Von Thea Dorn außerdem als Goldmann Taschenbuch
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Die Hirnkönigin. Roman (44853)
Berliner Aufklärung. Roman (45315)
Thea Dorn, geboren 1970 in Offenbach, machte eine Ausbildung in klassischem Gesang und wäre beinahe Opernsängerin geworden. Sie wandte sich dann jedoch dem Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Frankfurt, Wien und an der Freien Universität Berlin zu, wo sie Dozentin für Philosophie war. Schon mit 24 veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Berliner Aufklärung«, für den sie den Raymond-Chandler-Preis erhielt. Im Jahr 2000 machte Thea Dorn mit ihrem Roman »Die Hirnkönigin« Furore, für den sie mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.
Der Tag, an dem die Oper Frankfurt zum zweiten Mal niederbrannte, war einer unter vielen. Der Rauch qualmte, die Flammen loderten, die Feuerwehr löschte. Die Opernpark-Junkies fixten, die Kulturdezernentin betrieb Krisenmanagement, und auch sonst ging jeder in der Stadt seinen üblichen Geschäften nach. Selbst die Möwen schaukelten gelangweilt auf dem tranigen Mainwasser. Die wiederholte Weltkatastrophe warkeine mehr.
Die Dramaturgin und die Souffleuse saßen auf einer Caféterrasse am Main. Vor ihnen standen die üblichen Gläser.
Elli Schubert schaute über den glitzernden Fluß. »Hat es Bellini also doch noch geschafft«, sagte sie nachdenklich.
Mit schlafwandlerischen Bewegungen polierte Cora ihre Sonnenbrille. Ihre Augen blinzelten im gleißenden Tageslicht. »Was«, fragte sie abwesend.
»Unsterblich zu werden.«
»Mmh.« Die Dramaturgin nickte vage.
»Bin mir sicher, er wird in der gesamten Weltgeschichte der einzige bleiben, der zweimal die gleiche Oper abgefackelt hat«, sagte Elli anerkennend. »Wird berühmter werden als der gute alte Herostrates, unser maestro assoluto.« Sie verscheuchte eine Taube, die um ihrem Tisch herumhinkte.
Die Dramaturgin hauchte ihre schwarzen Gläser an. »Inzwischen glaube ich fast, du hattest recht«, sagte sie leise. »Der Ringist verflucht.«
Ein obskures Lächeln verklärte das Gesicht der abgehalfterten Souffleuse. »Aber nur – bis in meiner Hand den Geraubten wieder ich halte«, sang sie mit rauhem Schnapstimbre.
»Bitte?« Cora rückte ihre Brille zurecht.
Elli hob ihre Rechte und drehte an der Stelle des Ringfingers, an der bei verheirateten Menschen das Ehesiegel saß.
Hirnfaser für Hirnfaser wandelte sich Coras Verständnislosigkeit in Fassungslosigkeit. »Oh nein«, entfuhr es ihr. Sie starrte die Souffleuse an.
»Oh nein«, stöhnte sie noch einmal. »Du warst der mysteriöse Wurm, der von Anfang an in dieser Wiederaufnahme drinsteckte! Die Geschichte mit Alexanders Ehering – die verschwundenen Regiebücher – Elisabeths Sturz von der Schaukel – der gepanschte Champagner – das warst alles du!«
Elli Schubert machte eine knappe Verbeugung. »Aber sicher. Mußte doch verhindern, daß sich diese Taktstock-Schwuchtel mit Haffners Federn schmückt. Hatte kein Recht auf euren Ring.« Lächelnd verfolgte sie, wie die Dramaturgin ihre Brille abnahm und sich hinter ihren Handflächen verkroch.
»Warst mein Haupttrumpf, Mädchen«, erklärte sie nicht ohne Stolz. »Wußte, wenn ich dich aus der Produktion rausziehe, fällt das ganze Kartenhaus zusammen. War mir klar, daß Raven fuchsig wird, wenn er glaubt, du würdest seine Elisabeth schikanieren. Und warmir klar, daß du fuchsig wirst, wenn erfuchsig wird. Hast ihm das Zeug ja auch brav hingeschmissen. Die Johnson-Myer zu erschrecken sollte eigentlich nur noch der Gnadenstoß sein. – Konnte ja nicht ahnen, daß du so dumm warst, dich wieder von ihm einwickeln zu lassen«, knurrte sie. »Aber«, schob sie versöhnlich nach, »will mich nicht beschweren, er hats ja wieder gutgemacht. «
Cora lüftete für eine Sekunde die Hand überihren Augen. »Hattest du da auch deine Finger im Spiel?«
»Ne, ne, keine Sorge, Mädchen«, beruhigte Elli sie. »War ein schöner, echter Selbstmord. Einmal im Leben hat der genialische Künstler was ganz ohne Mutti-Hilfe hingekriegt.«
Mühsam richtete sich die Dramaturgin wieder auf. Sie faßte sich an die pochende Stirn. »Elli, ich weiß nicht, ob ich dich für das, was du getan hast, erwürgen oder küssen soll«, murmelte sie.
Die Souffleuse grinste. »Spendier mir einfach nen Kirsch.«
Unter angegriffenem Schweigen warteten die beiden Frauen auf den Promillenachschub. Träge zogen die Mainwellen an ihnen vorbei. Das Feuertosen in ihrem Rücken war schwächer geworden.
»Wie nennt man es gleich wieder, wenn Truppen in eine Schlacht geschickt werden, in dersie keine Überlebenschance haben«, fragte Cora stockend.
»Himmelfahrtskommando, Schätzchen, Himmelfahrtskommando«, soufflierte die andere.
Die Dramaturgin nippte an ihrem Glas. »In diesem Sinne«, flüsterte sie.
»In diesem Sinne«, echote die Souffleuse.
Neuerliches Schweigen breitete sich aus wie ein Ölfleck im Wasser.
»Is sicher am besten, daß der Kasten gleich wiederabgebrannt is«, sagte Elli schließlich. »Wärso oder so eine Ruine geworden. Die Neuen hätten da kein Leben, keine Begeisterung mehr reingebracht.« Sie schlürfte den letzten Tropfen Kirsch aus ihrem Glas. »Will nur hoffen, daß der Krösch die Kohle fehlt, das Ding zum zweiten Mal aufzubauen.«
Die Dramaturgin rieb sich die übernächtigt tränenden Augen. »Zanassian soll seinen Büro-Tiefgaragen-Hotel-Einkaufs- Tower auf das Grundstück klotzen. Und die Oper gleich ganz draußenlassen.« Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf.
»Die Opernhäuser werden aussterben wie die Dinosaurier«, sagte sie gedämpft. »Unser Ringkampf war die letzte große Oper, die in der Oper stattgefunden hat.«
Ein sengender Fallwind trug ihre Worte davon.
Die Erde war eine Aluminiumglatze. Nackt und schimmernd wölbte sie sich den anderen Planeten entgegen, die als stählerne Gedankenblasen das kahle Haupt umschwebten. Im Innern des Schädels herrschte die Finsternis eines erblindeten Hohlspiegels.
Er war zurückgekehrt, der Kopf, dem diese Welt entsprungen war. Schweigend wanderte er durch seine verlassenen Landschaften. Vor ihm lag eine dunkle Vergangenheit. Der Ring ging in die zweite Runde.
Alexander Raven hob den Blick von seinem Bühnenbildmodell. Fünfzig Augenpaare hatten sich auf ihn gerichtet. Wenige neugierig, manche blasiert, die meisten gelangweilt. Sänger, Sängerinnen, Kapellmeister, Korrepetitoren, Assistenten, Hospitantinnen, Werkstättenleiter, Inspizientinnen. Die Opern-Hydra war aus langem Sommerschlaf erwacht und hatte ihre zahllosen Köpfe um den Mann herum versammelt, der angetreten war, sie abermals zu bezwingen.
Der Regisseur schloß die Augen. Er sammelte Kraft für den Ring. Ein doppelter Kampf stand ihm bevor. Mit einer Hand mußte er die Bestie am straffen Zügel halten. Mit der anderen Hand mußte er hinter sich tasten, eine Inszenierung auferstehen lassen, die vor Jahren zu Asche verglüht war.
Brüchige Zelluloidbilder flimmerten an ihm vorbei. Er saheine Frau schaukeln. Einen Mann nahen. Die beiden Figuren sich langsam übereinanderschieben. Eine schwarze Gestalt sich im Hintergrund erheben. Ihre verschatteten Augen aufblitzen. Eine Stichflamme emporschießen. Die Schaukel leer pendeln.
Die Bilder krümmtensich. Der Film riß.
Knarrend öffnete sich am anderen Ende der Probebühne eine Stahltür. Pfennigabsätze klackten, Stuhlbeine schrammten über den Estrich. Eine Hand legte sich um den Nacken des Regisseurs. Die verspätete Frau setzte sich und warf die langen schwarzen Haare zurück.
Alexander Raven erstarrte. Um ihn herum breitete sich Unruhe aus. Seine Zungenspitze huschte über die aufgesprungenen Lippen.
»Ich freue mich, so viele bekannte Gesichter wiederzusehen«, begann er seine Ansprache ohne begrüßende Umschweife. »Das macht die Sache für uns alle einfacher. « Seine Stimme klang rauh. Er schluckte. In seinem Hals steckte ein Eiszapfen. »Denn wie Sie wissen, haben wir nicht viel Zeit. Zwei Monate für so eine gewaltige Produktion, das ist die absolut untere Grenze des Machbaren. Auch oder gerade für eine Re-Inszenierung. Das heißt, wir müssen alle sehr diszipliniert, sehr präzise zusammenarbeiten. Sackgassen oder unnötige Umwege bedeuten das Aus. Darüber sollten wir uns von vornherein im klaren sein. Ich will Ihnen nichts vormachen: Die nächsten Wochen werden für alle eine enorme Belastung. Nurwirklicher Enthusiasmus kann uns helfen, die Aufgabe zu bewältigen. Aber ich bin ganz sicher, daß Sie diesen Enthusiasmus besitzen. «
Verwundert lauschte Alexander Raven seinen Worten, die wie Pingpongbälle von den Wänden zurücksprangen. Seine Augen wanderten hinter den Brillengläsern. Noch war die Bestie benommen von ihrem Schlaf, doch in einigen Pupillen glomm bereits Widerspruch. An einigen Hälsen schwollen die Adern, pumpten sich voll für das anstehende Kräftemessen. Die meisten Gesichter aber lagen friedlich da: unbeschriebene Flächen, die von ihrem Regisseur gestaltet werden wollten.
Die langhaarige Frau studierte ihre Fingernägel. Von ihren Mundwinkeln tropfte Spott. Alexander Ravens Blick zuckte zurück. Der Eiszapfen rammte sich tieferin seine Eingeweide.
»Es hat keinen Sinn, jetzt viele Worte über mein Inszenierungs konzept zu verlieren«, floh er hastig in seine Rede zurück. »Ich will Ihnen nur einige Grundgedanken erklären. Alles weitere müssen wir dann in den nächsten Wochen Szene für Szene gemeinsam wieder erschließen.«
Der Regisseur, der sein eigener Bühnenbildner war, klammerte sich an den offenen Kasten neben ihm. »Die Kulissen sind nahezu unverändert«, begann er steif. »Diejenigen unter Ihnen, die damals schon dabei waren, werden sich erinnern. Wie Sie im Modell sehen, haben wir die Basis-Idee beibehalten.« Er holte Luft zu neuem Schwung. »Der gesamte Ring spielt an drei zusammenhängenden Grundorten. Denn wir haben es hier ja nicht einfach mit vier Opern oder Dramen zu tun. Der Ring ist ein geschlossenes System, ein totaler Weltentwurf. Wagners Universum funktioniert wie ein Räderwerk. Jedes Teil steht unter der Herrschaft des Ganzen. Aber damit steht auch das Ganze unter der Herrschaft des Einzelnen. Um das hermetische Gefüge zum Einsturz zu bringen, genügt es, daß ein Rädchen herausspringt.« Er pochte auf den Sperrholzkasten. »Diese Dialektik, diesen immanenten Vernichtungsprozeß, den der Ring exekutiert, müssen wir auch im Bühnenbild zeigen. Deshalb haben wir alle Orte auf drei Grundkonstellationen reduziert. Es ist dreimal dieselbe Welt, oder besser gesagt: Es sind drei verschiedene Blickwinkel auf denselben Mechanismus – den wir dann von Szene zu Szene stärker zerfallen lassen. Mit dem Drama schreitet die Zerstörung voran. Bis hin zur vollständigen Auslöschung, zum abschließenden Weltenbrand.«
Der Regisseur wischte sich die Stirn. Nervöse Flekken marmorierten die Haut über den angestrengten Wangenknochen. Der Eiszapfen in seinem Innern widerstand der Hitze, in die er sich geredet hatte. Er legte seine Hand auf die kühle Aluglatze des Modells. »Dies ist die erste Konstellation. Der Erde Rücken, wie es nachher in der Wissens-Wette von Wotan und Mime heißt. Auf dieser Krümmung müssen die Menschen, die Wälsungen und Gibichungen, ums Überleben kämpfen. Der Himmel mit seinen Planeten hängt in weiter Ferne. Wir werden gleich sehen, welche Beziehung zwischen diesen beiden Sphären besteht.« Er drehte den Kasten. »Doch kommen wir zunächst zur zweiten Konstellation. Die Nacht- und Schattenwesen erleben die Erdwölbung von innen, als gewaltigen, schwarzen Hohlraum. Das sind zunächst einmal die Nibelungen, aber auch die Rheintöchter sind im Grunde unterirdische Gestalten – im Bauch der Erde gärende Natur. Wenn der Nibelung, wenn Alberich ihnen das Gold raubt, vergreift sich kein Fremder an etwas Fremdem. Es ist die Selbstentzweiung der unmittelbaren, der differenz losen Natur.«
Metallische Blasen schimmerten in der dritten Kammer des futuristisch-tristen Puppenhauses. Fieberhaft redete Alexander Raven weiter. »Auf wolkigen Höhen wohnen die Götter – so sagt Wotan. Doch die Romantik dieser Beschreibung lügt. Und das weiß er selbst. Die Sphäre der Götter ist in Wahrheit eine eisige, starre Welt der Konventionen und Gesetze. Die Kälte, unter der die Erde erstarrt, strömt von diesen Planeten aus. Deshalb will Wotan den neuen Menschen schaffen – einen Menschen, der die abstrakte Götterwelt mit der brodelnden Natur versöhnt. Doch sein Heilsplan geht nicht auf. Der neue Mensch wird zwischen der über-und der unterirdischen, zwischen der kalten und der heißen Macht zermahlen. Sein Experiment scheitert. Die beiden Mächte lassen sich nicht versöhnen. Im Gegenteil. Die Vernichtung wird beschleunigt. Der gespaltene Kosmos implodiert.«
Der Regisseur fuhr sich mit der Hand an den Hals. Kalter Schweiß stand in seinem Hemdkragen. Die schwarzhaarige Frau blätterte in ihrem Kalender. Der Regisseur senkte den Blick. Er verlor sich in dem Gewirr dunkler Streifen, das seine Schuhe auf dem Holzpodest hinterlassen hatten.
»Ich hoffe, es ist ungefähr deutlich geworden, worauf es mir ankommt.« Das Feuer in seiner Rede war erloschen. Erschöpft sog er den Atem zum abschließenden Höflich keitsakt ein. »Ich möchte Ihnen danken, daß Sie mireinezweite Chance gegeben haben, den Ring hier, mit Ihnen, zu inszenieren. Ich bin sicher, es wird eine spannende Zeit werden. Ich freue mich darauf. Haben Sie herzlichen Dank.«
Fünfzig Händepaare klatschten. Wenige frenetisch, manche höflich, die meisten pro forma.
Alexander Raven zwang ein Lächeln in sein Gesicht. Er trat vom Bühnenpodest herunter, sank auf einen Stuhl und faßte sich an die pochenden Schläfen.
Aus dem verebbenden Applaus erhob sich eine zierliche Gestalt. Mit drei geschmeidigen Schritten erklomm Benito Bellini den erhöhten Rednerplatz. Ein letztes Mal lockerte der Generalmusikdirektor und künstlerische Intendant der Oper Frankfurt die Muskeln. Ruhegebietend hob er die Arme. Es wareine bloße genealogische Laune, die ihn zum Urahn des italienischen Belcantokomponisten gemacht hatte. Der musikalischen Sache nach verband ihn mit Vincenzo nichts. Benito Bellini legte seine Leichtfüßigkeit ab, sobald erdie Pforten zur Kunst aufstieß. Den Tempel betrat er in Bleischuhen.
»Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Freunde! « Getragen begann der Dirigent den Eröffnungssatz. »Sie alle wissen, welch schwierige Jahre hinter mir, hinter uns liegen. Sie alle haben es schmerzlich erlebt. Als ichmeine Arbeit an diesem Haus aufnahm, stand ich voreiner Ruine. Ich kam, um Musik, um Operzu gestalten, und sah rauchende Trümmer. Für viele Jahre war unser Ensemble ohne feste Heimat, wirmußten an miserablen Ausweichorten spielen, einen Monat hier, den nächsten dort. Wir haben gelebt wie ein erbärmlicher Wanderzirkus.«
Die Last der Erinnerung senkte sich auf das edle Haupt. Eine immernoch schwarze Locke fiel ihm in die Stirn. Er verlagerte sein Gewicht. Mit freien Kadenzen schwang er sich ins Allgemein-Ideelle empor. »Was aber ist ein Opernhaus, wenn nicht ein vibrierender, tönender Organismus«, fragte er sinnend. »Was, wenn nicht ein sensibles Musikinstrument, das außer Liebe vor allen Dingen Geborgenheit braucht, um ungestört erklingen zu können? Das Wunder harmonischen Zusammenwirkens geschieht nicht auf der Straße. Wie eine erlesene Geige an widrigen Orten sich verstimmt, so leidet auch der empfindliche Körper eines Opernensembles, wenn es aus seiner sicheren Heimstatt vertrieben wird.«
Mitausholender Geste leitete der Dirigent das spekulative Zwischenspiel in strahlendes Allegro über. »Nun endlich kehrt unser teures Instrument an seinen geschützten Platz zurück, wo allein sein ewiger Zauber sich entfalten kann! Endlich ist unser Haus wiedererrichtet, hat sich erhoben wie Fenice aus der Asche!« Er blickte lange in die Runde. »Und es war mirvon Anfang an klar, daß ein so großes Ereignis, daß die Wiedereröffnung unserer Oper nur mit einem einzigen Werk gefeiert werden kann. Mit dem Werk, das vor uns das ewige Drama der Menschheit ausbreitet, das Liebe und Tod, Hoffnung und Haß, Macht und Ohnmacht, Verzweiflung und Erlösung in Töne gebannt hat wie kein zweites. Mit dem Werk, das in jeder Faser aus Schicksal gewoben ist – und das vor Jahren selbst – hier an diesem Ort – einem so bitteren Schicksal erliegen mußte. Ich brauche Ihnen weiter nichts zu sagen. Sie alle wissen, wovon ich rede. – Der Ring und dieses Haus, dieses Haus und der Ring – gemeinsam sind sie untergegangen, gemeinsam werden sie auferstehen in neuem Glanz.«
Der Generalmusikdirektor drosselte das Tempo und dämpfte die Lautstärke. »Dabei werde ich nie vergessen, welche Verantwortung ich auf mich nehme, indem ich zu vollenden wage, was meinem unglücklichen Vorgänger auf so tragische Weise entrissen wurde. Ich bin mir bewußt, welch schweres, aber auch unendlich reiches Erbe ich heute antrete. Ich verspreche Ihnen und ihm, diesem großen Musiker und Künstler, daß ich alles tun werde, um die Arbeit, die er begonnen hat, zu einem guten Ende zu führen, um das bittere Scheitern in leuchtenden Erfolg zu verwandeln.«
Der Dirigent hielt schweigend die Spannung. Zur Schlußkadenz wandte er sich an den versunkenen Regisseur. »Herr Raven! Haben Sie meinen ganz persönlichen Dank, daß Sie bereit waren, ein zweites Mal nach Frankfurt zu kommen und uns mit Ihrer wunderbaren Inszenierung zu beschenken. Mille, millegrazie! Mögen die langen Zeitender Diaspora fürunsere Operbeendet sein!«
Die versammelten Ensemblemitglieder stimmten eine Kakophonie an, die das beschworene Wunder harmonischen Zusammenwirkens in weite Fernerückte.
Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wallala weia! Wagala weiala weia!
Elisabeth Raven-Winterfeld hielt in ihren gleichmäßigen Bügelbewegungen inne. Sorgfältig stellte die Sängerin das heiße Eisen zur Seite und schaute in den Klavierauszug, der auf dem wachstuchbedeckten Küchentisch lag. Als erfahrene Plätterin wußte sie, daß man Textfehler ausbessern mußte, bevor sie im Gedächtnis eingebügelt waren.
Tatsächlich hatte sich eine kleine Falte in Woglindes Anfangszeilen geschlichen. Das Bügeleisen glitt wieder auf und ab. Weia!Waga!Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagala weia! Wallala weiala weia, korrigierte die Sängerin.
Das schwarze Hemd war fertig. Elisabeth knöpfte es zu – Weia! Waga! – drehte es auf den Bauch – Woge, du Welle! – faltete die Seitennach hinten – Wallezur Wiege! – winkelte die Ärmel an – Wagala weia! – schlug das untere Drittel ein – Wallala weiala weia! – und klappte es zusammen. Sie strich überdas saubere Rechteck. Künstlerischer wie hausfraulicher Anspruch waren fürs erste befriedigt.
Sie räumte das Bügelbrett weg, kochte ihren allabendlichen Lindenblütentee und setzte sich an den Küchentisch. Mit disziplinierter Lustlosigkeit kämpfte sich die Gesangssoldatin durch ihre Noten. Die Rolle des germanischen Riot-Girl bedeutete ihr nichts. Aber im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen hatte sie eine bescheidene Auffassung von ihrem Beruf. Sie sang nicht, um sich selbst zu verwirklichen. Sie versah ihren Dienst an der Musik. Zuverlässig und solide.
Elisabeth hatte im Klavierauszug eine der wenigen Stellen erreicht, die ihr jedoch tatsächlich gefielen. Woglinde offenbarte Alberich, dem läufigen Nibelungen, das Geheimnis des Rings: Nur wer der Minne Macht entsagt, nur wer der Liebe Lust verjagt, nur der erzielt sich den Zauber, zum Reif zu zwingen das Gold. Mit feinen Kreuzstichen stickte die Sängerin den Spruch in ihr Gedächtnis.
Ein Nachtfalter war durch das gekippte Fenster hereingekommen und flatterte um die orangene Plastikschüssel der Deckenlampe. Elisabeth fing ihn mit einem Küchenkrepp. Sie quetschte das Papier in ihrer Faust zusammen und warf es in den Abfalleimer. Vielleicht war es eine Motte gewesen. In Theaterwohnungen gab es immer Motten.
Die Sängerin repetierte das weitläufige Entsagungsmotiv ein letztes Mal. Drei Töne Anlauf, gemäßigter Hochsprung zur kleinen Sext, langsamer Abgang in Prim-und Sekundschrittchen.
Es warspät geworden. Leise Unruhe befiel die Regisseursgattin. Alexander Raven war überfällig.
Sie stand auf und trat ans Fenster. Ihre Finger nestelten am braunen Vorhang. Vor Jahren hatte sie Alexander Raven von Zigaretten und Alkohol weggebracht und ihn durch Heirat aus seiner dritten, noch ruinöseren Liebschaft befreit. Seitdem eben diese heute nachmittag beim Konzeptions gespräch aufgetaucht war, hörte Elisabeth die alte Falle wiederschnappen.
Wasser rauschte durch das Abflußrohr. Die Sängerin fröstelte. Sie ging ins Schlafzimmer, um sich ihre gehäkelte Wollstola zu holen. Die immer gleichen und doch nie vertrauten Apartments von Amsterdam bis Zürich bereiteten ihr wachsendes Unbehagen. Der letzte Aufenthalt in der Münchner Eigentumswohnung lag Wochenzurück. Elisabeth begleitete ihren rastlosen Legionär des Musiktheaters auch dann, wenn er ihrin seinen Inszenierungen keine Rolle zugedacht hatte.
Im Flurspiegel begegnete sie einer abgespannt aussehenden Frau. Elisabeth erschrak. Weniger wegen der ungesunden Gesichtsfarbe an sich als vielmehr wegen der kostbaren Stimmbänder, deren Ermüdung ein grauer Teint anzeigte. Es waren ihre einzigen Juwelen, und sie achtete stets darauf, daß sie in einer makellos samtigen Kehle ruhten. Die Sängerin beschloß, ins Bett zu gehen.
Im Schlafzimmerwares schwül. Elisabeth öffnete ein Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie begann, sich gewissenhaft auszukleiden, hängte ihre gestreifte Bluse und die dunkelblaue Bundfaltenhose in den Kleiderschrank, band zwei Lavendelsäckchen an die Bügel, roch an Söckchen und Slip, steckte beides in einen Wäschesack, holte aus ihrem Reisekoffer das letzte frische Nachthemd, schlüpfte in die flauschig warmen Hausschuhe, packte im Badezimmer den Kulturbeutel aus, putzte ihre ebenmäßigweißen Zähne, rollte das glattgedrückte Ende der Zahnpastatube auf, stellte diese gemeinsam mitihrerund der Zahnbürste ihres Mannes in ein gepunktetes Wasserglas, wusch sich das Gesicht, wusch sich die Füße, bürstete ihre kurzen braunen Haare, spülte das Waschbecken aus und setzte sich auf die Toilette.
Die Vorlegematte war zartgelb und hatte Zottelfransen.
Elisabeth kehrte ins Zimmer zurück, nahm die braune Tagesdecke vom Bett und verstaute sie im Schrank. Alexanders Schlafanzug hängte sie über eine Stuhllehne, seine Pantoffeln stellte sie davor. Nach einem prüfenden Rundblick löschte sie das Hauptlicht und knipste das Nachttischlämpchen an.
Mechanisch griff sie nach dem Rheingold. Die Zeit vordem Einschlafen nutzte Elisabethgern fürein letztes abendliches Rollenstudium. Die Angewohnheit zahlreicher Sänger, ihre Noten nachts unter das Kopfkissen zu legen, hielt sie dagegen für Aberglaube. Sie schlug den Klavierauszug beim Rheintöchtergesang auf.
Heiajaheia, jauchzte es ihr entgegen, heiajaheia! Wallala lalala leiajahei! Rheingold! Rheingold! Leuchtende Lust, wie lachst du so hell und hehr! Glühender Glanz entgleißet dir weiblich im Wag! Heiajahei! Heiajaheia!
Elisabeth runzelte die Stirn und klappte den lasziven lullaby wieder zu. Sie war und wurde keine begeisterte Rheintochter.
Wie zufällig glitten ihre Finger zu dem zweiten Klavierauszug, der unter dem Rheingold hervorlugte. Zögernd griff die Sängerin zu.
Eine ganze Weile hielt sie die verbotenen Noten geschlossen in ihren Händen. Woglinde hatte in der Walküre nichts zu suchen. Gemeinsam mit ihren Schwestern tauchte sie nur im Rheingold auf und dann noch einmal kurz im letzten Teil, in der Götterdämmerung. Insgesamt bedeutete das vier Auftritte: zwei kleine, zwei winzige. Bei vierzehneinhalb Stunden Musik. Doch wie karg die Beute auch immer gewesen war: Noch nie hatte Elisabeth sich gestattet, aus der Rolle zu fallen. Das braune Buch wog schwer auf ihrem Schoß.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Elisabeth legte rasch den Klavierauszug beiseite. Sie lauschte den harten, hektischen Schritten im Flur, die einen kurzen Halt an der Küchentür machten und sich dann dem Schlafzimmer näherten.
Alexander Raven betrat den Raum. Der Schatten eines Lächelns saß in dem dramatischen Gesicht, das Migräne und Magengeschwüre vorzeitig zerfurcht hatten.
»Guten Abend, meine Liebe, du liegst schon im Bett? Habe ich mich wirklich so verspätet? Es tut mir leid. Aber ich mußte noch ein paar dringende Sachen im Theaterbesprechen. Du weißt ja, wie das ist.«
Er nahm seinen weichen, breitkrempigen Hut ab. Unentschlossen drehte er ihn in den Händen. »Bellini hat letzte Woche den Produktionsleiter gefeuert«, sagte er düster, »und dieser vernagelte Preuss – Generalmanager oder wie er sich seit neustem nennt – behauptet, er hätte kein Geld für einen anderen. Ich bin gespannt, wie wirunter solchen Umständen arbeiten sollen.« Mit einem bitteren Lachen warf er den Hut auf einen Stuhl. »Ich verstehe das einfach nicht. Auf der einen Seite erklären sie mir, sie sind pleite, und dann zahlen sie völlige Phantasiegagen an die Johnson-Myer. Dabei war unsere alte Besetzung hervorragend. Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir mit dieser Bayreuth-Matadorin etwas gewinnen werden. Katharina wareine hinreißende Brünnhilde. Nie wieder habe ich eine so ehrliche, so echte Schlußszene gesehen.«
Umständlich kämpfte sich der Regisseur aus seinem Sommermantel. »Aber es ist vollkommen aussichtslos, mit denen zu diskutieren. Bellini will große Stimmen, will internationale Stars, und Preuss kuscht, obwohl er genau weiß, daß er damit in Teufels Küche gerät. Das Defizit soll dann natürlich auf die Inszenierung abgewälzt werden. Aber ich werde mir keine Kompromisse abhandeln lassen.« Alexander Raven setzte seine Brille ab und rieb sich die übermüdeten Augen. »Dieser Preuss ist eine elende Krämerseele von Kulturbürokraten. Ich sehe das jetzt schon: Überall wird er mir Steine in den Weg legen.« Er stutzte, als ob er sich an etwas zu erinnern versuchte.
Er trat ans Bett, beugte sich zu seiner Gattin hinunter, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf die Stirn. »Ich bin schrecklich, Liebling«, seufzte er. »Reden wir nicht mehr von diesem Theaterkram. – Aberes machtmich wirklich wahnsinnig. Wie soll ich so arbeiten? Wie soll ich mit Leuten zusammenarbeiten, die nicht vorbehaltlos hinter mir stehen?«
Elisabeth hatte sich im Bett aufgesetzt. Sie ergriff die Hände ihres Mannes. »Komm, du mußt dich ausruhen. Du bist ja völligerschöpft.«
»Du hast recht«, sagte er, »morgen wird ein knochenharter Tag.« Er entwand sich dem zarten Händedruck. Abwesend knöpfte er sein durchgeschwitztes Hemd auf. »Ob es noch funktioniert?«
»Was?« Elisabeth war erleichtert. Sie hatte weder Tabak, Alkohol noch Parfüm gerochen, als Alexander sich übersie gebeugt hatte. »Ob was noch funktioniert«, wiederholte sie sanft.
»Meine Inszenierung.« Er sprach wie durch Nebel. »Es liegt ja alles so lange zurück, so viele Jahre, in denen so viel geschehen ist. Ob ich überhaupt noch begreifen werde, was ich damals gewollt habe? Manchmal habe ich Angst, wie ein Fremder vor meiner eigenen Arbeit zu stehen. Ich hätte mich auf diese Geschichte nicht einlassen sollen.«
»Das ist doch Unsinn«, beruhigte ihn Elisabeth. »Du weißt ganz genau, daß deine Inszenierung die beste seit Jahrzehnten ist. – Dein Schlafanzug hängtüber dem anderen Stuhl.«
Der Regisseur schüttelte sich. Er langte nach dem braunen, frisch gewaschenen Baumwollpyjama. »Hast du einen schönen Abend gehabt?«
»Ich bin ein wenig den Text für morgen durchgegangen. « Elisabeth dämpfte ihre Stimme. »Sag mal, kriegt die Johnson-Myerwirklich so eine hohe Gage?«
Alexander Raven zuckte die Achseln. »Zehn- bis Fünfzehntausend zahlen die ihr sicher pro Vorstellung. «
Elisabeth zupfte nachdenklich an dem rosa Satinband, das ihr Nachthemddekolleté zusammenhielt. »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, daß ich früher Brünnhilde gesungen habe? In Gießen – bevor wir uns kennenlernten. Ich bin sicher, ich hätte die Rolle noch parat. Vielleicht – wenn du mit Bellini reden würdest – «
Der Regisseur zog seine schwarzen Socken aus. »Liebling, laß nur. Du bist eine wunderbare Woglinde. Brünnhilde – das ist nichts für dich.« Mit kalten Füßen stieg er ins Bett.
Elisabeth hatte sich auf die Seite gedreht. Gelb strahlte die Nachttischlampe. »Willst du dir nicht die Zähne putzen?« Sie bemühte sich, nicht gekränkt zu klingen. »Ich habe deine Zahnbürste schon ausgepackt. Sie steht im Bad.«
»Danke, das ist lieb von dir. Aber heute beim besten Willen nicht mehr.« Der Regisseur streckte sich aus.
»Kann ich dann das Licht ausmachen?« Auf Elisabeths Sopran-Glanz hatten sich Schlieren gelegt.
»Ja, bitte.« Der Regisseur gähnte.
Dunkelheit breitete sich über das Bett. Straßenbeleuchtung illuminierte die Vorhangränder. Der Radiowecker blinkte.
»Damals mit Haffner – ich habe heute oft daran denken müssen, wie wunderbar er mich verstanden hat« sprach Alexander Raven in die unvollständige Finsternis hinein. »Nächtelang haben wir zusammengesessen, nicht nurerund ich, das ganze Team. Alles Mögliche haben wirdiskutiert, wildes Zeug fabuliert, ohne Ende politisiert. Wir kannten nichts anderes als den Ring. Jeder war mit einem solchen Enthusiasmus bei der Sache! Und Wagner war immer nur der Anfang. Komplette Gegenweltentwürfe haben wir damals gesponnen. Es war eine chaotische, wundervolle Zeit. Ohne diese Atmosphäre wäre meine Inszenierung nie das geworden, was sie ist. Ich fürchte, mir wird das alles sehr fehlen, jetzt. Das neue Direktorium – ich weiß nicht. Bellini ist sicher ein exzellenter Dirigent, aber ich begreife noch nicht, was er mit dem Ring vorhat. Ich sehe noch nicht, was ihn an Wagner fasziniert. Irgendwie kann ich mich mit ihm nicht verständigen. Ich glaube, das Szenische interessiert ihn gar nicht. Wahrscheinlich ist er einer von diesen engstirnigen Taktstock-Egomanen, die unfähig sind, über den Rand ihres Orchestergrabens hinauszublicken. – Wie anders war Haffner. Er wollte immer genau wissen, was auf der Bühne geschieht. So oft er konnte, hat er die szenischen Proben besucht. Mit ihm konnte man richtiges Musiktheater machen, es war wirkliche Zusammenarbeit – damals.« Alexander Ravens Gedanken verloren sich im Halbdämmer.
Elisabeth hatte nicht zugehört. Im Schutze der Nacht wagte sich die Frage hervor, die sie seit heute nachmittag quälte. »Wieso hast du mir nicht vorher gesagt, daß diese Frau wieder dabei ist?«
Der Regisseur erstarrte, wie von einem plötzlichen Krampf befallen. »Ich habe kein Bedürfnis, mit dir darüber zu reden«, sagte er frostig. »Ich bin jetzt müde. Gute Nacht.«