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Anna Enquist: Die Erbschaft des Herrn de Leon
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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel »Het geheim« bei De Arbeiderspers, Amsterdam.
Die Übersetzung wurde gefördert vom Nederlands Literair Produktie- en Vertalingenfonds, Amsterdam. Die deutsche Ausgabe wurde von der Autorin durchgesehen.
btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: akg-images
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
CP · Herstellung: BB
ISBN 978-3-641-15993-1
V002
www.btb-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
Erster Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Zweiter Teil
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Dritter Teil
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
Copyright

Autorin

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Erzählungen und Romane und gehört zu den bekanntesten und angesehensten Autorinnen der Niederlande. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und sind in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.

Anna Enquist

 

 

Das Meisterstück

Roman

 

 

 

Verfahrene Verhältnisse,
ein weiblicher Akt mit Fisch und ein Skandal –
eine Familiengeschichte, die es in sich hat.
Von der Autorin des Bestsellers Letzte Reise.

 

»Ein Roman über den Wert von Liebe und Freundschaft –
Das Meisterstück ist ein Meisterstück!«
Berliner Zeitung

 

»Ein hinreißendes Buch, das man in einem Atemzug
durchliest.«
De Telegraaf

 

 

 

 

 

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Anna Enquist

 

 

Die Eisträger

Roman

 

 

 

Die Adoptivtochter von Loes und Nico
ist verschwunden. Die Eltern leiden Höllenqualen,
aber sie tun, als wäre nichts geschehen. Obwohl sie die Gründe
für die Flucht des Mädchens kennen, schweigen sie, täuschen
sich gegenseitig und ihre Umwelt. An diesem Schweigen wird
erst ihre Liebe zugrunde gehen, dann sie selbst.

 

»Die Eisträger gehört zu den Büchern, in denen man
keinen Satz verpassen sollte.«
KulturSPIEGEL

 

»Einfühlsam, auf hohem sprachlichem Niveau
durchforscht Enquist die Innenwelten von zwei Menschen,
die die Kontrolle über ihr Leben verlieren.«
Welt am Sonntag

 

 

 

 

 

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Anna Enquist

 

 

Die Verletzung

Erzählungen

 

 

 

Ein scheinbar unbedeutendes Ereignis
kann ein ganzes Leben verändern. Manche Kerbe in der Haut
oder der Seele, manche Verletzung ändert einen Menschen
von Grund auf. In zehn Geschichten erzählt Anna Enquist von
solch unerhörten Begebenheiten. Und wie nebenbei lernt man
das Leben in den Niederlanden in den letzten hundertfünfzig
Jahren kennen.

 

»Diese Geschichten setzen sich im Gedächtnis fest, man kann
sie nicht abschütteln, sich nicht von ihnen distanzieren.«
Süddeutsche Zeitung

 

»Sie räsoniert nicht, sie erzählt, schlicht und unprätentiös, in
atmosphärisch überaus dichten, beinahe filmhaften Szenen.«
Badische Zeitung

 

 

 

 

 

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1

Der in der Luft baumelnde Flügel zeichnete sich wie ein verbranntes Kotelett gegen die schneebedeckten Bergspitzen ab. Zwischen das schwarzlackierte Holz und die Taue, die das Instrument hielten, war eine graue Möbeldecke gezogen. Langsam und wie ein einarmiger, steifer Riese ließ der gelbe Kran seine Last herunter, bis sie dicht über dem Balkon schwebte und leicht hin- und herschaukelte. Die Taue knarrten leise.

Unten, im Schatten der Häuser, füllte das Fahrgestell des Kranwagens die ganze Breite der ansteigenden Straße aus. Ein Vierkantbalken blockierte die Hinterräder.

Als der Flügel sich nicht mehr bewegte, fingen die Leute wieder an zu reden, Kinder und Hunde tollten umher, stämmige Frauen stellten ihre Einkaufskörbe ab und legten die Köpfe in den Nacken.

Die Möbelpacker waren zu dritt. Einer bediente den Kran, die beiden anderen trugen die massiven Beine des Flügels ins Haus. Ein Rädchen schrammte gegen das ungestrichene Eichenholz der Haustür.

Als einer der Männer wieder herauskam, um den Rollschlitten zu holen, drängten sich die Kinder vor dem Eingang.

Dann flogen die Balkontüren auf, und der zweite Packer stand plötzlich zwischen den blauen Blumen. Er blickte über die Schieferdächer, die hügeligen Wiesen, die mit grauem Stein abgesetzten Terrassen, die Weiden mit den mageren Kühen und den schmalen Silberstreifen des Flusses im Talgrund.

»Ich laß ihn jetzt runter«, rief der, der den Kran bediente.

Auch der Mann mit dem Rollschlitten kam nun auf den Balkon hinaus; mit ausgestreckten Armen reichten die Packer hinauf, um den Flügel zu fassen zu bekommen, und bugsierten ihn dann langsam auf den Schlitten.

Von drinnen stieß jemand die Balkontüren noch weiter auf. Weiße Vorhänge flatterten im Durchzug nach draußen. Die Männer in ihren kornblumenblauen Jacken stemmten sich gegen das Instrument und schoben es über zwei parallel liegende Bretter polternd ins Haus.

Unten juchzten die Kinder.

2

Der Raum, der gerade noch groß genug war, ist zu eng geworden. Es gibt keine Ruhe mehr, das alles durchdringende Ta-dung,Ta-dung wird von einem lauter werdenden Rauschen überspült.

Metall knallt auf Marmor, die Schere auf die Ablage, Schritte hallen, weit entfernt plätschert Wasser in ein Waschbecken, anders als vorher. Stechendes Licht, kalter Wind und warme Hände, und keine Luft, keine Luft.

 

Mit dem Kopf nach unten hängt das Kind über den gespreizten Beinen der Mutter. Lange dauert der Kampf, sträubt sich das Neugeborene gegen die Schwerkraft, während die Umstehenden den Atem anhalten und gebannt auf das glühende Gesichtchen starren. Auf einmal beginnt das Kind zu schreien.

Die Schwester wäscht es und wickelt es in ein Flanelltuch. Sie legt es in die Arme der Mutter, das Köpfchen liegt in der linken Armbeuge, mit der rechten Hand wischt sich Emma Wiericke das verschwitzte blonde Haar aus dem Gesicht.

Ganz leise hört das Kind das Geräusch: ta-dung, ta-dung. Das kleine Gesicht entspannt sich, und die Augen gehen auf; tiefe graublaue Teiche, sagt Emma später. Das ist mein Kind, meine Tochter, meine Tochter.

Egbert Wiericke hat während der Entbindung draußen auf dem Flur gesessen und abwechselnd auf die vorbeigehenden Leute und auf seine Uhr geschaut. Als die Schwester endlich aus dem Kreißsaal kommt, läßt er die Uhr in die Westentasche gleiten, steht auf, zupft sein Jackett zurecht und folgt ihr schweigend. Der Arzt, den man gerade von seiner Schürze befreit hat, streckt ihm die Hand hin.

Auf einem weißen Metalltischchen liegt – für ihn auf dem Kopf stehend – der Geburtsschein. Vater: Egbert Wiericke, Richter am Obersten Gerichtshof zu Leiden. Mutter: Emma Wiericke, geborene Orlebeke. Geburtsdatum des Kindes: 18. April 1933. Uhrzeit: 9.15 Uhr. Das Feld hinter Name des Kindes ist noch frei.

»Sie können jetzt ruhig zu Ihrer Frau gehen, sie ist gewaschen«, sagt die Schwester, »dritte Tür rechts.« Er dreht sich um, verwirrt, geblendet von dem grellen Licht.

Im angegebenen Zimmer sitzt Emma aufrecht im Bett, das Kind an der Brust. Egbert beugt sich über das Bett und küßt seine Frau auf die Stirn. Er bewegt seine gepflegte, schlanke Hand zum Köpfchen des Kindes hin, als wollte er ihm über die schwarzen Härchen streicheln. Sein Gesicht mit der Goldrandbrille ist nur wenige Zentimeter von Emmas Mund entfernt. Sie küßt ihn aufs Ohr.

»Das hat vielleicht Wollhaar, was!« ruft die Schwester, die die Waschschüsseln ausleert, über die Waschbeckengeräusche hinweg. »Fällt aber bald aus, und dann kommt erst das richtige Haar. Da haben Sie dann ein paar Tage lang ein kahles Kind.«

Emma schaut das Kind an, Egbert schaut Emma an. Das Kind runzelt die Stirn und bewegt die kleinen Hände, an denen die Finger mit den runzligen Gliedern und den muschelfarbenen Nägeln viel zu groß wirken.

 

Ein Knirschen und Knacken bei jeder Bewegung. Ein intensives Mißvergnügen tief drinnen, im Kern. Ein Mangelgefühl, das den Mund weit aufzieht, ein Verlangen, das hinaus muß. Erschrecken. Stille. Dann wieder die schmerzliche Leere. Brüllen, mit den Händen durch die Luft schlagen. Den Mund um das Weiche und Warme schließen, hämmern und schlagen und ziehen und saugen, bis die Leere ausgefüllt ist.

Egbert putzt mit einem großen Taschentuch seine Brille, küßt seine Frau aufs Haar und geht leise aus dem Zimmer.

3

Bouw Kraggenburg war müde. Die Sitzung in dem klimatisierten Büropalast hatte den ganzen warmen Sommertag lang gedauert. Sein Mund war trocken, und es prickelte ihn in der Nase. Als sich um halb sieben die automatische Eingangstür hinter ihm schloß, roch er den schwachen Fäulnisgestank, der über dem Parkplatz hing, und wandte sein Gesicht der Sonne zu. Die schwere Tasche stellte er neben sich auf den Beifahrersitz und fuhr statt über die Autobahn auf der alten Landstraße nach Hause, wartete geduldig vor zahllosen Ampeln und zuckelte durch Voorburg und Leidschendam nach Voorschoten, immer mit Blick auf das Weideland und das Wasser des Vliet.

Im Garten hinterm Haus war alles mächtig ins Kraut geschossen, der Rasen zu trocken. Bouw öffnete die Terrassentüren, befreite sich von den Schuhen, ohne die Schnürsenkel aufzumachen, und holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Ein Fingerbreit Whisky. Drei Eiswürfel. Die Zeitung.

Zwei Wochen allein zu Hause. Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte er die Abende mit Verabredungen zugebracht, die er Johanna gegenüber kaum als Geschäftsreisen hätte tarnen können, hätte all das gemacht, was sie, wäre sie nicht auf Dienstreise gewesen, sicher verletzt hätte. Einschließlich zuviel Alkohol und voller Aschenbecher im Schlafzimmer. Jetzt, da er die Sechzig überschritten hatte, saß er ausgepumpt und doch zufrieden auf der Terrasse, war froh, daß er keinen Notdienst mehr hatte, nicht mehr in Bereitschaft sein mußte. Es lebe die Beamtenlaufbahn; lieber drei dicke Berichte lesen, als mitten in der Nacht ins Auto steigen, weil jemand sich vor Schmerzen krümmte oder ein Kind zu hohes Fieber hatte. Johanna dagegen arbeitete noch genauso hart wie früher und reiste gerade für ihren Pharmakonzern nach Kopenhagen und Stockholm, um seine Arztkollegen von der Überlegenheit der neusten Antidepressiva zu überzeugen, Pillen, die sie selber nie brauchen und nehmen würde.

Kein Lüftchen regte sich. Der Apfelbaum spendete wohltuenden Schatten. Bouw nahm den ersten Schluck von seinem Whisky. Er amüsierte sich wieder einmal über das Firmenzeichen der zwei ineinander verschlungenen Hände mit der Unterschrift »De Leidsche Courant reicht die helfende Hand« im Kopf der Zeitung und begann träge die Seiten umzublättern. Ein Foto der mit Teichrosen übersäten Rapenburg-Gracht. Reptilienschau im Botanischen Garten. Der Preis von Brechbohnen auf dem Gemüsegroßmarkt. Kunst. Musiktips. Er faltete die Zeitung in der Mitte zusammen und begann zu lesen:

HÖHEPUNKTE DER NIEDERLÄNDISCHEN
KLAVIERKUNST AUF CD

Die Landschaft der holländischen Klavierkunst hat kaum hohe Berge zu verzeichnen. In jeder Generation hat es bestenfalls einen Virtuosen gegeben, dem der internationale Durchbruch gelang, doch tonangebend waren die Niederlande auf diesem Gebiet nie. Interessanter als die wenigen herausragenden Ausnahmeerscheinungen im Mainstream sind jedoch Pianisten gewesen, die – wie Gold, Biermans und Laagland – zwar selten über unsere Grenzen hinaus bekannt wurden, aber durch eigenwillige Interpretationen zu begeistern wußten. Zu dieser Gruppe gehört zweifellos auch Wanda Wiericke. Im Gegensatz zu ihren Kollegen wurde sie in den siebziger Jahren auch international zu den absoluten Topvirtuosen gerechnet. Der ältere Musikliebhaber wird ihr Repertoire für Soloklavier, von Classic Records auf Schallplatte gebannt, sicher noch im Schrank haben. Wiericke wurde vor allem mit ihrer Interpretation der Goldberg-Variationen berühmt, und keinem gelang es wie ihr, in fragmentierten Kompositionen wie den Études tableaux von Rachmaninow und, ihr größtes Verdienst, den Préludes von Chopin die große Linie beizubehalten.

CR, wo sie unter Vertrag stand, plante eine CD mit diesen Préludes und dem Wohltemperierten Klavier von Bach. Leider kam es nicht mehr dazu, da Wanda Wiericke Anfang der achtziger Jahre krankheitsbedingt gezwungen war, sich aus dem Musikleben zurückzuziehen.

Die Wiericke-Edition, die nun auf CD erscheint, wurde aus analogen Schallplattenaufnahmen zusammengestellt. Sie läßt uns eine leidenschaftliche Pianistin hören, die ihr Temperament zu zügeln versteht und sich durch eine perfekte, immer im Dienste der Musik stehende Technik auszeichnet. Im Laufe der kommenden Jahre wird CR insgesamt zehn CDs mit den besten Einspielungen dieser faszinierenden Künstlerin auf den Markt bringen. Sehr empfehlenswert!

Wanda. Bouw legte die Zeitung auf den Tisch. Mußte man über das Wohl und Wehe seiner geschiedenen Ehefrau auf dem laufenden sein? Lieber nicht, vielleicht. Er hatte ihre Musik seither nicht mehr gehört, er konnte es nicht ertragen. Wanda. Wie hieß dieses Schlitzohr, dieser Agent von ihr? Den würde er morgen anrufen. War sie immer noch in Amerika? Hatte sie wieder geheiratet?

Er stand auf und reckte sich. Es ging bereits auf acht Uhr zu, und dennoch war der Himmel so gleißend blau, daß seine Augen plötzlich in Tränen schwammen.

4

Die Fußbodenfliesen der Diele sind glatt, schwarz und weiß. Sie riechen verschieden, und mit der Zunge kann das Kind fühlen, wo eine schwarze Fliese an eine weiße grenzt. Morgens wischt Stina den Dielenboden mit Seifenwasser und schrubbt mit einem Stück von einer alten Decke über die Fliesen, bis sie glänzen. Stina kniet. Wanda krabbelt neben ihr auf dem Boden.

»Na komm«, sagt Stina. Wanda darf sich auf ihren breiten Rücken setzen: Stina, das Pferd. Die Sonne scheint durch das farbige Glas über der Tür und wirft wässrige Flecken auf den Boden. Sie wandern von einer Fliese zur nächsten, klettern am schwarzen Schirmständer empor, die Garderobe hinauf, verfärben Wandas Mäntelchen und, weiter oben, die Mäntel der Mutter.

In der Küche trinken sie Kaffee und Milch. Wanda, Emma und Stina. Auf dem großen Tisch liegen Messer, Gabeln und Löffel. Die beiden Frauen polieren die Gabeln, bis sie blitzen. Wanda bekommt ein Flanelltuch, um ihr eigenes Besteck zu putzen. Sie lehnt an Emmas Knie und riecht die saubere Baumwollschürze, das Putzmittel, das Parfüm.

Die Frauen lachen. Emma hat heute nachmittag Probe, und Wanda bleibt bei Stina. Sie werden im Garten Bohnen pflücken und zusammen die Himbeersträucher abgehen; vielleicht ist genügend dran fürs Abendessen. Ganz hinten im Garten stehen Birn- und Pflaumenbäume. Auf der Erde liegen kleine, harte Birnen, die Wanda in ihren Puppenwagen liest. Der Garten, das ist die Sonnenseite des Hauses.

Von der schwarzweiß karierten Diele aus führt eine steile Treppe nach oben, zu Egberts Arbeitszimmer, in dem es nach Tabak und Staub riecht. Wenn Stina dort saubermacht, muß Wanda vor der Tür warten. Sie rennt ungeduldig hin und her, ist nun selbst ein Pferd, das sich aufbäumt und galoppiert.

 

Im Garten legt sie sich zwischen die Himbeerspaliere, in ein langes Bett aus Gras. Die Himbeeren zeichnen sich als dunkle Flecken gegen die grünen Blätter ab, je länger sie hinsieht, desto zahlreicher und größer werden sie.

Zwischen den beiden grünen Wänden ist ein Himmel mit wandernden Wolken, die sich immer wieder zu etwas Neuem zusammensetzen. Kühe, Hasenohren, Gesichter. Wanda hört die Bohnen in den Eimer fallen, plock, plock. Immer dumpfer wird das Geräusch, bis der Eimer voll ist. Augen zu. Stinas gurgelndes Lachen weckt sie auf.

»Komm ruhig, sie sind beide weg, ich bin mit der Kleinen allein.«

Ein schwerer Gegenstand rumst auf den Boden. Wanda hört ein Klicken wie von einem aufspringenden Kofferschloß, dann einen tiefen, langen Seufzer.

»Ich mach uns was zu trinken«, sagt Stina.

Ein Lied kommt durch den Garten geweht, es hat einen brummenden Ton, der die Melodie vorantreibt. Wanda liegt wie gelähmt zwischen den Himbeersträuchern. Es klingt wie eine Grammophonplatte aus dem Arbeitszimmer, aber doch auch wieder ganz anders.

Wanda steht auf und rennt zu der Musik. Auf der Bank, die neben der Küchentür an der Hauswand steht, sitzt ein Mann mit einer Schirmmütze. Auf den Knien hat er eine Art Kasten, den er zusammendrückt und wieder auseinanderzieht. Auf der einen Seite des Kastens ist ein senkrecht stehendes kleines Klavier, auf der anderen eine doppelte Reihe von Knöpfen. Der Mann drückt auf die Knöpfe und Tasten, ohne hinzusehen, und tippt dazu mit einem Fuß auf den Boden. Wanda rennt zu ihm hin, bremst aber kurz vor ihm plötzlich ab. Stina kommt aus der Küche, eine Kanne Limonade in der Hand.

»Komm her, schau, das ist was für dich! Eine Ziehharmonika. Und das ist Koos.«

Wanda stellt sich dichter zu Koos, damit sie das Instrument besser hören kann.

Der Mann sieht sie kurz an und zwinkert ihr zu. Immer wenn die Melodie am höchsten steigt, hält er inne, um sie im nächsten Augenblick wieder weiterrollen zu lassen.

Stina schenkt Limonade ein. Sie setzt sich neben Koos auf die Bank.

Bevor der Vater nach Hause kommt, ißt Wanda mit Stina in der Küche. Stina legt den Zeigefinger auf die Lippen: »Schnute halten, ja? Koos ist unser Geheimnis, versprochen?«

Wanda legt die ganze Hand auf den Mund und nickt. Sie wiegt sich hin und her und singt das Lied, das sie im Garten gehört hat.

 

Im Eßzimmer stehen die Stühle mit den hohen Rückenlehnen und dem weichen Polsterstoff. Egberts Stuhl hat als einziger Armlehnen. Wanda ist frisch gebadet und setzt sich auf den Schoß der Mutter. Auf dem Tisch steht eine Schale Himbeeren. Egbert starrt auf die Zeitung auf seinem Schoß. »Du solltest es nicht tun, Emma, nicht jetzt. Es wird falsch aufgefaßt.«

»Es ist doch nur Musik! Und der Dirigent ist Niederländer!«

»Aber du singst auf deutsch.«

Emma schweigt. Sie summt eine Walzermelodie in Wandas Haar. Nach einer Weile schaut sie auf und sagt: »Jetzt die Fledermaus, und in der nächsten Saison eine französische Operette, das verspreche ich dir!«

Egbert seufzt und setzt sich mit der Zeitung unter die Leselampe.

Emma stellt ruhig die schmutzigen Teller und Gläser auf das Tablett.

 

Wanda hopst durch die offenen Schiebetüren ins Wohnzimmer, wo der große schwarze Flügel steht. Er hat drei dicke Beine, die nach unten hin schmaler werden und in kleine Räder münden, die jeweils auf einem Untersetzer aus Ebenholz stehen. Wenn man unter dem Flügel sitzt, das weiß Wanda, sieht man, daß sein Bauch nicht schwarz ist, sondern holzfarben: der glänzend lackierte Boden ist auf dicke Rippen geleimt. Zwei Stahlseile führen zu den goldenen Pedalen, die in eine schwarze, kurz über dem Boden endende Säule eingelassen sind.

Vor dem Flügel steht ein breiter Hocker, auf den Wanda hinaufklettert, damit sie an die Tasten kommt. Sie zieht das Deckchen weg, das auf der Tastatur liegt: Inseln aus jeweils zwei und drei erhöhten schwarzen Tasten in einem Meer aus matt glänzenden weißen. Kniend sucht Wanda das Lied, das sie heute nachmittag gehört hat, den wiegenden Gang von einem schweren und zwei leichten Tönen, über denen die Melodie tanzte. Sie findet, was sie sucht, spielt die schweren und die leichten Töne und denkt sich das Lied dazu.

Auf einmal steht die Mutter hinter ihr und summt mit. Jetzt wird Wandas Klavierspiel von einem richtigen Lied begleitet; es ist nicht ganz dasselbe wie das, das Koos gesungen hat, aber es hat Ähnlichkeit damit. Emma setzt sich ans Klavier und nimmt Wanda auf den Schoß. Mit dem Fuß gibt sie jedem Grundton, den ihre Tochter anschlägt, einen Hauch Pedal. Der Klang wird voller, hallt kurz nach, wenn die Taste schon wieder oben ist, und vermischt sich so mit den darüberliegenden leichten Tönen. Emma singt lauthals: »Glücklich ist ... wer vergißt ... was doch nicht zu ändern ist«, ihre Hände spielen nun auch und machen den Zusammenklang noch voller. Wanda hat rote Bäckchen bekommen und singt mit.

»Höchste Zeit, daß Wanda ins Bett kommt.«

Egbert steht neben dem Flügel. Er sieht aus, als wollte er den Deckel zuschlagen und Emma wegziehen.

Im Bett schlägt Wanda mit der linken Hand einmal gegen das schwere Kopfende, dann tickt sie zweimal leicht mit der rechten gegen die Bettkante. So baut sie das Lied auf, so kann sie weitersingen, ohne daß jemand sie hört, ohne daß ihr Vater sie stört. So kann sie sich stets etwas Neues für das Lied ausdenken, so daß es immer, immer weitergeht.

 

Es ist Sommer. Wanda und Emma sind mit dem Auto nach Egmond gebracht worden, zu einem weißen Haus, das auf einer Düne steht. Aus dem Dach hat man ein großes Viereck ausgespart und das Eckzimmer so zur Terrasse gemacht. Dort essen sie abends, mit dem Teller auf dem Schoß. Die Wellen rollen so heftig heran, daß sie sich überschlagen, und laufen den Strand hinauf, so weit sie können.

Wenn Egbert kommt, essen sie drinnen, am Tisch mit der karierten Decke. Vorher fegen sie aus, Emma mit dem großen Besen, Wanda mit dem kleinen. Haufenweise Sand auf den roten Fliesen. Wenn Egbert nicht da ist, sitzt Emma abends auf der Terrasse und liest. Wanda in ihrem Bett hört den Wellen zu.

Der Strandkorb ist wie ein kleines Zimmer. Man kann gut zu zweit darin sitzen. Wenn Wanda am Wasser spielt, macht Emma es sich bequem und liest. Der Strandkorb hat kornblumenblaue Polster. Von Zeit zu Zeit schaut Wanda auf, um zu sehen, ob ihre Mutter in dem weißen Kleid noch in den blauen Polstern sitzt.

Einmal am Tag laufen sie mit den Sandalen in der Hand zur Treppe. Auf den unteren Stufen versinken die Füße im Sand; erst wenn sie oben angekommen sind, schlüpfen sie in die Schuhe und spazieren auf der Strandpromenade zur Kaffeeterrasse. Sandkörnchen scheuern auf der Haut.

Um die runden Tische herum stehen weiße Stühle mit Lehnen aus verschnörkeltem Schmiedeeisen. Wanda sieht den Spatzen zu, die von Stuhl zu Stuhl fliegen.

Ein Glas Brause, ein Kännchen Tee.

»Kann ich hier irgendwo telefonieren?« fragt Emma den Kellner.

Er weist hinter sich auf das Haus: »Hinten im Gang.«

Bin gleich wieder da, sagt Emma. Die Eisenschnörkel im Nacken tun weh. Ein Spatz setzt sich auf den Kuchenteller, seine schwarzen Füßchen wie Drähte um den Rand gekrallt. Er pickt in den Kuchen und legt den Kopf schief, als schaute er Wanda an.

Sitzen bleiben, mucksmäuschenstill, bin gleich wieder da.

 

Abends steht Emma unter der Dusche und singt. Vor dem kleinen Spiegel im Schlafzimmer steckt sie sich die Haare hoch. Gut riechende Creme auf die Wangen. Lippenstift. Sie beißt in ihr Taschentuch: ein Mund aus zwei roten Strichen. »Hier, ein Kuß für dich. Wir machen ein bißchen Parfüm drauf.«

Wanda atmet tief durch die Nase ein. Etwas ist anders als sonst, aber was?

»Kommt Papa nachher?«

»Nein, Kind, am Samstag.«

Emma sieht in den Spiegel, leckt ihren Finger an und fährt sich damit über die Augenbrauen.

 

Die Vorhänge sind dunkelblau. Darunter ein Streifen Licht, der über Wandas Bett streicht. Es ist hier alles anders, aber wenn sie ein Lied singt, wird es gleich wie zu Hause. Sie summt, erst zaghaft, mit der Bettdecke über dem Kopf, dann laut und quer durchs ganze Zimmer. Das Lied hat keine Worte.

Als sie wach wird, ist das Licht unter dem Vorhang verschwunden. Sich aufsetzen. Über die Kante hinweg aus dem Bett krabbeln.

»Mama?«

Es ist dunkel auf dem Flur. Wanda muß aufs Klo, aber der Lichtschalter in der Toilette ist zu hoch, und ohne Licht fürchtet sie sich. Auch im Wohnzimmer ist es dunkel. Sie stemmt die Tür zur Terrasse auf. Niemand. Das Meer rauscht leise, die Wellen bewegen sich ganz vorsichtig. In der Ferne sind die Lichter der Strandpromenade zu sehen. Wanda klettert über das Steinmäuerchen und geht auf die Lichter zu, die zerbrochenen Muschelschalen tun an den Füßen weh. Sie fängt an zu rennen, damit die Lichter schneller näher kommen.

Die Strandpromenade ist mit glatten, grauen Steinen gepflastert. Die Terrassen sind erleuchtet, alle Türen stehen offen, die Menschen, die vorbeispazieren, unterhalten sich laut. Wanda setzt sich auf die Bordsteinkante und legt den Kopf auf die Knie. Aus dem Restaurant hinter ihr erklingt Musik. Die Luft ist warm.

Plötzlich sitzt Emma neben ihr. Wanda legt den Kopf an den dünnen Stoff ihres Kleides. Sie weint, dicker Rotz läuft ihr aus der Nase.

Auf einmal kann sie es nicht mehr zurückhalten. Zwischen ihren Füßen breitet sich ein kleiner Bach aus. Die Pyjamahose ist naß.

Emma hebt ihre Tochter hoch und trägt sie nach Hause. Ihre hohen Absätze klappern auf dem Steinpflaster. Bei jedem Schritt spürt Wanda die spitzen Nägel der Mutter in ihren Oberschenkeln.

5

Die Möbelpacker schraubten die Beine unter den Flügel und fragten, wo das Instrument stehen solle. Wanda wies wortlos auf den Teppich vor den Balkontüren. In der Küche machte sie Kaffee und suchte nach Geld, das sie ihnen zustecken konnte.

Von dem Kaffee tranken sie kaum etwas, redeten schnell und laut miteinander und rauchten starke Zigaretten. Wanda saß auf einem Küchenstuhl und massierte sich die Daumengelenke. Über die Männer hinweg schaute sie ins Wohnzimmer. Sie hätte sich eigentlich einen anderen Flügel kaufen müssen, einen französischen Pleyel. Aber sie konnte den leichten Klang nicht ausstehen. Alles nur Verzierung, Oberfläche. Am liebsten mochte sie die Instrumente mit den deutschen Namen: Schirmer, Bechstein, und vor allem Bösendorfer. Steinway: zu glatt, zu hart, aber zuverlässig, das wohl. Wenn die Kerle doch nur gingen. Sie kam sich vor wie die ungeduldige Pianistin, die es kaum noch erwarten kann, loszulegen. Doch sie wußte nicht mehr, wie es war, sich mit einem Klang im Kopf, mit einem Plan für die Steuerung von Armen und Fingern an den Flügel zu setzen. Oder nein, sie wußte es vielleicht noch, spürte es jedoch nicht mehr.

Aufstehen, Hände schütteln, sich bedanken, die Treppe hinuntergehen. Unten gab Wanda den Möbelpackern nochmals die Hand, ehe sie die schwere Haustür hinter ihnen schloß. Wieder oben, machte sie auch die Wohnzimmertür hinter sich zu. Gut ein Drittel des Zimmers wurde von dem schwarzen Instrument in Beschlag genommen. Verrückt war sie gewesen, verrückt, daß sie so viel Geld für das Ding ausgegeben hatte, das Ungetüm, das Monstrum. Dazu die Möbelpacker, ein Kranführer und nächste Woche ein Klavierstimmer. Der reine Irrsinn war das. Als könnte sie mit diesen verkrümmten Händen spielen, als könnte sie mit ihrem schiefen Rücken auf einem Schemel ohne Lehne sitzen. Warum hatte sie nicht alles beim alten belassen? Wenn sie die Musik vermißte, konnte sie immer noch eine Partitur lesen oder eine Platte auflegen.

Sie setzte sich aufs Sofa und starrte den Flügel an. Sofort spürte sie wieder die Schmerzen in den Handgelenken und Daumen, zog die Ärmel ihres Pullovers herunter und klemmte die so verpackten Hände unter die Achseln.

Wenn sie früher Kopfschmerzen oder Muskelkater gehabt hatte, ging das vorüber, wenn sie spielte. Das Wundermittel war nicht die Musik, sondern das Üben. Training und Bewegung. Innerhalb von zwanzig Minuten spielte sie im stillen Kämmerlein mit großen Arpeggios in Gegenbewegung einen steifen Nacken weg. Bouw war der einzige, der das gern hörte, er war fasziniert von dem gymnastischen, dem Arbeitsaspekt. Er könne den Klang wachsen hören und die Schnelligkeit, die zunehme wie bei einer Lokomotive, die in Fahrt komme, sagte er.

Sich hinsetzen, prüfen, ob der Schemel die richtige Höhe hatte. Man spürte es auf den Millimeter genau und ohne jeden Zweifel. Dennoch hatte sie ihre Stuhlhöhe im Laufe der Jahre mehrmals verändert. Hoch zu sitzen bedeutete mehr Macht und Übersicht, man konnte mit schweren Armen auf die Tasten einhämmern. Ein zu hoher Stuhl machte den Klang hohl und forciert, die Arme konnten nicht mehr fallen, sondern nur noch drücken und schlagen, der Rücken hatte nicht genug Raum. Also tiefer. Vorteil: Die Hände hingen an der Tastatur, der schönste Legatoklang entstand wie von selbst, weil die Finger am Elfenbein klebten. Der tief sitzende Pianist nahm seine Ellenbogen sehr bewußt wahr. Irgendwann jedoch piekste er sich damit in den Bauch und kurbelte den Schemel wieder hoch. Die beste Sitzhöhe war immer ein Kompromiß: tief genug, um die Schwere der Unterarme zu spüren, und hoch genug, um den gesamten Arbeitsbereich zu überschauen. Gewicht auf dem hinteren Teil des Gesäßes. Geschlecht in Berührung mit dem Sitz. Fersen auf dem Boden, rechter Fuß locker zum Pedal hin angehoben, am besten ohne Schuhe, so daß der Fußballen und der Zehenansatz unmittelbar das Metall berührten, ein umgekehrter Löffel. Das Rückgrat von unten her aufrichten, nicht hohl, sondern kerzengerade und über dem Becken im Gleichgewicht, die Arme heben, hoch, hoch, und dann fallen lassen, Schultern lockern, bis der Nacken völlig frei war, der Kopf denken konnte und die Hände taten, was sie tun mußten.

Vorsichtig drehte Wanda die Handgelenke hin und her und betrachtete die Schwellungen. Die Hände gehorchten nicht mehr; morgen würde sie sie strafen und in stinkendes Wasser tauchen.

Sie ging am Flügel vorbei, ohne ihn zu berühren, und öffnete die Balkontüren. Das Dorf lag in der tiefgelben Glut der Abendsonne; von der Kneipe her waren Stimmen zu hören und Abwaschgeklirr, ansonsten war es still im Tal, kein Laut. Mit der Plastikgießkanne gab sie Lavendel, Thymian und Rosmarin Wasser. Dann setzte sie sich zwischen die duftenden Töpfe, den Rücken zum Zimmer mit dem schwarzen Eindringling.