»Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht.« Seit Sommer 2014 notiert Serhij Zhadan, was ihm auf seinen Reisen ins ostukrainische Kriegsgebiet widerfährt. In dieser Gegend ist er aufgewachsen, er kennt die Leute, die hier leben, und kann nicht glauben, dass sie über Nacht zu Feinden wurden. Er fragt sie aus und stellt sich ihren Fragen. Denn wer nicht fragen kann, wird nichts verstehen – nicht die Geschichten und nicht die Erinnerungen der anderen. Für diesen Versuch wird Zhadan, heute der bekannteste Dichter und engagierte Intellektuelle seines Landes, bewundert, geliebt und angegriffen.
Der vorliegende Band mit Gedichten, Songtexten und Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert seine Auseinandersetzung mit dem Krieg und dessen Folgen. Lyrische Momentaufnahmen, die das Essentielle jäh aufscheinen lassen, Kürzestgeschichten über Menschen, die nicht mehr wissen, wo sie hingehören und was aus ihnen werden soll.
Serhij Zhadan, 1974 in Starobilsk / Gebiet Luhansk geboren, ist Dichter, Musiker und Übersetzer. Er publizierte zahlreiche Gedicht- und Prosabände. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen Die Erfindung des Jazz im Donbass (2012) und Mesopotamien (2014). Zhadan lebt in Charkiw.
Foto: © Isolde Ohlbaum
Serhij Zhadan
Warum ich nicht im Netz bin
Gedichte und Prosa aus dem Krieg
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Esther Kinsky
Suhrkamp
Die deutsche Ausgabe wurde vom Autor zusammengestellt.
Nähere editorische Angaben am Schluss des Bandes.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016
© Serhij Zhadan, 2016
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
edition suhrkamp
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
Umschlagfoto: Yevgenia Belorusets
eISBN 978-3-518-74537-3
www.suhrkamp.de
Warum ich nicht im Netz bin
Was ändert der Krieg? Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt.
Kaplane zum Beispiel kannte ich zuvor nur aus Büchern. Was ihre Bestimmung war, habe ich nicht genau verstanden. Bei Kaplanen habe ich immer an Schwejk gedacht – ein zerfallenes Imperium, ein trostloser Krieg, eine korrupte Kirche, ein Gott, der gestorben ist und die Auferstehung vergessen hat, Priester, die weniger den Glauben als vielmehr seine totale Abwesenheit symbolisieren. Aber seit im Donbass Krieg ist, bin ich mit vielen echten Kaplanen in Berührung gekommen. Sie sind scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht, früher, vor dem Krieg, hat es sie einfach nicht gegeben. Aber vor dem Krieg hat es auch keinen Krieg gegeben.
Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor. Sie klingen scharf und kalt, sie bezeichnen nie kriegsferne Dinge, obwohl sie ins zivile Leben eindringen und tiefe Spuren hinterlassen. Das Kriegsvokabular strömt in die Gespräche, wie Passagiere in die morgendlichen Terminals strömen. Du legst fremde Wörter an, rollst sie auf der Zunge hin und her, spürst den metallischen Nachgeschmack. Der Krieg ist wie Giftmüll im Fluss – er erreicht jeden, der in Flussnähe wohnt. Du musst auf die neuen Substantive und Verben reagieren, du gewöhnst dich an sie, sie werden dir vertraut. Plötzlich finden sich unter deinen Bekannten Einberufene, Verwundete und Gefangene. Du gewöhnst dich daran, dass die Sprache um Wörter dieses schwarzen Vokabulars erweitert wird, um Dutzende neuer Wörter, von denen jedes einzelne nichts anderes als Tod bedeutet. Da der Tod viele Namen hat, müssen sich die Lebenden die Wörter wohl oder übel einprägen.
Der Krieg ändert auch die Intonation. Sarkasmus und Ironie sind in vielen Fällen unangebracht, Pathos ist überflüssig, Groll schädlich. Wohl oder übel musst du mit Blick auf den Krieg deine Sprache korrigieren, denn ein falsches Wort zur falschen Zeit zerstört möglicherweise nicht nur das semantische Gleichgewicht, sondern ein ganz reales Menschenleben. Der Tod kommt dir so nahe, dass du viele Dinge mit ihm abstimmen musst.
Zudem verändert der Krieg die Farben. Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß. Ihr Gewicht nimmt zu, aber ihr Anwendungsbereich schrumpft dramatisch. Abseits des Krieges ist die Kriegssprache kaum verständlich. Einen Sinn hat sie nur, solange sie praktisch angewendet wird. Im Einsatzbereich der Scharfschützen hören sich die Wörter »Zweihunderter« und »Dreihunderter« (für die Toten bzw. Verwundeten) ganz anders an als im tiefen Hinterland. Ein Mensch, der sich nicht im Visier des Feindes befindet, hat eine andere Atmung und einen anderen Herzschlag. Wenn er die Welt betrachtet, sind weder Feind noch Tod allgegenwärtig.
Auch Texte bekommen durch den Krieg ein anderes Gewicht. Wohl oder übel musst du nicht nur an die denken, die lesen, sondern auch an die, über die du schreibst. In einem Leben ohne Krieg endet die Handlung für einen Protagonisten schlimmstenfalls mit einer unglücklichen Liebe oder einer gescheiterten Karriere, im Krieg kann ein ungünstiger Handlungsverlauf zum Tod führen. Was bedeutet, dass der Protagonist physisch vernichtet wird. Der Krieg macht auch vor den literarischen Figuren nicht halt. Vielleicht ist das sogar der wichtigste Punkt: dass völlig neue Stimmen auftauchen, dass sich Verhalten, Motivation und Psychologie der Helden ändern. An diese neuen Figuren muss man sich erst gewöhnen, als Autor wie als Leser. Und der Krieg ändert auch Autoren und Leser. Der Autor muss die grundsätzliche Andersartigkeit der neuen Umstände begreifen, ihre Unterschiedenheit von dem, was vor dem Krieg war. Und auch der Leser ist damit konfrontiert, dass in der aktuellen Lektüre Begriffe wie Leben und Tod in einem vollkommen anderen Verhältnis zueinander stehen, dass sich die Übergänge von Weisheit zu Wahnsinn, von Liebe zu Hass, von Glaube zu Zweifel anders vollziehen. Alle sprechen plötzlich anders – die Kaplane wie die Atheisten.
Die vorliegenden Gedichte stammen überwiegend aus den Jahren 2014 und 2015. Es gibt auch einige aus den Jahren 2010 und 2011. Der Krieg wird in ihnen natürlich nicht vorhergesehen. Sie bringen im Gegenteil die Gewissheit zum Ausdruck, dass sich alles ohne den Griff zur Waffe ändern und klären lässt. Leider ist es anders gekommen. Der Krieg ist wie eine Krankheit, die unerwartet ausbricht. Und deswegen weißt du auch nicht gleich, wie du dich verhalten und welche Wörter du verwenden musst.
Die meisten dieser Texte sind unterwegs entstanden. Deswegen handeln viele auch vom Unterwegssein. Es sind Reisenotizen, mehr oder weniger rhythmisiert. Durch den Weg, durch seine bloße Existenz lassen sich die verschiedensten Umstände und Protagonisten verbinden. Der Weg eröffnet immer eine Gelegenheit zur Flucht oder Rettung. Und immer ermöglicht er auch eine Rückkehr.
Es ging damit los, dass meine Musikerfreunde und ich im Mai 2014 in den Donbass gefahren sind, nach Altschewsk, auf das verlassene Anwesen des früheren polnischen Unternehmers Kazimierz Mścichowski, das dieser im 19. Jahrhundert errichtet hatte. Wir hatten uns das seltsame Ziel gesetzt, ein Konzert zu geben. Der Krieg war noch nicht ausgebrochen, die Industriestädte des Donbass balancierten wie blinde Tiere über dem Abgrund und standen kurz vor der Katastrophe, ohne zu ahnen, dass sie nur noch ein Schritt von Chaos und Feuer trennte. Es war eine merkwürdige Zeit. Genauer gesagt war es ein Vakuum von Raum und Zeit, eine Bruchstelle der Luft. Ich wollte das irgendwie einfangen, irgendwie festhalten. Dann kam der Krieg und mit ihm ganz andere Geschichten. Die Kaplane kamen. Und auch Atheisten gab es noch.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Tagebuch weder einen Kulminationspunkt noch ein Happy End hat. Wer ehrlich Tagebuch schreibt, verpasst meist das Ende. Ein Tagebuch ist eine offene Geschichte, die manchmal an einer Stelle abreißt, um an einer anderen wieder einzusetzen. Sie wird fortgesetzt, solange du sie erzählst, solange du Anteil nimmst. Der Krieg geht irgendwann zu Ende, auch wenn er heute endlos aussieht. Die Städte, die Straßen, die Stimmen bleiben, es bleibt der Wunsch zu reden, der Wunsch zuzuhören.
Anton, zweiunddreißig,
in seinem Profil steht: Lebt bei den Eltern.
Orthodox, aber kein Kirchgänger,
Studienabschluss, Fremdsprache Englisch.
Er arbeitete als Tätowierer, mit eigener Handschrift,
wenn man so sagen kann.
Durch seine Hände, unter seine Nadeln
gingen die Einheimischen in Scharen.
Als alles anfing, redete er viel über
Politik und Geschichte, ging auf Demos,
überwarf sich mit seinen Freunden.
Die Freunde waren beleidigt, die Kunden blieben weg.
Hatten Angst, waren kopflos, zogen fort aus der Stadt.
Am besten spürst du einen Menschen, wenn du die Nadel ansetzt.
Die Nadel brennt, die Nadel heftet. Unter dem warmen
Metall wird die Leinwand der Frauenhaut
gefügig und das helle Segeltuch der Männerhaut straff. Du dringst in eine fremde
Hülle, entziehst dem Körper samtene Blutstropfen, du stichst und stichst und stanzt
Engelsflügel in die ergebene Außenhaut der Welt.
Tätowierer, du stichst und stichst, denn wir sind berufen,
die Welt mit Sinn, die Welt mit Farbe
zu füllen, du durchstichst die Ummantelung,
Tätowierer, unter der die Seelen und Krankheiten liegen,
das, was uns leben lässt, das, wofür wir sterben.
Jemand hat erzählt, man hätte ihn an einer Straßensperre erschossen,
früh am Morgen, mit einer Waffe in der Hand, irgendwie aus Versehen –
keiner begriff, was passiert war.
Er wurde anonym bestattet, wie alle anderen auch.
Die persönlichen Dinge übergab man den Eltern.
Sein Profil hat niemand geändert.
Es kommt die Zeit, da wird irgendein Arsch
Heldengedichte darüber verfassen.
Es kommt die Zeit, da wird irgendein Arsch
sagen, darüber solle man überhaupt nicht schreiben.
Lange habe ich nach ihr gesucht. Ihre Nummer stimmte nicht mehr,
sie hatte die Stadt verlassen, im Netz keine
Spur von ihr. Über Bekannte war sie nicht
zu finden, über die Kirche auch nicht.
Irgendwann meldete sie sich, schrieb über dies und das,
ihren Umzug, die neuen Umstände, die Gewöhnung.
Sie berichtete von ihrem Bruder, ihm galt ihr Brief,
von ihm, von seinem Tod wollte sie erzählen.
Ich war wohl nicht der Einzige, dem sie schrieb, jedenfalls
nicht der Erste. Zu abgeklärt klangen
ihre Zeilen. Es hat alle erwischt, alle auf einmal, schrieb sie,
eine einzige Salve. Unsere kamen zurück und wollten
die Toten holen. Oder das, was von ihnen
übrig war. Am schwierigsten war es mit den Beinen. Jeder
brauchte zwei Beine. Beim Zusammensetzen kam es auf die Beine an,
zwei sollten es sein und wenn möglich
gleich lang.
Ihr Bruder hatte Musik gemacht. Eine gute Gitarre besessen.
Die er häufig verborgte.
Was sie damit jetzt machen soll, fragte sie.
Ich habe versucht zu spielen, mir die Fingerkuppen aufgerissen, bin aus der Übung.
Das hat sehr gebrannt. Und will nicht verheilen.
Andrij und Pawlo, Adventisten, Studenten.
Ihr Unternehmervater spendete für die Gemeinde,
für sie war die Kirche
ein Teil ihres Lebens –
sie gingen jeden Tag hin, halfen
bei der Renovierung, stellten Fotos ins Netz,
dankten den Spendern.
Schon zu Friedenszeiten galten die Leute als Sektierer,
und als alles anfing, wurde Jagd
auf sie gemacht. Manche gingen weg, andere versteckten sich.
Die beiden wurden geschnappt und in einen Keller gesperrt,
mussten Gefallene bestatten und Gräber schaufeln.
Sie wollten sich freikaufen, zitterten, weinten.
Wurden an eine andere Grube verlegt. Und dann einfach vergessen,
als hätte es sie nie gegeben.
Sie saßen im schwarzen Keller, horchten ins Dunkel,
beteten zuerst, dann ließen sie es bleiben
und schämten sich voreinander.
Du verlierst deinen Glauben, wenn du die Chance hast,
dafür zu sterben, und du die Chance verpasst.
Wozu soll einer glauben, der gesehen hat, wie es wirklich ist?
Wozu etwas glauben, was für dich völlig
bedeutungslos ist?
Keiner kann sagen, was mit den Heiligen war, an deren
Körpern sich Wundmale auftaten. Was war mit den
Wundmalen? Gingen sie von selbst zu
wie Rosen am Abend? Oder bluteten,
eiterten, brannten sie lange unter den Verbänden?
Mit vor Dunkelheit blinden Augen kamen die Männer
ins Krankenhaus zum Verbandswechsel,
bissen die Zähne zusammen, als ihnen die Schwester
die vertrockneten Verbände von der Wunde riss und frisches Blut
auf die dunkle Haut trat. Sie baten um
ein Schmerzmittel, um irgendeins.
Aber es gibt kein Schmerzmittel
gegen das, was sie schmerzt, es gibt keins.
Jura,
schon über die vierzig,
studierter Historiker,
Sozialarbeiter.
Er ist immer im Netz,
er verfolgt die gebrochenen Schritte der Geschichte,
schreibt einen Blog im Namen einer Tschetschenin,
hat eine Scharfschützin erfunden
und lebt jetzt ihr Leben.
Schreibt über ihren Glauben,
schreibt über ihre Zweifel,
schreibt über ihr Feingefühl,
führt eine Strichliste auf ihrem Gewehrschaft:
der ist für den Vater, den Feind,
der für den Sohn, den Feind,
und der für den Heiligen Geist – ein Feind,
der auch auf
die allgemeine
Abschussliste gehört,
nach der die unsichtbare Scharfschützin
ihre Gebete in Auftrag gibt.
Die Welt ist ein Postsack,
mit Stacheldraht vernäht.
Reißt du ihn auf, kriechen
zwischen Kinderhemdchen und Gewehren
schwarze Kröten und Schlangen hervor.
Nie werden wir erfahren,
wer in der hitzigen Menge gestanden hat,
die das zarte Gewebe
des fremden Körpers entzweireißen will.
Nie werden wir erfahren,
wer nicht darunter war.
Dich auf
nächtlichen Wegen
durch Gras und Kohle führen,
deine Schritte im leichten
modischen Sportschuh
lautlos werden lassen,
dich abseits der
ausgetrampelten Rinderpfade
zu Quellen führen,
dir für den Morgen Brot aufheben,
eingeschlagen in die Fahne
deines Feindes.
Am Morgen
liest er das Geschriebene.
Manchmal ergänzt er etwas.
Manchmal schreibt er etwas um.
Rasiert sich, reißt sich mit den alten Klingen
die Haut auf.
Aber es kommt kein Blut.
Kein Tropfen.
Und auch der Tod kommt nicht.
Schade um die Stadt, sagt er. Sie machen alles kaputt.
Wie Sodom und Gomorrha.
Sein Bruder lebt in einem Heim für psychisch Kranke.
Vor einigen Tagen wurde das Heim besetzt.
Auf dem Hof stellte man Mörser auf.
Er besucht seinen Bruder. Sie sitzen auf einer Bank, über ihnen
Apfelzweige. Sie sehen sich ähnlich – beide in Trainingsanzügen und mit
kurzgeschnittenem Haar. Nur einer hält ein Handy
in der Hand. Aber die Stadt hat sowieso kein Netz.
Die MPi-Schützen ignorieren sie.
Und werden von ihnen ignoriert.
In der Kindheit hatte er sich für seinen Bruder geschämt, nie
über ihn gesprochen, ihn niemals mitgenommen. Weißt du,
wie das ist, wenn du einen Irren in der Familie hast? Dein Vater ist normal,
deine Mutter ist normal, und auch du bist normal, aber einer
ist verrückt. Wirklich verrückt. In deiner Familie.
Da wirst du genauso beargwöhnt.
Als er erwachsen wurde, übersah er den Bruder einfach.
Als gäbe es ihn nicht. Etwa so, als würdest du die Straße entlanglaufen
und im Vorbeigehen etwas Abstoßendes sehen,
das Angst und Ekel weckt, ein
zerfetztes Tier zum Beispiel, aber du weißt –
wenn du wegschaust, dann ist es nicht da,
dann ist alles in Ordnung.
So ist es auch jetzt – da hocken sie alle, schweigen,
und keiner beachtet sie. Als wären sie
nicht da. Sind doch nicht wenige –
die noch nicht geflohen sind,
die auf der Seite liegen
wie ein zerfetztes Tier.
Die Heimleitung ist längst getürmt.
Ein paar Putzfrauen kümmern sich um die Kranken.
Alte Frauen, die ihr Leben lang
hier gearbeitet haben. Sechs oder sieben.
Gar nicht so wenige für eine Millionenstadt.
Eine üble Biografie,
solche Biografien sind Stoff für die Morgennachrichten.
Sein Alter ist im Dezember erfroren, in einer leeren Straßenbahn.
Seine Mutter hat Zucker.
Die Lehre abgebrochen, zwei Jahre auf Bewährung,
die Kehle jodverätzt,
ein Ohr von einer Eisenstange zertrümmert.
Wovon hast du all die Jahre geträumt?
Was dir gewünscht?
Alles, was er sich gewünscht hat, lag
im Einkaufszentrum nebenan.
Ihn zu brechen hieße, man bräche
die Siegel auf den apostolischen Schreiben.
»Ich hatte nie«, schreibt er, »genug Geld,
um mir all das zu kaufen,
was ich wollte. Immer habe ich irgendwas
auf bessere Zeiten verschoben.
Erst jetzt habe ich begriffen, dass die besseren
Zeiten nie kommen.
Du bist auch hier geboren.
Du weißt, wie es ist.
Sprich mir nach:
Das Leben ist gemein und grausam.
Das Leben ist trostlos und kurz.
Das Leben ist freudlos und mies.
Wer heute nichts hat,
hat auch morgen nichts,
wer nichts zu verlieren hat,
verliert auch nichts.«
Schon lange hofft man hier nicht mehr auf bessere Zeiten.
Die stille schweigsame Frau Tod erkennt man nicht
inmitten all der anderen Frauen.
Weil du sie liebst, lebst du mit ihr.
Und weil du mit ihr lebst, stirbst du.
»Dank dir, dass du schreibst«, sagt er,
»dank dir.«
»Nichts zu danken«, sage ich.
Da gibt's wirklich nichts zu danken.
Sascha, ein stiller Trinker, Esoteriker, Dichter.
Den Sommer über hat er in der Stadt gehockt.
Als die Schüsse begannen, hat er sich gewundert,
plötzlich Nachrichten geschaut, das Interesse wieder verloren.
Er zieht durch die Stadt, hat immer seine Musik dabei,
hört die alten Klassiker,
stößt auf ausgebrannte Autos,
auf zerfetzte Körper.
Von der Geschichte, von der Welt
in der wir gelebt haben,
bleiben uns ein paar geniale Männer
mit ihren Worten und ihrer Musik,
die vergeblich versuchten,
uns zu warnen, uns etwas zu erklären,
aber doch nichts erklärt und niemanden gerettet haben,
sie liegen auf Friedhöfen,
und aus ihren genialen Brustkörben
wachsen jetzt Blumen und Gras empor.
Das ist alles, was bleibt –
die Musik, der Gesang, die Stimme,
die zur Liebe nötigt.
Ohne Unterlass kann man diese Musik hören.
Sie rauchen, witzeln, stellen sich in die Schlange,
haben Angst, es nicht zu schaffen.
Sie schaffen es alle.
Keiner kommt zu spät.
Wärme, für das aufgewühlte Licht?
Wenn die Zeit gekommen ist, holen sie alle, auch dich, Spion,
sie holen uns alle, mit Sachen, Decken und den Resten von Schmerz.
Wir ziehen in den blauen Schnee,
wir ziehen in die rote Nacht,
wir folgen dem Licht aus der Himmelsfuge,
wir eilen zum Jüngsten Gericht.
Richtet uns, Richter, richtet uns, nehmt uns die Hoffnung,
richtet uns, Richter, richtet, tragt uns
Besserungsarbeiten auf.
Gebessert, verschüchtert
sprechen wir einfache Wörter,
schnappen wir mit rissigen Lippen den heißen Schnee,
schnappen wir den letzten,
den Goldschnee.
Ihn auf dem Rücken tragen
wie ein Zigeunerkind,
das von niemandem geliebt wird
und niemanden liebt?
Die Liebe ist so knapp,
die Liebe ist so schutzlos.
Weine und zerteile das Dunkel mit deinen warmen Händen.
Weine und weiche ihm keinen Schritt von der Seite.
Die Welt wird nie mehr so sein wie früher.
Wir werden nicht zulassen,
dass sie so sein wird wie früher.
Immer weniger helle Fenster auf der leeren Straße.
Immer weniger unbekümmerte Passanten
vor den Auslagen der Geschäfte.
Im diabolischen Herbstnebel erkalten Felder und Flüsse.
Die Feuer verlöschen im Regen.
Zur Nachtzeit erfrieren die Städte.
bald rollen Tränen.
Die Männer runzeln die Stirn,
die Frauen schlagen Lärm,
die Kinder prägen sich den Himmel ein
bis ans Ende ihrer
langen Tage.
Wenn sie dann die Stadt
verlassen, auf dem Hügel
haltmachen, stellt er
sein Instrument auf die Erde,
nimmt den Bogen,
beugt sich über das lackierte Holz,
verwächst mit ihm,
kann sich nicht losreißen,
die Bewegungen sind schwer,
auf den geschundenen Handflächen
gerinnt das Blut.
Dann
weinen die Männer,
welken die Herzen der Frauen,
wachsen den Kindern
in den Fäusten
Perlen
von musikalischem Gehör.