Titel

Gunter Haug

Gössenjagd

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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1. Auflage 2004

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Gesetzt aus der 9,7/14 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3138-8

 

Vorbemerkung

 

Gösse: umgangssprachlicher Ausdruck in Niederösterreich für Gelse. Hochdeutsch: Stechmücke.

 

 

 

 

Die Abbildung auf dem Umschlag zeigt eine vor 50 Millionen Jahren in flüssigem Harz – dem späteren Bernstein – erstarrte Stechmücke.

Abdruck des Fotos mit freundlicher Genehmigung von Otto Potsch, Wolkersdorf bei Wien, aus seinem ebenfalls im Gmeiner-Verlag erschienenen Bildband „Der Bernsteinmagier«.


Zitat

 

»Das Leben ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken!«

(Zitat von Theodor Heuss, dem man nicht genug beipflichten kann!)

 

 

 


1

Sie würden ihn töten! Wenn nicht gleich jetzt, hier an Ort und Stelle, dann nur wenig später. Und: mit im wahrsten Sinn des Wortes tödlicher Sicherheit würden sie auch gar nicht lange fackeln.

„Zu Hilfe!« Es war mehr ein ersticktes Gurgeln, als ein laut gellender Schrei, das sich in diesem fürchterlichen Moment seiner Kehle entrang. Aber der Hilferuf würde nichts mehr bewirken, denn es war längst zu spät – viel zu spät!

Offenbar völlig geräuschlos hatten sich die Häscher im nebligen Zwielicht der zögernden Morgendämmerung an ihr ahnungsloses Opfer heran geschlichen. Ohne dass der in einen unruhigen, oberflächlichen Schlaf versunkene Mann die drohende Gefahr auch nur im Geringsten bemerkt hätte – genauso wenig wie sein sonst doch so wachsamer Gefährte, den die Angreifer bereits überwältigt haben mussten.

Und die Pferde? Was war mit den Pferden? Nicht einmal die Tiere hatten einen warnenden Laut von sich geben können, so überraschend und blitzschnell war der perfekt vorbereitete Überfall vonstatten gegangen. Umso lauter zerriss das angstvolle Gewieher der Pferde nun die Totenstille, die bis vor wenigen Sekunden noch an den mit einer dünnen weißen Schneedecke überzogenen feuchten Wiesen des Donauufers die zögernd zurückweichende Nacht beherrscht hatte.

Um wen aber handelte es sich bei den Mordgesellen? Wer waren die Leute, die sie so unvermutet aufgespürt und überfallen hatten? Wer konnte schon ahnen, wo sie sich befanden? Zufall? Nie und nimmer!

Kein Zweifel, bei den Tätern konnte es sich nur um die Schergen des Herzogs Leopold von Österreich handeln! Um die Gefolgsleute des Babenbergers also, den er vor Monaten tödlich beleidigt hatte. Beim gescheiterten Kreuzzug nach Jerusalem war das geschehen und der Herzog hatte Richard Löwenherz daraufhin ewige Rache geschworen.

Ausgerechnet jetzt, nach so vielen überstandenen Gefahren auf seinem Heimweg, nach Schiffbruch, dem Tod seiner Gefährten und zahlreichen versuchten Raubüberfällen, war er also ganz offensichtlich in die Hände seines Todfeindes geraten. Nach so vielen glücklich überstandenen Gefahren für Leib und Leben. Und zu allem Überfluss auch noch mitten in dessen Herrschaftsgebiet! Sie würden ihn töten! Was sonst? Den Erzfeind, der das Ansehen des mächtigen Herzogs mit Füßen getreten hatte. Der sich in seiner stolzen Arroganz weit über den Babenberger erhoben hatte!

All dies schoss dem Überfallenen in Sekundenbruchteilen durch den Kopf, während er, geschult durch jahrelange Übung, geistesgegenwärtig versuchte, neben sich zu greifen, um das dort unter der Decke versteckte Schwert rasch in seine Hand zu bekommen. Doch es war vergebens. So sehr er sich mit dem Mut der Verzweiflung auch wehrte: es waren zu viele. Und überdies gingen die Gegner überlegt und entschlossen zur Sache! Mit brachialer Gewalt stürzten sie sich auf ihr chancenloses Opfer. Wenige Augenblicke später war es vorbei. Der König war gefangen. Richard Löwenherz, König von England, stolzer Anführer des einst riesigen Kreuzfahrerheeres, in der Gewalt des Herzogs Leopold. In der Gewalt seines Todfeindes!

Gerade blitzte der erste Strahl der aufgehenden Sonne von der blank polierten Schneide des in den Himmel gereckten messerscharfen Richtschwertes zurück, als der dunkel gekleidete Hüne zu einem gewaltigen Hieb ausholte, um den Gefangenen auf der Stelle mit einem einzigen Schwertstreich zu enthaupten.

Verblüffung und Schrecken spiegelten sich in den Augen des Delinquenten, als dieser begriff, dass sie nicht gekommen waren, um Gefangene zu machen! Sondern dass sie ihn hier, an Ort und Stelle, richten würden. Dass er das Ende dieses Tages nicht mehr erleben würde. Im Angesicht des Todes erstarrte die Miene des Königs zu einer eisigen Maske. Die Miene des Königs?

Diese Gesichtszüge! Ja … diese Gesichtszüge …

Was aber war mit diesen Gesichtszügen?

Es war … diese Ähnlichkeit! Diese verblüffende Ähnlichkeit! Aber …

Was um alles in der Welt wurde hier gespielt?!

Es war nicht möglich! Ganz einfach nicht möglich! Konnte nicht möglich sein!

Jedoch … das furchtverzerrte Gesicht des Opfers!

Unmöglich!

Nein! Es konnte, durfte einfach nicht möglich sein!
Auf gar keinen Fall!

 

 


2

In verzweifelter Panik krampften sich die Hände des Mannes um seinen Hemdkragen, während er keuchend nach Luft schnappte. Ein ersticktes Gurgeln entrang sich seiner Kehle, während dumpfe Ohnmacht das Bewusstsein gnadenlos aus seinem Gehirn verdrängte. Luft! Er brauchte dringend Luft! Mehr Luft! Konzentrieren. Sich auf das Wesentliche, auf das einzig Wesentliche konzentrieren. Die Augen schließen! Konzentrieren! Jetzt! Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung gelang es ihm, den Hemdkragen zu zerreißen, der sich mit einem hässlich zischenden Geräusch in zwei Hälften teilte und nun in Fetzen von seinen Schultern baumelte. Doch auch diese gewaltige Willensleistung verschaffte dem Erstickenden nicht die erhoffte Befreiung aus der tödlichen Umklammerung, die seine Luftröhre zuschnürte und das Blut in seinen Adern zum Kochen brachte. Es war die letzte kontrollierte Bewegung seines Lebens. Sekundenbruchteile später schwanden ihm endgültig die Sinne.

Mit einem dumpfen Geräusch prallte der massige leblose Körper des Mannes auf den gestampften Lehmboden, danach herrschte Stille. Selbst das Echo, das sich zögernd durch die zahlreichen Kellergänge fortgepflanzt hatte, schien erstickt. Wie in einem Wattebausch erstickt. Nur noch Stille. Völlige Stille. Totenstille.

Der fahle gelbliche Schein einer verschmutzten Glühbirne, die an einem grauen Kabel von der Decke baumelte, beleuchtete matt und schemenhaft die unwirkliche Szenerie. Den Toten im Keller, das halbvolle Weinglas auf dem roh gezimmerten dunklen Holztisch, daneben die geöffnete Flasche, der Korkenzieher in dem noch der Korken steckte, der die Weinflasche verschlossen hatte. Die Spinnweben auf dem Gewölbe, deren Schatten sich im Licht der Glühbirne an den sandbraunen Lehmwänden des Kellers zu bizarren Mustern fügten, unterstrichen den geradezu apokalyptischen Eindruck, der sich einem zufälligen Beobachter dieser Szenerie aufdrängen musste. Wenn da jemand gewesen wäre. Doch da war niemand. Keine Menschenseele.

Und es schien geradeso, als würde niemals mehr der Fuß eines lebendigen Menschen dieses dunkle feuchte Grab betreten. Die kilometerlangen unterirdischen Röhren, die sich irgendwo in der Dunkelheit verloren. Irgendwo – nirgendwo. Ein Gedanke, den hier in der Verlorenheit des nachtgrauen Verlieses jedoch niemand zu denken in der Lage war, denn kein Mensch war anwesend.

Nur der allmählich erstarrende Körper des Toten lag regungslos auf dem Lehmboden. Der Tote, dessen Seele sich längst in den düsteren Windungen der unendlichen Kellergänge verloren hatte …