IMPRESSUM

Hans-Ulrich Lüdemann

Operation Chess

Kriminalroman

ISBN 978-3-86394-904-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 2004.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

HANSA-KURIER vom 31. August 1992

(Eigener Bericht) Wie erst heute bekannt wurde, haben Beamte des Bundesgrenzschutzes in den frühen Abendstunden des 29. August auf einem Kontrollflug etwa neun Seemeilen nordwestlich vom Darß die Überreste eines Helikopters geortet. Es gilt als sicher, dass das Fluggerät nicht verunglückt ist, sondern abgeschossen wurde. BGS-Spezialisten fanden im Wrack die Leiche eines gewissen Gerald Becker. Aufgrund eigener Ermittlungen gehen die zuständigen Behörden davon aus, dass es sich um einen Rache-Akt der Russen-Mafia (Doppelmord an der Stadt-Autobahn; wir berichteten) handelt, dem neben Hotel-Manager Becker auch der international tätige Makler Graf Heribert von Copmans mit Frau und Sohn sowie der Hotelier Lumen Exhagen zum Opfer fielen. Nach den Opfern wird gesucht. Über weitere Einzelheiten haben LKA und BKA absolute Nachrichtensperre verhängt.

Ein krummes Ding geht schief

Dieser Tag im August 1992 unterscheidet sich nicht von anderen Sommertagen an der Ostsee. Aber böse Ereignisse nehmen leider auch bei schönem Wetter ihren Lauf. Allerdings - wenn Besucher nach dem Betreten der VILLA STROTHMEIER erschrecken, weil ein Käuzchen aus Gips unversehens zu lärmen beginnt, so ist das eher harmlos. Hierzulande heißt es, der nächtliche Ruf des Eulenvogels kündige das Sterben eines Menschen an. Doch an diesem frühen Vormittag muss wohl keiner den Tod fürchten.

Jetzt schreit das Käuzchen, obwohl sich niemand in der Empfangshalle befindet. Zugegeben: Das rhythmische Aufleuchten seiner gelben Augen wirkt bedrohlich. Aufgrund dieses unverhofften Alarms unterbricht Rüdiger Varmst seine intensive Arbeit an einem kostspielig aussehenden Brillengestell. Er eilt in den Keller. Sekunden später flammt ein Monitor auf. Die drahtlos übermittelten Video-Aufnahmen vom Nachbargrundstück sind gestochen scharf. Mittels Joystick lässt der Hausherr seinen Blick vom kleinen Jachthafen über das Anwesen derer von Copmans wandern, dabei mehrmals den Bildausschnitt verändernd. Noch heute gratuliert sich Varmst zu seinem Einfall, den zwölf Meter hohen Mast vor der Villa so zu manipulieren, dass die oben abschließende Kugel eine Mini-Kamera verbergen kann. Wer interessiert zu der im Wind flatternden Fahne des Landes Mecklenburg-Vorpommern empor blickt, ahnt nicht, dass diese Ehrenbezeugung mit Ochsenkopf und Greif auch oder vor allem einem ständigen visuellen Ausspionieren des Grafen von Copmans und seiner Geschäftsfreunde dient.

„Verdammt!“

Varmst streicht sich ärgerlich übers Haar. Er begreift, warum der getarnte Bewegungsmelder am Fahnenmast das Käuzchen alarmierte: Ein etwa vierzehnjähriger Junge hat die Mauer neben der Auffahrt überklettert und schleicht im Schutz der Bäume hinüber zum weißblauen Herrenhaus. Der Bengel scheint nicht zu wissen, in welcher Gefahr er sich befindet! Varmst ist jetzt wütend. Er bewegt hastig den Joystick. Das Objektiv der Kamera reagiert prompt und sucht erneut das Gelände ab. Was der Mann sieht, überrascht ihn sehr: Ist das ein Zufall? Jemand hat alle Pitbulls, die sonst rund um die Uhr das weitläufige Grundstück des Grafen bewachen, in ihre Zwinger eingesperrt.

„So ein Blödmann!“

Es ist keine Nachbarschaftshilfe, wenn Varmst entschlossen zum Telefon greift, um diesen Vorgang dem Revier zu melden. Als er den Diensttuenden Polizisten um eine Verbindung mit Herrn Kühlmann-Hoppe bittet, hört Varmst, dass der Kriminalrat in einer Besprechung weilt und nicht gestört werden will.

Die Festnahme des jugendlichen Einbrechers geschieht in der menschenleeren Villengegend ohne jedes Aufsehen. Dem wachsamen Nachbarn ist nicht anzusehen, wie gern auch er dem verwaisten Herrenhaus einen heimlichen Besuch abgestattet hätte. Ein altersschwacher grüner Pick up fällt ihm auf, der mit hoher Geschwindigkeit dem Streifenwagen zu folgen versucht. Varmst gibt seine Mutmaßung über einen eventuellen Komplizen des Einbrechers sofort an das Revier weiter. In seine Lauschzentrale zurückgekehrt, telefoniert er mit einer Stadt, in der noch Schlafenszeit herrscht. Spanische Vokabeln kommen ihm über die Lippen, als sei es seine Muttersprache. Die Namen der kolumbianischen Städte Cali und Medellin und der Begriff KARTELL sind zu verstehen. Graf Heribert von Copmans wird erwähnt und ein Señor Exhagen. Auch von Kühlmann-Hoppe ist die Rede und es fällt im Zusammenhang mit dem bekannten Rauschgift Kokain mehrmals das Codewort OPERATION CHESS ...

Sich bessern wie ein junger Wolf

„Bist du dir darüber klar, worauf du dich einlässt, verdammichter Pinnenschieter?" Kriminalkommissar Hinrich Pepperkorn klopft mit der Kuppe seines Zeigefingers auf die mit Akten belegte Schreibtischplatte: „Einbruch, versuchter Diebstahl ...“

„Ich hab nichts mitgehen lassen“, murmelt der Junge. Er hockt wie unbeteiligt auf seinem Stuhl. Selbstvergessen starrt der Halbwüchsige in ein kleines Heft aus grauem Ziegenleder. Helle und dunkle Quadrate ergeben ein Schachbrett. Auf jedem der 64 Felder befindet sich in der Mitte ein Schlitz für ovale Plättchen aus Perlmutt. Mit international üblichen Symbolen versehen, fungieren sie bei diesem Steckschach als Flachfiguren.

„Statt deine Augen bei so was zu überanstrengen, lass lieber dein Gehirnschmalz mal arbeiten! Wie du heil aus dieser Sache herauskommen tust!" Kriminalobermeister Krischan Holtey löst sich vom Fenster und tritt hinter den Stuhl. Er lässt seine Pranke auf die Schulter des vor ihm Sitzenden fallen: „Gib uns endlich mal Bescheid, was da wirklich los war!"

Mit einer ruckartigen Drehung des Oberkörpers schüttelt Xaver Jeremias Hühnerauge, der sich nicht zufällig Tramp nennt, die lästige Hand ab. Und als ob nichts interessanter wäre, widmet er sich wieder einer Schachaufgabe aus dem U. S. Chess Magazine.

„Dieser Nachbar ..." Pepperkorn sucht in seinen Notizen.

„Varmst, Chef", hilft der Kriminalobermeister diensteifrig aus.

Pepperkorn nickt, wobei ihm anzusehen ist, dass er keine große Lust verspürt, allzu lange auf den blonden Scheitel vor ihm einzureden. Es ist nicht seine Art, sich widerspenstiges Benehmen gefallen zu lassen. Nur - dieser Stromer erinnert ihn an etwas, das er seit langem aus seinem Gedächtnis verbannen möchte.

„Herr Varmst hat von seiner Dachterrasse aus beobachtet, wie du beim Nachbarn versucht hast, ein Ding zu drehen!", setzt Holtey die Vernehmung fort.

„Dieser Herr Varmst sollte auf eine bessere Brille sparen", antwortet Tramp ungerührt.

„Immerhin ist seine Brille stark genug, dass er auch den gesehen hat, der Schmiere stand!", setzt Holtey hinzu.

„Zufall, dass da einer stand. Falls da überhaupt einer stand!"

Holteys übergroßen Hände schnellen vor. Sie packen die Rückenlehne und kippen den Stuhl samt Jungen nach hinten. Nase an Nase starrt der Kriminalist dem anderen in die Augen. Schließlich knurrt er: „O Manning! O Manning!“

Tramp dreht den Kopf zur Seite, klappt das Schachspiel zusammen und lässt es unter seinem Hemd verschwinden.

„Na also!", feixt Holtey. „Solltest überhaupt besser deine Muskeln trainieren als so was! Wette, dass du nicht einen Spieler von Hansa Rostock kennst!"

Holtey hätte ebenso nach dem Top-Pitcher von den San Francisco Giants oder nach dem Top-Crack der S. F. Forthy Niner’s fragen können. Seit er eine von diesen Satelliten-Schüsseln ans Fensterkreuz geschraubt hat, weiß er auch im Welt-Sport Bescheid. Und noch ein großer Vorteil ist für ihn damit verbunden - der Zwang, sich im Englischen zu vervollkommnen.

„Gewonnen, Meister“, sagt Tramp lässig. „Kennen Sie Gligoric oder Kasparow?"

„Ein Russe? In Rostock? Auf welcher Position soll der spielen?" Holtey runzelt die Stirn. Und im Geiste geht er alle ihm bekannten Teams im Fußball durch. Von einem Kasparow ist bisher noch nie die Rede gewesen. „Angreifer oder Verteidiger?"

„Mal so - und mal so!" Nur mit Mühe kann Tramp ein überhebliches Grienen unterdrücken. Dann schlägt er sich plötzlich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Natürlich! Ich habe da etwas verwechselt: Kasparow heißt doch der letzte Astronaut bei der NASA!"

„Bei der NASA? Mit diesem russischen Namen?", gibt Holtey zurück.

„Wat toväl is, dat is toväl!" Kommissar Pepperkorns Faust kracht auf die Schreibtischplatte. Jetzt reicht es! Es ist schwer auszumachen, was ihn mehr ärgert: die Unverfrorenheit des Jungen oder die Unwissenheit seines Untergebenen: „Ehe du Lümmel dich jetzt noch über die Sizilianische Verteidigung auslässt und von Sizilien auf die Mafia kommst und von der auf die OMERTA, da bringen wir dich erst einmal dorthin, wo du in Ruhe weiter Schach spielen kannst!"

Eine Glasscheibe nimmt die Schmalseite im neu hergerichteten Großraumbüro ein. Dahinter liegen auf Bänken zwei Männer. Betrunkene von der Straße, der Einfachheit halber dem Präsidium zugeführt zur Ausnüchterung. Ein Dritter stößt unablässig seinen Kopf gegen die Wand. Ab und an ruft ihn ein Uniformierter zur Ordnung. Nicht allzu streng - eher gelangweilt.

„Krischan!" Pepperkorns Handbewegung ist eindeutig.

Mit eisenhartem Griff packt Holtey den Jungen am Genick und zieht ihn vom Stuhl hoch.

„Aber ich hatte doch nur Hunger!" Tramp wehrt sich mit aller Kraft.

Holtey hält inne. Eine Erleuchtung glättet seine groben Gesichtszüge: „Mir war doch gleich so ahnich, Chef! Diese blasse Haut und seine Aussprache - der Typ hier ist kein Fischkopp! Ich würde sagen - eher ein Alpenveilchen ..."

„Alpenveilchen?“

„Ein Südlicht. Ausgerissen von zu Hause, Chef. Zum Feriensommer ab an die Ostseeküste!“

Pepperkorn hat nichts dagegen, dass der Junge sich wieder auf dem Stuhl niederlässt: „Also noch einmal ganz von vorn und in aller Ruhe: Wie heißt du und woher kommst du? Wo bist du untergekrochen? Und wer ist der andere, den dieser Herr ..." Erneut blättert Kommissar Pepperkorn in seinem Notizbuch.

„Der Hinweis kam von einem Herrn Rüdiger Varmst, Chef!", ertönt Holteys tiefer Bass.

„Also - wer stand für dich Schmiere, mien Jung? Dieser Herr Varmst hat schließlich euch beide beobachtet ...“

„Zu viele Fragen auf einmal, Herr Kommissar!" Tramps Stimme klingt plötzlich höflich. „Dieser Mann muss sich geirrt haben, Herr Kommissar! Es war niemand bei mir! Ja! Ich wollte in die Villa einsteigen, weil ich Hunger hatte! Mein Gott - ich hab’s doch schon zugegeben!"

„Bei einem von Copmans steigt niemand ganz zufällig mal über die Mauer, um einen Kühlschrank zu plündern!" Pepperkorn blickt auf den Jungen herab. Dieses gelockte Haar, denkt der Fünfundvierzigjährige. Dieses intelligente blasse Gesicht ...

„Aber wenn es doch so war!“, schreit Tramp. Mannhaft versucht er, Tränen zurückzuhalten.

Kommissar Pepperkorn winkt verärgert ab: „Hältst dich also an das Gesetz des Schweigens?"

Jetzt packt Holtey erneut fest zu: „Komm, du Alpenveilchen!“

Aber das Alpenveilchen verspürt offenbar keine Lust, sich abführen zu lassen. In diesen Glaskasten nebenan schon gar nicht! Jener Mann mit seinen unmotivierten Kopfstößen gegen die Wand flößt Tramp Angst ein. „Schuld war Tatsache doch nur mein Hunger!“

Obwohl Kommissar Pepperkorn aus den Augenwinkeln sieht, dass einige Kollegen aufmerksam werden, lässt er es geschehen, dass der vierschrötige Holtey den Widerstrebenden wortlos an Nacken und Hosenboden wie ein Bündel Lumpen vor sich her trägt. Er hält dabei seine Arme weit vorgestreckt, um nicht getroffen zu werden von in der Luft strampelnden Beinen.

„Saupreiss, japanischa! Herrgottsakramenta!!“ Mit angstverzerrtem Gesicht blickt Tramp in die Runde. Aber für die Männer und Frauen ringsum ist solch ein Vorkommnis wohl alltäglich - also widmen sie sich wieder ihren dienstlichen Obliegenheiten.

„Schämen Sie sich nicht, Herr Holtey?!"

Verblüfft bleibt der Zweiundzwanzigjährige stehen. Hilfe suchend blickt er über die Schulter zum Chef. Und wie von Zahnschmerz geplagt, verzieht Kommissar Pepperkorn sein Gesicht.

„Das ist ja entwürdigend! Wie Sie mit einem Kind umgehen!“ Die Frau schwenkt jetzt ihren feuchten Regenschirm gegen Holtey. „Haben Sie das etwa in Ihrer Ausbildung zum Kriminalisten gelernt?!"

Holtey steht da wie ein Märchen-Riese, der sein widerspenstiges Spielzeug nicht freiwillig hergeben will. Als von der Schirmspitze einige Wassertropfen in seinen offenen Hemdkragen fallen, greift er sich instinktiv an den Hals. So kommt es, dass Tramp unverhofft wieder Boden unter seinen Füßen fühlt. Blitzschnell windet er sich aus dem harten Griff und stellt sich, Beistand suchend, neben die Frau.

„Rufen Sie endlich Ihren dressierten Neufundländer zurück, Kommissar!"

Kommissar Pepperkorn greift sich an die Stirn. Das hat ihm noch gefehlt: Linda Brackhahns Besuch. Zu DDR-Zeiten war sie in der Jugendfürsorge tätig gewesen. Nun arbeitet sie wieder in einer Schule. Aber der Kommissar weiß, dass sie von eigenen Gnaden den Job eines Streetworkers ausübt. Warum Kriminalrat Kühlmann-Hoppe diese Frau gewähren lässt, das begreift Pepperkorn nicht. Gibt es etwa dort, wo sie als Lehrerin unterrichtet, nur wenig zu tun? Als Vater hatte er die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass es in der Schule seines Sohnes nach der Einheit Deutschlands mit Erziehung und Bildung kaum zum Besten stand ...

„Ist Kriminalrat Kühlmann-Hoppe im Dienst?" Linda Brackhahns üppiger Busen bebt noch immer vor Erregung.

Ohne seinen Blick von der fünfunDDReißigjährigen Frau zu wenden, weist Holtey mit einer Kopfbewegung nach rechts. Dort befindet sich hinter geschlossenen Jalousien ein zweiter abgeteilter Raum.

„Ist er nun da oder nicht?“

Holtey starrt noch immer die blonde Frau an, als wäre er ein Kaninchen und sie die Schlange. Er fühlt sich machtlos gegen das Selbstbewusstsein der attraktiven Frau Brackhahn.

„Halten Sie mal!“ Die Besucherin drückt Holtey ihren tropfnassen Regenschirm in die Hand. „Auf die Wettervorhersage ist - wie auf so vieles heutzutage - auch kein Verlas mehr! Da schreiben die Zeitungen von einem Jahrhundert-Sommer! Und was ist - den Regenschirm muss einer bei sich haben! Verstehen Sie das, junger Mann?"

Holtey zuckt die Achseln. Die Presse ist für ihn nur wichtig wegen der Sportberichte aus Norddeutschland.

Keinen Widerspruch duldend, schiebt die Frau sowohl Krischan Holtey als auch Tramp zum Schreibtisch, auf dem ein Dienstschild mit fett gedrucktem Schriftzug KK HINRICH PEPPERKORN steht. Die Buchstaben vor dem Namen stehen für Kriminalkommissar wie KOM die Abkürzung für Holteys Dienstgrad KRIMINALOBERMEISTER bedeutet.

„Was soll das arme Kind denn angestellt haben?" Linda Brackhahn legt einen Arm um Tramps Schulter.

„Einbruch. Geplanter Raub ...“

Weiter kommt Pepperkorn nicht. Mit einer energischen Handbewegung schneidet die Lehrerin ihm das Wort ab: „Warum behaupten Sie nicht gleich, dieses arme, eingeschüchterte Kind sei der Boss der Rauschgiftmafia von Mecklenburg-Vorpommern?!"

In Kommissar Pepperkorn brodelt es: Wenn diese selbsternannte Seelenretterin doch endlich ein anderes Betätigungsfeld finden würde! Alle leisten hier einen harten Dienst. Um den Bürgern halbwegs das Gefühl von Ordnung und Sicherheit zu geben. Ein Unterfangen, was für seinen neu geschaffenen Bereich KINDER UND JUGEND immer aussichtsloser erscheint. Zu allen Übeln kommen dann noch Leute wie diese Brackhahn mit ihrer Mitleidstour einer korrekten Ermittlungsarbeit in die Quere ...

„Beweislage?"

„Es gibt einen Zeugen ...“

„Hat der Bestohlene Anzeige erstattet?“

„Aber ich hatte doch nur Hunger!" Tramp spürt die günstige Wendung, die sein Fall nehmen könnte.

Schnell legt die Frau ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. Dann fragt sie: „Also, meine Herren, was hat er denn mitgehen lassen?"

Kommissar Pepperkorn öffnet den Mund zu einer heftigen Antwort. Aber dann schweigt der nicht sehr kräftig wirkende Mann mit dem Schnauzbart. Fast Hilfe suchend schaut er zu Holtey hinüber.

Linda Brackhahn wendet sich an den Kriminalobermeister. Ihre blauen Augen strahlen: „Wenn Ihr Chef keine Ahnung zu haben scheint - dann sagen Sie es mir, bitte!“

„Also ...“ Holtey weicht einem Zorn sprühenden Blick seines Vorgesetzten aus. „Den Geschädigten konnten wir bislang noch nicht sprechen. Aber das holen wir nach, Frau Brackhahn, sobald dieser Graf von Copmans nach Hause zurückgekehrt ist!"

„Wo ist das Diebesgut?" Linda Brackhahn reckt übertrieben den Hals, als suche sie ein Beweisstück auf Pepperkorns Schreibtisch.

„Ich habe nichts gestohlen!"

Die Fürsorgerin streicht Tramp beruhigend übers Haar. „Spricht etwas dagegen, Kommissar, dass ich dieses völlig durch den Wind geratene Kind mitnehme? Falls Sie eine Anzeige und einen Beweis für seine Straftat haben, dann finden Sie den Jungen und mich in meiner Wohnung. Oder soll ich erst um eine Unterredung bei Kriminalrat Kühlmann-Hoppe bitten?“

Schnellen Schrittes umrundet Kommissar Pepperkorn seinen Schreibtisch. „Ich höre immer Kind? Sehr geehrte Frau Brackhahn: Dieser Dollbrägen hatte am Tatort einen Komplizen, der Schmiere stand!"

„Ist ja gar nicht wahr!"; ruft Tramp.

„Aber wir haben einen Zeugen.“ Holtey gibt seinem Chef Hilfestellung.

Linda Brackhahn wiederholt unbeeindruckt ihre Frage. Und weil eine Antwort ausbleibt, wendet sie sich - nach dem Motto Frechheit siegt handelnd - mit dem Jungen zum Ausgang.

„Ich bringe Ihnen die Anzeige von diesem Herrn ...“ Pepperkorn schnaubt wütend, weil sein Namensgedächtnis wieder versagt. Dabei weiß der Kommissar mittlerweile eine Menge über jene gräfliche Familie von Copmans. Sie verkörpert ein Stück deutscher Militärgeschichte. Der letzte General beteiligte sich 1944 am Attentat auf Hitler und wurde erschossen. Auf einer Segeljacht war die Frau Generalin mit allen Kindern vor den Nazis außer Landes geflohen. Die gräfliche Dünenmark wurde dem Deutschen Reich einverleibt. Nach 1945 gehörten jene Ländereien an der Ostsee dem Staat DDR. Im Jahre 1991 beschloss die Treuhand relativ schnell noch unter dem Regime von Karsten Rohwedder eine Rückgabe allen Besitzes an derer von ...

„Und wehe - dieser Lüchting da ist dann nicht mehr bei Ihnen!“; ruft Hinrich Pepperkorn der Frau nach. „Achten Sie mir also ja gut auf dieses Kind, verehrte Frau Brackhahn!“

Holtey will etwas in ähnlicher Münze draufgeben. Aber ehe sein betulich arbeitender Verstand sich die passenden Worte zurechtlegt, trifft Kriminalrat Kühlmann-Hoppe auf Frau Brackhahn. Und es hebt nicht gerade seine Laune, sehen zu müssen, mit welcher Zuvorkommenheit Kühlmann-Hoppe die Brackhahn begrüßt. „Jetzt weiß ich wieder mal, warum ich gegen diesen West-Import bin!"; murmelt er verdrossen. „Wäre spaßig, wenn dessen Tussy vor der Hochzeit Reiter heißen würde: Frau Kühlmann-Hoppe-Reiter!“

Obwohl Holtey kaum die Zähne auseinander bringt, versteht Kommissar Pepperkorn alles. Und vielleicht hätte er bei anderer Gelegenheit seinen jungen Mitarbeiter zurechtgewiesen - aber nach dem Auftritt der rechthaberischen Fürsorgerin und einem angedeuteten Handkuss von Kriminalrat Kühlmann-Hoppe ...

„Diese Weiber!"

Pepperkorns Worte klingen für Holtey wie die Warnung eines lebenserfahrenen Mannes. Er nickt. Statt der holden Weiblichkeit gilt in der Freizeit sein ganzes Interesse dem Sport. Deswegen quält ihn immer noch der Gedanke, dass er vorhin mit dem Namen Kasparow so gar nichts anzufangen wusste. Gari Kasparow?! Natürlich! Und dessen Herausforderer Karpow. Dunnerkiel! knurrt Holtey in sich hinein. Hat dieser kriminelle Ballerheini ihn doch tatsächlich an der Nase herumgeführt ...

„War etwas Besonderes, Männer?"

Der Kriminalrat verharrt für einen Moment vor Pepperkorn und Holtey. Seine ebenmäßigen Zahnreihen blitzen beim Lächeln. Bürofremde könnten ihn für einen Dressman halten, der sich vom Laufsteg hierher verirrt hat: Anzug und Weste verraten selbst einem Laien feinstes Tuch und modernsten Zuschnitt. Kühlmann-Hoppes Hand fährt über sein straff nach hinten gekämmtes Haar, das in einem wippenden Zöpfchen endet.

„Ein Dieb, Herr Kriminalrat.“ Pepperkorns stachliger Schnauzbart zittert. Er setzt voraus, dass sein Gegenüber weiß, wer damit gemeint ist. „Übrigens - kennen Sie einen Herrn ...“

„Varmst“, wirft Holtey ein.

„Nie gehört den Namen.“

„Dieser Zeuge, Herr Kriminalrat, hat aber gegenüber den Kollegen vom zuständigen Revier Wert darauf gelegt, dass der Bengel zu uns beziehungsweise zu Ihnen gebracht wird.“

„Ja, ja! Die kinderliebe Frau Brackhahn! Sieht aber verdammt gut aus, nicht wahr!" Noch steht Freundlichkeit in Kühlmann-Hoppes Gesicht. Er scheint gar nicht hinzuhören, was Kommissar Pepperkorn ihm gerade zu erklären versucht. „Meine Herren, waren Sie schon bei Doktor Todenhöfer in der Rechtsmedizin?"

„Der Doktor war im Surf-Urlaub.“

„Er ist doch nicht der einzige Rechtsmediziner dort!“

„Aber der Beste“, erwidert der Kommissar.

„Unsere Fotos im Lokalfernsehen - keine Hinweise? Wer der unbekannte Jugendliche ist, den man aus dem Hafenbecken gefischt hat.“

„Keine.“

Konrad Kühlmann-Hoppe mustert vorwurfsvoll seine Mitarbeiter: „Ich konstatiere: Unser ins Leben gerufene Dienst KINDER UND JUGEND vergeudet seine Zeit also mit kleinen Strolchen!“

„Ich habe mit solchen Kindern später böse Erfahrungen machen müssen, Herr Kriminalrat! Die bessern sich wie ein junger Wolf - wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will."

„Ihre böse Erfahrung, die Sie mir hier im Osten voraushaben, die will ich Ihnen nicht streitig machen! Aber es ist mein Kopf, Herr Pepperkorn, den ich in der Öffentlichkeit hinhalten muss. Falls die Dinge nicht so im Fluss sind, wie sie sein sollten! Wenn ich bitten darf: Kümmern Sie sich um diesen Toten! Damit wir seine Identifizierung abschließen können! Und die gute Nachricht: Der Antrag für ein ziviles Fahrzeug ist durch. Oder möchten Sie den LADA weiterhin fahren?“

Sekunden später werden im verglasten Mini-Büro die Jalousien ruckartig hochgezogen. Kriminalrat Kühlmann-Hoppe hat jetzt von seinem Schreibtisch aus alle Mitarbeiter im Blick.

„Typisch Besser-Wessi!"; entfährt es Holtey.

„Etwas mehr Respekt", mahnt der Kommissar. „Es gibt unter den Chefs aus dem Westen solche und solche.“

„Solche wie Kühlmann-Hoppe kann ich nun mal nicht ausstehen!" Holtey weist mit seinem kurz geschorenen Schädel in Richtung Glaskasten. „Könnte mir vorstellen, dass er auf der Reeperbahn in Hamburg glatt mit einem Zuhälter verwechselt wird. Hat sogar einen CHEROKEE!“

„Cherokee? Der hat einen Indianer? Ist Kühlmann-Hoppe etwa ...“ Kommissar Pepperkorn steht der Mund offen.

„CHEROKEE - so heißt ein Jeep, Chef! O Manning - hat der einen massigen Bullengrill vorne!“ Holtey breitet seine Armen weit aus, um die Größe anzudeuten. „Kostet schlappe 60.000 Märker. Möchte mal wissen, wie der das mit dem Geld macht?“

„Dat is so, as dat so is“, philosophiert Hinrich Pepperkorn im breit gesprochenen Platt. Er weiß, dass Kühlmann-Hoppe noch Junggeselle ist. Und letztendlich hat sie auch nur zu interessieren, wie es mit seiner beruflichen Qualifikation bestellt ist. „Ihr Onkel, der Genosse Major a. D., hätte Ihnen sagen sollen, dass in unserem Beruf keiner zum Kriminalrat befördert wird, der nur heiße Luft ablässt."

„Okay, Chef! Muss jedenfalls eine Menge Knete sein, die einer für diesen Job kriegt."

Kommissar Pepperkorn hält nichts davon, das Thema weiter zu erörtern. „Kühlmann-Hoppe hat uns gerade die nächste Hausnummer genannt“, sagt er mit unbewegter Miene. „Also, worauf warten wir noch?“

Sagen Sie einfach Tramp zu mir

Als der Junge auf der Straße steht, atmet er tief durch. Die regenwarme schwüle Luft, die dampfend vom nass glänzenden Asphalt aufsteigt, erscheint ihm geradezu als Geschenk. Eine Begegnung wie eben mit diesem schnauzbärtigen Bullen und seinem Muskelprotz wünscht Tramp sich so bald nicht wieder.

„Ich muss dir dringend raten, mein Junge: Keine Dummheiten mehr! Der Grimmbart da drin", Linda Brackhahns Daumen weist hinter sich zum Hausportal. „Dieser Kommissar, der versteht keinen Spaß!"

Tramp nickt. Ein altersschwacher Kleintransporter steht auf der Straßenseite gegenüber. Jetzt öffnet sich die Wagentür. Gemächlich stellt der auffallend braunhäutige Fahrer einen gewaltigen Radiorecorder auf seine linke Schulter. Über die Straße schallt fremdländisch gesungener Text. Beim Gehen im Takt federnd, kommt der junge Mann näher. Die Musik ist ohrenbetäubend. Aber Tramp empfindet den Lärm wie eine Wohltat. Er gibt heimlich dem Recorder-Träger ein Zeichen und seine Stimme ist über Gebühr laut, als er fragt:

„Wohin fahren wir denn, Frau Brackhahn?"

Endlich hat die Frau gefunden, was zum Autofahren unbedingt nötig ist - triumphierend zeigt sie eine gestrickte Kordel vor, an der zwei kleine Schlüssel hängen: „Dass die sich immer erst in der letzten Tasche anfinden!“

Für Sekunden verharrt die auf zwei Beinen wandelnde Musikbox neben einem Ständer mit den neuesten Tageszeitungen.

„Wohin wir fahren, Frau Brackhahn!", drängt Tramp. Lauter als das erste Mal.

„Südstadt.“ Linda Brackhahn läuft zu ihrem Auto.

Der Bursche, von dessen Schulter noch immer Disco-Sound á la Polska dröhnt, wendet sich ab, um so schnell wie möglich hinter das Steuer seines Pick up’s zu gelangen.

„AUDI." Tramp mustert fachmännisch das Wageninnere.

„Spricht etwas dagegen? Ist zwar ein altes Modell ..."

„Kennen Sie das: AUDI sprach zu HANOMAG - HORCH da kommt ein WANDERER!“

Und weil Frau Brackhahn nicht begreift, erklärt Tramp ihr die vier Automarken, die sich in dem Satz verbergen.

„Wieder etwas dazugelernt!“ Sie streckt dem Jungen ihre Rechte entgegen: „Frau Brackhahn hört sich in meinen Ohren ziemlich steif an. Ich heiße Linda!"

„Sagen Sie einfach Tramp zu mir."

„Tramp?“

Plötzlich ruft der Junge: „Linda - in Kurven nicht die Kupplung schleifen lassen!"

Frau Brackhahn lacht: „Du scheinst Ahnung von Autos zu haben. Liegt wohl in der Familie, was?“

Xaver Jeremias Hühnerauge alias Tramp schließt seine Augen. Er bleibt für Sekunden in dieser Haltung. Aus Angst, Linda Brackhahn könnte sehen, wie sehr ihre Frage ihn getroffen hat.