DER DUNKLE
THRON
Historischer Roman
London 1529: Nach dem Tod seines Vaters erbt der vierzehnjährige Nick of Waringham eine heruntergewirtschaftete Baronie – und den unversöhnlichen Groll des Königs Henry VIII. Dieser will sich von der katholischen Kirche lossagen, um sich von der Königin scheiden zu lassen. Bald sind die »Papisten«, unter ihnen auch Henrys Tochter Mary, ihres Lebens nicht mehr sicher. Doch in den Wirren der Reformation setzen die Engländer ihre Hoffnungen auf Mary, und Nick schmiedet einen waghalsigen Plan, um die Prinzessin vor ihrem größten Feind zu beschützen: ihrem eigenen Vater …
Rebecca Gablé studierte Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik in Düsseldorf, wo sie anschließend als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig war. Heute arbeitet sie als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann am Niederrhein und auf Mallorca. Ihre historischen Romane und ihr Buch zur Geschichte des englischen Mittelalters wurden allesamt Bestseller und in viele Sprachen übersetzt.
Besonders ihre Romane um das Schicksal der Familie Waringham genießen bei Historienfans mittlerweile Kultstatus.
www.gable.de
DER DUNKLE
THRON
Historischer Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2011 by Rebecca Gablé
Copyright der deutschen Erst- und Originalausgabe
2011 © by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Karin Schmidt
Innenillustration: Jürgen Speh
Karte: Helmut Pesch
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München
Umschlagmotiv: © Illustration Johannes Wiebel, punchdesign
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1027-3
bastei-entertainment.de
lesejury.de
Dieser Roman ist
Ihnen
gewidmet.
Genauer gesagt, all jenen Leserinnen und Lesern, die mir mit Zuschriften, Appellen, Drohbriefen und auf vielfältige andere Weise zu verstehen gegeben haben, dass sie wissen wollen, wie es mit dem Geschlecht derer von Waringham weitergeht. Ich selber wollte es auch wissen – sonst hätte ich diesen Roman nicht schreiben können. Aber ohne Sie hätte ich mich vermutlich trotzdem nie dazu entschlossen, denn wie Sie vielleicht noch aus dem Nachwort vom Spiel der Könige wissen, hatte ich einige Bedenken. Meine Leserinnen und Leser waren es, die mich umgestimmt haben, und darum ist die Existenz dieses Buches nicht zuletzt Ihr Verdienst.
Danke schön.
Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.
Nicholas of Waringham
Laura of Waringham, seine Schwester
Jasper of Waringham, ihr Vater
Yolanda »Sumpfhexe« Howard, ihre Stiefmutter
Louise »Brechnuss« Howard, ihre Stiefschwester
Raymond of Waringham, ihr Halbbruder
Philipp Durham, Lauras Gemahl
Vater Ranulf, ein miserabler Seelsorger
Polly Saddler, die Magd
John Harrison, Nicks Cousin aus dem Norden
Madog und Owen Pembroke, Nicks walisische Cousins
Henry VIII.*, König von England
Mary Tudor*, seine Schwester
Katherine »Catalina« von Aragon*, Henrys Königin Nr. 1
Mary I.*, Königin von England, ihre Tochter
Anne Boleyn*, Henrys Königin Nr. 2
Elizabeth I.*, Königin von England, ihre Tochter
Jane Seymour*, Henrys Königin Nr. 3
Edward VI.*, König von England, ihr Sohn
Anna von Kleve*, Henrys Königin Nr. 4
Katherine Howard*, seine Königin Nr. 5
Katherine Parr*, Henrys Königin Nr. 6
Jane Grey*, Königin von England, Mary Tudors Enkelin
Thomas More*, Humanist, Jurist, Schriftsteller, Lord Chancellor und brillanter Kopf
Thomas Cromwell*, Reformer, Generalvikar der englischen Kirche, Privatsekretär des Königs und graue Eminenz
Charles Brandon*, Duke of Suffolk, Nicks Pate und Ehemann von Mary Tudor
William Kingston*, der Constable des Tower, der fast immer ein volles Haus zu versorgen hatte
Edmund Howard*, ein Scheusal, Vater von Königin Nr. 5
Thomas Howard*, Duke of Norfolk, sein Bruder
Jerome Dudley*, Nicks Freund
John Dudley*, Earl of Warwick und Duke of Northumberland, sein Bruder
Robin* und Guildford* Dudley, Johns Söhne
Eustache Chapuys*, Gesandter und Spion des Kaisers am englischen Hof
George Boleyn*, Viscount Rochford, Bruder von Königin Nr. 2
Jane Parker*, Lady Rochford, seine Frau
Lord & Lady Shelton*, Chamberlain und Erste Gouvernante in Prinzessin Elizabeths Haushalt
Edward Seymour*, Earl of Hertford und Duke of Somerset, der staatstragende Bruder von Königin Nr. 3
Thomas Seymour*, der leichtsinnige Bruder von Königin Nr. 3 und Ehemann der (verwitweten) Königin Nr. 6
Francis Dereham* und Thomas Culpeper*, zwei Galane der Königin Nr. 5 von zweifelhaftem Ruf
Richard Rich*, ein widerwärtiger Mensch, der König Henry gelegentlich mit einem Meineid aus der Klemme half
Margaret »Meg« Roper*, Thomas Mores Tochter und Vertraute
Margaret Pole*, Countess of Salisbury, Prinzessin Marys Patin
Janis Finley, Lehrerin aus Leidenschaft
Susanna Horenbout*, Malerin
Simon Fish*, ein Reformer mit Sendungsbewusstsein
Thomas Wolsey*, Kardinal, Lord Chancellor und Erzbischof von York
Richard Mekins*, ein sehr junger Reformer
Edmund Bonner*, Bischof von London
Thomas Cranmer*, Erzbischof von Canterbury
Stephen Gardiner*, Bischof von Winchester
Anthony Pargeter, Gemeindepfarrer in Southwark und Engel der Barmherzigkeit
Simon Neville, Prior von St. Thomas, Priester, Lehrer und Poet
»Waringham, du bist einfach hoffnungslos.«
Nick senkte den Blick. »Ich fürchte, Ihr könntet recht haben, Master Wilford.«
Das freimütige Bekenntnis besänftigte den Lehrer nicht. Er stemmte die Hände in die Seiten und betrachtete seinen Schüler mit einem missfälligen Kopfschütteln. »Du gibst dir nicht genug Mühe!«, warf er ihm vor.
Doch, dachte Nick, ich gebe mir Mühe. Wirklich. Aber es reicht einfach nicht.
»Steh nicht da wie ein Rindvieh!«, schalt Master Wilford. »Gib gefälligst Antwort. Oder hast du vielleicht nur Sägespäne im Kopf?«
Der junge Mann sah auf. »Ich habe getan, was ich konnte, Magister. Aber ich kriege diese griechischen Buchstaben nicht in meinen Schädel. Ich kann einen halben Tag lang vor dem Buch sitzen und versuchen, sie zu lernen – eine Stunde später sehen sie wieder aus wie Hühnertritte im Schlamm. Ich …«
»Du lässt es wieder einmal an Respekt mangeln.« Der erste drohende Unterton schlich sich in die Stimme.
Kein gutes Zeichen, wusste Nick. Trotzdem entgegnete er: »Wieso? Und wovor? Vor Euch? Ich mag ein Dummkopf sein, aber es steht nicht so schlimm um mich, dass ich nicht wüsste, welch ein kluger, gelehrter Mann Ihr seid. Ich habe Respekt vor Euch, Magister. Oder vor dem noblen Gegenstand Eurer Lektionen? Doch, ich habe auch davor Respekt. Aber es hilft nichts. Ich kann diese Buchstaben nicht lernen. Es ist genau, wie Ihr sagt: Ich bin ein hoffnungsloser Fall.«
Master Wilford war selbst dann eine etwas beunruhigende Erscheinung, wenn er glänzender Laune war, denn er hatte das ausgemergelte Gesicht eines Asketen und das flammend rote Haar seiner irischen Vorfahren. Wenn seine Miene sich verfinsterte, so wie jetzt, sah er aus wie ein sommersprossiger Totenschädel. »Das ist inakzeptabel! Du wirst mit deinen Studien nicht weiterkommen, wenn du des Griechischen nicht mächtig bist, also musst du es lernen. Wie willst du Aristoteles je lesen, wenn du diese lächerlichen vierundzwanzig Buchstaben nicht meisterst?«
Und was, wenn ich Aristoteles überhaupt nicht lesen will?, lag Nick auf der Zunge, aber er hielt sie ausnahmsweise im Zaum.
Sie führten ihren Disput auf Lateinisch. Als Nick vor zwei Jahren in dieses Haus gekommen war, hätte er nie für möglich gehalten, dass er die fremde Sprache je gut genug meistern würde, um sie so mühelos anzuwenden, denn er hatte schon damals gewusst, dass er für solcherlei Dinge nicht so begabt war, wie sein Vater es sich wünschte. Dennoch hatte er es geschafft. Und er war stolz darauf, gerade weil es so schwer für ihn gewesen war.
Hubert und Andrew, seine beiden Banknachbarn, beäugten ihn aus den Augenwinkeln, so als hofften sie, dass er irgendetwas Schlagfertiges, aber Unverschämtes von sich geben würde, das ihn in Schwierigkeiten und sie zum Lachen brachte. Das tat er gelegentlich, denn die meisten seiner Mitschüler waren ihm bei ihren Studien überlegen, und so war es der einzige Weg für Nick, sich zu behaupten. Er gab den Narren und nahm die Folgen klaglos hin, damit die anderen seine Verwegenheit bewunderten. Doch heute fehlte ihm die Lust zu diesem Spiel, und zum ersten Mal kam ihm der Verdacht, dass die Mitschüler ihn eher mitleidig belächelten, als ihn zu bewundern.
Er unterdrückte ein Seufzen. »Ich werde mir mehr Mühe geben, Magister«, stellte er in Aussicht, doch er hörte selbst, dass es ihm an Elan mangelte.
»Das kann ich dir nur raten«, brummte Master Wilford, und als er sich an Hubert wandte, hellte seine Miene sich auf. »Dann lies du uns die ersten beiden Zeilen vor und übersetze, Rudstone.«
Während Nick zurück auf seinen Hocker sank, schnellte der Sohn des Londoner Lord Mayor in die Höhe, als stünde der seine in Flammen. »Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὂς μάλα πολλὰ / πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε«, trug er vor, anscheinend ohne die geringste Mühe. »Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der so weit herumgetrieben wurde, nachdem er Troja, die heilige Stadt, zerstört hatte.«
»Hervorragend«, lobte Master Wilford zufrieden.
Nick wandte den Blick zum Fenster und sah auf den Fluss hinab. Das ist einfach widerwärtig, dachte er. Musst du mir ständig unter die Nase reiben, wie leicht es dir fällt? Warte, bis wir allein sind, Rudstone …
Ein Boot glitt ans Ufer, und als Nick seinen Gastgeber und Förderer aussteigen sah, schämte er sich seiner missgünstigen Gedanken.
Sobald Master Wilford sie aus dem Schulraum entließ, lief Nick die Treppe hinab und ins Freie. Er beeilte sich, um Hubert und Andrew abzuhängen, denn er war nicht in der Stimmung, sich ihre Spötteleien anzuhören.
Es hatte aufgehört zu regnen. Nick umrundete das Gebäude und ging in den weitläufigen Garten hinter dem Haupthaus, der sich bis zur Flussmauer zog. Die Sonne brach zwischen den immer noch unheilvollen Wolken hervor und ließ die Tropfen auf den Blättern der Obst- und Maulbeerbäume funkeln. An der Ostseite des Obstgartens fand Nick eine Bank, wischte nachlässig mit dem Ärmel über die nasse Sitzfläche und ließ sich nieder. Einen Moment beäugte er das schwere Buch auf seinen Knien, als rechne er damit, dass es sich in ein gefräßiges Ungeheuer verwandeln könne. Dann schlug er es auf und blätterte ohne große Lust zu der Seite, die das griechische Alphabet einführte.
Er war bis Zeta gekommen, als eine Stimme ihn aus seinen Studien riss. »Vergebt mir, Sir …«
Er sah auf. »Ja?«
Ein altes Weib in Lumpen stand auf dem Kiesweg vor ihm, und sie stützte einen ebenso alten Mann, der sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte. »Es heißt, hier gibt es eine Armenspeisung?«, fragte die Alte.
Nick wies nach links. »Geht um das Haus mit dem Efeu herum, dann kommt ihr in den vorderen Hof. Die Suppenküche ist in dem strohgedeckten Gebäude auf der anderen Seite. Fragt nach Lady Meg Roper, sie gibt euch zu essen.«
Sie legte den Arm um ihren Gefährten und wollte sich abwenden.
»Wartet.« Nick stand von der Bank auf, klappte das Buch zu und wusste nicht, wohin damit. Wenn er es auf der feuchten Bank ablegte, war er ein toter Mann … »Denkst du nicht, der alte Knabe hier gehört in ein Hospital?«, fragte er die Gevatterin unsicher.
Sie schnaubte. »Da bringen sie ihn ganz sicher um. Nein, er braucht etwas zu essen. Dann wird er wieder.«
»Also gut. Ich bring euch hin. Komm, lass dir helfen.« Er zögerte noch einen Moment mit dem Buch in der Hand, als eine tiefe Stimme hinter ihm sagte: »Leih es mir, wenn du so gut sein willst, Nicholas. Geleite unsere Gäste zu meiner Tochter, und anschließend komm wieder her.«
Nick wandte sich um und verneigte sich. »Sir Thomas.« Was hatte dieser Mann nur an sich, dass man immer geneigt war zu denken: ›Dich schickt der Himmel‹? Mit einem erleichterten Lächeln legte Nick das kostbare Buch in die ausgestreckten großen Hände. »Ich glaube nicht, dass Ihr noch viel Neues daraus lernen könnt«, bemerkte er.
»Bei jedem Blick in ein jedes Buch kann man etwas Neues lernen, will mir scheinen, weil man nie derselbe Mann ist wie der, welcher letzte Woche darin gelesen hat. Oder?«
»Ich bin nicht sicher«, bekannte Nick.
»Dann denk nach, und wir reden darüber, wenn du zurückkommst.«
Nick legte den Arm um den entkräfteten alten Mann und brachte das Bettlerpaar in den vorderen Hof, wo reger Betrieb herrschte: Lieferanten, Bittsteller, Gelehrte, Juristen und Angehörige des großen Haushaltes bildeten ein buntes Menschengewirr.
»War er das?«, fragte die alte Frau, und vor Ehrfurcht senkte sie unwillkürlich die Stimme. »Der Gentleman im Garten?«
Der junge Waringham nickte. »Ja. Das war er.«
Sir Thomas More hatte einen Fuß auf die Bank gestellt, balancierte den dicken Folianten auf dem Knie, hatte die Arme darauf verschränkt und sah mit konzentriert gerunzelter Stirn zu einer Reihe mannshoher Königskerzen hinüber. Nick blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen und wartete. Er kannte diesen Gesichtsausdruck und wusste, es waren nicht die Blumen, die Sir Thomas so in ihren Bann geschlagen hatten, sondern irgendein Gedanke, den er verfolgte. Und da es sich bei Sir Thomas’ Gedanken in der Regel um Perlen frommer Weisheit oder aber um Ideen von staatstragender Bedeutung handelte, verhielt Nick sich möglichst still, um den Fluss nicht zu unterbrechen.
Scheinbar unvermittelt kehrte der Gelehrte in die Gegenwart zurück, richtete sich auf und klemmte das Buch unter den Arm. »Hast du Meg gefunden?«
»Ja, Sir. Sie war nicht übermäßig entzückt von den verspäteten Gästen, denn die Küche war aufgeräumt und die Töpfe geschrubbt, aber sie hat Brot und Blutwurst und Bier aufgetischt. Und sie hat gesagt, wenn der alte Mann die Pest oder das Schweißfieber hat, werden wir alle zugrunde gehen an Eurer Mildtätigkeit.«
Sir Thomas entblößte zwei Reihen großer, bemerkenswert gesunder Zähne in einem Lächeln, das man kaum anders als spitzbübisch nennen konnte. »Sie ist eine gute Seele, meine Meg. Sie fürchtet lediglich, dass ich es mit der Mildtätigkeit zu weit treibe und uns an den Bettelstab bringe. Sie denkt, es mangele mir an Vernunft.«
»Ich weiß, Sir.« Aber Nick war überzeugt, Lady Meg sorgte sich unnötig. Sir Thomas war in der Tat großzügig mit Almosen, aber er war auch reich. Und kein Mann, der den Blick für das rechte Maß je verlor.
»Komm, mein Junge«, lud er ihn nun ein, »lass uns ein Stück am Fluss entlanggehen.«
Eine Mauer trennte den Garten des Anwesens von den flachen Uferwiesen, und damit die häufigen Themse-Hochwasser nicht ungehindert hereinströmen konnten, führte eine kleine Treppe zu einem erhöhten Tor in der Mauer, eine zweite auf der anderen Seite wieder hinab.
Sir Thomas wandte sich nach rechts, wo der Uferpfad nach hundert Schritten in ein lichtes Wäldchen eintauchte. »Hier, nimm du das Buch wieder.« Er drückte es Nick in die Hände. »Vielleicht wird sein Gewicht dich überzeugen, dass es letztlich doch leichter ist, den Inhalt im Kopf mit sich herumzutragen.«
Nick nahm es bereitwillig, aber er antwortete nicht.
Sir Thomas warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, und unter den buschigen Brauen funkelte es belustigt. »Du weißt, dass Schweigen dem Gesetz nach als Zustimmung zu deuten ist, nicht wahr?«
»Ist das nicht ein törichtes oder gar gefährliches Gesetz?«
»Inwiefern?«
Nick überlegte einen Moment. »Nun, es gibt so viele Gründe, die einen zum Schweigen zwingen können: Loyalität. Das Gewissen. Das Bestreben, einen anderen zu beschützen. In solchen Fällen muss man schweigen, obwohl man gerne Widerspruch und Einwände erheben würde. Wenn das Gesetz aber sagt, Schweigen bedeutet Zustimmung, dann wird der Schweigende per Gesetz missverstanden.«
»In dem Fall muss er sein Schweigen vielleicht brechen. Loyalität, das Gewissen oder der Wunsch, einen anderen zu schützen, sind redliche und gottgefällige Motive, kein Zweifel, aber vor Gericht geht es in erster Linie darum, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sagt also Jack vor dem Richter: ›John hat gesehen, wie Jim mein Schaf gestohlen hat‹, und John schweigt, wertet der Richter dies als Bestätigung, dass er den Diebstahl tatsächlich gesehen hat.«
»Was aber, wenn John von Jack bestochen wurde, in Wahrheit gar nichts gesehen hat und nur schweigt, um vor Gericht nicht die Unwahrheit zu sagen?«
»Dann ist auch sein Schweigen eine Lüge«, räumte Sir Thomas ein.
»Für die er nie zur Verantwortung gezogen wird, weil der Richter sein Schweigen als Zustimmung wertet, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Hm«, machte der Gelehrte und nickte versonnen. »Du vergisst eine Kleinigkeit.«
Nick wusste, was er meinte. »Ja, sicher, Gott sieht die Lüge und wird den Zeugen zur Rechenschaft ziehen. Aber geht es bei einem Gerichtsverfahren nicht um irdische Gerechtigkeit?«
Sir Thomas hob eine knochige Hand und winkte seufzend ab. »Glaub einem Mann, der jahrelange Erfahrung mit irdischer Gerichtsbarkeit hat: Sie ist so unvollkommen, dass wir auf göttliche Gerechtigkeit niemals verzichten können. Denn unsere Gerichte, unsere Richter und Urteile sind so fehlbar wie die menschliche Natur, Nicholas.«
Er blieb stehen, um zwei Schmetterlinge zu beobachten, die in einem Klecks aus Sonnenlicht umeinandertaumelten, so als seien sie trunken vor Glück über die Rückkehr des Sommers nach den langen Wochen des Regens. Nick blickte zum Himmel auf und sah, dass die Freude der Schmetterlinge nicht lange währen würde. Der Sommer gab nur ein kurzes Gastspiel. Neue dunkle Wolken zogen von Westen heran, und nach wenigen Augenblicken verschluckten sie die Sonne wieder, verwandelten den leise murmelnden Fluss, der zu ihrer Linken durch die schmalen Birkenstämme schimmerte, in eine bleigraue Masse und den Schatten unter den Bäumen in bräunliches Zwielicht. Nick fröstelte.
»Du schweigst ja schon wieder, Nicholas«, zog Sir Thomas ihn auf. »Mir scheint, du bist niedergeschlagen.«
Der junge Waringham ging neben ihm einher und passte seinen von Natur aus raschen Schritt dem gemächlichen Gang seines Mentors an. »Nein, Sir Thomas. Nicht niedergeschlagen. Aber ich beginne zu ahnen, dass dieser gemeinsame Spaziergang kein Zufall ist und nichts Erfreuliches zu bedeuten hat. Das macht mich vielleicht ein wenig nervös.«
Sir Thomas blieb wieder stehen. »Wie kommst du darauf?«, fragte er neugierig.
»Ihr seid Richter, Gelehrter, Mitglied des Kronrats und Ratgeber sowohl des Königs als auch seines Lord Chancellor. Ihr habt so viele wichtige Dinge zu tun, dass der Tag niemals genug Stunden für Euch hat. Darum kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihr zum Zeitvertreib meine Gesellschaft sucht.«
»Ich fände es bedauerlich, wenn der Eindruck entstanden wäre, dass ich eine Unterhaltung mit den studiosi meiner kleinen Schule für Zeitverschwendung hielte.« Es klang eine Spur pikiert. Und schuldbewusst.
Nick ließ Sir Thomas nicht aus den Augen, und er war beinah amüsiert über dessen Unbehagen, wenngleich sein Herz mit jedem Schlag schwerer wurde. Die dunklen Augen erwiderten seinen Blick unverwandt. Thomas More war ein großgewachsener Mann, aber Nicholas musste kaum mehr zu ihm aufschauen. »Von den zwölf studiosi Eurer ›kleinen Schule‹, wie Ihr sie zu nennen beliebt, wären elf klügere Gesprächspartner als ich, wie Ihr sehr wohl wisst, Sir.« Er senkte den Blick, denn er konnte das Lodern in Thomas Mores Augen nicht länger aushalten. Er räusperte sich und zwang sich fortzufahren: »Ihr wollt mich nach Hause schicken, nicht wahr?«
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Ja. Es ist so«, räumte Sir Thomas ein.
Nick biss die Zähne zusammen, weil ihm von dem gütigen Tonfall ganz elend wurde.
»Lass mich dir die Gründe erklären, mein Junge …«
»Oh, ich kenne die Gründe«, erwiderte Nick bedrückt. »Master Wilford hat völlig recht. Ich werde mit meinen Studien nicht weiterkommen, als ich jetzt bin. Ich habe einfach nicht das Zeug zum Gelehrten. Und es gibt zu viele Jungen in England, die einen Platz in Eurer Schule viel mehr verdient haben als ich.«
»Du hast mich unterbrochen und unterstellst, meine Gedanken zu kennen. Das ist ebenso ungehörig wie gefährlich.« Es war eine eigentümliche Mischung aus Strenge und Milde, die in der Stimme schwang.
Nick biss sich auf die Unterlippe. »Tut mir leid, Sir. Die lose Zunge ist ein Familienübel …«
Der Pfad schlängelte sich aus dem Schatten der Bäume und näher ans Ufer. Ein halb verfallenes Ruderboot lag mit dem Kiel nach oben im hohen Gras. Sir Thomas’ wadenlanger dunkler Mantel wurde feucht, als er Nick dorthin führte, auf dem Rumpf Platz nahm und den Jungen mit einer Geste aufforderte, es ihm gleichzutun.
Dann wandte er sich ihm zu. »Es mangelt dir nicht an Verstand. Aber ich stimme dir zu, wenn du sagst, dass du nicht zum Gelehrten geboren bist. Nicht alle Menschen können das sein, Nicholas, denn dann würden wir verhungern«, schloss er mit einem Lächeln.
Nick befingerte einen Splitter im spröden, gräulichen Holz des Rumpfes. »Ihr habt recht, Sir. Und obwohl ich diesen Ort und die Menschen hier vermissen werde, verspürt ein Teil von mir Erleichterung. Aber es wird eine bittere Enttäuschung für meinen Vater sein.«
Sir Thomas wiegte den Kopf hin und her. »Das glaube ich nicht. Ich denke eher, er wird dir hoch anrechnen, dass du zwei Jahre lang so hart gearbeitet hast. Er mag zerstreut und weltfremd sein, aber dennoch kennt er seine Söhne. Im Übrigen ist er der Grund, warum ich dich bitten will, nach Hause zurückzukehren.«
»Mein Vater?«, fragte Nick verwundert, und sogleich beschlich ihn ein grässlicher Gedanke. »Ist er krank?«
»Nein. Es ist schlimmer. Ich fürchte, dein Vater ist ein Ketzer.«
Nick antwortete nicht.
»Ich merke, das ist dir nicht neu.«
Der junge Waringham schaute verblüfft auf. Er glaubte, einen Tonfall strenger Missbilligung gehört zu haben, und als er Sir Thomas ins Gesicht sah, erkannte er, dass er sich nicht getäuscht hatte: Die Miene war untypisch sturmumwölkt.
»Er … er ist kein Ketzer, Sir«, widersprach Nick verlegen. »Nur weil er manchmal mit Lutheranern auf dem Kontinent korrespondiert, heißt das doch nicht …«
»Es ist besser, du sprichst nicht weiter«, unterbrach Thomas More, aber er klang wieder gütig, so wie Nick ihn kannte. »Was ich nicht gehört habe, kann ich vor keinem Gericht wiederholen, nicht wahr?«
Nick spürte einen eisigen Schauer seinen Rücken hinabrieseln, und das lag nicht daran, dass der Regen mit vereinzelten dicken Tropfen wieder einsetzte. »Mein Vater ist kein Ketzer«, wiederholte er mit mehr Nachdruck.
Sir Thomas nickte. »Wie alt bist du, Nicholas?«
»Vierzehn, Sir. Nächsten Monat. Am zweiundzwanzigsten.«
»Ah. An St. Andrew.« Sir Thomas lächelte flüchtig. Offenbar hatte er eine Schwäche für den Nationalheiligen der Schotten.
»Und der Jahrestag der Schlacht von Bosworth«, fügte Nick hinzu. Genau dreißig Jahre nach jener schicksalhaften Schlacht war er zur Welt gekommen.
»Ach, richtig«, murmelte Sir Thomas, der für Schlachten nicht viel übrig hatte. Darum fiel Nick aus allen Wolken, als der Gelehrte fortfuhr: »War es nicht dein Urgroßvater, der die gefallene Krone unter einem Dornbusch gefunden und sie dem siegreichen Henry Tudor aufs Haupt gesetzt hat?«
»So berichtet es unsere Familienlegende«, räumte Nick ein. »Ich bin nie sicher, ob ich es glauben soll. Wenn es stimmt, haben die Waringham jedenfalls nicht lange gebraucht, um vom Gipfel des Ruhms zu stürzen und in Bedeutungslosigkeit zu versinken.«
»Das verbittert dich?«
Nick dachte einen Moment darüber nach. »Nein«, antwortete er dann. »Verbitterung wäre ein zu großes Wort dafür. Es wundert mich. Vielleicht ist es mir ein wenig peinlich. Aber ich glaube, das ist alles.«
»Gut so«, lobte Sir Thomas. »Es beweist, dass du dich nicht um weltliche Eitelkeit scherst. Und ich werde einfach glauben, dass du diese Weisheit in meinem Haus und meiner Schule erlernt hast, und mich an dem Gedanken erfreuen.«
Du machst mich wieder einmal viel besser, als ich bin, dachte Nick unbehaglich, aber Sir Thomas hatte wie so oft eins seiner rhetorischen Zauberkunststücke aus dem Ärmel geschüttelt, sodass es praktisch unmöglich war, ihm zu widersprechen, ohne unhöflich zu sein.
»Vierzehn also«, nahm More den Faden wieder auf. »Ich hätte gedacht, mindestens sechzehn. Aber daran können wir nichts ändern. Du musst nach Hause gehen und ihn zur Vernunft bringen. Denn auf mich wird er nicht hören, fürchte ich.«
Nick schüttelte mutlos den Kopf. »Auf mich erst recht nicht. Die meiste Zeit vergisst er, dass es meine Geschwister und mich überhaupt gibt. Er … er lebt in einer völlig eigenen Welt.«
»Dann musst du ihn wachrütteln. Eh es zu spät ist.«
»Aber Sir …«, begann Nick abzuwehren, doch er verstummte, als Sir Thomas’ Hand wieder auf seine Schulter fiel.
»Du weißt, was er riskiert«, sagte Thomas More eindringlich und ließ den Jungen nicht aus den Augen. »Er muss Vernunft annehmen.«
Die Hand fühlte sich schwer an und so warm, dass sie Nick durch das Tuch seines Wamses hindurch zu verbrennen schien. »Aber … könnt Ihr ihn nicht beschützen, Sir Thomas? Ihr wisst doch, dass er harmlos ist. Und er ist Euer Freund.«
Thomas Mores Blick war voller Mitgefühl, aber ebenso unerbittlich. »Er ist mir teuer«, räumte er ein. »Aber kein Ketzer ist harmlos, Nicholas. Und kein Ketzer kann jemals mein Freund sein.«