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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Erk F. Hansen

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7481-2708-6

Dithmarschen -
das letzte Abenteuer Europas

(T-Shirt-Aufdruck, gesichtet auf dem Wacken Open Air)

Südlich der Eider
Dithmarscher Novelle

Ein Album in 99 literarischen Bildern

[Die Marsch] kennt keine Berge, keine Wälder […], nur flaches, einförmiges, unendlich ergiebiges Land, nur freie, wohlhabende, stolze Bauern, nur in kleinen Städtchen von 2-4000 Bewohnern vereint fleißig arbeitende kleine Bürgers- und Krämersleut. In solch einem Städtchen - Wesselburen - ist Friedrich Hebbel geboren, in ähnlichen Klaus Groth, Theodor Storm […].

(Klaus Groth, Land und Leute in Dithmarschen; SW VI, 20)

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1. Tag: Büsum - Wesselburen - Heide -
Hemmingstedt - Büsum

Tönning. Durch die Windschutzscheibe ist hinten rechts der hohe spitze Kirchturm von St. Laurentius zu sehen (und natürlich musste mir sofort wieder dieser vermaledeite Vers von Storm einfallen: den würde ich wohl nie mehr aus dem Kopf kriegen! »De Tönninger Torn is hoch un spitz, de Husumer Herrn hemm Verstand in de Mütz«). Ebenfalls rechts, aber im Vordergrund, jetzt das »Multimar Wattforum«. Ist auch schon etliche Jahre her, dass wir mit meinen - inzwischen verstorbenen - Schwiegereltern hier waren, und dass, bei anderer Gelegenheit, unsere Mädchen und meine beiden Neffen auf dem Spielplatz gespielt haben, der jetzt verwaist daliegt: Dunkelnasses Wetter eben, kann man nix machen. Lieber wieder auf die Straße gucken.

Immer aufs Neue merkwürdig irgendwie, nach Dithmarschen zu kommen, so als Nordfriese, aber die Frau neben mir auf dem Beifahrersitz freut sich, denn sie ist Dithmarscherin, seit über 30 Jahren mit mir verheiratet und die Mutter unserer beiden Töchter. Gleich kommt die Brükke über die Eider, in der Mitte die Grenze: Heutzutage ohne Gefahr zu überqueren, war damals anders. Noch zu unserer Hochzeit, vor gut 30 Jahren, wie gesagt, die Urkunde ihrer drei Brüder, auf einem angerauchten und an den Seiten angebrannten festen braunen Papierbogen, das Ganze also auf den 'look' einer alten Urkunde getrimmt:

An E**, den Schrecklichen, Beschützer von Witwen und Waisen, Eroberer von den Frieslanden, Sieger von Haithabu und Birka.

Als Zeichen unserer Freundschaft geben wir II Fladenbrote und I Schwester. Für E**** E******** E*** erwarten wir 10 20 30 Gehörnte. Übergabe im Ostermond beim ersten Vollmond an der Eidermündung. Wenn du nicht da bist, kommen wir, und nehmen nicht nur unsere Schwester wieder mit.

Möge Thor sich gnädig erweisen.

B****, der Rächer von 1500

J***, der Reiter gegen Wind und Sturm

U**, der Kämpfer gegen Sachsen und Dänen

Postscriptum: Achte aufs Gebiss, getauscht wie besehen.

Wir hatten wenig Lust, uns durch die Dörfer zu tüddeln, also weiter auf der B5 Richtung Heide. Die Strecke hätten die Dithmarscher ruhig auch dreispurig ausbauen dürfen, Platz genug dafür hätten sie gehabt. Am Anfang der A23 Abfahrt Heide-West dann raus, Richtung Büsum.

Das erste, was man von Büsum sah: Dieses schreckliche Hochhaus (85m), das die Silhouette verschandelte, vergleichbar nur der noch schlimmeren Bausünde des Wikingturms in Schleswig (90m), 'Twin Towers' des Hässlichen. Büsum-Schleswig: knapp eineinhalb Stunden Autofahrt. Wie vielen Flugminuten entsprach das (mittelgroße Propellermaschine)?

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Eingecheckt hatten wir in einem kleinen, aber feinen Hotel in Büsum, Zentrumsnähe, und das Schönste an so einem Hotelaufenthalt ist ja das Frühstück: Mettbrötchen mit frischen Zwiebeln! Oder: 'Scrambled eggs with crispy bacon', ich liebe das Zeugs! Meine Frau eine eher 'süße' Frühstückerin, ihr ist der Kaffee wesentlich wichtiger (sie mit Milch, ich trinke ihn schwarz: 'black is beautiful'); sie betont stets den Vorteil des 'Nicht-selbst-aufdecken-und-abräumen-Müssens'.

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Da kann man nichts machen: Wer das Hebbel-Museum in Wesselburen und das Groth-Haus in Heide sehen will, muss nach Dithmarschen. Nur das Storm-Haus liegt auf der sicheren Seite in Husum, und das sind ja nun einmal unsere »Großen Drei« von der Westküste: der Novellist Theodor Storm, der (plattdeutsche) Lyriker Klaus Groth und der Dramatiker Friedrich Hebbel, alle drei Zeitgenossen zudem. »Friedrich Hebbel unten, der Proletariersohn, Theodor Storm, der Patriziersohn, oben, Klaus Groth in der glücklichen Mitte, so sind die drei Dichter aufgewachsen.« (A. Bartels zu Groths 80stem Geburtstag, 1899 also)

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Das Hebbel-Museum öffnete erst in einer knappen Stunde seine Pforten, also nutzten wir die Zeit, uns die Kirche anzusehen. Sie wirkte auf mich überraschend geräumig, wohl auch wegen der beiden Emporen, auch hatte ich noch nie vorher ein solches »Muldengewölbe« gesehen, jedenfalls nicht, dass ich mich daran erinnerte. Auf eine feine Ironie wurden wir erst durch den kleinen Flyer aufmerksam gemacht, der auslag: Der »Blaue Stuhl«, in dem der Herzog saß und den Gottesdienst verfolgte, hing um ein Weniges höher als die Kanzel, zum Zeichen der Dominanz der weltlichen Herrschaft über die geistliche; stand aber der Pastor auf der Kanzel und hielt seine Predigt, so überragte er den sitzenden Herzog. Ob das der Grund war, weshalb er nur ein einziges Mal hier zum Gottesdienst aufgetaucht war?

Auf dem Bogen über dem Chorraum ein Spruch, der zunächst arg kryptisch auf uns wirkte:

MICh hatte Gottes WVth DVrCh fVers BrVnst Verbrant Ietzt WerD ICh aVfgebaVt DoCh WIe? Von Gottes HanD Du hältest deine Hand über mir. Ps CXXXIX V5.

Wir grübelten gemeinsam über der Entzifferung, nach einer Weile hatten wir es dann aber doch herausgebracht, der Flyer bestätigte unsere Lesart.

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»Zu Schleswig-Holstein, dem in neuester Zeit durch eine Kette von unglücklichen Ereignissen so traurig-berühmt gewordenen Geschwisterlande, gehört die Provinz Dithmarschen. Diese ist fast ganz vom Meer umflossen, hängt nur an einer einzigen Seite mit dem Kontinente zusammen und bildet noch jetzt trotz Eisenbahnen und Dampfschiffen einen für die Kultur fast verlorenen Winkel. Aber dieser Winkel dürfte einer der merkwürdigsten Europas sein, denn hier erhielt sich, im Kampfe mit den holsteinischen Herzögen und den dänischen Königen, ja mit dem deutschen Kaiser selbst, nie erliegend, oft gewaltig viktorisierend, bis zum Jahre 1559 in vollster Unabhängigkeit eine kleine Republik. Äußerlich begünstigte den winzigen Staat seine geografische Lage, die ihm die Absperrung möglich machte und ihn in den Stand setzte, mit einem geringen Aufgebot großen Heeren zu widerstehen; innerlich konservierte er sich durch drakonisch-strenge Gesetze, die mit römischer Unerbittlichkeit durchgeführt wurden. Der Tag bei Hemmingstedt, wo 500 Dithmarscher auf einem Engpaß 30000 Dänen nicht bloß schlugen, sondern, allerdings mit Hülfe der Elemente, völlig vernichteten, verdient unvergeßlich zu bleiben; ebenso aber auch der Gebrauch, ein Mädchen, das sich verging, lebendig zu begraben. Die Republik konnte nicht ewig dauern, aber ihr Ende war ein würdiges und viele republikanische Institutionen haben sich in dem Ländchen bis auf den gegenwärtigen Tag behauptet. Der Volksstamm selbst aber steht noch jetzt ungebrochen in seiner ganzen Eigentümlichkeit da, und schaut trotzig und stolz auf die übrigen, so unendlich viel früher unterworfenen Friesen herab.« (Hebbel, Selbstbiografie)

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Auffällig: Hebbels Tagebücher, die Kafka so empathisch rezipiert hatte (»Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«), setzen erst mit dem Jahr 1835 ein, also nachdem er Dithmarschen verlassen hatte, was mehrere Deutungen zuließ: Geht man davon aus, dass ein Mensch, der glücklich und mit sich im Reinen ist, kaum den Drang verspüren wird, mit einem Tagebuch in eine Auseinandersetzung mit sich selbst einzutreten, dann wäre Hebbels Leben in Wesselburen von innerer und äußerer Harmonie geprägt gewesen, was nachweislich nicht der Fall war. Oder: Hebbel hätte sich als 'Schreibenden' überhaupt erst in seinem 22. Lebensjahr entdeckt, was ebenfalls falsch ist, da er vorher schon Gedichte verfasst hat. Blieb als dritte Möglichkeit also nur, dass er sich, seine Situation, seine Perspektiven und Ziele erst in dem Augenblick reflektieren konnte, als er die Wesselburener Sozietät, in die er hineingeboren war und die ihm als selbstverständliches Lebensumfeld erscheinen musste, verlassen hatte. Wie repressiv dieses Umfeld gewesen sein muss, zeigt ja allein schon der erste Satz seines Tagebuchs: »Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß seyn kann, daß ich einen erhalten werde.« Das kann nur jemand schreiben, der durch eben diese Sozietät in brutalster Weise in seinem Selbstwertgefühl und Entwicklungspotential beschnitten und unterdrückt worden ist! Kein Wunder also, dass er es vorzog, seiner Heimat für immer den Rücken zu kehren. (Hier fiel mir wieder Arno Schmidt ein, der irgendwo sinngemäß gesagt hat, dass es für ein Land noch keine Ehre sei, Geburtsort eines Großen zu sein; sondern nur, wer sich rühmen könne, das Grab eines Großen zu beherbergen, etwas für diesen getan habe. Recht hat er. Und so gesehen hatten Storm und Groth ein wesentlich versöhnlicheres Verhältnis zu ihrer Heimat, auch wenn Groth dann in Kiel beigesetzt wurde, und nicht in Heide, seinem Geburtsort.)

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Meine These: Hebbels Dramenverständnis blieb von seiner Wesselburener Herkunft geprägt, was er in seinem Aufsatz »Ein Wort über das Drama« von 1843 als mittlerweile Dreißigjähriger doch ziemlich apodiktisch betont: »Als ob der Dichter etwas anderes geben könne, als sich selbst, als seinen eigenen Lebensprozeß!« Wie gefangen er sich dabei in seinem Leben fühlte, wie fatalistisch er jede Möglichkeit einer Veränderung des ihm zuteil gewordenen »Geschicks« leugnete - und schon die Wahl des Ausdrucks »Geschick« anstelle von »Schicksal« stellte ihn, seine Individualität ja unausweichlich in den Fokus des ihm zuteil Gewordenen -, zeigte die Aussage nur zu deutlich, »daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt.« Nun konnte dies natürlich eine variabel besetzbare Determination sein, entweder im positiven Sinne (hier mag er das Leben Goethes vor Augen gehabt haben), oder aber das andere Extrem - als Fluch, als Unglück, als Leiderfahrung aufgefasst werden. Hebbel fand dafür eine einprägsame mechanistische Metapher, die kaum Zweifel daran ließ, auf welcher Seite er sich sah: »Die beiden Eimer im Brunnen, wovon immer nur einer voll sein kann, sind das bezeichnendste Symbol aller Schöpfung.« Am verräterischsten aber waren die Formulierungen, die er in folgendem Abschnitt seiner Ausführungen wählte: »Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß es uns das Leben in seiner ganzen Breite vorführt, sondern in dem Sinne, daß es uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus [Verknüpfung, Verbindung] entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht.« Das Adjektiv »bedenklich« drückte - jedenfalls meiner Auffassung nach - klar das Gefährdende, Bedrohliche des Gegenüber von Mensch und Welt aus und war nicht etwa im Sinne des bloß 'Bedenkenswerten' zu verstehen; und »das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum«, das in einer 'Gegenüberstellung' zur Welt verblieb und sich nicht etwa harmonisch in diese integrierte, konnte, verstand man »Nexus« als 'Verknüpfung', 'Verbindung' im Sinne eines individuellen Gebundenseins an Herkunft, eigentlich nur die frühe Wesselburener Phase des Lebens Hebbels meinen, die sich somit in dieser seiner Dramenkonzeption als unentrinnbares 'Fatum', als verderbliches »Geschick« eben, erwies. Schien zu seinen Dramen, soweit ich sie kannte, zu passen, fand ich, aber ich war kein Fachmann, weder für Dramen, schon gar nicht für Hebbel. (Auf seine »Judith« und die »Genoveva« verweist er in diesem Zusammenhang ja selbst, und 1843 entstand zudem seine »Maria Magdalena«.) - Und: »[…] dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist«: klarer konnte er die innere Verbundenheit mit seiner Herkunft nicht ausdrücken - nein, das war zu positiv formuliert: nicht 'innere Verbundenheit', sondern das nach wie vor empfundene 'Angekettetsein' an die frühe Erfahrungswelt Wesselburens war gemeint, trotz des äußerlich gewonnenen geografischen Abstandes von ca. 900 km (= München, später war's dann Wien) zur 'Heimat' in Dithmarschen, was ihm als »unbegreifliche Freiheit« erschien; eine Freiheit also, deren Möglichkeiten er offenbar nie recht zu ergreifen vermochte, so scheint es.

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Eine Art 'Fressalientour': das »Kohlosseum« in Wesselburen, die Käserei in Sarzbüttel. Sehr schmackhafte Dinge, die man dort kaufen konnte, im »Kohlosseum« auch gleich noch die nette kleine Ausstellung auf dem Dachboden mitgenommen, landwirtschaftlich geprägt, was sonst. Obwohl, Industrie gab es bei den 'Ditschis' natürlich auch, kam man auf der A23 vor Heide direkt dran vorbei: die Raffinerie in Hemmingstedt. Na, ob man sowas wirklich im Ort haben wollte? Von monströser Hässlichkeit, brachte das Ding aber bestimmt jede Menge Gewerbesteuer ein, na denn. (Und wenn man im Dunkeln daran vorbeifuhr, konnte man gar nicht anders, als an Aliens zu denken.)

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