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Vorwort

Wissen Hunde, dass sie Hunde sind?

Hunde beschäftigen sich garantiert herzlich wenig damit, wer sie sind und was ihr „Hundsein“ ausmacht. Im Idealfall sind sie nämlich viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Hundeleben zu genießen!

Aber wir Menschen neigen dazu, uns ständig Fragen über das so vertraute und doch andersartige Wesen Hund zu stellen, mit dem wir unser Leben teilen. Wir würden zum Beispiel zu gerne wissen, wie ein Hund aus seiner Perspektive die Welt erlebt, ob er beim Familientreffen seine Geschwister und Eltern wiedererkennt, was er über unsere Gefühlswelt weiß oder was genau unser Hund tatsächlich von den Wörtern versteht, mit denen wir täglich auf ihn einreden.

Eine Auswahl der Führungsriege internationaler Kanidenforscher (Günther Bloch, Marc Bekoff, Alexandra Horowitz, Kurt Kotrschal, Ádám Miklósi, Juliane Kaminski, Udo Gansloßer und Dorit Feddersen-Petersen) beantworten in diesem Buch je acht Fragen und geben Einblicke in aktuelle und zukünftige Forschungsvorhaben ihrer jeweiligen Fachgebiete. Mein großer Dank gilt diesen Menschen: für ihre spannende Arbeit und für die Zeit, die sie sich für meine Interviews genommen haben. Ihre Antworten fallen bunt und vielfältig aus und zeichnen ein neues Bild vom Hund, das uns deutlich macht, wie spannend und faszinierend die Welt aus Hundesicht ist. So wissen Hunde, wie man am besten lautlos und ohne erwischt zu werden Futter klaut, sie können wahrscheinlich erahnen, was andere Hunde und Menschen als nächstes tun möchten oder wie sie sich in einer bestimmten Situation fühlen.

Am Ende können wir uns mit einem sicher sein: Hunde wissen umso mehr über sich selbst und andere, je intensiver wir sie Hund sein lassen. Wie das geht? Ganz einfach, wir sollten unseren Hund im Leben viel erleben und möglichst viel an unserem Alltag teilhaben lassen, er soll mit Kumpels über Wiesen toben oder streiten dürfen, dem Nachbarshund hin und wieder einen Knochen klauen können, mit uns spielen und zusammenarbeiten als Team – also jeden Tag in vollen Zügen genießen, ein glücklicher Hund sein!

 

Viele spannende Einblicke in die Welt der Hunde wünscht Ihnen

Kate Kitchenham

© Kate Kitchenham

Günther Bloch: Wie viel Wolf steckt im Hund?

Günther Bloch:
Wie viel Wolf steckt im Hund?

© Helga Drogies

Der Wissenschaftler im Porträt

Als Junge wollte der kleine Günther eine Tierpflegerin aus dem Kölner Zoo heiraten. Er hielt sich so oft wie möglich zwischen den Tieren auf, schaute, schnüffelte und war fasziniert von der Vielfalt an Daseinsformen und Elke, die zu fast allen Gehegen freien Zugang hatte. Leider hat er sich nie getraut, sie anzusprechen, doch einen anderen Traum hat er sich zu verwirklichen gewagt: wilden Tieren ganz nah zu sein. Fast täglich fährt er heute mit dem Geländewagen im Winter durch die Kälte der kanadischen Berge, sucht die Talsohlen und Berghänge nach Wölfen ab. Dabei wird er unterstützt vom leisen Wuffen seines Wolfsanzeigers, dem Laika-Rüden Timber, der ihm schon oft verraten hat, wo sich seine Studienobjekte verstecken. Für tiefe Einblicke in das Leben seiner Wolfsfamilien harren die beiden so Stunden, Tage, manchmal Wochen zusammen in einem Beobachtungsposten aus, im Sommer umgeben von tausenden Moskitos, in ständiger Erwartung, den Finger stets am Abzug der Filmkamera. Denn wenn sich diskret und leise hinten am Waldrand eine Wolfsfamilie zeigt, heißt es ruhig und besonnen reagieren und filmen oder fotografieren. Denn die hoch intelligenten Tiere verschwinden manchmal genauso schnell wieder, wie sie plötzlich aufgetaucht sind.

© Imke Lass

Auch nach 25 Jahren ist dieser Ausblick noch atemberaubend. Timber gibt Günther Bloch leise Hinweise, sobald er einen Wolf wahrnimmt.

Über Umwege zum Wolf

Wolfsforscher zu sein ist neben aller Freude an der Arbeit also vor allen Dingen eine ewige Geduldsprobe und knüppelharter Alltag.

Neben einer großen Leidenschaft für diese faszinierenden Tiere braucht man deshalb eine mindestens ebenso große Portion Sturheit. Die bringt Günther Bloch als Kölner Jung von Natur aus mit. Und so erscheint es fast, als sei sein Weg von Elke aus dem Kölner Tiergarten in die Wildnis Kanadas geradlinig und konsequent verlaufen. Doch wie so oft ist es schwierig, diesen Faden zu sehen, wenn man mitten im Leben steckt. Auch Günther Bloch musste Umwege gehen und fand den Weg zum Ziel schließlich über Zufälle, wichtige Bekanntschaften und seine große Lernbereitschaft. Geholfen hat ihm mit Sicherheit auch die Fähigkeit, Altgelerntes über den Haufen werfen und von anderer Warte aus neu betrachten zu können: Er begann seine Karriere als einer der ersten Dogsitter Deutschlands, die ersten Gassirunden waren noch Freundschaftsdienste für gute Bekannte. Sein Händchen für den Umgang mit Hunden sprach sich schnell herum und er konnte bald anfangen, mit Training und Spaziergängen Geld zu verdienen und den eher einseitigen Job als Reisebürokaufmann an den Nagel zu hängen. In einem klassischen Schäferhundeverein der achtziger Jahre machte er nebenbei die ersten Schritte als Trainer und gründete schließlich, auch inspiriert durch den Kontakt zum Forscher Eberhard Trumler, seine bekannte „Hunde-Farm Eifel“.

Fortan bereicherte er 30 Jahre lang mit seiner unkonventionellen, manchmal schmerzhaft direkten, aber dann wieder fröhlich mitreißenden Art die deutsche Hundetrainerszene und machte sich schnell einen Namen als Ratgeber für Hundebesitzer, Hobby-Forscher und Studenten, die an seiner Pension Beobachtungsstudien an Haushunden durchführten.

Er selbst streckte parallel zu seiner Trainertätigkeit schon früh die Fühler in Richtung Ethologie und Verhaltensbiologie aus: Im Wolf-Park/USA von Dr. Erich Klinghammer untersuchte er zunächst als Volontär ab 1990 das Verhaltensrepertoire an Gehegewölfen und schloss 1991 Freundschaft mit dem berühmten Verhaltensökologen Paul Paquet. Der kanadische Wissenschaftler war damals Leiter der „Canid Ecology Study“. Es hat zwischen den beiden Männern sofort „gefunkt“. Nicht nur, dass sie als ehemalige Hippies den gleichen Musikgeschmack pflegten, sie waren auch „Hundefreaks“, wollten Wölfe freilebend beobachten und beide gestanden diesen hochsozialen Tieren Emotionen wie Trauer und Glück zu – zur damaligen Zeit noch eine sehr gewagte, umstrittene Ansicht.

Zuhause in Deutschland gründete Bloch derweil gemeinsam mit Elli Radinger und anderen Anfang der Neunziger die „Gesellschaft zum Schutz der Wölfe e. V. “, in den kanadischen Rocky Mountains verlegte er etwa zur gleichen Zeit seinen Studienschwerpunkt in den Banff Nationalpark. Jedes Jahr kam er für einen Beobachtungszeitraum von Anfangs zwei, später vier und schließlich sogar sechs Monaten hierher, um das komplexe Sozialverhalten „seiner“ Timberwölfe zu dokumentieren.

Was vom Wolf im Hunde übrig blieb, studierte Günther Bloch parallel in Italien zwischen 2005 und 2007 an mehreren verwilderten Haushundegruppen: Sein „Tuscany Dog Project“ wurde von Udo Gansloßer wissenschaftlich begleitet und hat fünf faszinierende Diplomarbeiten zum Gruppenverhalten von Hunden zu Tage gefördert (Die Pizza-Hunde, Kosmos 2007).

Doch nach jedem Aufenthalt in Kanada fiel ihm der Abschied von den Wolfs- und Rabenfamilien, die eng zusammenleben, schwerer. 2007 beschloss er schließlich, gemeinsam mit seiner Frau Karin und zwei Hunden auszuwandern.

© Helga Drogies

Günther Blochs Herz schlägt für den Laika, eine russische Rasse mit starkem Charakter und feinen Sinnen. Ideal, um scheue Wölfe aufzuspüren.

Über 25 Jahre Wolfsforschung

Zusammen mit seinen vorangegangenen Verhaltensforschungen und der vor über 15 Jahren in enger Zusammenarbeit mit den Carnivore-Spezialisten Mike Gibeau und Paul Paquet gegründeten „Bow Valley Wolf Behaviour Study“, ergibt sich bis heute ein Beobachtungszeitraum von über 25 Jahren. Ganze Generationen von Wolfs- und Kojoten-Familien hat er auf diese Weise begleiten, ihre Dynastien und ihr Auseinanderbrechen detailliert studieren können.

Solche Langzeitdokumentationen sind selten, aber enorm wichtig: Sie können unter anderem Dynamiken in Populationen zeigen und wie diese von den sich stark verändernden Lebensumständen geprägt werden.

Dazu protokolliert Bloch unter anderem das koordinierte Jagen im Rudelverband, beobachtet Einzeljagden, verfolgt kurzfristige Streitereien, Wiederversöhnungen. Er betrachtet verstorbene Wolfsindividuen sehr genau, um zu ergründen, was zu ihrem Tod geführt hat und welche Verletzungen und Knochenbrüche sie erstaunlicherweise überlebt haben. Er sammelt Wolfskot ein und lässt ihn untersuchen, um über genetische Analysen die Verwandtschaftsverhältnisse der verschiedenen Individuen belegen oder erkennen zu können und woraus sich der Speiseplan der Wölfe im Laufe eines Jahres zusammenstellt.

Auf diese Weise setzt sich das Puzzlebild der Verhaltensökologie des Wolfes immer deutlicher zusammen, wir erfahren mehr über die Beziehungen der verschiedenen Individuen untereinander, können Lebensgeschichten nachzeichnen, erfahren im Nachhinein, was ihre Anpassung im Lebensraum und den Umgang mit Ressourcen bestimmt hat.

© Helga Drogies

Wölfin Yuma versorgt ihre verletzte jüngere Schwester mit Futter – eine Krankenpflege, die Günther Bloch mehrfach dokumentieren konnte.

 

Denn wie entspannt das hoch soziale Leben im Gruppenverband ist und wie gut manche Wölfe trotz aller Territorialität mitunter sogar mit ihren benachbarten Artgenossen auskommen, hängt immer von der ökologischen Situation ab, die im Falle von Banff zumindest saisonal definitiv von Massentourismus und viel Verkehr geprägt wird. Durch den langen Beobachtungszeitraum von mehreren Dekaden konnte Günther Bloch unter anderem protokollieren, wie seine Wölfe mit diesen Veränderungen ihrer Lebenswelt umgehen.

So bekommt man sie in den letzten Jahren zum Beispiel immer seltener zu Gesicht und wenn doch, dann ist die plötzliche Präsenz oft ein Ablenkungsmanöver. Günther Bloch ist sich sicher, dass erwachsene Wölfe die Strategie entwickelt haben, Touristen durch plötzliches Erscheinen und Fortlaufen von den Höhlenkomplexen wegzulocken. Solche Methoden kann ein Forscher nur nachvollziehen, wenn er die einzelnen Individuen genau kennt, Geschichten zu ihnen, ihrer Persönlichkeit und ihrem Leben erzählen kann.

Derzeit konzentrieren sich Bloch und Paquet auf das Thema Persönlichkeit. Dieser Fokus ist spannend, da er sich mit der Frage überschneidet, wie Gefühle von Individuen unterschiedlich geäußert werden: „Wir sind nicht alle instinktiv gleich, Gefühle werden anders gezeigt und verarbeitet. Dadurch kann es in ähnlichen Situationen zu ganz unterschiedlichen Beobachtungen kommen.“ Für Günther Bloch gehören Gefühle wie Trauer und Glück zu einem Wolfsleben dazu, auch wenn er diese Emotionen rein wissenschaftlich natürlich nicht hundertprozentig beweisen kann. „Aber“, so sagt er, „die anderen können doch das Gegenteil auch nicht beweisen. Wo ist der wissenschaftliche Beweis, dass Menschen eine Seele oder Tiere keine Gefühle haben?“ Ganz im Sinne von Bekoff argumentiert er, dass, solange kein Gegenbeweis vorliege, wir besser von dem Vorhandensein dieser Gefühle ausgehen sollten. Man merkt schnell: Dieser Mann gibt Vollgas wenn es um „seine“ Wölfe und Hunde geht. Doch im letzten Jahr hat sein Körper die Reißleine gezogen: mitten bei einer Wolfsbeobachtung erlitt er einen Herzinfarkt. Als Folge ist er nun gezwungen, etwas weniger zu arbeiten, und musste sein geliebtes Rauchen nach 45 Jahren und „einer Tagesration von an die 30 Glimmstängeln“ aufgeben. Wenn er davon berichtet wird deutlich, dass er die Einhaltung des ärztlichen Ratschlags, auf die Zigaretten zu verzichten, nur mürrisch befolgt. Auch hier bricht wieder der Kölner Sturkopf durch. Er raucht zwar strikt nicht mehr, kann sich aber nicht verkneifen abschließend zu bemerken: „Außer ein bisschen mehr Luft in der Lunge kann ich keinen Vorteil im rauchfreien Leben erkennen.“

© Helga Drogies

Wölfe lernen viel von ihren Eltern, passen diese Strategien aber an ihre aktuellen Lebensbedingungen an.

Fragen an Günther Bloch

1. Du unterbrichst deine Forschungen in Kanada jedes Jahr und hältst mehrere Wochen Vorträge in ganz Deutschland. Dabei nimmst du dir jedes Mal viel Zeit für die Fragen deiner Zuhörer. Ist dir der Kontakt zu ganz normalen Hundehaltern wichtig?

Ich fühle mich normalen Hundehaltern viel mehr verpflichtet als irgendwelchen wichtigen Größen der „Szene“. Ich bin ja selber kein studierter Wissenschaftler, trage keine Titel. Aber ich arbeite stets so methodisch wie irgend machbar. Mit anderen Worten: Meine Verhaltensbeobachtungen müssen immer nachvollziehbar sein, ein anderer muss das jederzeit wiederholen können.

Meine Verbundenheit zur „Basis“, also dem ganz normalen Hundehalter, kommt vielleicht daher, dass ich selber so angefangen habe: Ich hatte einen eigenen Hund und habe irgendwann anderen Freunden mit der Betreuung ihrer Hunde geholfen. Und dann habe ich mein erstes Buch von Eberhard Trumler gelesen und dachte: Der spinnt! Aber mein Besuch in seiner Station der Gesellschaft für Haustierforschung in Wolfswinkel war eines der Dinge in meinem Leben, die mich zutiefst beeindruckt haben. Er hat vergleichende Studien an Dingos und Pariahunden durchgeführt, um mehr über den Verlauf der Domestikation des Haushundes zu erfahren. Er war ein begnadeter Beobachter, von dem ich viel lernen konnte. So entstand bei uns die erste Pensionshundehaltung in Deutschland. Hier konnte ich dann klar sehen, wie Gruppen optimal zusammengesetzt sein müssen, wer in der Gruppe zum Mobbingopfer wird und wie man am effektivsten richtig eingreift. So habe ich selber angefangen, Hunde zu „lesen“ und dieses Verhalten den Menschen zu erklären. Und schließlich haben mich all die unerzogenen Hunde in der Pension derart genervt, dass ich angefangen habe, sie zu trainieren und den Menschen zu erklären, wie sie ihre Hunde erziehen könnten. Ich war auch der Erste, der den Leuten zuhause ein Einzeltraining angeboten hat. Aus gutem Grund: Im häuslichen Umfeld entstehen die Probleme, alles andere ist für mich ein fauler Kompromiss. Hunde muss man nicht auf einem eingezäunten Platz unterrichten, sondern dort, wo die Verhaltensanpassungen und potentiellen Probleme sind: bei den Menschen zuhause oder beim täglichen Spaziergang.

2. Ist die Beziehung zwischen Hund und Mensch einzigartig?

Es gibt auch in freier Wildbahn mehrere Arten, die in der Lage sind zum Beispiel bei der Nahrungssuche zu kooperieren. So jagen Eisbär und arktischer Fuchs oder Koyoten und Dachse häufig zusammen und die kleine Vogelart „Honiganzeiger“ führt den Honigdachs regelmäßig zuverlässig zu Bienenstöcken, um ihm dann beim Öffnen der Honigvorräte zuzusehen und später zusammen zu speisen.

Hier tut man sich zusammen, um den Erfolg bei der Nahrungssuche zu optimieren. Voraussetzung ist natürlich, dass man das Verhalten der anderen Art einschätzen und vorhersagen kann. Es ist also eine frühe Form von Einfühlungsvermögen in die Fähigkeiten der anderen Spezies nötig und das Tier muss in der Lage sein, Motivationen wie das Verscheuchen von der gemeinsamen Fressstelle zurückstellen zu können.

In der Hund-Mensch-Beziehung gibt es natürlich noch viel mehr Aspekte, die über eine rein funktionale Beziehung hinausgehen. Wir teilen uns Bett, Sofa, Wohnung, Garten, unternehmen gemeinsame Aktivitäten außerhalb der Nahrungssuche, sind zärtlich und vertraut miteinander.

© Kate Kitchenham

Zwischen Mensch und Hund können sich sehr enge Bindungen entwickeln, doch auch Raben und Wölfe knüpfen Freundschaften.

 

In freier Wildbahn ist mir eine vergleichbare Form so eines soziopositiven Zusammenlebens zwischen zwei Arten nur von Wölfen und Raben bekannt: Im Banff Nationalpark konnten Paul Paquet und ich über 15 Jahre hinweg dokumentieren, wie einige Rabenfamilien im engen Kontakt mit jeweils einer bestimmten Wolfsfamilie zusammenleben. Dazu gehört, dass sie ihre Nester in der Nähe von den Höhlenkomplexen der Wölfe bauen und dadurch die Jungen zusammen aufwachsen. Wir konnten dabei nicht nur gemeinsame Streifzüge und Jagden beobachten, sondern auch ganz einzigartige Formen von spielerischer Interaktion zwischen bestimmten Raben und Wölfen, die es uns möglich machten, die schwer zu unterscheidenden Raben anhand dieser Rituale zu identifizieren. So konnte ich mehrfach beobachten, wie Raben den Wölfen an den Ruten ziehen, auch die Welpen und Jungwölfe werden „gepiesackt“. Raben genießen hier teilweise eine Form von „Narrenfreiheit“. Gleichzeitig hat das Zusammenleben auch eine deutliche Funktion: Bei der Suche nach Wild werden die Wölfe von den Raben unterstützt, sie fliegen voraus und zeigen von oben an, wenn sie etwas entdeckt haben, zum Beispiel ein geschwächtes Beutetier. Nordamerikanische Indianer haben übrigens schon lange von dieser Beziehung gewusst, sie nennen Raben „die Augen der Wölfe“. Nachdem die Wölfe gefressen haben, dürfen dann auch die Raben zuschlagen, bei besonders vertrauten Individuen stillen beide Arten sogar manchmal zeitgleich ihren Hunger an der Beute. Wer weiß, vielleicht ist diese „Offenheit“ des Wolfes für das Zusammenleben mit einer anderen Art ein Grund, warum er sich dem Menschen angeschlossen hat? Jedenfalls kann nicht mehr behauptet werden, dass die Mensch-Hund-Beziehung einzigartig ist. Auch Raben und Wölfe leben anscheinend über lange Zeiträume eng zusammen, teilen Ruheplätze, interagieren vertraut und gehen gemeinsam auf die Jagd.

© Günther Bloch

Zwischen Wolfs- und Rabenindividuen entwickeln sich enge Bindungsbeziehungen, die man an individuellen Ritualen beim Spielen und Fressen erkennen kann.

Forschungsstudie | Es gibt ein sozial-kooperatives Gemeinschaftsleben zwischen Raben und Wölfen

Im Zeitraum von 1993 bis 2002 haben Paul Paquet und Günther Bloch systematisch Langzeitbeobachtungen zum Zusammenleben von Wölfen und Raben an den Höhlenkomplexen der Wölfe im Banff Nationalpark/Kanada durchgeführt. Dabei konnte dokumentiert werden, dass es nur zwischen bestimmten Raben- und Wolfsindividuen zu einer frühen Prägung in der Jugendphase kam, die im Erwachsenenalter durch häufige soziale Interaktionen aufrechterhalten und stetig verstärkt wurde. Dies könnte möglich sein, da Wölfe genau wie Raben in monogamen Langzeitbeziehungen zusammenleben.

Die deutlich gehäufte Ansiedlung von Rabennestern in der Nähe von Höhlenkomplexen und die gemeinsamen Jagd- und Streifzüge (80 Prozent der Territoriumsexkursionen durch Wölfe fanden in Begleitung der Raben statt) unterstützt die Hypothese einer sozialen Verbundenheit zwischen Wolfs- und Rabenfamilien. Untermauert wurde diese Annahme zusätzlich durch die Beobachtung von einzigartigen, ritualisierten Verhaltensweisen zwischen den verschiedenen Wolfs- und Rabenfamilien, die einen bestimmten Grad von gewachsener Vertrautheit zwischen den Individuen nahelegen. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es sich beim Zusammenleben von Wolf und Rabe um eine Form von sozialer Langzeitbeziehung handelt, die über den Zusammenschluss als zeitweise kooperative Jagdgemeinschaft weit hinausgeht.

Bloch, Günther & Paul C. Paquet (2011): Wolf (Canis lupus) & Raven (Corvus Corax): The co-evolution of „team players“ and their living-together in a social mixed group.

© Helga Drogies

Auch zum Mensch können Rabenvögel Vertrauen fassen, sie sind wie Menschen und Wölfe hoch soziale Lerntiere.

3. Seit 24 Jahren erforschst du die Wölfe – lernst du immer noch Neues über sie dazu?

Manchmal täglich! Klar: In einem bestimmten Kontext beobachtest du immer dieselben Dinge – doch dann verhalten sie sich plötzlich ganz anders. Oft genau dann, wenn du gerade dachtest, du hättest etwas verstanden, musst du wieder ganz neu denken. Wahrscheinlich liegt es daran, dass hier Emotionen und Persönlichkeiten im Spiel sind. Aber Verhaltensweisen oder Strategien ändern sich auch, weil sich der Lebensraum durch Klimawandel und Massentourismus in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Die Wölfe müssen darauf reagieren und angepasste, also adaptive Taktiken entwickeln. Deshalb beobachte ich immer neue Verhaltensstrategien, die praktisch mit den Generationen wechseln. Der Nachwuchs lernt bestimmte Dinge von den Eltern, optimiert dieses Wissen aber während des eigenen Lebens mit den eigenen Erfahrungen. Als ich angefangen habe hier zu beobachten, gab es zum Beispiel deutlich weniger Straßenverkehr und Menschen. Wenn ein Fotograf in diese Gegend kam und ein Foto machen wollte, dann hat er zwei Stunden hinter einem Baum gestanden und geduldig gewartet. Heute in Zeiten von Facebook & Co. sind viele zu Paparazzi geworden! Wildtiere werden hier regelrecht gehetzt. Manchmal kommen die Fotografen drei- bis vierhundert Meter vor eine Wurfhöhle der Wölfe, ohne es zu wissen. Die Wölfe sind das mittlerweile gewöhnt, möchten aber verhindern, dass die Welpen entdeckt werden. Deshalb fangen sie an, die Menschen auszutricksen: Sie laufen Umwege und locken sie damit immer weiter weg von ihrer Höhle oder den Liegeplätzen. Auch ihr Heulverhalten hat sich komplett verändert. Nur wo wenig Menschen sind, wird viel geheult. Hier bei uns wollen die Wölfe nicht bekannt geben, wo sie sich gerade aufhalten oder ihre Kinder aufziehen – deshalb verhalten sie sich viel stiller als vor zwanzig Jahren. Sie möchten ihre Rückzugsgebiete erhalten, in denen sie in Ruhe ihre Welpen aufziehen können, und haben ihr Verhalten dementsprechend angepasst.

© Helga Drogies

Der Tourismus hat zugenommen, immer mehr Menschen möchten Wölfe in freier Wildbahn beobachten. Das wirkt sich auch auf das Verhalten aus.

4. Gibt es besondere Momente, die du mit Wölfen hattest?

Da gab es sehr viele unvergessliche Augenblicke! Aber die wichtigsten Momente waren für mich immer die, in denen ein Klischee über Wölfe klar wiederlegt werden konnte. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich vor einer Höhle saß, die Elterntiere mit ihren Welpen beobachtete und als aktiver Hundetrainer logischerweise auf den berühmt-berüchtigten „Nackenschüttler“ gewartet habe. Bis heute habe ich den noch nie gesehen! Und als ich überraschend feststellte, dass ein Rudelführer nicht immer männlich sein muss. Der Fähe und Leitwölfin Betty folgten schon im Winter 1997 alle 18 Familienmitglieder über einen gefrorenen See. Und in vielen anderen Situationen konnte ich immer wieder beobachten, dass das Geschlecht keine Rolle bei Führungspositionen spielt. Ich habe ja damals in den Siebzigern beim Schäferhundeverein angefangen zu arbeiten. Da lernte man, wie man als Anführer den Hund wie ein „Alpha-Wolf“ unterdrücken soll, inklusive Nackenschüttler und Kreuzwurf. Ich war da mittendrin und habe viel gelernt, positive wie negative Dinge. Die Fährtenarbeit war zwar bereits fantastisch damals – aber die Unterordnung war der Horror.

Und heute sitze ich hier vor der Höhle in der kanadischen Wildnis und sehe in der Norm total relaxte Elterntiere, die liebevoll, manchmal geradezu albern und immer souverän ihren Nachwuchs erziehen. Das sind die Momente, in denen dir der Spiegel noch einmal deutlich vorgehalten wird und du erkennst, was du damals teilweise für einen Quatsch erzählt hast. Aber genauso schön sind natürlich auch die Momente, in denen ich meine Ansichten bestätigt finde. Erik Zimen hat sich anfangs geweigert, den Wölfen Gefühle zuzugestehen, das war noch ganz normal für die damalige Zeit, in der das heftig umstritten war. Und dann hatte ich diesen Wolf Yukon, der im Winter immer auf dem Rücken einen Hang hinuntergerodelt ist und sichtlich Spaß dabei hatte. Zusätzlich konnte ich neun Mal dokumentieren, dass ein juveniler oder erwachsener verletzter Wolf vom Rest der Familie versorgt wurde. Auch Erik sprach später von Liebe im Zusammenhang mit wölfischer Paarbindung. Letztens war zum Beispiel Sunshine so massiv durch einen Zug verletzt, dass sie sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Über Monate ist dann ihre ältere Schwester Yuma so oft wie möglich bei ihr geblieben, während die Eltern auf Jagd gingen und ihr die Hälfte der Beute überließen. Sie hat nach langer Krankheit überlebt und war mit den anderen sogar im Revier unterwegs. Im Sommer 2013 war sie die Haupt-Babysitterin und passte auf die neuen Welpen auf. Natürlich gibt es auch Beispiele, in denen die Familie extrem verletzte Mitglieder zurückgelassen hat. Aber das ist selten. Meistens gibt es Tiere, die sich umeinander bei Krankheit kümmern, anscheinend ist es eine Frage des Individuums und womöglich des Verletzungsgrades und kann nicht pauschal behauptet werden. Somit ist es ein großartiges Erlebnis: Wenn man zum einen etwas berichten kann, das alte Ansichten korrigiert, und zum anderen dann damit skeptische Leute überzeugt werden können. Dies sind für mich die wichtigsten Momente in meinem Leben: Dann fühle ich, dass ich etwas geleistet habe.

© Helga Drogies

Wölfe verhalten sich in bestimmten Situationen höchst unterschiedlich, dadurch werden verallgemeinernde Aussagen über „den Wolf“ schwierig.

5. Wozu ist Langzeitforschung an freilebenden Wölfen gut?

Meine Verhaltensuntersuchung hier im Banff Nationalpark ist die längste kontinuierliche Studie an Timberwölfen weltweit. Seit über 23 Jahren begleite ich etliche Generationen, habe die Entstehung und das Zerbrechen von Wolfsdynastien und Territorien erlebt. Meine berühmtesten Paare waren Storm und Aster, und später Delinda und Nanuk, ich konnte bei ihnen und anderen Gruppen unglaubliche Beobachtungen über Familienzusammenhalt, Trauer, traditionelle Weitergabe von Wissen oder die Sozialisierung mit Rabenfamilien machen – solche Erkenntnisse über das natürliche Leben der Wölfe kannst du im Gehege niemals gewinnen.

6. Wie viel Wolf steckt noch im Hund?

Immer wieder höre ich die Kritik, dass der Wolf mit dem heutigen Haushund nichts mehr zu tun habe und deshalb meine Forschung zumindest für moderne Hundehalter nicht interessant sei. Viele Leute sehen das allerdings völlig anders, denn diese Pauschalaussage gilt vielleicht allenfalls für den Besitzer eines Mopses. Mein Laika-Rüde Timber ist zwar eindeutig ein Hund, doch in seinem Wesen noch ziemlich nah am Wolf. Deshalb kann man eigentlich keine verallgemeinernde Aussage zu der Vergleichbarkeit von „dem Hund“ und „dem Wolf“ treffen, man müsste alle fast 400 Rassen untersuchen und selbstverständlich gibt es auch bei Wolfspopulationen und den vielen Subspezies Unterschiede im Verhalten. Dazu kommen die starken individuellen Verhaltensvariationen die wir bei Hunden und Wölfen finden. Dorit Feddersen-Petersen hat in diversen Studien beispielsweise die Individualentwicklung einiger Rassen verglichen, aber das ermöglicht nur einen kleinen Einblick, wie stark sich Hunderassen und sogar Hundepersönlichkeiten der gleichen Rasse im Verhalten unterscheiden können.

Dazu kommt, dass Hunde, die in einer Familie in einer Großstadt leben, uns nicht wirklich zeigen, was genau noch an ursprünglichem Verhalten in ihnen steckt und wo sie sich an unser Leben angepasst haben. Um erkennen zu können, was vom Wolf im Hund übrig geblieben ist und welche Verhaltensweisen im Zuge der Domestikation verlorengegangen sind, muss man eigentlich „reines“ Hundeverhalten untersuchen.

Das haben wir bei den sogenannten „Pizza-Hunden“ versucht: Hier hatten wir drei Gruppen, die fast ganz ohne Beeinflussung durch den Mensch lebten. Wir haben uns gefragt: Was machen die ohne uns? Stimmt es, dass sie nicht in der Gruppe, sondern lieber einzeln unterwegs sind? Wir wollten wissen, ob innerhalb der Gruppe wirklich viel aggressiver kommuniziert wird als bei Wölfen und wie stabil die Gruppe zusammengehalten hat. Damals im toskanischen Naturpark in der Nähe von Pisa/Italien hatte ich die Möglichkeit, das zu untersuchen, auch wenn mir die Hitze wirklich zu schaffen gemacht hat. Aber da musste ich durch – und es hat sich gelohnt. Udo Gansloßer hat als Wissenschaftler Studenten zu mir geschickt, die neben meinen eigenen Freilandbeobachtungen Datenmaterial für ihre wissenschaftlichen Arbeiten gesammelt und ausgewertet haben. Es war eine Art Novum zur Verhaltensbiologie von Haushunden, weil wir alle erstmals wissenschaftliche Daten zu Hundegruppen gewinnen konnten, die abseits menschlicher Ansiedlungen in einem riesigen Wald lebten.

© Günther Bloch