Prolog

Die Glocke des nahe gelegenen Domes schlug fünf Uhr morgens. Vor einer Stunde hatte ein feiner, eiskalter Sprühregen eingesetzt, der durch die Straßen und Gassen gepeitscht wurde von einem dieser unkalkulierbaren Novemberwinde, die urplötzlich da sind und alles durcheinanderwirbeln, um dann ebenso unvermittelt wieder einzuschlafen.

Totensonntag stand bevor, das Wetter rüstete sich, diesem Ereignis den passenden trübsinnigen Rahmen zu verleihen. Weder die Uhrzeit noch das Wetter hätten erwarten lassen, dass eine junge Frau mit klackernden Absätzen durch eine der dunklen Straßen des Paderborner Riemekeviertels ging. Sie trug einen Regenmantel mit Kapuze, die sie unter dem Kinn zusammenhielt, und machte kurze, schnelle Schritte – mehr hätten ihre hochhackigen Schuhe auch nicht zugelassen.

Als sie auf den Konrad-Martin-Platz kam, pfiff ihr der Wind noch heftiger um die Ohren. Links sah sie ein wenig einladendes Mehrfamilienhaus. Da musste die Frau wohnen, die sie besuchen wollte. Die vor einigen Tagen zu ihr gesagt hatte: Du kannst kommen, wann immer du Hilfe brauchst. Egal, ob früh oder spät.

Die junge Frau wischte sich den Regen aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Zögernd ging sie auf die Betonfassade des Hauses zu. Der Platz wurde zu dieser Uhrzeit nicht mehr beleuchtet, und die dichten Regenwolken ließen kein Mondlicht hindurch. Es war so dunkel, dass sie die Namen auf dem großen Klingelschild an der Eingangstür nicht lesen konnte. Sie kramte in einer ihrer Manteltaschen, zog ein Feuerzeug heraus und zündete es an. Sorgfältig leuchtete sie die lange Reihe ab, doch den Namen, nach dem sie suchte, fand sie nicht. Enttäuscht ließ sie das Feuerzeug ausgehen. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und betrachtete die Fassade des großen Hauses noch einmal prüfend. Dabei erkannte sie eine zweite Haustür, einige Meter von ihr entfernt. Vielleicht hatte sie dort mehr Glück.

Während sie hinüberging, bemühte sie sich darum, leiser aufzutreten. Sie wollte auf gar keinen Fall Aufmerksamkeit erregen oder sogar gesehen werden. Das könnte für sie selbst, aber auch für die Frau, deren Hilfe sie suchte, gefährlich werden. Das war auch der Grund für diese ungewöhnliche Uhrzeit gewesen, denn jetzt war die Gefahr, bei ihrem Besuch gesehen zu werden, am geringsten.

Wieder stand sie vor einer langen Reihe von Klingelschildern. Wieder knipste sie das Feuerzeug an. Diesmal entdeckte sie ganz unten den Namen, den sie gesucht hatte. Doch auf einmal, so kurz vor dem Ziel, wurde sie unsicher. Konnte sie wirklich diese Frau einfach so aus dem Schlaf klingeln? Sicher, sie hatte es ihr angeboten, aber war es auch ernst gemeint gewesen? Oft schon hatte man ihr angebliche Hilfe angeboten – und viel zu oft war am Ende nichts als Enttäuschung geblieben. Warum sollte es diesmal anders sein?

Sie schluckte angestrengt. Um ihre Nerven zu beruhigen, wühlte sie eine Packung Zigaretten aus dem Mantel. Sie wollte eben erneut das Feuerzeug entzünden, als sie auf dem Platz Schritte hörte. Schwere Schritte. Männerschritte. Sie kamen schnell näher, wurden immer lauter.

Die junge Frau drehte sich um, schrie vor Entsetzen auf, als sie sah, wer auf sie zukam, und wollte davonlaufen. Aber der breitschultrige Mann mit der schwarzen Lederjacke stand schon direkt vor ihr. Er presste ihr seine riesige, schwielige Hand auf den Mund, um ihre Schreie zu unterdrücken. Zu spät merkte sie, dass er damit gleichzeitig einen Wattebausch auf ihre Lippen drückte. Sie roch und schmeckte die übel riechende Flüssigkeit, mit der dieser Wattebausch getränkt worden war, und sie spürte, in zunehmender Hilflosigkeit, wie sich der dunkle, kalte Platz um sie herum drehte, immer schneller, immer schneller.

1

Die Luft in dem kleinen Wohnzimmer war zum Schneiden. Den ganzen Tag über hatte niemand den Temperaturregler der Zentralheizung heruntergedreht. Walter Hermskötter seufzte erschöpft, aber zufrieden und knöpfte den obersten Knopf seines Hemdes auf. Die Idee, ein Fenster zu öffnen, kam ihm gar nicht. Schließlich war es Ende November, und draußen war es windig und rundum widerwärtig. Das feuchtkalte Herbstwetter war Gift für seine alten Knochen. Zum Glück konnte er einfach das Fenster geschlossen halten, die Heizung hochdrehen und seinem empfindsam gewordenen Körper die Illusion tropischer Wärme gönnen.

Er nahm die Fernbedienung des Fernsehers in die Hand und brachte das Gerät wieder auf die Lautstärke, die seinem schwächer werdenden Gehör entsprach. Seine Ehefrau, die nebenan in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine räumte, sollte ruhig schimpfen. Da sie fast acht Jahre jünger und noch gut beisammen war, hatte sie ihm im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr die Fäden aus der Hand genommen. Eine Entwicklung, die Hermskötter zwar bequem, aber auch leicht beunruhigend fand. Doch die Hoheit über die Fernbedienung würde er sich nicht aus der Hand nehmen lassen, mochte da kommen, was wollte.

Er rutschte in seinem Sessel so lange hin und her, bis er behaglich saß. Die Wetterfrau im Fernsehen kündigte mit strahlendem Lächeln für die kommende Woche die Fortsetzung des nasskalten Wetters an. Walter Hermskötter brummte unzufrieden, als müsste er tatsächlich hinaus in die raue Natur und sich bei harter körperlicher Arbeit im Dauerregen den Tod holen. Dabei war er seit vielen Jahren Rentner und würde auch den morgigen Tag gemütlich im warmen Wohnzimmer verbringen. Wozu hatte er schließlich ein Leben lang geschuftet? Jetzt waren andere an der Reihe. Sein Leben war zwar alles andere als ereignisreich, aber genau so mochte er es. Und so sollte es auch bleiben bis ans Ende seiner Tage. Da sein Haus direkt neben dem riesigen Paderborner Westfriedhof stand, würde auch der allerletzte Weg nicht allzu anstrengend werden.

Als seine Frau Maria sich müde aufs Sofa fallen ließ, warf er ihr einen schnellen, forschenden Blick zu. Zum Glück wirkte sie nicht angespannt, sondern machte einen gelösten Eindruck. Nein, es würde keine atmosphärischen Störungen geben, während die beiden, wie jeden Sonntag, den Tatort schauten.

Der Vorspann hatte eben begonnen, da schrillte die Haustürklingel.

»Wer kommt denn jetzt noch?«, schimpfte Hermskötter, blieb aber ganz selbstverständlich sitzen. Seine Frau hievte sich mit fragendem Blick vom Sofa hoch, fuhr sich kurz mit beiden Händen durch die Frisur und strich ihr Kleid glatt. Dann ging sie zur Haustür. Nun hielt es Walter Hermskötter doch für seine Hausherrenpflicht, nach dem Rechten zu sehen. Ächzend drückte er sich hoch, schlüpfte in seine Pantoffeln und ging, leicht hinkend, hinter seiner Frau her.

Ein Windstoß drang wie eine Riesenwelle herein, als seine Frau die Tür öffnete. Er raubte ihnen fast den Atem, und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder orientiert hatten.

Vor der Tür stand eine junge Frau, die vom Regen völlig durchnässt war. Auf dem linken Arm trug sie eine ebenso nasse kleine Katze, der das rechte Ohr fehlte. Mit der rechten Hand hielt sie eine gut gefüllte Plastiktüte. Die Frau, die noch keine dreißig Jahre alt sein mochte, war mit ihrem dünnen Mantel für dieses Wetter völlig unzureichend gekleidet. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, auch wenn er im ersten Augenblick nicht hätte sagen können, wann und wo er es schon einmal gesehen hatte.

Frau Hermskötter war eine warmherzige ältere Dame, die bei diesem Wetter niemanden draußen vor der Tür stehen ließ. Sie bat die Besucherin mit einem freundlichen, wenn auch leicht unsicheren Lächeln herein. Als Maria die Haustür wieder geschlossen und damit die ungemütliche Außenwelt ausgesperrt hatte, fiel Hermskötter auch wieder ein, woher er dieses hübsche Gesicht mit den großen, traurigen Augen kannte. Diese junge Frau hatte er schon mehrfach in das frei stehende Haus auf der anderen Straßenseite gehen sehen, wo sie offenbar wohnte. Aber miteinander gesprochen hatten sie noch nie. Nach Meinung der anderen Nachbarn war sie, wie auch die beiden anderen jungen Damen, die dort lebten, nicht ganz koscher, irgendwie anders. Man konnte nur mutmaßen, womit sie ihr Geld verdienten.

Die durchnässte junge Frau schüttelte abwehrend den Kopf, als Frau Hermskötter sie in das Wohnzimmer geleiten wollte.

»Danke«, sagte sie leise in einem osteuropäisch gefärbten Deutsch und streichelte der kleinen Katze über das feuchte Fell. »Aber ich möchte Sie nicht mehr als nötig belästigen. Mein Name ist Alicija. Wie Sie vielleicht wissen, wohne ich seit einem halben Jahr im Haus gegenüber. Ich muss heute noch dringend für einige Tage wegfahren und möchte Sie bitten, für diese Zeit auf meine Katze aufzupassen. Tut mir leid, wenn ich Ihnen damit zur Last falle, aber ich habe sonst niemanden und weiß wirklich nicht, wohin mit der Kleinen. Sie heißt Natascha. Ich habe ein bisschen Futter und Spielzeug für sie mitgebracht. Ansonsten geht sie gerne raus, Sie müssen sich also keine Gedanken um die Katzentoilette machen.«

Natascha schien sich bereits wie zu Hause zu fühlen, denn sie sprang vom Arm und machte sich munter daran, den Hausflur der Hermskötters zu untersuchen. Walter Hermskötter wollte energisch Nein sagen, aber seine Gattin kam ihm mit einem freundlichen »Meine Liebe, das ist gar kein Problem, wir helfen doch gern!« zuvor.

Er schluckte wortlos seinen Widerspruch herunter. Das Mädchen sieht tatsächlich ziemlich verzweifelt aus, tröstete er sich. Er betrachtete ihre blonden, schulterlangen Haare, ihren dünnen Mantel mit den auffälligen roten Knöpfen, sah die kleine Regenwasserpfütze, die sich um ihre hochhackigen Sommerschuhe herum bildete. Dann schaute er ihr ins Gesicht und sah in die dunklen, traurigen Augen. Diese junge Frau wirkte so verstört und hilfsbedürftig, dass sein Ärger darüber, ein paar Tage lang eine einohrige Katze ertragen zu müssen, augenblicklich verblasste.

Wortlos nahm er seiner Nachbarin die Plastiktüte ab und beobachtete mit zwiespältigen Gefühlen, wie seine Frau die Katze auf den Arm nahm und streichelte. Er persönlich mochte Katzen nicht, aber es wäre der falsche Zeitpunkt gewesen, dies zu sagen. Resigniert schlurfte er ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen. Von hier konnte er hören, wie seine Frau die Nachbarin verabschiedete und die Haustür hinter ihr schloss. Dann kam auch sie mit der Katze auf dem Arm zum Sofa.

»Das arme Mädchen!«, sagte sie mitleidig. »Hast du gesehen, wie verzweifelt sie wirkte? Wo sie wohl heute noch hinmuss? Hoffentlich ist es nichts Unangenehmes.«

Hermskötter verdrehte die Augen und schaute in den nächsten anderthalb Stunden schweigend der Tatort-Kommissarin zu, die wie immer ihren Fall souverän löste. Es war 22 : 15 Uhr, als er auf die Fernbedienung drücken wollte, um den Fernseher auszuschalten und nach diesem ruhigen Tag ins Bett zu gehen.

In diesem Moment brach die Hölle los.

Alles geschah gleichzeitig: Erst der infernalische Lärm einer Explosion, die das ganze Haus erzittern ließ wie bei einem Erdbeben. Die beiden Wohnzimmerfenster zersprangen, kleinere und größere Glasscherben flogen ihm um die Ohren. Dann traf ihn ein harter Schlag an der Stirn. Wie durch eine rote Nebelwand sah Hermskötter die kleine Katze panisch aus dem Wohnzimmer rasen, sah seine Ehefrau, die mit schreckensstarrem Blick zu ihm schaute, dann schwanden ihm die Sinne.

2

Heute war Totensonntag. Eine treffendere Bezeichnung gab es für einen solchen Tag nicht. Eine widerlich nasskalte, graue Atmosphäre hatte sich über Paderborn gelegt und schien die Stadt erdrücken zu wollen. Dieses Gefühl jedenfalls überkam Horst Schwiete, als er nach dem Aufstehen einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster warf. Zum Glück konnte er dem Wetter auch etwas Positives abgewinnen: Seine gemütliche, warme Wohnung hatte bei einem solchen Sauwetter eine besonders angenehme anheimelnde Atmosphäre.

Horst Schwiete zog sich seinen Morgenmantel über, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Er legte ein Brötchen vom Vortag auf den Toaster, und nachdem es angenehm knusprig und warm war, bestrich er es dick mit Butter und Marmelade. Anschließend stellte er alles auf ein Tablett und trug es in sein Wohnzimmer. Hier setzte er sich an den Tisch vor dem großen Fenster, frühstückte in aller Ruhe und hing seinen Gedanken nach.

Er musste an die niedrige, dunkle Wohnküche denken, die der zentrale Raum in dem alten, kleinen Fachwerkhaus seiner Kindheit in Neuenheerse gewesen war. Hier war er als Sohn eines Waldarbeiters aufgewachsen. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Dies war wohl auch der Grund, dass der kleine Horst schon sehr früh in seinem Leben Aufgaben im Haushalt übernehmen musste. Schon mit sechs Jahren war es sein Job gewesen, morgens den Ofen anzufeuern.

Er konnte sich noch genau an die Überwindung erinnern, die ihn das frühe Aufstehen gekostet hatte. Er hatte damals ein regelrechtes Ritual entwickelt. Jeden Morgen räumte er sich fünf Minuten ein, um sich mental auf den Zeitpunkt einzustellen, in dem er das warme Bett verlassen musste. Genau fünf Minuten! Während dieser Zeit ließ er seinen mechanischen Wecker nicht aus den Augen. Er lauschte. Tick! Tack! Tick! Tack! Und nachdem der kleine Sekundenzeiger sich fünfmal um die eigene Achse gedreht hatte, zählte Schwiete, um noch etwas Zeit zu gewinnen, laut bis zehn. Dann riss er die Bettdecke zur Seite, trotzte der Kälte, die ihn augenblicklich umklammerte, zog hastig seine Pantoffeln an und lief in die Küche. Mit der Zeit hatte er es zu einer wahren Perfektion beim Entfachen des Feuers gebracht. Und wenn dann die ersten Flammen am Holz leckten und die Brennkammer erleuchteten, wenn die erste Wärme noch zaghaft gegen die Kälte ankämpfte, dann hastete Schwiete zurück in sein Schlafzimmer, kroch eilig wieder unter die warme Decke und wartete darauf, dass es in der Küche erträglich warm wurde.

Ein nasses Ahornblatt wurde vom Wind gegen die Wohnzimmerscheibe geklatscht und blieb an ihr haften. Schwiete sah sich das Blatt eine Zeit lang gedankenverloren an. In diesem Moment läutete es an seiner Wohnungstür. Es war seine Vermieterin Hilde Auffenberg.

»Kommen Sie heute Abend doch zum Essen. Unser Nachbar Herbert Höveken wird auch da sein. Ich koche etwas Gutes, und wir machen eine schöne Flasche Wein auf. Vielleicht gelingt es uns ja so, der Tristesse der Jahreszeit zu entgehen«, meinte seine Hauswirtin mit einem freundlichen Lächeln.

Er führte kein schlechtes Leben, fand Horst Schwiete und dankte seiner Vermieterin für die nette Einladung. Dann trank er mit ihr noch eine Tasse Kaffee, bevor er seine Wohnung in Ordnung brachte. Eine Tätigkeit, die höchstens zwei Minuten in Anspruch nahm, denn Schwiete war Pedant. Unordnung gab es bei ihm nicht.

Nach dem Abwasch widmete er sich seiner Sonntagszeitung. Doch immer wieder wanderten seine Gedanken zurück in seine Kindheit. Mit seinem Vater hatte er sich immer gut verstanden. Doch als sein Lehrer vorgeschlagen hatte, ihn aufs Gymnasium zu schicken, war sein Vater strikt dagegen gewesen.

Seit Generationen seien die Männer in seiner Familie Waldarbeiter, hatte er gesagt. Das sei ein ordentlicher Beruf. Ständig an der frischen Luft, und Holz würde immer gebraucht. Außerdem habe so eine Arbeit noch keinem geschadet. Das gelte auch für seinen Sohn.

Doch der junge Lehrer war hartnäckig geblieben. Immer wieder hatte er den Vater aufgesucht, und letztendlich war es ihm doch gelungen, ihn zu überreden.

Schwietes Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ja, er war aufs Gymnasium gegangen. Doch die Wurzeln waren für einen Holzfäller offenbar sehr wichtig, denn Horst Schwiete musste schon als kleiner Junge mit in den Wald. Hier hatte er alles über die Natur gelernt, was sein Vater ihm beibringen konnte. Auch das Holzfällen musste Schwiete lernen, und es hatte ihm ebenso viel Spaß gemacht wie das Büffeln in der Schule.

Als es nach dem Abitur ans Studieren ging, fehlte es am Geld, und ein Kredit kam weder für den Vater noch für den Sohn infrage. Also wurde Schwiete Polizist. Auch heute noch, nachdem er diesen Beruf seit über zwanzig Jahren ausübte, war er froh, ihn ergriffen zu haben. Klar, er war immer ein Sonderling gewesen. Am Gymnasium war er als Sohn des Holzfällers belächelt worden, doch er war schlau und stark. Das eine war nützlich im Klassenzimmer, das andere auf dem Schulhof. Die Mädchen mochten ihn, doch er war viel zu schüchtern, sich dies zunutze zu machen. Bis heute hatte er keine Freundin.

In der Polizeischule war er wieder ein Einzelgänger. Er soff nie und war immer leise. Manche seiner Kollegen nannten ihn einen Streber. Doch Schwiete hatte sich für einen Beruf entschieden, der ihm gefiel, den er sich ausgesucht hatte und der ihm, wie er fand, lag.

Er liebte es, an Fällen herumzuknobeln, er verfügte über so etwas wie Intuition und ließ bei der Polizeiarbeit auch seinem Gefühl den nötigen Raum. Manche Kollegen fanden ihn eigenbrötlerisch und verschlossen, manche sogar linkisch. Er passte eben an vielen Stellen nicht ins Bild. Aber er war mit sich im Reinen. Er hatte sich für einen Weg entschieden, der zwar schwierig war, aber es war seiner. Und das, was ihm der Vater beigebracht hatte, wenn sie Tiere beobachteten, das Warten, war eine seiner Stärken – damals im Wald und heute als Polizist. Doch das Wichtigste, was er bei der Waldarbeit gelernt hatte, war: Die Sicherheit steht vor allem.

Heute hatte sich in seinen penibel durchstrukturierten Tag eine unerwartete Eigendynamik eingeschlichen und jede Ordnung über den Haufen geworfen. Beim Grübeln und Zeitunglesen war die Zeit vergangen, ohne dass Schwiete es bemerkt hatte. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er nur noch eine Viertelstunde hatte, um sich ausgehfertig zu machen.

Zwar musste er nur eine Etage tiefer gehen, nämlich in Hilde Auffenbergs Küche, doch das hinderte Schwiete nicht daran, sich zu duschen, einen Anzug und ein frisch gebügeltes Hemd anzuziehen. Für ihn war es undenkbar, die Wohnung im Trainingsanzug oder in legerer Freizeitkleidung zu verlassen, wenn er eingeladen war, und sei es auch nur bei seiner Vermieterin.

Herbert Höveken, der Nachbar und Besitzer eines Beerdigungsinstitutes, war schon da, als Schwiete die Küche betrat, die so etwas wie das Kommunikationszentrum des Ükernviertels war.

Schwiete wunderte sich, dass der große Esstisch tatsächlich nur für drei Personen gedeckt war. Das war für Hilde Auffenbergs Verhältnisse eine wirklich überschaubare Gästezahl. Zwar hatte sie ihm morgens schon diese kleine Runde angekündigt, doch Schwiete wusste, dass der Tag lang war und seine Hauswirtin eine umtriebige Person. Da konnten innerhalb von ein paar Stunden schnell drei bis vier Personen dazukommen.

Vielleicht traute sich ja aufgrund des Sauwetters niemand auf die Straße, und so hatte es seiner Hauswirtin an Möglichkeiten gemangelt, weitere Gäste und Nachbarn einzuladen.

Hilde Auffenberg und Herbert Höveken waren schon seit Urzeiten Nachbarn. Und seit Schwiete hier wohnte, konnte er sich kaum an einen Tag erinnern, an dem Höveken nicht in Hilde Auffenbergs Küche gesessen hatte. Schon als er den Beerdigungsunternehmer zum ersten Mal gesehen hatte, war sein Eindruck gewesen, dass der Mann in seine Hauswirtin verliebt war. Bei diesem Verdacht war es die ganzen Jahre über geblieben. Die beiden, Hilde Auffenberg und Herbert Höveken, begegneten sich täglich, sie gestalteten gemeinsam ihre Freizeit, aber aus ihnen war bis heute kein Liebespaar geworden. Wahrscheinlich sehr zum Leidwesen von Höveken.

Als Schwiete die Küche betrat, unterbrach Hilde Auffenberg ihre Arbeiten am Herd. Sie begrüßte ihn freundlich, holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank und bat Höveken, sie zu öffnen. Kurze Zeit später waren die Gläser und Teller gefüllt, und die drei ließen es sich schmecken. Es gab dicke Bohnen in einer Schnittlauchrahmsoße, grobe Bratwurst und Bratkartoffeln und zum Nachtisch Schokoladenpudding.

Die Zeit verstrich. Sie plauderten über dies und das. Eine weitere Flasche Wein wurde aus dem Kühlschrank geholt. Es herrschte eine angenehme Stimmung.

»Ein Abend mit netten Leuten ist doch das Beste gegen eine Novemberdepression«, bemerkte Hilde Auffenberg und hob ihr Glas. Doch ihre kleine Ansprache wurde von einem dumpfen Dröhnen unterbrochen. Die Fensterscheiben vibrierten von einer Druckwelle. Selbst das Geschirr auf dem Küchentisch schepperte kurz. Was war das? Eine Explosion?

Schwiete trat ans Fenster und blickte hinaus.

Es hatte aufgehört zu regnen.

3

»Dieser verdammte Job!«, brummte Johnny Winter an diesem Abend schon zum wiederholten Male, obwohl ihm auch diesmal niemand zuhörte. Es war kurz nach zehn am Sonntagabend, und anstatt gemütlich in seiner Stammkneipe im Ükernviertel zu sitzen, verplemperte er nun wertvolle Lebenszeit damit, in seinem Taxi auf Fahrgäste zu warten. Dabei hatte er keine Zeit zu verschenken, fand er. Er war Mitte vierzig, im allerbesten Mannesalter. Und eigentlich war er auch kein Taxifahrer, sondern Musiker. Okay, seine kühnen Rockstarträume hatten sich in den vergangenen zwanzig Jahren nicht realisieren lassen, aber das musste ja nicht zwingend bedeuten, dass dies für alle Zeiten so bleiben würde. Er, der Gitarrist, hatte es drauf, davon war er zutiefst überzeugt. Er war aus demselben einzigartigen Holz geschnitzt wie seine großen Idole Clapton, Richards, van Halen und wie sie alle hießen. Nur hatte dies bislang noch niemand erkannt.

Aber von irgendwas muss der Mensch ja leben und seine Miete bezahlen. Vor allem die Miete war die Ursache dafür gewesen, dass er nun in Nachtschichten Taxi fuhr. Hilde Auffenberg, seine mütterliche Vermieterin, hatte ihn gedrängt, den Taxischein zu machen, und ihm auch diesen Job besorgt. Sie würde ihn ungern vor die Tür setzen, hatte sie gesagt, aber sie könne es sich auch nicht leisten, auf die Mieteinnahmen zu verzichten. Dabei hätte sie doch einfach ihrem anderen Mieter, diesem langweiligen Bullen Horst Schwiete, etwas mehr abknöpfen können, fand Winter. Der hatte doch ein gutes und festes Beamtengehalt.

Er schaltete den Scheibenwischer ein, um draußen etwas sehen zu können. Verärgert schaute er sich auf dem regennassen Vorplatz des Paderborner Hauptbahnhofes um. In den letzten Jahren hatte man den gesamten Bereich vor dem Bahnhof neu gestaltet, großzügiger, moderner. Nur an die Taxifahrer hatten diese Planungsfritzen nicht gedacht. Ihr Wartebereich war so eng, dass bereits mehrfach Außenspiegel und einmal sogar schon eine Fahrertür abgefahren worden waren. Denn auch die Autos, die vom normalen Parkplatz zurück auf die Bahnhofstraße wollten, mussten sich hier durchquetschen. Von den Bussen ganz zu schweigen. Ein unhaltbarer Zustand, schimpfte Winter innerlich.

Immerhin hatte Winter nun die Spitze der Warteschlange erreicht. Der nächste Fahrgast gehörte ihm. Hoffentlich nicht wieder so einer, der nur zwei Straßenecken weiter fahren wollte. Die brachten nichts ein, und man musste sich danach wieder ans Ende der Schlange stellen. Im Rückspiegel sah er eine Person mit einem Rollkoffer langsam näher kommen. Sie blieb beim Kollegen hinter ihm stehen und sprach ihn an. Gerade wollte Winter empört aus dem Auto springen und den Kollegen zurechtweisen, als dieser den Fahrgast an ihn weiterverwies. Winters Wutpegel war schon fast wieder komplett abgesackt, als der Fahrgast schließlich neben seinem Taxi stand: eine junge Frau, deren dicker, fellbesetzter Kapuzenmantel vor Nässe triefte. Diensteifrig sprang er aus dem Fahrzeug, riss die Heckklappe seines Mercedes auf und verstaute dort den Rollkoffer. Als er sich wieder hinter das Lenkrad klemmte, saß die Frau bereits auf dem Beifahrersitz. Sie hatte sich die Kapuze vom Kopf gezogen und lächelte ihn munter an. Hübsch war sie, fand Winter. Hübsch und selbstbewusst.

»Zum Flughafen, bitte!«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme. Na, das lohnt sich doch endlich mal, dachte Winter und wollte eben den Motor anwerfen. Da gab es irgendwo draußen einen lauten, dumpfen Knall. Zuerst dachte Winter an einen Autounfall auf der Bahnhofstraße. Aber da war nichts zu sehen. Im Rückspiegel erkannte er, dass einige seiner Taxikollegen aus ihren Autos stiegen und aufgeregt miteinander sprachen. Offenbar hatten auch sie den Knall gehört und waren irritiert. Als auch Winter Anzeichen machte auszusteigen, sagte die junge Frau freundlich, aber bestimmt: »Ich habe es sehr eilig. Würden Sie bitte sofort losfahren? Vielen Dank!«

Johnny Winter hatte bereits den Abzweig zum Heinz-Nixdorf-Ring hinter sich gelassen, als ihm die ganze Absurdität dieser Fahrt klar wurde. Er räusperte sich und sagte dann, nach einigem Zögern: »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber eine Stunde vor Mitternacht ist am Flughafen nichts mehr los. Ich weiß nicht mal, ob das Abfertigungsgebäude überhaupt geöffnet hat. Sind Sie sicher, dass …«

»Ja! Bin ich!«, kam es klar und eindeutig von der jungen Frau, die schon durch ihre Körpersprache keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich nicht unterhalten wollte, auf gar keinen Fall aber über ihr Fahrziel zu diskutieren gedachte. Sie hatte den Kragen ihres Mantels nach wie vor hochgeschlagen, als stünde sie in einem Schneesturm. Nichts an ihr konnte einem armen Taxifahrer Mut machen, eine kleine unschuldige Plauderei zu wagen, ganz zu schweigen von laut geäußerten Zweifeln an der Sinnhaftigkeit dieser Fahrt. Aber ein Thema bewegte ihn so sehr, dass er das Schweigen erneut brach.

»Haben Sie auch dieses heftige Geräusch gehört, als Sie gerade zum Taxistand kamen? Dieses Wummern, wie bei einer Explosion? Was mag das gewesen sein? Vielleicht weiß einer der Kollegen was. Ich werde mal über Funk nachfragen. Ist das okay?«

»Nein! Fahren Sie bitte weiter, und zwar schnell!«

Für ein paar Sekunden war er sprachlos. Dann überlegte er, ob er sich nicht einfach über ihren Wunsch hinwegsetzen und trotzdem den Funk benutzen sollte. Aber irgendwie schüchterte diese Frau ihn ein.

»Alles klar!«, brummte er resigniert und gab Gas. Der Regen war nun so stark, dass der Scheibenwischer trotz Schwerstarbeit den Kürzeren zog. Er war irritiert, und wenn er irritiert war, fuhr er zu schnell. Prompt knallte ihm Sekunden später das Blitzlicht einer Radaranlage ins Auge. Wütend schlug Winter aufs Lenkrad. Seine Laune war nun endgültig im Keller. Dieser verdammte Blitzer würde so viel kosten, wie die ganze Nachtschicht einbrachte!

Aus dem Augenwinkel betrachtete er die Frau auf dem Beifahrersitz, die nach wie vor stur nach vorn schaute und so tat, als wäre er gar nicht da. Ein hübsches Profil, fand er. Und auch ansonsten war sie ziemlich attraktiv. Typisch, da hatte er ausnahmsweise mal eine hübsche Frau im Auto, und dann sprach sie kein Wort mit ihm. Okay, Johnny, tröstete er sich fatalistisch, du hast einfach keinen Schlag bei Frauen. Das war so ziemlich die einzige Eigenschaft, die er mit seinem Wohnungsnachbarn Horst Schwiete gemeinsam hatte. Auch an ihm sahen die Frauen regelmäßig vorbei. Aber auf diese Gemeinsamkeit hätte Johnny Winter liebend gern verzichtet.

Zehn Minuten später waren die Lichter des Regionalflughafens zu sehen. Winter hatte recht behalten: Hier war wirklich nichts mehr los.

»Zum Flughafenhotel, bitte«, sagte die junge Frau.

Winter hielt direkt vor dem Hotel, nannte seiner Kundin die Summe und schaltete den Motor aus. Die Frau kramte umständlich und lange in ihrer teuer aussehenden Handtasche herum, bis sie endlich ein großes Portemonnaie gefunden hatte und ihm einen Schein in die Hand drückte.

»Stimmt so«, sagte sie und wollte aussteigen, als Winter rief: »Da ist eben was aus Ihrem Portemonnaie gefallen!«

Sie griff unter sich, beförderte einen kleinen Zettel hervor und schaute ihn kurz an, ehe sie ihn achtlos zusammenknüllte und in die geöffnete Handtasche fallen ließ.

»War nicht wichtig«, sagte sie und stieg aus. »Nur ein Kassenbon.«

Winter verließ ebenfalls das Auto, öffnete die Heckklappe und zog ihren Koffer heraus. Als er sich anschickte, das Gepäck ins Hotel zu rollen, nahm sie ihm den Griff aus der Hand.

»Ist nicht nötig. Das schaffe ich schon allein.«

4

Die Regenpause war nur kurz gewesen. Nasse kalte Tropfen klatschten Schwiete ins Gesicht, als er die Haustür hinter sich ins Schloss zog. Es war ein so gemütlicher Tag gewesen in der warmen Wohnung und anschließend in Hilde Auffenbergs Küche.

Dann hatten die Fensterscheiben so merkwürdig gescheppert, und er hatte gleich so eine Ahnung gehabt, dass dieses Furcht einflößende Geräusch Einfluss auf die Gestaltung seines weiteren Abends nehmen würde.

Die angenehme Stimmung war augenblicklich vorbei gewesen, die amüsanten Gespräche waren verstummt und nicht mehr in Gang gekommen. Höveken sah immer wieder aus dem Fenster und entschloss sich nach einigen unsicheren Minuten dazu, doch lieber mal nach seinen Särgen zu schauen. Dann hatte es in Schwietes Jackentasche vibriert: das Signal, das dem Hauptkommissar eine lange Nacht ankündigte.

Im Lohfeld hatte es eine Detonation gegeben, die so heftig gewesen war, dass ein ganzes Wohnhaus in Trümmern lag. Da mit Toten zu rechnen war, wurde die Mordkommission prophylaktisch mit in das Geschehen einbezogen. Und so wartete Schwiete jetzt im schmalen Eingang des Auffenberg’schen Hauses auf den Streifenwagen, der ihn zum Ort der Explosion bringen sollte. Allmählich lief ihm Regenwasser in den Nacken, und er klappte den Jackenkragen hoch, um dem Eindringen der Nässe etwas entgegenzusetzen. Schwiete kramte schon nach seinem Handy, um dem Kollegen im Streifenwagen mitzuteilen, dass er im Haus auf ihn warten würde. Doch noch bevor er das kleine Telefon aus der Jackentasche gezogen hatte, glitten blaue Lichtreflexe durch die Pfützen. Schwiete lief zu dem Polizeiwagen, riss die Tür auf und war in der nächsten Sekunde im Inneren des Autos verschwunden. Er kannte den Fahrer von vielen Polizeieinsätzen und ließ sich während der Fahrt alles erzählen, was sein Kollege in Erfahrung gebracht hatte.

Am Unfallort standen mehrere Feuerwehrfahrzeuge und zwei Rettungswagen. Auch die Polizei war mit einigen Autos und einem Bulli vertreten. Es waren bereits einige Flutlichter in Position gebracht worden, die der ganzen Szenerie etwas Gespenstisches verliehen, die Trümmer des Hauses aber nur notdürftig beleuchteten. Zwischen den Mauerresten suchten mehr als ein Dutzend Männer nach Überlebenden.

Schwiete blickte angewidert durch die nasse Frontscheibe. Am liebsten wäre er im Warmen und Trockenen sitzen geblieben. Doch ihm blieb keine Wahl, auch er musste hinaus in den Regen, wo seine Kollegen und die Rettungsmannschaften eifrig ihrem Job nachgingen. Er lieh sich von einem der Feuerwehrmänner eine wasserdichte Jacke. So gegen den immer heftiger niederprasselnden Regen gewappnet, begab er sich in die Trümmer. Doch noch bevor er die ersten Mauerreste erklommen hatte, wurde seine Aufmerksamkeit auf einen Mann und eine Frau gelenkt, die wild gestikulierend auf einen Polizisten im Inneren des Bullis einredeten. Die beiden mussten schon recht alt sein, denn ihre Bewegungen wirkten steif und ungelenk. Der Mann war allem Anschein nach verletzt, denn er trug einen Kopfverband und hatte zusätzlich eine Hand mit weißem Mull bandagiert.

Der Polizist, der seinen Kopf nun ein wenig aus dem schützenden Inneren des Autos hielt, machte eindeutige Gesten, mit denen er die beiden Alten ärgerlich hinter das rot-weiße Flatterband trieb. Als er sich zurück in den Bulli verzog, erkannte Schwiete seinen Kollegen Kükenhöner. Der Hauptkommissar hatte das Geschehen aufmerksam beobachtet. Er hatte das Gefühl, dass dort etwas geschah, was bei der Aufklärung der Detonationsursache von Bedeutung sein könnte. Es war nur so ein Gefühl, das Schwiete hatte, eine Intuition. Doch solche Eindrücke nahm der Polizist stets ernst, auch wenn seine Kollegen ihn deswegen meist belächelten. Also entschloss er sich, nicht weiter in den Trümmern des Hauses zu suchen, sondern zum Polizeibulli zu gehen. Als er dort ankam, war von den beiden Alten nichts mehr zu sehen. Die Dunkelheit hatte sie verschluckt. Schwiete öffnete die Schiebetür des Transporters. Er hatte sie kaum zehn Zentimeter zur Seite gezogen, da hörte er schon die unfreundliche Stimme seines Kollegen.

»Horsti Schwiete! Hätte ich gewusst, dass du dich auch hierherbequemst, dann wäre ich mit dem Arsch im Bett geblieben«, bemerkte Kükenhöner und verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln.

Schwiete schwieg.

»Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen? Komm rein, und mach die Tür zu, oder hilf der Feuerwehr beim Wegräumen der Steine!«

Wortlos kletterte Schwiete in das Innere des Fahrzeugs und zog die Tür hinter sich zu. Er setzte sich Kükenhöner gegenüber und sah ihn längere Zeit aufmerksam an. »Was wollten die beiden alten Leute von dir?«

Kükenhöner winkte ab. »Ach, hör auf, neugierige Nachbarn von gegenüber, du kennst das doch, da sind so ein paar Alte, die langweilen sich den ganzen Tag zu Tode, und wenn dann endlich mal was passiert, dann stehen die gleich auf der Matte und labern dir ein Ohr ab. Aber nicht mit mir! Ich habe denen gesagt, dass sie morgen in die Polizeibehörde kommen sollen, um ihre Aussage zu machen. Wenn das wirklich wichtig war, was die beiden Alten zu sagen hatten, dann laufen die morgen früh bei uns auf. Wenn nicht, war es auch nicht wichtig.«

Schwiete schwieg. Es gefiel ihm nicht, wie sein Kollege sich verhielt. Der wurde von Jahr zu Jahr fatalistischer.

Die unangenehme Stille veranlasste den schlecht gelaunten Polizisten, weiter provokant draufloszubrabbeln.

»Ich weiß, du hättest dir den Sermon der Alten angehört, hättest einen auf verständnisvoll gemacht. Wie du es immer tust.

Aber das kannst du von mir nicht erwarten. Ich hab ja schon genug Stress zu Hause. Irgendwann hört das Verständnis für jedermann mal auf. Da muss ich mir nicht noch dieses Gelaber von ein paar Rentnern anhören, die nichts anderes zu tun haben, als überall ihre Nase hineinzustecken.«

Wieder herrschte längeres Schweigen. Schwiete räusperte sich. »Doch, Karl, das erwarte ich von dir! Ich verlange, dass du jedem, der sich in dienstlichen Angelegenheiten an dich wendet, aufmerksam und höflich zuhörst.«

5

Eigentlich war Miguel Perreira gern Polizist. Schon seitdem er als Vierjähriger mit seinen Eltern von Portugal nach Paderborn gezogen war, hatte ihm die Vorstellung behagt, in einer schmucken Uniform durch die Stadt zu laufen, von den Passanten respektvoll gegrüßt zu werden und dabei das zufriedenstellende Gefühl zu haben, einer guten Sache zu dienen. Später war die Hoffnung dazugekommen, damit Frauen zu beeindrucken. Er hatte es tatsächlich geschafft, diesen Kindertraum zu verwirklichen, war als Einwandererkind in der Mitte der Paderborner Gesellschaft angekommen und war mit sich und der Welt im Reinen. Da er seinen Dienst gewissenhaft versah und ein sonniges Gemüt hatte, war er bei den Bewohnern der Stadt und bei seinen Kollegen gleichermaßen beliebt. So schnell brachte ihn nichts aus der Ruhe.

Solche Jobs wie in dieser Nacht allerdings fand er öde. Er saß in seinem Dienstwagen und versuchte immer wieder, durch die verregnete Seitenscheibe einen Blick auf die noch immer rauchenden Trümmer des explodierten Hauses zu werfen. Das Einfamilienhaus neben dem riesigen Westfriedhof war nahezu restlos zerstört worden. Eine Hauswand war in den Garten gekippt, und keine Fensterscheibe war heil geblieben. Da, wo noch vor kurzer Zeit die Haustür ihren Platz gehabt hatte, war jetzt ein schwarzer Schlund zu sehen. Und was von dem Gebäude noch stand, erinnerte in der Dunkelheit an eine alte Ruine. Vermutlich war die Explosion durch den unsachgemäßen Umgang mit einer Propangasflasche ausgelöst worden. So viel schien jedenfalls nach den ersten Untersuchungen klar zu sein. Leider war zumindest ein Mensch dabei ums Leben gekommen. Perreira versuchte die Bilder der Nacht abzuschütteln – als die Leute von der Spurensicherung immer wieder auf neue Teile eines menschlichen Körpers gestoßen waren. Viel war nicht mehr zu erkennen gewesen, aber die Fachleute waren davon überzeugt, dass es sich dabei um eine Frau handelte. Näheres würde sich erst nach diversen Laboruntersuchungen sagen lassen. Bis dahin durfte niemand das Areal betreten. Das nämlich könnte wertvolle Spuren zerstören.

Außer ihm befanden sich zwei Männer von der Feuerwehr an der Brandstelle. Sie saßen in einem kleinen Feuerwehrauto etliche Meter hinter ihm und langweilten sich dort genauso wie er. Brandwache. Sie hatten darauf zu achten, dass nicht plötzlich wieder an irgendeiner Stelle ein Feuer aufloderte. Perreira verdrehte die Augen. Als ob bei diesem Dauernieselregen eine Flamme eine Chance hätte. Aber wer wusste das schon, schließlich war er Polizist und kein Feuerwehrmann.

Verdrossen schob er sich einen Streifen Kaugummi in den Mund. Scheißjob! Als ob in dieser Nacht hier noch was passieren würde. Offenbar dachten die Feuerwehrleute genauso, denn sie hatten die Innenbeleuchtung ihres Fahrzeugs abgeschaltet und dösten vermutlich sanft vor sich hin.

Perreira hatte nicht geahnt, dass es im Stadtgebiet von Paderborn nachts so dunkel werden konnte. Klar, es war Ende November, das ist nun mal die finsterste Jahreszeit, aber hier sah man ja nicht mal die Hand vor Augen. In diesem kurzen Seitenarm der eigentlichen Straße gab es keine Beleuchtung, ebenso wenig wie nebenan auf dem Friedhof. Langsam und gleichmäßig stiegen aus der gelöschten, aber noch heißen Glut feine weiße Rauchfahnen empor, die sich kräuselten und zu einer einzigen milchigen Suppe verdichteten.

Die Sinne des Polizisten passten sich langsam der Dunkelheit an. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass ihm die Augen zufielen. Perreira drehte die Lautstärke des Autoradios etwas höher, vielleicht half das gegen die Müdigkeit. Gerade als er wieder wegzudämmern drohte, riss er erschrocken die Augen auf. Hatte er es sich eingebildet, oder hatte sein innerer Bewegungsmelder eben etwas wahrgenommen? Wahrscheinlich nur eine streunende Katze. Alles wieder zurück auf Stand-by. Miguel Perreira sackte wieder weg in den wohligen Schwebezustand, der dem eigentlichen Schlaf vorausgeht.

Als er das nächste Mal durch ein ungewöhnliches Geräusch aufgeschreckt wurde, hatte er nicht den leisesten Schimmer, wie lange er weggetreten war. Aber er wusste sofort, dass an der Brandstelle etwas war, was dort nicht sein sollte. Er zwang sich, die Augen aufzureißen und angestrengt ins Dunkle zu starren. Gleichzeitig ließ er die Seitenscheibe etwas herunter, um etwas hören zu können. Ein Schwall kühler, feuchter Luft drang ins Auto und ließ ihn frösteln. Endlich sah er ein Licht. Der schwache Lichtkegel einer kleinen Taschenlampe tänzelte über die Fassade des verbrannten Hauses. Dann blieb das Licht kurz an einer Stelle stehen, um dann wieder zuckend ins Innere des Hauses vorzudringen.

Das geht jetzt aber gar nicht!, dachte Perreira und gab sich einen Ruck. Er griff sich ebenfalls seine Taschenlampe, zog den Autoschlüssel ab und öffnete die Fahrertür. Sofort schlug ihm der feine Nieselregen ins Gesicht. Er fluchte leise und machte sich auf den Weg zum Haus.

Das vagabundierende Licht war mittlerweile verschwunden. War der Besucher wieder gegangen? Oder befand er sich in den Ruinen? Vorsichtig schlich sich Perreira heran, wobei er immer wieder gezwungen war, herumliegenden Gegenständen auszuweichen. Kurz vor dem zerstörten Haus schaltete er die Taschenlampe ab. Sollte er die Kollegen anrufen und auf Verstärkung warten? Ach was, dachte er. Wahrscheinlich ein Penner, der einen Übernachtungsplatz sucht. Mit dem würde er schon klarkommen. Von dem entsetzlichen Rauchgestank wurde ihm schlecht. Am liebsten wäre er wieder zurück zum trockenen Auto gegangen und hätte sich in den Sitz gekuschelt. Stattdessen machte er einen entschlossenen weiteren Schritt auf die Trümmer zu und blieb dort stehen, wo vor der Explosion einmal eine Haustür gewesen war. Er horchte angestrengt hinein. Es war nicht zu überhören, dass jemand in den Ruinen herumging. Perreira zog seine Dienstwaffe, drehte die Taschenlampe auf die kleinste Stufe, holte tief Luft und drang leise in das stinkende Haus ein. Vorsichtig schlich er einen Flur entlang. Auch hier lagen Möbel und diverse Gegenstände herum, denen er ausweichen musste. Die Wände waren von der Löschaktion noch triefnass, auf dem Fußboden stand der Schlamm zentimeterdick.

Er kam nur langsam vorwärts, tastend. Seine Taschenlampe hielt er in der Hand. Immer wieder hörte er aus dem Stock über ihm Schritte und Geräusche, als wenn Möbel hin- und hergeschoben würden. Zum Glück war die Treppe aus Beton und hatte den Brand gut überstanden. Vorsichtig schlich er eine Stufe nach der anderen nach oben und stand schließlich vor einem Raum, aus dem die Geräusche kommen mussten. Dieser Raum hatte erstaunlicherweise noch eine Tür, die aber offen stand.

Perreira lehnte sich mit dem Rücken an die Außenwand des Raumes, entsicherte seine Dienstwaffe und konzentrierte sich auf das, was nun kommen musste. Dann bewegte er sich blitzschnell, schaltete seine Taschenlampe ein. Er drang mit erhobener Waffe durch die Tür und schrie: »Polizei! Hände hoch!«

Die Gestalt wenige Meter von ihm entfernt riss reflexhaft die Arme hoch. Als Perreira sie im Licht seiner Lampe genauer in Augenschein nahm, stellte er fest, dass eine junge, gut aussehende Frau vor ihm stand. Sie wirkte so zerbrechlich, beinahe durchsichtig, dass er augenblicklich seine Waffe sinken ließ. Die Frau war für das Wetter völlig unpassend gekleidet. Ihr viel zu dünner Mantel war nicht zugeknöpft, und das Kleid darunter ähnelte eher einem Fetzen. In der linken Hand hielt sie einen Beutel, der bei ihr wohl als Handtasche fungierte. An den nackten Füßen trug sie hochhackige rote Schuhe.

Ein Wunder, dass sie sich damit in den Trümmern noch nicht die Beine gebrochen hat, dachte Perreira. Die junge Frau löste in ihm Hilfsbereitschaft aus. Am liebsten hätte er sie an die Hand genommen und gestützt. Also richtete er die Taschenlampe nicht mehr in ihr Gesicht, sondern auf das Chaos von Backsteinen und Betonbrocken, das ihm den Weg zu ihr so beschwerlich machte. Vorsichtig suchte er mit seinem rechten Fuß nach einem sicheren Tritt, machte einen Schritt nach vorn, rutschte aus, stützte sich mit der freien Hand an einem Mauerrest ab und kam wieder auf die Füße. Von seinem neuen Standort aus leuchtete Perreira wieder zu der Stelle, an der eben noch die völlig durchnässte junge Frau gestanden hatte. Die war ihm einen Schritt entgegengegangen und befand sich nun seitlich von ihm.

Als Perreira sie mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe erfasste, blieb ihm für den Bruchteil einer Sekunde das Herz stehen. In der rechten Hand hielt die Frau jetzt eine Pistole, mit der sie aus nicht einmal einem Meter Entfernung auf sein Gesicht zielte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in das schwarze Mündungsloch der Waffe. Er wollte etwas sagen, wollte die Frau überzeugen, dass sie von ihm nichts zu befürchten habe, doch er brachte nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er in die Fratze des Todes. Er wollte nicht sterben. Verzweifelt hob er die Hand und wollte sie, obwohl er wusste, dass das der größte Schwachsinn war, schützend zwischen sich und den Pistolenlauf bringen. Doch er hatte die Bewegung noch nicht zu Ende ausgeführt, da brannte sich ein widerlich heller, weißer Blitz in seine Netzhaut ein. Perreira wollte schreien, doch ein wahnsinniger Schmerz sorgte dafür, dass nicht einmal mehr der kleinste Laut über seine Lippen kam.

6

Die Kaffeemaschine sorgte für brodelnde und zischende Geräusche. Das Ergebnis war eine braune Brühe, die Tropfen für Tropfen in einer Tasse landete. Gleichzeitig breitete sich dieser wunderbare Duft in der Küche aus, der, so empfand es jedenfalls Kükenhöner, die angenehme Seite des Lebens repräsentierte.

Es war eine Scheißnacht gewesen. Er hatte nur eine Stunde geschlafen, und jetzt saß er schon wieder in seiner Küche und musste sich um die eigene Brut kümmern. Und das Ganze nur, weil seine Frau sich auf einem Egotrip befand. Es war einfach zum Davonlaufen.

Doch der Kaffee versöhnte ihn ein bisschen. Wie schrecklich wäre es, sinnierte er, wenn er den Geruchssinn verlöre und ihm der Duft von frischem Kaffee verwehrt bliebe?

»Papa, auch wenn die Dortmunder nicht mehr deutscher Meister werden, gewinnen die bestimmt die Champions League, da wette ich drauf.« Sein zehnjähriger Sohn stand in der Tür. Kükenhöner war stolz auf ihn. Der Junge war einer der Besten in der E-Jugendmannschaft des FC Dahl/Dörenhagen.

Seine Frau ging seit August wieder arbeiten und versuchte ihn seitdem dazu zu bewegen, die Hälfte der Verantwortung für die Familie und die Hälfte der Hausarbeit zu übernehmen. Das führte im Moment zu ständigen Streitereien. Wenn er es sich recht überlegte, musste er sich eigentlich immer dem Diktat der weiblichen Familienmitglieder unterwerfen. Kükenhöners Argument, er besorge schließlich das Geld, von dem die ganze Familie gut leben könne, entlockte seiner Frau und seinen Töchtern lediglich ein verächtliches Lächeln.

Christine, seine Älteste, wurde nächsten Monat achtzehn und ging meist ihre eigenen Wege. Kükenhöner hatte es aufgegeben, ihr erzieherisch zur Seite zu stehen. Seitdem kam er einigermaßen mit ihr aus.

Die fünfzehnjährige Maren hingegen steckte mitten in der Pubertät. Bemalt wie ein Sioux-Indianer und ausgestattet mit einem Parfümgeruch, der die Blumen auf der Fensterbank erblassen ließ, betrat sie die Küche.

»Oh Mann, ey, schon wieder kein Müsli da?«, moserte sie. »So ein Fuck, ey.«

Kükenhöner musste sich zusammenreißen. »Dann iss ein Butterbrot!«, versuchte er seine aufsteigende Wut zu unterdrücken.

»Nee, das macht dick!«, entgegnete sie patzig.

»Dann eben nicht.«

»Haste mal einen Zehner?«

»Nee!«

»Oh, fuck, ey, Papa! Ich brauch Geld für Passbilder!«

»Wozu brauchst du Passbilder?«, fragte Kükenhöner trotzig. Er wollte dieser verzogenen Göre nicht schon wieder Geld in den Rachen schmeißen. Vielleicht hatte es doch sein Gutes, überlegte er, dass er bei seinen Kindern mal die Möbel gerade rückte. Seine Frau ließ ihnen einfach zu viel durchgehen.

»Für einen Schülerjob!«

Hatte Kükenhöner richtig gehört? Wollte seine Tochter etwa arbeiten? Begann heute der erste Schritt in Richtung Erwachsenwerden?

»Schülerjob? Was für ein Schülerjob?«

»Beim ASP«, kam es genervt über Marens Lippen.

»ASP?«, hakte Kükenhöner nach und kramte nach seinem Portemonnaie.

»Abfall- und Stadtreinigungsbetrieb Paderborn, Grüne Tonnen kontrollieren«, antwortete seine Tochter in einem Tonfall, der Kükenhöner vermuten ließ, dass sich Eisblumen auf dem Küchenfenster bilden würden, sollte er weiter insistieren.

Kopfschüttelnd legte er einen Zehner auf den Tisch. Eigentlich wollte er noch sagen: »Ziehe ich dir vom nächsten Taschengeld ab«, doch als er aufsah, um Blickkontakt aufzunehmen, waren Geldschein und Tochter schon im Hausflur verschwunden.

7

In seinem Kopf breiteten sich höllische Schmerzen aus. Es fühlte sich an, als wollte der Schädel zerplatzen. Dann fingen seine Augen an zu tränen, und der Schmerz verlagerte sich dorthin.

Fühlte sich so der Tod an? Perreira hatte immer geglaubt, wenn er das Leben hinter sich gelassen hätte, wäre es vorbei mit den Schmerzen. Bislang war er der Meinung gewesen, dass das Sterben zwar schrecklich sei, aber das, was danach kam, umso wunderbarer. Und jetzt das! Diese unerträglichen Schmerzen! Sollte er sich so geirrt haben? Dann fiel ihm die Hölle ein. War er etwa in der Hölle gelandet? Das konnte doch nicht sein. So ein schlechter Kerl war er nun auch wieder nicht gewesen.