mutter hat mich nicht lieb. Ihr ist es egal, was mit mir ist.«
»Bist du deswegen ausgerissen?« fragte Eric vorsichtig. Er hielt vor einer Ampel.
Janina gab ihm keine Antwort.
»Du kannst es mir ruhig sagen«, meinte er und fuhr wieder an. Sie befanden sich jetzt auf der Seestraße. »Noch ein paar Minuten, und wir sind zu Hause.«
»Meine Mutter hat einen Freund. Er lebt bei uns. Thomas…« Janina preßte die Lippen zusammen.
»Hat er dich geschlagen?« fragte Eric.
Wieder erhielt er keine Antwort, doch diesmal ließ er es dabei bewenden. Er wollte Janina nicht durch Fragen erschrecken und womöglich das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, zerstören.
Bald darauf fuhren sie durch die Garteneinfahrt des Doktorhauses und hielten vor der Garage. Janina löste allein ihren Gurt und stieg aus. Sie schaute sich um.
»Gefällt es dir hier?« Eric hob die Reisetasche aus dem Wagen.
Das Mädchen nickte.
Die Haustür öffnete sich. Bevor Katharina Wittenberg ihn noch zurückhalten konnte, stürzte Franzl bereits kläffend und schwanzwedelnd auf Janina zu. Erschrocken drängte sich die Elfjährige an den Arzt.
»Franzl, Platz!« befahl Eric.
Wider Erwarten gehorchte der Hund augenblicklich. Noch immer wedelte er mit der Rute. Erwartungsvoll sah er erst seinen Herrn, dann Janina an.
»Er tut dir nichts, Janina«, sagte Eric. »Halt ihm deine Hand hin.«
Janina schluckte, dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. Franzl schnüffelte an ihren Fingern und fuhr blitzschnell mit seiner langen Zunge über ihre Hand. »Iii, das kitzelt.« Sie lachte. »Ich mag dich.« Vorsichtig tätschelte sie seinen Kopf.
»Und er mag dich«, versicherte Katharina, die sich im Hintergrund gehalten hatte, um ihr Gelegenheit zu geben, erst einmal mit Franzl Freundschaft zu schließen.
Janina ging auf sie zu. »Ich glaube, hier möchte ich nie wieder fort, Tante Katharina«, sagte sie und gab ihr die Hand. »Hier ist es einfach schön.«
»Dabei hast du noch nicht einmal dein Zimmer gesehen«, erwiderte die Haushälterin. Sie küßte Janina auf die Stirn. »Herzlich willkommen bei uns.« Liebevoll legte sie den Arm um die schmächtigen Schultern des Mädchens und führte es ins Haus.
Nachdem sich Janina in Ruhe umgesehen hatte, tranken sie alle miteinander auf der Terrasse Kaffee, dann wurde es Zeit für die Sprechstunde. Eric nahm sie mit in die Praxis, um sie auch mit Tina und Franziska bekanntzumachen. Von beiden bekam sie Süßigkeiten.
»Es ist ganz bestimmt ein Traum«, meinte Janina, als Katharina sie eine halbe Stunde später abholte. »Bestimmt wach ich bald auf und liege im Wohnzimmer auf der Couch.«
»Nein, es ist kein Traum«, antwortete die Haushälterin. »Welches Wohnzimmer hast du denn gemeint?«
»Kein Bestimmtes.« Janina drückte ihren Teddy an sich. Sie sah Katharina von unten herauf an. »Ich habe dich lieb, trotzdem ich kann dir nicht sagen, woher ich komme, weil ihr mich dann wieder zurückschickt.«
Katharina zog sie an sich. »Nein, wir schicken dich nicht zurück«, versprach sie. »Aber es ist wichtig, daß wir erfahren, wie dein Nachname ist und wo du bisher gewohnt hast. Unter anderem müssen wir dich zur Schule anmelden.«
Janina dachte nach, dann schüttelte sie entschieden den Kopf. »Ich glaube dir, daß ihr mich nicht zurückschicken wollt, doch das Jugendamt wird es tun«, sagte sie. »Ich hatte einmal eine Freundin, die ist von ihrem Stiefvater immer ganz schrecklich verprügelt worden. Einmal mußte sie deshalb sogar ins Krankenhaus und danach ist sie ins Heim gekommen. Nach ein paar Wochen hat man sie wieder nach Hause geschickt, weil ihr Stiefvater versprochen hat, sie nicht mehr zu schlagen.«
»Und wo ist deine Freundin jetzt?«
Janina schaute auf ihren Teddy. »Sie ist tot. Ihr Stiefvater hat sie wieder geschlagen. Da ist sie fortgelaufen und hat sich von einer Autobahnbrücke gestürzt.«
»Von einer Autobahnbrücke«, wiederholte Katharina entsetzt.
»Ja.« Janina blickte zu ihr auf. »Wenn ich zu meiner Mutter zurück muß, dann will ich auch nicht mehr leben.«
Katharina wußte nicht, was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie Janina in die Arme genommen und ihr versichert, daß sie unter keinen Umständen zu ihrer Mutter zurückgeschickt werden würde, nur das konnte sie nicht, weil sie nicht wußte, wie sich das Jugendamt entscheiden würde.
»Hast du Lust, mit Franzl und mir ein Stückchen am See spazierengehen?« fragte sie. »Ich weiß, wo es wunderbares Eis gibt. Welches magst du denn am liebsten?«
»Mandeleis.«
»Gut, dann hol dir die Jacke, die auf deinem Bett liegt. Draußen ist es ziemlich kühl geworden.« Katharina griff nach ihrer eigenen Jacke, die an der Garderobe hing. »Morgen vormittag fahren wir in die Stadt und gehen einkaufen. Du brauchst unbedingt ein paar Sachen.«
»Ihr müßt mir überhaupt nichts kaufen, ich will nur hierbleiben«, erwiderte Janina und stieg die Treppe hinauf.
*
Franziska ging zu einem der kleinen Tische, die rund um den Musikpavillon aufgestellt worden waren. Sie mußte das Konzert nun doch allein besuchen. Dr. Baumann war zu einer Patientin gerufen worden, die vorzeitig Wehen bekommen hatte. Es handelte sich um eine Bäuerin, die auf einem entfernten Hof lebte und auf einer Hausentbindung bestand, weil ihr erster Sohn unbedingt auf eigenem Grund und Boden geboren werden sollte.
»Was darf ich Ihnen bringen?« fragte eine der Kellnerinnen, kaum, daß sie Platz genommen hatte.
»Eine Weißweinschorle«, schrieb Franziska auf ihren Block.
»Kommt sofort.« Die Kellnerin wandte sich dem nächsten Tisch zu.