Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. 15
  19. 16
  20. 17
  21. 18
  22. 19
  23. 20
  24. Epilog
  25. Danksagungen
  26. Die Autorin
  27. Die Romane von Nicole Michaels bei LYX.digital
  28. Impressum

NICOLE MICHAELS

Made with Love

Nur die Liebe gewinnt

Ins Deutsche übertragen von
Stephanie Pannen

Zu diesem Buch

Backen, Bloggen und Tanzen – mehr braucht Callie Daniels nicht in ihrem Leben – so glaubt sie zumindest, bis sie den attraktiven Footballtrainer Bennett Clark als Partner für einen Benefiz-Tanzwettbewerb rekrutiert und auf der Tanzfläche gewaltig die Funken fliegen.

Für Tracy.
Bin ich froh, dass unsere Ehemänner
uns zusammengebracht haben.

1

Einige Leute haben Leichen im Keller, Callie Daniels hatte Diademe. Doch, im Ernst. Große, geschmacklose, funkelnde Diademe. Solche, die man kleinen Schönheitswettbewerberinnen mit einer ganzen Packung Haarnadeln auf dem hochtoupierten Kopf feststeckte und die so groß waren, dass man sich wunderte, warum die Mädchen damit nicht umfielen. Letzteres wusste Callie aus eigener Erfahrung, denn zu denen hatte sie auch einmal gehört, und wenn sie bei den Schönheitswettbewerben eines gelernt hatte, dann wie man sich ein falsches Lächeln ins Gesicht zauberte. Was sie besonders nützlich fand, wenn ihre Mutter unerwartet durch die Tür ihrer Konditorei spaziert kam. Wie jetzt, mitten am Donnerstagnachmittag.

»Mom, was für eine Überraschung«, sagte Callie über die Verkaufstheke und hoffte, eher aufrichtig als erschrocken zu klingen. Vor den türkisfarbenen Wänden ihres geliebten Ladens sah das Blond ihrer Mutter besonders künstlich aus, aber schon besser als das Feuerrot, mit dem sie noch vor ein paar Monaten herumgelaufen war.

»Anscheinend ist das für mich die einzige Möglichkeit, herauszufinden, wie es dir geht. Außer ich will es von Joan Jenkins hören, während sie mir meine Nägel macht.«

Ihre Mutter klang gekränkt, und Callie bekam ein schlechtes Gewissen. Sie erinnerte sich vage daran, auf Instagram einer alten Schulfreundin gegenüber ihren neuen Job erwähnt zu haben. Wie schnell sich das herumgesprochen hatte! Aber das hätte sie sich eigentlich denken können.

»Oh, Mom, tut mir echt …«

»Willst du wissen, was das Schlimmste ist? Wie sehr sie es genossen hat, mir etwas erzählen zu können, was ich noch nicht wusste. Du bist meine einzige Tochter. Ich sollte die Neuigkeiten in deinem Leben als Erste erfahren. Kannst du dir vorstellen, wie peinlich das war?«

Callie konnte es ihr durchaus nachfühlen, aber sie wollte nicht erklären, warum sie nicht angerufen hatte. Die Begründung würde ihrer Mutter das Herz brechen, und Callie schämte sich wirklich ein wenig dafür. Zu ihrer Verteidigung: Sie war gerade ziemlich ausgelastet. Heute zum Beispiel hatte sie den Morgen damit verbracht, Kuchen und Kekse für die Wochenendbestellungen vorzubereiten. Sie hatte sich geradezu Zen-mäßig in ihre Arbeit versenkt und einen Glückszustand erlebt, bei dem sie am liebsten singend um ihre Backöfen herumgetanzt wäre. Wie eine Zeichentrickprinzessin. Es hätten nur noch die sprechenden Tiere gefehlt und der Prinz natürlich. Aber andererseits auch wieder nicht, denn zurzeit konnte sie in ihrem Leben keinen Mann brauchen.

»Ich wollte es nicht vor dir geheim halten, Mom, ich hatte nur viel um die Ohren.«

»Soll ich mich dadurch jetzt besser fühlen? Ausgerechnet einen Job als Tanztrainerin verschweigst du mir? Dir muss doch klar gewesen sein, wie sehr ich mich für dich freuen würde. Du hättest mir als Allererster sagen sollen, dass du wieder auftreten wirst.«

»Ich bin die Trainerin, Mom. Ich werde nicht wieder auftreten.«

Barbara zuckte mit den Schultern. »Trotzdem. Ich hätte dir doch helfen können.«

Und genau deswegen hatte Callie es für sich behalten. Ihre Mutter hatte die Angewohnheit, es mit ihrer »Hilfe« zu übertreiben. Vorsichtig ausgedrückt. Callie konnte sich lebhaft vorstellen, auf was für Ideen ihre Mutter gekommen wäre, wenn sie erfahren hätte, dass ihre Tochter neuerdings die Pantherettes trainierte, die Tanztruppe der Preston High.

»Du hast recht, und es tut mir leid. Ich hätte dich anrufen sollen. Aber ich kann dir versichern, ich habe alles unter Kontrolle.« Callie nahm einen Kaffeebecher zum Mitnehmen aus dem Behälter und schob ihn über den Tresen. Sie hoffte, damit die Unterhaltung schnell von dem Thema wegzubringen. »Hier, trink einen Kaffee.«

»Oh nein, keinen Kaffee nach dem Mittagessen. Er trocknet meine Haut aus.«

»Wie du meinst.« Callie ging um die Ladentheke herum zur Kaffeestation in dem kleinen Verzehrbereich ihrer Konditorei.

»Callie Jo«, begann ihre Mutter tadelnd. Sie bemühte sich um einen scherzhaften Tonfall, meinte es in Wirklichkeit aber todernst. »Ist dir deine Haut denn wirklich egal? Sein gutes Aussehen zu bewahren ist nach dem dreißigsten Geburtstag eine Vollzeitaufgabe. Je früher du damit anfängst, desto besser.«

Callie, die mit dem Rücken zu ihrer Mutter stand, verdrehte die Augen, während sie sich einen Kaffee zapfte und eine großzügige Menge Vollmilch und Zucker in ihren Becher gab. Barbara meinte es gut – tatsächlich wurden diese kleinen Maßregelungen stets aus Liebe und Besorgnis ausgesprochen –, aber sie war wie besessen auf ihr Äußeres bedacht. So war es immer gewesen, so würde es immer sein. Und sie war tatsächlich eine attraktive Frau – daran konnten nicht mal die engen limonengrünen Caprihosen, die hochhackigen Glitzersandaletten und die Rüschenbluse etwas ändern. Unter ihren gemeinsamen Bekannten hieß es immer, Callie sei die jüngere – und wie sie hoffte, weniger schrille – Version ihrer Mutter. Callie nahm dieses Kompliment stets mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis.

»Ich lasse es darauf ankommen, Mom. Und bis zu meinem dreißigsten sind es noch zwei Jahre.« Callie trank einen großen Schluck. Hmmm, ihre Gäste bekamen wirklich guten Kaffee.

»Du wirst es noch bereuen, Schatz. Du hast nur dieses eine Gesicht. Das habe ich dir doch schon oft genug gepredigt.«

Bevor Callie Zeit hatte, sich über die Bemerkung aufzuregen, kam Eric, ihr Angestellter und schwuler bester Freund, durch die Küchentür in den Verkaufsraum gestürmt.

»Barb, was für eine Überraschung.« In dem sekundenschnellen Blickwechsel mit Callie drückte sich ein stummer Dialog aus, von dem Barbara nichts ahnte. Er ging ungefähr so:

Heilige Scheiße, was macht die denn hier?

Du sprichst mir aus der Seele.

Weiß sie es?

Jep.

Scheiße! Kommst du klar?

Geht schon.

Was hat sie denn da wieder an?

Oh Gott, ich weiß!

Eric grinste und umarmte Callies Mutter herzlich.

»Zumindest einer freut sich, mich zu sehen«, sagte Barbara über seine Schulter hinweg.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mom«, erwiderte Callie, obwohl ihre Worte vermutlich ungehört blieben, weil Eric mit ihrer Mutter plauderte. Er ging immer sehr geschickt mit ihr um und sagte genau das Richtige, ohne zu übertreiben, und dafür war Callie ihm dankbar.

»Ich schwöre, jedes Mal, wenn ich Sie treffe, sehen Sie ein Jahr jünger aus. Und diese Schuhe sind absolut göttlich.«

Barbara lachte kokett. Callie musste lächeln, denn ihre Mutter sonnte sich in Erics Komplimenten, und er hatte sie aufrichtig gern. Genau wie Callie. Aber Barbara war ein Mensch, den man am besten in kleinen Dosen genoss. Und nicht unangekündigt. Es war wichtig, in ihrer Gegenwart seine fünf Sinne beisammenzuhaben, da sie Schwächen und Geheimnisse witterte wie ein Bluthund und nichts mehr liebte, als sich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Sie wollte gebraucht werden und eingeweiht sein. Callie erledigte Dinge jedoch lieber auf ihre eigene Art, nämlich ganz anders als ihre Mutter. Sie waren eben … sehr verschieden.

»Eric, warum hast du nicht dafür gesorgt, dass mich Callie sofort anruft, nachdem sie den Tanztrainerjob bekommen hat?«

»Barb, bitte. Sie wissen doch, wie unser Mädchen ist. Immer so beschäftigt. Bestimmt hat sie es nur vergessen.«

Barbara drehte sich besorgt zu Callie um. »Oh, Schatz, du arbeitest hier viel zu viel. Ich bestehe darauf, dass du mit mir einen Wellnesstag einlegst.«

»Danke, Mom, aber bei mir ist alles gut. Ehrlich.«

Ihre Mutter griff um Callie herum nach ihrem Pferdeschwanz und zupfte an einer ihrer widerspenstigen Locken. »Bist du sicher? Die Haarspitzen sind voller Spliss. Du warst seit Wochen nicht mehr beim Friseur, oder? So umwerfendes Haar wie deines darf nicht vernachlässigt werden.«

Callie war seit Monaten nicht mehr beim Friseur gewesen. »Wie du meinst, Mom. Ich besorge mir demnächst einen Termin.«

»Du kannst doch als Tanztrainerin nicht mit Spliss herumlaufen, Schatz. Du musst dich von deiner besten Seite zeigen. Wie willst du sonst den Mann deiner Träume finden? Wenn du Glück hast, brauchst du danach nie wieder zu arbeiten.«

»Mom, ich versichere dir, der Zustand meiner Haare wirkt sich nicht darauf aus, wie ich meinen Job erledige, denn es geht dabei nicht um mein Aussehen. Es geht überhaupt nicht um mich, sondern um die Mädchen im Team. Und ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass ich meine Arbeit liebe. Selbst wenn ich meinem Traummann begegne – was unwahrscheinlich ist –, werde ich die Konditorei weiterführen.«

Barbara schmollte. »Meine Güte, reg dich doch nicht so auf. Du bist genau wie dein Vater. Was soll ich bloß mit dir machen?« Sie wandte sich an Eric. »Wann hatte sie das letzte Mal eine Verabredung? Oder einen Friseurtermin?«

»Ich halte mich da raus, Barbara. Sie wissen, ich bete Sie an, aber ich spiele immer im Team Callie, und wenn sie gern splissige Haare hat und in einem kalten Bett liegt, dann ist das ihre Sache.«

Callie warf Eric einen bösen Blick zu. Ihr Liebesleben war für ihre Mutter ein ständiger Stein des Anstoßes. Callie gefiel es, Single zu sein, und das wollte Barbara einfach nicht in den Kopf, denn sie war mit Leib und Seele Ehefrau. Ihr gesamtes Selbstbewusstsein fußte darauf, Mrs Daniels zu sein. Sie sah sich als Zierde ihres erfolgreichen Mannes. Das war jedenfalls Callies Eindruck, aber sie selbst wollte so nicht leben. Überhaupt nicht.

Callie wollte nicht nur ein hübsches Anhängsel sein. Als Jugendliche hatte sie das ausprobiert, und es hatte ihr nicht gefallen. Sie war weder Zierde noch Trophäe, sondern ein menschliches Wesen, das zufällig Brüste hatte und für sich selbst sorgen konnte, danke der Nachfrage. Ab und an hatte Callie gern ein wenig Spaß, aber das reichte ihr.

Sie musste die Unterhaltung in sicheres Fahrwasser lenken, bevor sie zu ihrer Mutter etwas sagte, das sie bereuen würde. Callie hatte genug solcher Gespräche mit ihr geführt, um zu wissen, dass sie selten gut endeten und sie sich danach meistens schrecklich fühlte.

»Mom, ich freue mich wirklich über deinen Besuch. Und es tut mir leid, dass ich dir nicht schon früher von meinem neuen Job erzählt habe. Wie ich schon sagte, es geht bei mir derzeit ein bisschen hektisch zu, aber ich sage dir auf jeden Fall Bescheid, wann der erste Auftritt stattfindet.«

»Und du bist sicher, dass du bei den Kostümen oder Frisuren keine Hilfe brauchst? Du weißt doch, Auftritte und Präsentationen sind meine Spezialität.«

»Du hast mir viel beigebracht, Mom. Ich komme schon klar. Und die Mädchen haben bereits einheitliche Kostüme.« Das war nur eine winzige Lüge. Eigentlich brauchten die Mädchen dringend etwas Neues. Aber das durfte Barbara auf keinen Fall erfahren, sonst würde sie mit ihrer Nähmaschine in der Highschool anrücken.

»Also gut, aber wenn du Hilfe brauchst, komm bitte zuerst zu mir. Und das nächste Mal, wenn etwas Großes in deinem Leben passiert, will ich nicht erst bei der Maniküre davon erfahren, hörst du?«

»Ich verspreche es dir.«

Dann erzählte Barbara ihnen den neuesten Klatsch und aß eine Zimtschnecke, aber nicht ohne dabei fünfzehnmal »Ich sollte eigentlich nicht« zu murmeln, und nachdem sie auch noch gewartet hatte, bis Callie einen Friseurtermin vereinbarte, ging sie endlich. Allein hinter der Verkaufstheke stieß Callie einen befreienden Seufzer aus. Interaktionen mit Barbara waren immer ziemlich anstrengend. Glücklicherweise lebte sie eine Autostunde entfernt und kam nicht allzu oft zu Besuch.

»Ich vergöttere Barb, aber sie ist vollkommen irre, das weißt du, oder?«, fragte Eric.

Sie lachten beide, während er an der Kasse lehnte und an einem Mini-Blaubeerscone knabberte. Callie war froh, ihn als guten Freund zu haben, und nicht etwa, weil er in dem pinkfarbenen T-Shirt mit der Aufschrift Callies Konfekt so gut aussah. Und auch nicht, weil ein Drittel ihres Umsatzes von Frauen stammte, die mit ihm flirten wollten – was er trotz der Tatsache, dass er schwul war, hervorragend konnte. Nein, sondern weil er ihr in Momenten wie diesem zur Seite stand, mit ihr über ihre verrückte Familie scherzte und sie zum Lachen brachte.

Er steckte sich den letzten Bissen des Scones in den Mund und zwinkerte ihr zu. »Ich liebe dich trotzdem, Callie Jo«, sagte Eric mit falschem Hinterwäldlerakzent. »Selbst wenn du aus einer schlechten Familie stammst.«

In dem Augenblick klingelte die Ladenglocke, und Eric wandte sich ab, um einen Kunden zu bedienen. Callie seufzte. Das war ein ständiger Witz zwischen ihnen. Eric zog sie gern auf, weil ihre Mutter sie als Kind zu jeder Talentshow und jedem Schönheitswettbewerb im Mittleren Westen geschleppt hatte. Callie fand es selbst verwunderlich, wie normal sie war, also ganz erträglich, von ein paar Eigenheiten abgesehen: Sie war wahnsinnig ehrgeizig, reagierte manchmal ein bisschen überdramatisch – was sie aber nie zugeben würde –, musste immer das letzte Wort haben, flüchtete sich bei Unsicherheit in Humor und Sarkasmus und war ein ausgeprägtes Papakind.

Okay, sie hatte also ein paar Macken. Wer nicht? Alles in allem hatte sie ihren Eltern aber eine Menge zu verdanken. Sie waren mitunter ein wenig engstirnig, weshalb Callie sie als Teenager »echt peinlich« fand, aber auf ihre Liebe war Verlass, und sie hatte einiges Wertvolle von ihnen gelernt. Vor allem, dass man hart arbeiten musste, um etwas zu erreichen. Schönheitswettbewerbe waren nichts für schwache Gemüter, und ihre Mutter hatte getan, was nötig war, um Callie Erfolge zu ermöglichen.

Einmal hatte Barbara drei Monate lang nachts im Fernfahrercafé gearbeitet und ihr von dem Lohn eine neue Garderobe für die Wettbewerbe gekauft. Auch wenn ihre grelle Aufmachung anderes vermuten ließ, so war Barbara doch eine zupackende Frau, auf die man zählen konnte. Callie wünschte nur, ihre Mutter würde sich wegen ihrer eigenen Intelligenz und Stärke wertschätzen und sich nicht über ihren Mann definieren.

Dessen Ansicht nach waren beide Daniels-Frauen stark, aber Callie wusste, sie hatte ihre Stärke und Entschlossenheit hauptsächlich ihm zu verdanken. Er war der lustigste und fleißigste Mann, den sie kannte, und leitete eine gut gehende Sanitärfirma in Little Grove, Missouri, wo sie aufgewachsen war. Sie bewunderte ihn enorm und hätte ohne sein Vorbild und seinen Rat nicht den Mut aufgebracht, ihr eigenes Geschäft aufzumachen.

Mit einem Blick in die Kuchenvitrine notierte Callie mental, was sie noch zu erledigen hatte, bevor sie zum Training in die Highschool fahren konnte. In ihrem Laden bot sie von Montag bis Samstag zwölf verschiedene Spezialitäten an und lieferte am Wochenende Sonderbestellungen. Morgen würde das erste Higschool-Footballspiel in Preston stattfinden, also musste sie zu ihren üblichen Backwaren mit blau-weißem Zuckerguss überzogene Cookies und Cupcakes herstellen.

Die Glocke über der Eingangstür läutete erneut, und die vertraute helle Stimme eines ihrer Lieblingsmenschen erklang.

»Eriiic!«

»Clairekäfer!«

Eric eilte hinter der Theke hervor, um das Mädchen in die Arme zu schließen. Kurz darauf kam ein attraktiver Mann zur Tür herein, den Callie wie immer verstohlen bewunderte. Es war Mike Everett, der neue Freund von Anne, Claires Mutter, und das Beste, was ihr je passiert war. Mike und Anne waren erst ein paar Monate zusammen, aber Callie wusste schon, dass die beiden füreinander bestimmt waren. Sie waren geradezu besessen voneinander. Fast schon widerlich, dachte Callie grinsend. Im Zuge dessen waren die Mädelsabende selten geworden. Aber den Verzicht war es wert. Callie wollte ihre Freunde glücklich sehen, und seit Mike waren Anne und Claire so glücklich wie noch nie.

»Hey, ihr beiden.« Lächelnd gesellte sich Callie dazu. »Musst du heute nicht in die Schule?«

»Ich war beim Zahnarzt«, verkündete Claire strahlend.

»Hat er gebohrt?«

»Nein«, antwortete sie, bevor sie den Mund aufriss und zusätzlich mit den Zeigefingern spreizte.

»Sie war sehr mutig und hat auch beim Röntgen nicht mit der Wimper gezuckt«, berichtete Mike, der mit den Händen in den Hosentaschen dastand. Callie musste lächeln, denn er war sichtlich stolz und schien Claire aufrichtig lieb zu haben.

»Na, das schreit doch nach Erdnussbuttercookies.« Callie drehte sich zur Küche um. »Bitte folgen Sie mir in den VIP-Bereich.«

»Was heißt ›VIP‹?«, fragte Claire.

»Verträumte Inselprinzessinnen«, sagte Eric und schnitt eine lustige Grimasse.

»Gar nicht.« Claire kicherte. »Was bedeutet es wirklich, Onkel Mike?«

»Verschmuste Igelpiloten, glaube ich«, erwiderte Mike.

Callie musste schmunzeln. Mikes Nichte war Claires beste Freundin, und Claire hatte sich diese Anrede für ihn noch nicht abgewöhnt.

Als Mike und Claire in die Küche kamen, war Callie schon dabei, die Erdnussbuttercookies vom Abkühlblech auf ein Verkaufstablett zu heben. Die Schönheit perfekter Backwaren ließ ihr Herz jedes Mal höher schlagen.

Barbara war die Königin der Trenddiäten und hatte, solange Callie klein war, ihrer Familie immer nur seltsame Desserts mit Avocados oder Apfelmus vorgesetzt. Daher konnte es niemanden überraschen, als Callie sich damals im College mit Mehl, Butter und Sahne eindeckte und anfing, üppige Kuchen und Plätzchen zu backen. Und seitdem hatte sie nicht mehr damit aufgehört.

»Die riechen lecker, Callie«, sagte Claire.

»Oh, vielen Dank! Schnapp dir mal eine von den pinkfarbenen Schachteln, dann kannst du ein paar mit nach Hause nehmen und sie mit deiner Mama teilen.«

»Juhu!«, rief Claire, während sie zu dem Regal mit den Verpackungen lief.

»Danke, Callie! Ich dachte, der Zahnarztbesuch ist ein guter Grund für eine Belohnung, besonders weil sie zum ersten Mal ohne Anne dort war«, sagte Mike.

»Das finde ich auch. Wie läuft es mit Annes Rede? Ich nehme an, dass du sie deswegen beim Zahnarztbesuch vertreten hast.«

Mike nickte. »Die ganze Sache mit dieser Blogger-Convention stresst sie total. Sie hat furchtbare Angst, vor einem Haufen fremder Leute zu reden.«

Anne war die Gründerin des äußerst beliebten Lifestyle-Blogs »Mein perfektes kleines Leben«. Dort gab es alles, von Tipps zur Partyplanung und persönlichen Anekdoten bis zu Anleitungen zur Möbelrestaurierung. Vor fast zwei Jahren hatte sie Callie eingeladen, in dem Blog regelmäßig Rezepte und Backtipps zu posten. Inzwischen gehörte auch Lindsey Morales zum Team, die hauptsächlich über Design und Upcycling schrieb. Callie war begeistertes Mitglied der Online-Community, die Anne geschaffen hatte. Sie fühlte sich fast als Internetberühmtheit. Die Blogleser liebten Anne und hatten Callie und Lindsey mit offenen Armen empfangen. Es schien, als würden sie jeden Tag bekannter werden. Und das Aufregendste war, dass man Anne gebeten hatte, als Hauptrednerin einer bevorstehenden Blogger-Convention aufzutreten.

»Sie wird alle umhauen. Alles, was Anne anfasst, wird wunderbar. Ich hasse sie ein wenig dafür.«

»Gar nicht. Du hast Mama lieb«, widersprach Claire sachlich, während sie einen Cookie nach dem anderen in die Gebäckschachtel packte.

Mike hatte gerade seinen zweiten verspeist. »Deine Cookies sind so gut, sie können einen erwachsenen Mann zum Weinen bringen.«

»Vielen Dank für das Kompliment, aber in dieser Küche weint niemand außer mir. Hausregel.«

Mike musste etwas in ihrem Gesichtsausdruck gelesen haben, denn er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.

»Alles in Ordnung?«, fragte er in diesem typisch männlichen Tonfall, der besagte, dass er sich Sorgen machte, aber inständig auf Entwarnung hoffte, weil er gar nicht wüsste, wie er andernfalls mit ihr umgehen sollte.

Callie stieß ein dramatisches Seufzen aus und klappte den Deckel auf die Schachtel, bevor Claire ihre Bleche vollends plündern konnte. Die kleine Ganovin hatte sich bereits an den Scones bedient und näherte sich nun den blau-weißen Panther-Cupcakes. »Na ja, mir ist nicht wirklich zum Heulen. Jedenfalls nicht heute. Aber meine Mutter war gerade hier, darum bin ich ein bisschen geschafft.«

»Toupierte blonde Haare und ein Mustang-Cabrio mit dem Autokennzeichen ›HRHINES‹?«

»Gott, ja, eigentlich wollte sie ›Her Highness‹ darauf stehen haben, aber das war natürlich zu lang.« Callie stöhnte. Barbara fuhr mit diesem Autokennzeichen schon herum, seit Callie sechs gewesen war. Der Grund dafür war der Name der Sanitärfirma ihres Vaters, Royal Flush. In seinen Werbeanzeigen trug ihr attraktiver, aber rundlicher Vater Krone und Königsmantel, und statt eines Zepters hielt er eine Saugglocke in der Hand. Auf der Highschool war sie als Prinzessin Saugglocke tituliert worden. Ein echtes Vergnügen!

Mike schmunzelte. »Sie wirkte … interessant.«

»Wie süß von dir. Hipster und Feministinnen sind interessant. Meine Mutter ist …«

»Schlimm. Aber wir lieben sie«, erklärte Eric an ihrer Stelle, während er durch die Küche eilte, eine Packung Servietten holte und wieder im Verkaufsraum verschwand.

»Ja, wir lieben sie. Aber ihre Besuche erschöpfen mich emotional.«

»Tut mir leid, Cal.« Mike nahm die Schachtel und ging mit Claire zur Tür. »Komm doch heute Abend zu Anne. Sie ist wegen der Rede so aufgeregt. Es wird ihr guttun, wenn ihr beide was zusammen unternehmt. Trinkt Wein, esst Cupcakes oder macht sonst was für ’n Scheiß. Hauptsache, du bringst sie auf andere Gedanken.«

»Onkel Mike, das S-Wort ist ein Nein-danke-Wort, weißt du noch?«

Callie musste über die Schelte lachen. Claire war einfach unvergleichlich. Aber nüchtern betrachtet sollten Mike und Anne ihr schnellstmöglich ein Geschwisterchen verschaffen, fand Callie. In der Öffentlichkeit war sie süß und schüchtern, aber im vertrauten Kreis benahm sie sich häufig wie eine kleine Prinzessin.

»Ich benutze offenbar eine Menge Nein-danke-Wörter«, sagte Mike leise, bevor er Claire zur Ladentür folgte. Er drehte sich noch einmal zu Callie um. »Aber mal im Ernst: Anne könnte einen Besuch gut brauchen, auch wenn sie das nie zugeben würde. Sie ist sehr gestresst, und bei Schwierigkeiten, die ich nicht für sie aus dem Weg räumen kann, bin ich quasi nutzlos. Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn du vorbeikämst, um sie ein wenig aufzuheitern.«

Callie stöhnte. »Warum musst du immer so wunderbar sein? Das ist echt nervig.«

Mike grinste. »Ich mag dich auch, Callie.«

Eric warf Mike noch eine Flasche Kakao für Claire zu. Der fing sie auf und rief im Hinausgehen über die Schulter: »Danke, Leute! Bis später!«

Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, warf Callie einen Blick auf die Uhr. »Ach, Mist!« Sie lief nach hinten und löste die Schleife ihrer mehlbestäubten Schürze. »Eric, wenn ich mich nicht sofort aufmache, komme ich zu spät zum Training.«

Das Tanzteam traf sich immer direkt nach der Schule, außer freitags, weil dann abends oft Spiele stattfanden. Wenn es sich um ein Heimspiel handelte, trat das Team in der Halbzeit als Cheerleader auf.

Der Nebenjob war zwar ein wenig zeitaufwendiger als zunächst gedacht, aber sie war selbst überrascht gewesen, wie sehr er ihr von Anfang an gefallen hatte. Bisher hatte sie noch keinen Moment der Anstrengung bereut. Und im Grunde war jetzt die richtige Zeit dafür. Sie war jung und gesund, ihr eigener Herr und definitiv nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung. Sie wollte das Leben auskosten, in vollen Zügen.

Außerdem war das Tanzen für sie schon immer das Beste gewesen, um von ihrem hektischen Leben wegzukommen und sich zu entspannen. Früher entstand die Hektik durch die Schule, die Schönheitswettbewerbe und all die kleinen Dramen, die dazugehörten, wenn man die Tochter des Königs der Saugglocken und seiner Gemahlin war. Doch ganz gleich, wie verrückt es in ihrem Leben zugegangen war, sie hatte sich immer Zeit zum Tanzen genommen, seit ihre Mutter sie mit drei zum Stepptanz und Ballett angemeldet hatte. So hatte ihre Leidenschaft angefangen. Sie liebte jede Spielart, Jazz, Modern, selbst Gesellschaftstanz. Auf dem College hatte sie sogar ein Stipendium bekommen, damit sie der Tanzmannschaft der Uni beitreten konnte. Jetzt hatte sich der Kreis geschlossen: Sie lehrte Tanz, und es war umwerfend.

Zwanzig Minuten später stand Callie keuchend in der Turnhalle der Highschool. Es roch nach Schweiß, Haarspray und billiger Körperlotion. Aber sie war glücklich. Die Musik dröhnte, und sie schloss sich den Mädchen beim Dehnen an, bevor sie ihre neueste Nummer übten, die sie am nächsten Abend präsentieren würden. Sie atmete tief durch und fühlte jeglichen Stress von sich abfallen.

Bennett Clark war spät dran fürs Training, was ihn wirklich ärgerte, doch ein Schüler, der zusätzliche Hilfe bei einer Hausarbeit brauchte, war wichtiger als Football. Zumindest ein paar Minuten lang.

Bennett hatte seinen Assistenten mit einer SMS informiert, aber er hasste es, spät dran zu sein, vor allem wenn das Schuljahr erst seit drei Wochen lief. Diese ersten Trainingswochen waren entscheidend, besonders für die neuen Spieler. Das war die Zeit, in der die Mannschaft zu einer Einheit zusammenfand, und es war extrem wichtig, dass die Spieler seine Erwartungen an sie als Sportler und Schüler verstanden.

Als er in den Gang einbog, der an der Turnhalle entlang zum Spielfeld führte, legte er einen Schritt zu. Dabei zog eine laute Frauenstimme seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Meine Damen, wenn euer Hintern nicht in der Luft ist, tut diese Dehnübung gar nichts für eure Oberschenkel. Ich will eure Oberweite zwischen den Schenkeln sehen.«

Wie bitte? Bennett blieb wie angewurzelt stehen und warf dann einen vorsichtigen Blick durch die Doppeltür der großen Turnhalle. Glücklicherweise standen die Mädchen alle mit dem Rücken zu ihm, sodass sie ihn nicht sehen konnten. Wieder hörte er die herrische Frauenstimme.

»Gut. So halten. Eure Muskeln sollen sich schön aufwärmen.«

Er konnte nur verwirrt blinzeln. Das war nicht die Stimme von Jane. Hatte sie gekündigt? War sie gefeuert worden? Letzten Frühling ging das Gerücht, sie und ein Kollege der Schulverwaltung hätten einander Nacktfotos zugesimst. Auch wenn er derlei Klatsch ignorierte, kam ihm hin und wieder etwas zu Ohren. Vielleicht war die Frau eine Aushilfe.

»Okay, gut. Jetzt stellt euch bitte in einer Reihe auf, damit wir die Nummer einmal komplett durchgehen. Auf acht. Kinn hoch und lächeln.« Sie unterstrich die Anweisung, indem sie in die Hände klatschte. Die Mädchen eilten auf ihre Plätze. Und dann … sah er sie.

Verdammt!

Sie war recht klein, und die enge schwarze Hose betonte ihre gesunden Kurven. Grundgütiger, ihr Hintern war perfekt, rund, aber gleichzeitig fest. Richtig knackig.

Das war so ganz und gar nicht Jane.

Bennetts Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Breitbeinig stand sie da in ihren pinkfarbenen Sportschuhen, die Hände gegen die Hüften gestemmt, die wilden Locken zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Er hätte zu gern ihr Gesicht gesehen, aber sie stand ebenfalls von ihm abgewandt. Sie begann zu zählen, und bei acht sahen die Tänzerinnen zur Seite und warfen synchron die Beine in die Luft.

Als ihm klar wurde, dass sich die Mädchen gleich in seine Richtung drehen würden, zog er sich zurück. Ein männlicher Lehrer, der das Tanzteam durch einen Türspalt begaffte, machte einen schlechten Eindruck. Während er den Gang entlang eilte, verfluchte er den Schmerz, der ihm durch den Oberschenkel schoss. Er stieß die Stahltür auf und gelangte nach draußen in die Sonne. Blinzelnd nahm er den Umweg über die flache Treppe mit dem Geländer, denn der grasbewachsene Hügel war Gift für sein verletztes Bein.

Obwohl seit seinem Unfall Jahre vergangen waren, meldete sich die alte Verletzung in jeder Footballsaison stärker, weil er dann regelmäßig längere Zeit auf den Beinen war. Doch die längste, aber am wenigsten schmerzhafte Route – über die Rollstuhlrampe – nahm er nie. Da zog er die Grenze. Schließlich hatte er auch seinen Stolz.

Das angestrengte Keuchen trainierender Sportler schlug an seine Ohren, und er entspannte sich schlagartig. Das leuchtende Grün und Weiß des Footballfelds, der stechende Geruch von Schweiß, das Knurren eines verärgerten Defensivtrainers: das war seine Welt. Footballtrainer einer Highschool wäre nie seine erste Berufswahl gewesen, aber dass er diesen Job angenommen hatte, gehörte zu den wenigen Dingen, die Bennett in seinen dreißig Lebensjahren nicht bereute. Außerdem war das Coaching nach seinem Unfall die einzige Möglichkeit, den Football dauerhaft in seinem Leben zu behalten.

Wie sich herausgestellt hatte, war der Job genau das Richtige für ihn, und er hätte keine bessere Schule erwischen können. Football war in Preston mehr als ein Sport, es war eine Lebenseinstellung. Die meisten Bewohner würden ein Freitagabendspiel genauso wenig verpassen wie den sonntäglichen Gottesdienst. Er stammte aus Texas, wo Highschool-Football praktisch zur Religion gehörte, also war er mit dieser Mentalität vertraut und begrüßte sie sogar.

Bennett ging zur Seitenlinie des Übungsfelds und stellte sich neben seinen guten Freund und Assistenztrainer Reggie. »Danke, dass du schon mal angefangen hast, Mann. Tut mir leid meine Verspätung.«

»Kein Problem. Wir sind gerade mit dem Aufwärmen fertig. Die Jungs sind heute richtig heiß aufs Training. Das merkt man ihnen an. Ich habe John mit der Defense die Drills machen lassen, Ted erledigt mit der Offense das Dehnen und paukt mit ihnen Spielzüge. Jetzt, wo du hier bist, nehme ich mir meine Jungs. Bei dieser Hitze werden sie inzwischen keine Lust mehr haben zu laufen. Ich dachte mir, dass du mit Tate und Lane arbeiten willst.«

»Klingt gut.«

Sie sahen den Jungs eine Minute lang zu, bis Bennett nicht mehr anders konnte. Er räusperte sich und versuchte beiläufig zu klingen. »Hey, äh, was ist eigentlich mit Jane? Wurde sie wegen dieser Sache letztes Jahr gefeuert?«

Reggie war kein Idiot. Sein Schmunzeln verriet, dass er genau wusste, warum Bennett sich nach ihr erkundigte, aber er schaute weiter geradeaus aufs Spielfeld. »Ich hab mich schon gefragt, wann du sie sehen würdest. Sie ist schon ein Augenschmaus, oder?«

Bennett antwortete nicht, aber das musste er auch nicht. Reggie und er arbeiteten seit sechs Jahren zusammen. Sie verstanden sich so gut, sie benötigten meistens weder Blickkontakt noch Worte. Das erinnerte Bennett an die Freundschaften, die er über die Jahre mit Teamkollegen entwickelt hatte. So war das mit Football, es schuf brüderliche Verbundenheit. Reggie hatte am College gespielt und dann geheiratet und war ein Familienmensch geworden. Nicht jeder Spieler mit Herz und Talent war zum Profi bestimmt, genauso wie nicht jeder Spieler, der es in die NFL schaffte, automatisch berühmt oder eine Erfolgsgeschichte wurde.

»Zumindest weiß ich jetzt, warum du spät dran bist. Du hast dir die neue Tanztrainerin angesehen«, sagte Reggie mit einem Schmunzeln und dem kleinen Hüftschwung, für den er bekannt war.

»Oh bitte, du solltest mich besser kennen. Ich war bei einem Schüler.«

Darauf drehte sich Reg mit hochgezogener Augenbraue zu ihm um. Bennett zuckte mit den Schultern. »Okay, ja, ich hab sie gesehen. Hat mich vielleicht eine Minute aufgehalten. Nur eine Minute.«

»Ja, klar.« Reggie lachte. »Warum quatschst du nicht mal mit ihr? Wahrscheinlich brennt sie geradezu darauf, unseren geliebten Coach Bennett kennenzulernen. Es wird dir guttun, ab und zu ein wenig Zeit mit einer Frau zu verbringen, weißt du? Denk mal drüber nach.«

Bennett schüttelte den Kopf und blies in seine Trillerpfeife. Dann marschierte er aufs Feld zu den Quarterbacks und versuchte, Reggies Bemerkung beiseitezuschieben. Zugegeben, es war eine Weile her, seit Bennett mit einer Frau zusammen gewesen war. Acht Monate, und davor ein ganzes Jahr. Und davor wahrscheinlich wieder ein Jahr.

Es war deprimierend. Aber zu seiner Verteidigung ließ sich anführen, dass er mit dem Unterricht und dem Training wirklich eine Menge zu tun hatte. Da blieb einfach keine Zeit für eine Beziehung, nicht mal für eine lockere … Und außerdem endeten auch die sogenannten lockeren trotz allem, was das Wort implizierte, häufig genauso unschön wie die festen. Es hatte mal eine Zeit geben, wo er glaubte, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Wie sehr er sich doch geirrt hatte!

Wie so viele Dinge in seinem Leben hatte er durch seinen Unfall auch seine Verlobte Ashley verloren. Sobald ein Profi-Football-Vertrag nicht mehr Teil seiner Zukunft gewesen war, wollte sie es auch nicht mehr sein. Rückblickend betrachtet hätte es ihn wahrscheinlich nicht überraschen sollen, aber damals hatte ihn das umgehauen. Total. Ja, er war damals an einem Tiefpunkt gewesen, aber sollten die Menschen, die man liebte, nicht gerade dann für einen da sein? Sie war einfach abgehauen, als er sie am meisten brauchte.

Glücklicherweise führte ihm sein Job jeden Tag vor Augen, dass er nicht alles verloren hatte. Sein Leben war zwar ganz anders, als er es sich als Heranwachsender vorgestellt hatte, aber es war gut. Solide, wenn auch ein wenig einsam.

Na gut, ziemlich einsam.

Aber in dieser Saison gab es keinen Grund für Selbstmitleid. Dieses Team würde einfach umwerfend sein, spürte er schon, und er hatte gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen.

Sein Gewicht auf sein gesundes Bein verlagernd, stand Bennett eine Zeit lang unter der Torlatte und sah den Jungs bei ein paar Drills zu. Als Trainer wusste er, dass jede Spielerposition wichtig war; jeder Spieler trug das Seine zum Sieg bei. Aber als ehemaliger Quarterback war er nicht ganz neutral, und sein Senior-Quarterback Tate war ungemein talentiert.

Bennett sah zu, wie der Junge dem Wide Receiver einen perfekten Spiral direkt in die Hände warf. Die drei Jahre harte Arbeit, die Bennett investiert hatte, um Tate Grayson zu trainieren, hatten sich ausgezahlt, und er war unglaublich stolz auf den Jungen. Seine Schüler waren alle großartig, aber es gab immer ein paar, die besonders herausstachen, von denen man einfach wusste, dass aus ihnen etwas werden würde.

Natürlich war Tate nicht ohne Fehler. Er neigte dazu, seine Gefühle mit aufs Feld zu nehmen, aber sein Wurf war unglaublich konstant und stark. Er konnte schnell rennen, seine Gegner innerhalb von Sekunden einschätzen und besaß ausgezeichnete Reflexe. Bennetts Eindruck nach war Tate das alles schon in jungen Jahren eingeimpft worden, denn der Vater des Jungen war ein herrisches Arschloch. Der alte Grayson erklärte Bennett bei jeder Gelegenheit, wie er seine Arbeit als Trainer zu machen hatte, und erinnerte ihn daran, dass sein Sohn, jetzt wo er ein Senior war, jedes Spiel beginnen sollte.

Aber Tate würde nicht jedes Spiel beginnen, denn das wäre nicht nur unfair – es gab im Team noch andere Quarterbacks –, sondern auch ungesund. Ein Spieler musste sich während eines Spiels auch mal ausruhen. Bennett konnte jedoch nicht abstreiten, dass Tate und sein Freund Jason Starkey, der beste Left Tackle, den Bennett jemals gehabt hatte, eine siegreiche Kombination abgaben.

Die beiden Jungs spielten schon seit ihrer Kindheit zusammen Football. Sie führten ihre Spielzüge aus, als würden sie sich ein Gehirn teilen. Jason schien immer noch vor Tate zu wissen, wo dieser landen würde. Durch ihn kam an Tate fast keiner heran, und wie immer er das hinbekam, es war wunderbar mit anzusehen. Das war Material für Landesmeisterschaften.

Bennett gab Tate von der Seitenlinie ein paar Hinweise, nickte, wenn er sie richtig umsetzte, und ermutigte ihn, wenn es ihm nicht gelang. Reggie und die Jungs der Special Teams hielten inne und sahen dem letzten Pass zu. Als der Receiver ihn fing und sofort einen Purzelbaum schlug, begannen sie zu johlen.

Bennett grinste. Er genoss die Interaktionen der Spieler, nicht nur den Jubel, sondern auch die spielerischen Beleidigungen und Drohungen. Diese Art von Verbrüderung war sehr wichtig, damit die Jungs einander vertrauten und erfolgreich sein konnten. Wenn dann noch harte Arbeit, Geschick und Entschlossenheit hinzukamen, entstand daraus ein Siegerteam.

Seine Spieler hatten Glück, denn Bennetts Zeit in der Profiliga hatte ihnen besondere Aufmerksamkeit von Universitätsscouts eingebracht, die ihn bereits wegen Besuchen kontaktiert hatten. Außer Tate und Jason gab es noch etliche in der Mannschaft, die in dieser Saison jemandem ins Auge fallen könnten. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen, damit das auch passierte.

Ein kurzer Stoß in die Trillerpfeife, dann rief er Tate zu sich. Dem tropfte der Schweiß von den langen Haaren, als er seinen schmutzigen weißen Helm abnahm und ihn von den Fingern baumeln ließ.

»Haben Sie diesen Pass eben gesehen, Coach?«

»Darauf kannst du wetten. Fast achtzig Yards, oder?« Er grinste.

»Baker ist heute auch richtig gut. Er fängt einfach alles, was ich ihm zuwerfe«, sagte Tate keuchend.

»Ich habe seine Turnübungen gesehen. Wirklich gut.« Bennett räusperte sich. Ihm war unangenehm, was er als Nächstes ansprechen musste. »Hör mal, ich will mich nicht in deine Privatangelegenheiten einmischen, aber ich muss dir eine Frage stellen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du ein Problem mit einem der Jungs vom South-Team hast.« Tate schaute sofort weg. Also hatte Bennett einen Nerv getroffen.

Unter Teenagern war ein bisschen Drama unvermeidbar. Es durchdrang alle Facetten ihres jungen Lebens, und durch die Arbeit mit ihnen bekam auch Bennett nicht wenig davon mit. Für gewöhnlich drehte es sich um zwei Dinge: die Familie oder Mädchen.

Obwohl sein Vater ein Mistkerl war, hatten Tates Probleme meistens mit Mädchen zu tun. Er war ein gut aussehender Bursche, machte Krafttraining und war selbstbewusster, als ihm guttat. Wie Bennett früher. Aber diesmal war der Fall etwas anders gelagert. Bennett hatte in der zweiten Unterrichtsstunde ein Gespräch zwischen ein paar Schülerinnen mit angehört und wusste daher, dass Tates kleine Schwester – die in der zehnten Klasse war – am Wochenende eine unschöne Trennung erlebt hatte. Der Kerl, der mit ihr Schluss gemacht hatte, war zufällig einer der Linebacker der gegnerischen Mannschaft des morgigen Spiels. Der belauschten Unterhaltung zufolge hatte Tate die Neuigkeit nicht gut aufgenommen, was Bennett nicht weiter überraschte. Im Hinblick auf seine Schwester hatte der Junge einen starken Beschützerinstinkt.

Bennett hielt es für angeraten, Tates beste Würfe früh im Spiel einzusetzen, bevor übles Gerede zu aggressiver Stimmung führte. Denn früher oder später würde er ihn vom Feld nehmen müssen, möglichst bevor ein Streit ausbrach und der Junge etwas tat, das er nicht zurücknehmen konnte. So etwas geschah nicht oft, aber die jungen Burschen bestanden nur aus Muskeln, Aggressionen und tobenden Hormonen.

»Ich werde Ihnen keinen Ärger machen, Coach.« Endlich sah Tate ihm in die Augen.

Sie schwiegen einen Moment, bis Bennett sich räusperte. »Willst du darüber reden?«, fragte er schroff. »Du weißt, ich bin für dich da.«

»Ja.« Der junge Mann stieß nervös die Stollen seiner Schuhe in den Boden. »Das weiß ich, aber nein danke. Ich komme schon klar. Ich schwöre, dass ich die Sache nicht mit aufs Feld nehmen werde.«

Bennett nickte. »Hör zu, man kann seine Gefühle nicht abstellen, aber man kann lernen, sie zu seinem Vorteil zu nutzen. Lass dich nicht von der Wut beherrschen! Verstanden?« Bennett wünschte, er würde nicht aus eigener Erfahrung sprechen. Tate nickte. »Na gut, wo wir das jetzt aus dem Weg geräumt haben, kann ich dir offiziell mitteilen, dass du morgen das Spiel eröffnest.«

»Danke, Coach! Das weiß ich zu schätzen.« In seinem Gesicht malte sich große Erleichterung ab. Er war noch nicht mal achtzehn, aber es lastete schon ein enormer Druck auf ihm, wie bei allen jungen Sportlern. »Mein Vater hat mir schon die ganze Woche die Hölle heißgemacht.«

Es tat Bennett leid, das zu hören, überrascht war er nicht. Warum verstanden manche Eltern nicht, dass es weder gesund noch klug war, sich derart auf eine Profikarriere zu versteifen?

»Das tut mir leid, Tate. Ich weiß, du willst deinen Vater stolz machen, aber du solltest Football nur zu deiner eigenen Befriedigung spielen. Es geht nicht immer nur darum, der Star zu sein. Niemand gewinnt eine Meisterschaft allein.«

Tates dick gepolsterte Schultern sackten nach unten. »Mein Vater sieht das anders.«

»Bei allem Respekt vor deinem Vater, aber manchmal redet er wirklich Schwachsinn.« Bennett hätte gern ein paar ausgewählte Worte hinzugefügt, aber es gelang ihm, sich zurückzuhalten. Tates Vater stand mit seinen Kindern leider allein da. Bennett war sich außerdem ziemlich sicher, dass Grayson trank. »Dann wieder ab mit dir aufs Feld, und zeig mir, was ich morgen zu erwarten habe. Lass deinen Frust am Ball aus.«

Zwei Stunden später war die Mannschaft vollkommen fertig. Bennetts Lieblingskappe war vom Herumstehen in der Septemberhitze ganz durchgeschwitzt, an den Armen hatte er einen leichten Sonnenbrand, und sein Bein schmerzte höllisch.

Das Nachmittagstraining war lang und intensiv, aber viel besser als bei seinem Jobantritt. Der Trainer vor ihm hatte die Jungs zweimal täglich antreten lassen, morgens und nachmittags. Das hatte Bennett nur fürs Frühjahr beibehalten. In der Herbstsaison hatten die Jungs mit der Schule, dem Gewinnen der Spiele und dem normalen Training schon genug zu bewältigen, fand er.

Das war widerwillig akzeptiert worden. Aber seine übrigen Veränderungen? Eher nicht. Er hatte die gesamte Gemeinde erschüttert, als er anfing, den Jungs zu predigen, dass Football nicht alles war. Ja, für einen Trainer war das ungewöhnlich, aber er nahm dieses Konzept sehr ernst. Dazu gehörte auch seine Forderung nach einem obligatorischen Notendurchschnitt von 2,8, der am Freitag Nachmittag erreicht sein musste, oder sie würden nicht spielen. Damit verlangte er mehr als die meisten anderen Schulen, sogar mehr als die NCAA, aber seine Schützlinge besuchten die Highschool, und wenn sie da schon nicht ordentlich mithalten konnten, wie sollten sie es dann auf dem College schaffen? Er hatte sogar alle Lehrerkollegen gebeten, seinen Spielern gegenüber kein Auge zuzudrücken. Seine Jungs brauchten keine Sonderbehandlung. Und sie sollten der Gemeinschaft dienen, nicht umgekehrt, wie es bei Kleinstadtathleten so häufig üblich war.

Angesichts seiner Vorgeschichte hatte die Stadt solche Ideale bei ihm ganz sicher nicht erwartet. Er hatte die Leute aber schließlich überzeugen können. Der Sieg bei der Landesmeisterschaft in seinem ersten Jahr hatte beträchtlich dazu beigetragen. Und der in den beiden folgenden Jahren ebenso. Wenn sie mal über Bennetts persönliche Situation nachgedacht hätten, wäre ihnen sofort klar geworden, warum der Trainer so dachte und nicht anders. Hart trainieren und Spielleidenschaft waren wichtig. Dennoch konnte das Schicksal einem von einer Sekunde auf die andere den Boden unter den Füßen wegreißen.

Diese jungen Männer brauchten noch etwas anderes. Sie konnten nicht ihr ganzes Leben auf Football ausrichten. Wenn es für sie klappte und sie zu den wenigen Glücklichen gehörten, die es in die NFL schafften und dabei reich wurden, großartig. Wenn nicht, brauchten sie einen Plan B. Statistisch gesehen würden sie wahrscheinlich alle einen brauchen. Zwei seiner ehemaligen Spieler absolvierten zwar gerade ihre erste Saison in der NFL und drei weitere an Universitäten, waren also auf dem besten Weg. Aber er wollte jeden seiner Jungs im College sehen. Er wollte mehr sein als der Typ, der ihnen die Spielzüge beibrachte. Er wollte sie zu ausgeglichenen Menschen machen. Ein positiver Einfluss in ihrem Leben sein. Sie davon abhalten, die gleichen Fehler zu begehen wie er seinerzeit. Auch er hatte einmal geglaubt, es gebe nichts außer Football und Millionen in der Profiliga zu scheffeln sei das Einzige, wonach es sich zu streben lohne.

Nein, ein Plan B war absolut notwendig.