Kriminalroman
Walter G. Pfaus
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author/ Titelbild: Motiv by freepht/pixabay, 2017
© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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Es ist wie in einem Albtraum. Auf dem Bahnsteig entgeht er nur knapp einem Anschlag. Statt ihm stirbt ein anderer im Gleisschacht. Eine schöne Frau war seine Rettung. Ein paar Stunden später wird er von einem Gangsterpaar entführt, mit Äther betäubt und auf Schienen gelegt. Er kann sich im letzten Moment retten. Er geht zu der schönen Frau. Sie hilft ihm. Danach wird er von einem Killer verfolgt. Er kann ihn stellen und erfährt, wer der Auftraggeber ist. Er erfährt dort, dass alles mit seinem reichen Onkel in der Schweiz zusammenhängt. Die schöne Frau erklärt sich bereit, ihn in die Schweiz zu fahren. Doch unterwegs stellt er fest, dass sie verfolgt werden. In ihm gärt plötzlich ein schrecklicher Verdacht: Steckt die schöne Frau hinter allem?
Der Bahnsteig war so voll, wie ich es nicht erwartet hätte. Es war seit langer Zeit wieder das erste Mal, dass ich mit dem Zug fahren musste. Evelyn hatte am Tag zuvor mit meinem Wagen einen kleinen Unfall gehabt. Nichts Ernstes. Nur ein kleiner Blechschaden. Aber der Wagen musste in die Werkstatt, und ich hatte heute einen dringenden Termin in München.
Ich wollte auf keinen Fall den ICE verpassen und so war ich natürlich viel zu früh auf dem Ulmer Hauptbahnhof. Ich hatte mich in den Bereich C begeben und stand fast ganz vorne an der Bahnsteigkante. Ich sah nach rechts, von wo ich den Zug erwartete. Neben mir stand eine hübsche junge Frau. Sie hatte schwarzes, langes glattes Haar, das ihr weit über die Schultern reichte, ein rundliches Gesicht, große braune Augen und einen sinnlichen, roten Mund. Ich genoss es, schon so früh am Morgen neben einer so hübschen Frau zu stehen. Der betörende Duft eines mir unbekannten Parfüms stieg mir in die Nase.
Hinter uns drängte sich die Menschenmenge, und es wurden immer mehr. Die meisten schienen Schüler zu sein. Sie trugen Rucksäcke. Etwas weiter hinten entdeckte ich Manfred Koller. Koller war Lehrer. Er unterhielt sich mit zwei Frauen. Offensichtlich Lehrerinnen. Demnach schien es sich um einen Schulausflug zu handeln. Da hatte ich ja wohl den besten Tag erwischt. Zum Glück stand ich schon ganz vorne. Ich würde also mit Sicherheit einen Sitzplatz ergattern. Ich hasste es, über eine Stunde stehen zu müssen.
Ich drehte mich ein wenig zur Seite – und erschrak. Unmittelbar hinter mir stand Klaus Brandner. Er schien sich durch die Wartenden hindurch geschlängelt zu haben.
Was, zum Teufel, hatte dieser Dreckskerl hinter mir zu suchen?
Brandner grinste unverschämt, und ich blickte sofort wieder nach vorn. Ich konnte den Kerl nicht riechen. Besonders dann, wenn er so unverschämt grinste. Ich wusste, warum er das tat, und ich hätte ihn deshalb gern mitten in sein grinsendes Gesicht geschlagen. Aber Gewalttätigkeiten lagen mir nicht. Deshalb strafte ich ihn mit Verachtung. Er war einfach Luft für mich.
Im Moment half es mir jedoch wenig, wenn ich mir einbildete, er wäre Luft für mich. Er war da. Er war aus Fleisch und Blut. Ich spürte ihn in meinem Rücken, und ich fühlte seinen warmen Atem in meinem Nacken. Ich roch ihn sogar. Er benutzte ein Rasierwasser, das auch ich schon genommen hatte. An mir oder an anderen empfand ich den Duft als sehr angenehm. An ihm nicht. Er verpestete die Luft damit. An ihm roch das Rasierwasser nach Jauche, und mir wurde schlecht.
Ich beugte mich etwas vor, um aus dem Geruchsbereich von Brandner zu kommen. Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Arm, und ich zuckte zusammen. Als ich den Kopf wandte, sah ich, dass die Hand zu der schönen Frau gehörte, und ich beruhigte mich wieder.
„Sind Sie lebensmüde?“ fragte das Mädchen mit heller, samtweicher Stimme.
„Nein, aber hier stinkt’s.“
„Hier auf dem Bahnsteig riecht es doch immer nach irgend etwas“, sagte das Mädchen.
„Heute stinkt es nach Jauche“, erklärte ich. „Und der Gestank kommt von hinten.“
„Ich trete dich gleich in den Arsch“, sagte Brandner in meinem Rücken.
„Sehen Sie“, sagte ich zu dem Mädchen, „Jetzt stinkt es noch mehr. Er hat den Mund aufgemacht.“
Brandner stieß mir sein Knie von hinten gegen den Oberschenkel. „Noch ein Wort, und ich werfe dich vor den Zug.“
„Der bringt das glatt fertig“, sagte ich zu dem Mädchen. „Dann hätte er endlich freie Bahn.“
Und dann geschahen einige Dinge gleichzeitig.
Der Zug, den ich vorher schon weit hinten kommen sah, rauschte mit relativ hoher Geschwindigkeit in den Bahnhof ein. Ich wollte auf die andere Seite der jungen Frau, um aus Brandners Geruchsbereich zu kommen. Ich machte einen schnellen Schritt zur Seite und zwängte mich hinter der Frau vorbei, um auf ihre andere Seite zu kommen, und im selben Augenblick flog ein Körper an mir vorbei. Er streifte mich sogar noch, und ich wurde gegen die ältere Frau gestoßen, die hinter der schönen Schwarzhaarigen stand.
Ein markerschütternder Schrei ertönte und dann sah ich zu meinem Entsetzen, dass Brandner auf den Schienen lag. Er versuchte noch, sich aufzurappeln um aus dem Gleisschacht zu kommen. Aber es war zu spät. Er wurde vom Zug erfasst, ein Stück mitgeschleift und dann überrollt.
Sekundenlang waren wir alle, die das schreckliche Ereignis mit angesehen hatten, wie gelähmt. Dann begann ein junges Mädchen schrill zu schreien und andere fielen mit ein und plötzlich herrschte auf dem Bahnsteig ein furchtbares Tohuwabohu. Alles schrie durcheinander. Die vorderen, die alles gesehen hatten, schrien vor Grauen, Angst und Entsetzen, die hinter wollten wissen, was da vorne los war. Ich fühlte, wie wir langsam nach vor gegen den immer noch nicht haltenden Zug gedrängt wurden. Ohne mir dessen richtig bewusst zu sein, schlang ich den Arm um die Hüfte der hübschen Schwarzhaarigen, hielt sie fest und stemmte mich mit aller Macht gegen den Druck von hinten.
Es dauerte lange, bange Sekunden, bis der Zug endlich zum Stillstand gekommen war. Die Türen öffneten sich, und die Leute aus dem Zug, die nichts von dem schrecklichen Vorfall mitbekommen hatten, drängten aus den Wagen.
Den Menschen um mich herum stand noch immer das blanke Entsetzen in den Gesichtern. Das schöne Mädchen, das ich noch immer umschlungen hielt, drehte sich in meinem Arm um, griff mit beiden Händen nach meinen Jackenaufschlägen, krallte sich daran fest, presste den Kopf an meine Brust und weinte.
Ich hielt sie weiter fest und versuchte, rückwärts durch die Menschenmenge zu kommen. Es ging leichter als ich gedacht hatte. Die Leute wichen bereitwillig zur Seite, froh darüber, wieder ein Stück weiter nach vorn zu kommen.
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander, und ich brauchte eine Weile, um sie zu ordnen. Als es mir einigermaßen gelungen war, blieben ein paar Fragen übrig.
Hatte er tatsächlich vorgehabt, mich in den Schienenschacht zu stoßen? Und war er dann ins Leere gelaufen, weil ich plötzlich nicht mehr da gewesen war? Oder hatte es jemand auf ihn abgesehen und die Chance sofort wahr genommen, als ich zur Seite trat? Wenn letzteres zutraf, musste es jemanden geben, der ihn noch mehr hasste als ich.
Unwillkürlich blieb ich stehen und sah mich um. Aber ich sah nur eine Menge fremder Gesichter. Ich kannte nur zwei Leute, und die hatten mit Brandner nichts zu tun. Einer von ihnen war Koller, der Lehrer. Außerdem standen sie viel zu weit weg vom Geschehen.
Der Lärm und das Geschrei auf dem Bahnsteig wurden immer lauter. Knapp zwei Meter von uns entfernt versuchte ein großer Mann sich zum Schienenschacht vorzukämpfen. Er hatte braunes, struppiges Haar und eine Hakennase. Plötzlich schlug er auf einen kleineren Mann vor ihm ein, weil dieser ihm nicht weichen wollte. Der kleine Mann schlug zurück, traf aber nicht die Hakennase, sondern eine Frau neben ihm. Die schlug ihm prompt die Handtasche über den Schädel.
„Wir müssen weg“, sagte ich zu der schönen Frau, die noch immer an meiner Brust weinte, „sonst stecken wir gleich mitten in einer wüsten Schlägerei.“
Aber im Moment steckten wir einfach nur fest. Wir kamen weder vorwärts noch rückwärts.
Einige Meter weiter vorne tauchten zwei Männer der Bahnpolizei auf. Einer der beiden hob beide Hände an den Mund, formte sie zu einem Sprachrohr und schrie: „Zurücktreten, bitte! Bitte treten Sie doch zurück!“
Aber niemand schien ihn zu hören.
Der Beamte wiederholte seine Aufforderung so laut er konnte. Aber genauso gut hätte er gegen eine Wand schreien können. Verzweifelt sah er sich nach Hilfe um. Ich versuchte ihm zu helfen und schrie in die Menge: „Geht doch zurück, Leute! Verdammt noch mal, geht doch zurück!“
Aber auch ich hatte keinen Erfolg. Im Gegenteil. Leute, die schon in die Wagen gestiegen waren, kamen wieder heraus, erkundigten sich, was geschehen ist, und drängten dann auch zu der Stelle, an der Brandner unter die Räder gekommen war.
Das Mädchen hob jetzt den Kopf. Sie hielt sich immer noch an meiner Jacke fest und sah mich mit ihren großen tränennassen Augen an.
„Kommen Sie“, sagte ich. “Versuchen wir, hier wegzukommen. Die bringen uns sonst noch um.“
Sie nickte nur, und ich fasste nach ihrer Hand, drehte mich um und kämpfte mich nach hinten durch.
Aber das war leichter gesagt als getan. Zunächst kamen wir keinen Meter vorwärts. Dann wurde ich wütend, und ich schrie den Mann an, der vor mir stand und nicht zur Seite weichen wollte: „Verdammt noch mal, geh zur Seite, oder ich kotz’ dir das Hemd voll!“
Das half. Er schob sich zur Seite und machte Platz, und die nächsten wichen ebenfalls aus. Ich zog das Mädchen hinter mir her, und zwei Minuten später saßen wir auf einer Bank, und das Mädchen nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und hielt es sich gegen die Augen. Nach einer Weile nahm sie es weg und sagte: „Das war das Schrecklichste, was ich je gesehen habe.“
„Haben Sie gesehen, wie es passierte?“
„Natürlich... Ich stand doch ganz vorne.“
„Nein, das meine ich nicht“, sagte ich. „Ich meine, ob Sie gesehen haben, wie es dazu gekommen ist? Warum lag er plötzlich auf den Schienen? War es ein Unfall, ist er gestoßen worden, oder hat er sich selbst vor den Zug geworfen?“
„Das habe ich nicht gesehen“, antwortete das Mädchen. „Ich sah nur, wie er auf einmal schreiend auf den Schienen lag. Und dann kam der Zug...“
„Vielleicht wollte er mich in den Schienenschacht werfen“, murmelte ich.
„Sie?“ Das Mädchen sah mich erschreckt mit ihren großen Augen an. „Aber warum hätte er das tun sollen? Kannten Sie ihn?“
„Und ob ich ihn kannte.“
„Wer war der Mann?“
„Er hieß Klaus Brandner, und er glaubte, er wäre der Größte. Aber in Wirklichkeit war er nichts weiter, als ein nichtsnutziger MöchtegernCasanova, der hinter verheirateten Frauen her war.“
„Sie sind verheiratet?“
„Ja.“
„Und er war hinter Ihrer Frau her?“
„Ja.“
„Wollte er Sie wirklich vor den Zug werfen?“ fragte das Mädchen ungläubig.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Aber dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, eigentlich habe ich nicht wirklich geglaubt, dass er es tun würde. Ich bin nur einfach zur Seite getreten, weil ich nicht vor ihm stehen wollte. Und im selben Augenblick ist er an mir vorbeigeflogen...Er hat mich sogar noch gestreift, und ich habe die Frau hinter Ihnen angerempelt... Ich hatte bestimmt keinen Grund, ihn zu mögen. Aber so einen Tod habe ich ihm nie gewünscht.“
„Vielleicht hat es ein anderer getan“, sagte das Mädchen leise.
„Wer sollte so etwas tun?“
„Vielleicht jemand, der ihn auch aus dem Weg haben wollte.“
„Glauben Sie?“
„Es wäre doch möglich.“
„Aber dann hätte er mich doch auch... Ich stand schließlich genau vor ihm.“
„Vielleicht hat er gesehen, dass Sie zur Seite gewichen sind und hat die Gelegenheit ausgenutzt. Er ist doch an Ihnen vorbeigeflogen, haben Sie gesagt?“
„Natürlich habe ich das gesagt.“
„Dann muss er gestoßen worden sein“, stellte das Mädchen fest. „Denn ein Mann, der sich für einen Casanova hält, wirft sich bestimmt nicht selbst vor einen Zug.“
„Da haben Sie sicher recht“, gab ich zu. „Brandner war alles andere als ein Selbstmörder.“
Und dann kamen vier weitere Polizisten in Uniform auf den Bahnsteig gestürzt, und sie brachten es fertig, dass die Menge vom Bahnsteig zurückwich. Es gab ohnehin nichts zu sehen, so lange der Zug noch am selben Fleck stand. Man würde ihn erst zurücksetzen müssen.
Vier weitere Polizisten stürmten heran, und wenig später erschienen zwei Beamte in Zivil.
Der Zugführer setzte langsam den Zug zurück.
Das Mädchen sagte: „Ich glaube, ich muss auf die Toilette.“
„Ist Ihnen schlecht?“
Sie sagte nichts. Sie stand auf und ging schnell Richtung Ausgang.
Ich blieb sitzen und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte mit Brandners Sturz nichts zu tun. Trotzdem wurde mir abwechselnd heiß und kalt, wenn ich daran dachte, dass ich ganz bestimmt verhört werden würde. In meinem ganzen Leben war ich noch nie mit der Polizei in Berührung gekommen. Und jetzt steckte ich in einer so dummen Geschichte drin. Es war auch nicht ausgeschlossen, dass man mich verdächtigen würde.
Aber ich konnte auch nicht einfach davonlaufen. Mehrere Leute hatten mich gesehen und würden sich bestimmt an mich erinnern. Auch wenn sie meinen Namen nicht kannten, für die Polizei würde es nicht schwer sein, mich ausfindig zu machen. Und dann wäre alles nur noch schlimmer.
Ich erhob mich, stellte mich auf die Bank und versuchte, über die Menschenmenge hinwegzusehen. Der Zug war jetzt zurückgefahren worden, und die Polizeibeamten blickten in den freigewordenen Schienenschacht.
Die Leiche musste schrecklich ausgesehen haben, denn einer der Beamten drehte sich schnell um und hielt sich die Hand vor den Mund. Schon bei dem Gedanken daran, wie es jetzt auf den Schienen aussehen musste, wurde mit schlecht.
Ich atmete ein paar Mal tief durch die Nase ein und ließ meinen Blick über die vielen Menschen schweifen. Die Polizisten hatten weitere Verstärkung bekommen, und es waren jetzt fast zwanzig, und einige von ihnen waren dabei, Namen und Adressen von Zeugen zu notieren. Einer befragte gerade die ältere Frau, die hinter dem Mädchen gestanden hatte. Sie redete aufgeregt auf den Beamten ein, und ihre Hände waren dabei ständig in Bewegung. Sicher würde sie ihm von mir und dem Mädchen erzählen, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Polizei uns suchen ließ.
Ich war gerade dabei, wieder von der Bank herunterzusteigen, als ich ihn sah. Er stand drüben auf Bahnsteig vier und sah zu den Polizeibeamten herüber.
Onkel Bodo!
Seit er es damals vorgezogen hatte, seinen Lebensabend in der Schweiz, in Montreux am Genfer See zu verbringen, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Das war vor sieben Jahren gewesen, und ich war damals gerade zwanzig Jahre alt.
Onkel Bodo hatte mir seine Adresse gegeben und mich gebeten, ihn doch mal in seinem Haus in Montreux zu besuchen. Aber es war nie dazu gekommen, obwohl wir uns immer ausgezeichnet verstanden hatten. Er war mein einziger Verwandter, und ich hing als Junge sehr an ihm.
Anfangs schrieb ich ihm ein paar Mal. Aber ich bekam nie eine Antwort, und nach einiger Zeit stellte ich den einseitigen Schriftverkehr ein.
Und jetzt stand er dort drüben am Bahnsteig und blickte zu den vielen Menschen herüber, als suche er jemanden.
Ich hob den Arm und winkte ihm.
„Onkel Bodo!“ rief ich. „Hallo, Onkel Bodo! Hier bin ich!“
Einige Leute drehten sich nach mir um. Nur Onkel Bodo nicht. Er wandte mir den Rücken zu und ging weg.
Ich versuchte hastig die Treppe hinunter zu rennen, um auf den anderen Bahnsteig zu kommen. Aber es war verdammt schwer. Dass sich auf Bahnsteig zwei ein Unfall zugetragen hatte, schien sogar schon nach draußen durchgedrungen zu sein. Es kamen immer mehr Menschen die Treppe herauf. Als ich endlich drüben ankam, war Onkel Bodo verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Nachdenklich ging ich zu der Bank zurück.
Ich war sicher, dass es Onkel Bodo gewesen war. Trotz der sieben Jahre, die wir uns nicht mehr gesehen hatten, hatte ich ihn sofort wieder erkannt. Er hatte sich nur wenig verändert. Er war ein wenig dicker und sein Haar war ein wenig grauer geworden. Aber sonst stimmte alles. Der dichte, buschige, nach außen gezwirbelte Schnurbart und der unvermeidliche graue Trachtenanzug. Onkel Bodo hatte außer zwei Smokings nur Trachtenanzüge im Schrank hängen gehabt. Ich hatte ihn nie anders, als in einem grünen oder grauen Trachtenanzug gesehen, und soweit ich zurückdenken konnte, hatte er immer den buschigen, sehr gepflegten Schnurbart getragen.
Es musste Onkel Bodo gewesen sein.
Aber was hatte er hier zu suchen? Warum tauchte er jetzt plötzlich hier in Ulm auf, nachdem er sieben Jahre nichts von sich hatte hören lassen?
Oder war er es am Ende gar nicht? Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet?
Dann stand auf einmal das Mädchen vor mir, und ich war sehr froh, dass sie wieder da war.
Sie sah ein bisschen blass aus, aber das war nicht verwunderlich, nachdem, was wir uns hatten mit ansehen müssen.
„Geht’s wieder besser?“ fragte ich.
„Es geht wieder.“ Sie sah mich an. „Sie machten gerade einen ziemlich verwirrten Eindruck. Ist schon wieder etwas passiert?“
„Nein, nichts“, log ich. „Die Polizei befragt die Leute und notiert Namen und Adressen. Sicher werden sie auch bald zu uns kommen.“
„Hoffentlich. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Sie setzte sich auf die Bank. „Ich habe im Büro angerufen und gesagt, dass ich erst nach dem Mittagessen komme.“
„Mein Gott“, sagte ich. „Ich sollte auch im Büro anrufen. Besser gesagt, ich sollte in München anrufen, dass ich nicht komme.“
Aber ich tat es nicht. Ich setzte mich neben das Mädchen auf die Bank und dachte an Onkel Bodo. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich fragte mich, weshalb er gerade jetzt hier aufgetaucht war. Was hatte das zu bedeuten?
Ich befand mich im Moment nicht gerade in einer beneidenswerten Situation. Ein Mann war vor einen Zug gefallen oder gestoßen worden, und ich hatte ein Motiv für die Tat. Jedenfalls würde es für die Polizei so aussehen, wenn sie erst einmal erfahren würde, wie ich zu Brandner gestanden hatte. Zum Glück würde das Mädchen bezeugen können, dass ich es gar nicht getan haben konnte.
Ich sah das Mädchen an. „Sie werden doch bezeugen, dass ich es nicht getan habe.“
„Sie? Weshalb sollten Sie ihn...“
„Weil er doch immer hinter meiner Frau her war, und ich habe einmal gedroht, ihn umzubringen, wenn er es noch einmal wagen sollte, meine Frau zu belästigen.“
„Das haben Sie getan?“ fragte sie entsetzt.
„Mein Gott, in der Wut sagt man manchmal Dinge... Aber es war nicht so gemeint. Es war einfach so dahergesagt, weil ich mich so über ihn geärgert habe.“
„Werden Sie das der Polizei sagen?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“
„Hat jemand gehört, wie Sie ihm gedroht haben?“ fragte das Mädchen.
„Nein. Niemand. Nur meine Frau.“
„Dann würde ich es auch nicht sagen.“
Ich nickte langsam. „Sicher haben Sie recht. Es ist besser, wenn ich es ihnen nicht auf die Nase binde. Ich könnte sonst in Schwierigkeiten kommen.“
„Sie würden ganz sicher in Schwierigkeiten kommen“, sagte das Mädchen ernst.
„Werden Sie bezeugen, dass ich es nicht gewesen sein kann?“ fragte ich noch einmal.
„Natürlich“, sagte sie.
Ich atmete auf und lächelte sie an. „Ich heiße übrigens Manuel Krüger.“
„Ich heiße Brigitte Stolzenberg.“
„Ich hätte wetten können, dass Sie einen sehr schönen Namen haben“, sagte ich.
„Warum?“
„Zu einer schönen Frau passt einfach nur ein schöner Name“, erklärte ich.
„Sie brauchen mir nicht zu schmeicheln“, sagte sie. „Ich sage auch so für Sie aus.“
„Das ist nicht geschmeichelt“, widersprach ich. „Das ist die reine Wahrheit.“
Sie lächelte, und in ihren Augen blitzte es kurz auf.
„Brigitte ist einer der schönsten Mädchennamen, die es gibt“, sagte ich.
„Mir gefällt der Name nicht.“ Sie rümpfte die Nase. “Ich würde lieber Dagmar oder Elisabeth oder Christine heißen. Oder Ruth.“
„Brigitte passt besser zu Ihnen“, sagte ich. „Wissen Sie, woher der Name kommt und was er bedeutet?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Er stammt aus dem altirischen und bedeutet soviel wie die Tugendhafte, die Erhabene.“
„Sehe ich sehr erhaben aus?“ fragte sie.
Ich lachte. „Nein, nicht sehr. Einfach nur schön.“
Statt ihrer Antwort drang plötzlich eine keifende, schrille Frauenstimme an mein Ohr: „Das ist der Mann. Herr Kommissar, das ist der Mann! Er war es!“
Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Keine zehn Schritte von uns entfernt, stand die Frau, die vorher hinter Brigitte Stolzenberg gestanden hatte und gegen die ich bei meinem Ausweichmanöver gestoßen war.
Ihr ausgestreckter Finger zeigte auf mich.
Sekundenlang saß ich wie erstarrt. Ich starrte die Frau an, die mit dem Finger auf mich zeigte, und ich konnte mich nicht rühren.
Dann kam ein Mann auf mich zu und blieb vor mir stehen.
„Stimmt das, was die Frau sagt?“ fragte er. Er hatte eine tiefe, irgendwie sympathische Stimme.
„Ich weiß gar nicht, was die Frau von mir will“, antwortete ich mit heißerer Stimme.
„Die Frau behauptet, Sie hätten den Mann in den Schienenschacht gestoßen“, erklärte der Mann. Er war klein und dick, hatte ein rundes Gesicht und freundlich blickende Augen. Er war ungefähr Mitte fünfzig.
„Die Frau muss verrückt sein“, sagte ich. „Ich habe den Mann nicht vor den Zug gestoßen. Die Frau lügt. Fräulein Stolzenberg wird Ihnen bestätigen, dass ich es nicht getan habe. Ich bin nur zur Seite getreten.“
Ein Teil der Menge hatte sich jetzt um uns geschart, und sie starrten mich an wie einen Schwerverbrecher. Der Kommissar winkte zwei uniformierte Beamte heran.
„Die beiden werden Sie jetzt aufs Präsidium bringen“, sagte er zu mir. „Dort werden wir uns weiter unterhalten.“
„Und was ist mit mir?“ fragte Brigitte Stolzenberg.
„Haben Sie etwas zur Sache auszusagen?“
„Ja.“
„Gut, nehmt sie auch mit.“
Die Beamten nahmen uns in die Mitte und führten uns zur Treppe. Ein Mann kam die Treppe herauf gerannt. Er hatte einen Fotoapparat um den Hals hängen. Als er uns sah, blieb er stehen und schoss ein paar Fotos. Einer der Beamten jagte ihn weg, und der Mann ging lachend weiter.
Während wir die Treppe hinunter gingen, berührte ich Brigittes Hand. Ich drückte sie kurz und lächelte sie an, und sie lächelte zurück.
„Es wird alles gut werden“, flüsterte sie leise.
Ich nickte ihr dankbar zu.
Als wir draußen auf dem Bahnhofsplatz standen, blieb ich stehen und atmete ein paar Mal tief ein.
„Mein Gott, tut die frische Luft gut.“
Einer der beiden Beamten hielt die Tür eines Audi’s auf.
„Kommen Sie, steigen Sie ein.“
Wir stiegen beide hinten ein. Einer der Polizisten setzte sich hinter das Steuer; der andere nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Als wir losfuhren, sah ich Onkel Bodo wieder. Er stand vor einer Fußgängerampel und wartete auf grün. Aber ich war sicher, dass er mich nicht gesehen hatte.
Im Neuen Bau mussten wir uns in einem Korridor auf eine Bank setzen und warten. Einer der beiden Beamten setzte sich zu uns, der andere wollte wieder weggehen. Ich hielt ihn noch zurück.
„Hören Sie, ich muss dringend telefonieren.“
Die Beamten sahen sich an, und der eine, der neben uns saß, schüttelte den Kopf.
„Das geht jetzt nicht“, sagte er. „Da müssen Sie schon warten, bis der Kommissar kommt.“
„Was soll das?“ fragte ich. „Bin ich festgenommen oder verhaftet?“
„Nein“, erklärte der andere Beamte. „Sie sind nur zur Vernehmung hier.“
„Dann kann ich auch telefonieren“, sagte ich. „Dazu habe ich das Recht.“
Sie sahen sich wieder unschlüssig an.
„Wen wollen Sie anrufen?“ fragte der Polizist, der noch stand.
„Ich möchte meine Frau anrufen, und ich muss meine Dienststelle verständigen.“
„Wo arbeiten Sie?“
„Ich bin Finanzbeamter.“
Die beiden sahen sich wieder an. Dann nickte der eine, der vor uns stand.
„Gut. Warten Sie.“
Er ging weg und kam fünf Minuten später wieder zurück.
„Sie können telefonieren“, sagte er. „Kommen Sie.“
Er führte mich in ein Büro. Ein junger Mann mit roten Haaren saß hinter einem Schreibtisch und musterte mich eingehend. Die Tür zum angrenzenden Zimmer stand offen, aber soviel ich sehen konnte, war es leer.
Auf dem Schreibtisch, an dem der Rothaarige saß, war das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und wählte die Nummer meiner Dienststelle. Mein Kollege Joachim Kurz war am Apparat, und ich sagte ihm, dass ich nicht vor Mittag kommen könnte. Er wollte wissen, was los war, aber ich erklärte ihm, ich würde es ihm später erzählen.
Dann rief ich Evelyn an. Sie war zu Hause. Sie war schon seit ein paar Tagen krank geschrieben. Ihre Migräne machte ihr wieder zu schaffen.
„Ach, du bist’s.“ Ihre Stimme klang verschlafen und mürrisch.
„Evi, kannst du dich noch an den Rechtsanwalt erinnern, den wir vor einiger Zeit kennen gelernt haben?“ erkundigte ich mich.
„Meinst du diesen Degenbach oder Degenberg oder so?“
„Nein, Degenhardt hieß er. Helmut Degenhardt.“
„Na, dann eben Degenhardt. Was ist mit ihm?“
„Er hat mir doch damals seine Karte gegeben. Sie steckt in meiner Brieftasche. Wärst du bitte so gut und würdest die Karte ans Telefon holen?“
„Wozu brauchst du sie?“
„Ich weiß noch nicht, ob ich ihn brauche“, erklärte ich geduldig. „Aber ich möchte sicherheitshalber seine Telefonnummer haben.“
„Was ist los?“ Ihre Stimme wurde lebhafter. „Wo steckst du?“
„In Schwierigkeiten.“
„Schon wieder?“
„Was heißt da schon wieder? Gestern warst du es, die in Schwierigkeiten steckte. Und eigentlich bist du dran Schuld, dass ich jetzt hier auf der Polizei bin! Hättest du gestern das Auto nicht kaputt gefahren, hätte ich heute nicht mit dem Zug fahren müssen, und dann wäre mir das alles nicht passiert...“
„Ja, ja, schon gut“, beschwichtigte sie. „Was sind das für Schwierigkeiten? Muss ich mir Sorgen machen?“
„Ich weiß es noch nicht. Ich bin hier im Neuen Bau bei der Kriminalpolizei. Ich bin nur zur Vernehmung hier, wie man mir sagte. Ein Mann ist heute Morgen auf dem Bahnhof vor den Zug gefallen und überrollt worden. Ich stand genau daneben und habe es gesehen. Jetzt bin ich hier, um meine Aussage zu machen.“
„Mein Gott, ist der Mann richtig überfahren worden?“
„Natürlich ist er richtig überfahren worden.“
„Und du hast zugesehen?“
„Mir blieb keine Wahl. Ich stand ja daneben.“
„O Gott, wie schrecklich.“
„Ja, es war schrecklich. Wärest du jetzt bitte so lieb und würdest die Karte aus meiner Brieftasche holen?“
„Wozu brauchst du eigentlich einen Rechtsanwalt, wenn du nur eine Aussage machen musst?“
„Ich werde ihn vermutlich nicht brauchen“, sagte ich. „Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn ich seine Telefonnummer in der Tasche habe. Nur für den Fall eines Falles.“
„Gut, Manuel, ich hole dir die Karte.“
Ich hatte ihr absichtlich nicht gesagt, dass es sich bei dem Toten um Klaus Brandner handelte und dass ich deshalb die Telefonnummer eines Rechtsanwaltes brauchte. Ich wollte nicht, dass sie sich aufregt. Es ging ihr zurzeit ohnehin nicht besonders gut. Sie würde es noch früh genug erfahren.
Nach einer Minute war sie wieder am Apparat. Der Rothaarige hatte mir wortlos einen Zettel und einen Kugelschreiber zurechtgelegt.
Ich notierte mir die Nummer von Rechtsanwalt Degenhardt, und Evelyn überschüttete mich noch mit guten Ratschlägen, und ich musste ihr versprechen, sofort wieder anzurufen wenn ich hier fertig war.
Ich versprach es ihr und legte auf.
Ich bedankte mich bei dem rothaarigen jungen Mann und ging wieder hinaus. Ich zweifelte nicht daran, dass das leere Büro das Büro des Kommissars war und dass der Rothaarige einer seiner Mitarbeiter war. Sicher würde er dem Kommissar von dem Telefongespräch erzählen. Aber das störte mich nicht.
Als ich wieder neben Brigitte Stolzenberg auf der Bank saß, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Evelyn nach Onkel Bodo zu fragen. Es wäre ja möglich gewesen, dass er erst bei mir zu Hause war.
Aber dann sagte ich mir, dass Evelyn bestimmt etwas gesagt hätte, wenn Onkel Bodo sich gemeldet hätte. Schon deshalb, weil sie noch gar nichts von Onkel Bodo wusste. Ich hatte vergessen, ihr von ihm zu erzählen. Aber wir waren auch erst vier Monate verheiratet.
Brigitte Stolzenberg sagte: „Alles erledigt?“
„Alles klar. Ich habe mir die Telefonnummer eines Rechtsanwalts geben lassen. Sicherheitshalber.“
„Ich hoffe, Sie werden ihn nicht brauchen.“
„Das hoffe ich auch.“
Der Kommissar war Hauptkommissar und hieß Dangel. Er war der Leiter der Abteilung Tötungsdelikte. Sein Mitarbeiter war ein großer, schlanker Mann mit dunklem lichtem Haar und einem dichten Schnurbart. Er hieß Mayer und war Oberkommissar. Und wie ich vermutet hatte, gehörte auch der Rothaarige dazu. Er hieß Staudinger und war Kommissar. Er war der jüngste in dem Dreierteam.
Brigitte Stolzenberg und ich kamen in getrennte Räume. Oberkommissar Mayer blieb bei Brigitte Stolzenberg. Hauptkommissar Dangel und der Rothaarige nahmen mich in die Zange. Der Hauptkommissar saß mir gegenüber. Rechts hinter mir saß Staudinger. Er hielt einen Stenoblock in den Händen.
Nachdem der Hauptkommissar sich und seine Mitarbeiter vorgestellt hatte, kam ich an die Reihe. Ich hatte zwar schon Angaben zur Person gemacht, aber er wiederholte alles noch einmal.
„Sie heißen Manuel Krüger und wohnen im Merianweg achtundfünfzig.“
„Ja.“
„Wie alt sind Sie, Herr Krüger?“
„Siebenundzwanzig.“
„Verheiratet?“
„Ja. Seit vier Monaten.“
„Kannten Sie den Toten?“
„Ja“, sagte ich zögernd.
Das Gesicht Dangels blieb undurchdringlich. Er ließ nicht erkennen, ob er von meinem Ja überrascht war oder nicht.
„Woher kannten Sie den Toten?“
„Er wohnt nicht weit von mir entfernt.“
„Hatten Sie näheren Kontakt zu ihm?“
Die Frage musste ja kommen.
„Ich konnte ihn nicht riechen“, sagte ich offen.
„Warum?“
„Weil er hinter meiner Frau her war.“
„Hat er Ihre Frau belästigt?“
„Ja. Dauernd.“
„Was hat er gemacht?“
„Er ist ihr nachgestiegen und ist sogar schon ins Haus gegangen, wenn ich nicht da war.“
„Woher wissen Sie, dass er bei Ihnen in der Wohnung war?“ wollte der Hauptkommissar wissen. „Sie waren doch nicht zu Hause.“
„Meine Frau hat es mir erzählt.“
„Und was hat sie gemacht?“ fragte der Kommissar weiter. „Hat sie ihn rausgeworfen?“