DER NOBELPREIS
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2005 by Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Lektorat und Textredaktion: Stefan Bauer
Umschlaggestaltung: Bettina Reubelt
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0058-8
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Es gehört zu den Besonderheiten der schwedischen Gesellschaft, dass jeder jeden duzt. Das förmliche »Sie« wird nur noch gegenüber Mitgliedern der königlichen Familie verwendet.
Ich war mir dessen bewusst, hielt es aber für falsch, in einem auf Deutsch geschriebenen Roman, der in Schweden spielt, dieses Detail der Umgangsformen eins zu eins zu übertragen. Würde man das tun, würde etwas, das ein Schwede als normal empfindet, auf den deutschen Leser irritierend wirken und auf diese Weise ein falscher Eindruck entstehen. Denn auch wenn es für einen Schweden üblich ist, fremde Leute mit Vornamen und »du« anzureden, gibt es natürlich trotzdem verschiedene Grade der Nähe zu anderen Personen – Grade, die sich im Schwedischen nicht in der Anrede ausdrücken, im Deutschen dagegen sehr wohl. Deshalb habe ich die bei uns gewohnten Anredeformen verwendet.
Das bestgehütete Geheimnis Schwedens, sagt man, sei das Menü des Nobelbanketts.
Entwickelt wird es jedes Jahr in einer umständlichen, sich über Monate hinziehenden Prozedur von der Förening Årets Kock, jener Gesellschaft, die auch den schwedischen Koch des Jahres kürt. Nach zahlreichen Probeläufen und Konferenzen findet im Oktober schließlich ein mehrstündiges Testessen mit sechs Vertretern der Nobelstiftung statt, in dessen Verlauf vier Menüvorschläge getestet werden. Diese Kommission ist es, die die endgültige Entscheidung trifft – und schweigt. Das Einzige, was immer feststeht, ist, dass es zum Nachtisch Eis gibt. Doch bis zum Abend des 10. Dezember erfährt niemand außerhalb dieses kleinen Kreises Eingeweihter, welche Sorte.
Das Nobelmenü des vergangenen Jahres kann man, wenn man will, das ganze Jahr über im Rathauskeller bestellen, und es ist mit umgerechnet etwa hundertdreißig Euro pro Person für schwedische Verhältnisse nicht einmal übertrieben kostspielig. Für etwas mehr als das Fünffache dessen kann man ein Gedeck des eigens für das Nobelbankett entwickelten Service erstehen, bei dem – abgesehen vom Weiß des Porzellans – Gold und ein kräftiges Grün dominieren. Das sechsteilige Besteck ist teilweise vergoldet, das Fischmesser hat ein verspieltes grünes Auge, und vier Gläser mit vergoldetem Stiel gehören ebenfalls ins Set.
Doch kein Geld der Welt bringt einen näher an das Eigentliche heran: das wirkliche, wahrhaftige Nobelbankett, die exklusivste Tafel, die vorstellbar ist. Nur Genie oder Glück, am besten aber beides, können einem dazu verhelfen, zugegen zu sein, wenn geehrt wird, was nach Auffassung einer Institution, die in den über hundert Jahren ihrer Existenz zum Mythos geworden ist, die größten intellektuellen und wissenschaftlichen Leistungen der Menschheit sind.
Am Abend der Abende, nach Beendigung der Preisverleihung im Konzerthaus am Hötorget, ist die Zufahrt zum Stadshuset, dem 1923 erbauten gewaltigen Rathaus am Mälarsee, von Fackeln erleuchtet. Die Preisträger fahren in Limousinen vor, viele der anderen geladenen Gäste ebenfalls, aber nicht wenige kommen auch zu Fuß. Königlicher Glanz liegt über der Szenerie. Man wird mit Handkuss begrüßt, mit Verbeugungen und Knicksen, und selbst hartgesottene Republikaner fühlen sich durch das uralte höfische Zeremoniell gerührt. Während die Nobelpreisträger und andere Ehrengäste in der Prinzengalerie von den Mitgliedern der königlichen Familie, die das Stadthaus über einen eigenen Seiteneingang betreten haben, begrüßt werden, warten die übrigen Gäste im Foyer, bis sie um 18 Uhr 30 Platz nehmen dürfen an den gedeckten Tischen im Blauen Saal, der in Wirklichkeit überhaupt nicht blau ist. Seine hohen, von Zierglasfenstern durchbrochenen Wände aus Ziegelsteinen in verschiedenen warmen Rottönen, die scheinbar leicht auf den Pfeilern eines umlaufenden Säulengangs ruhen, verraten, dass der Architekt des Stadshuset von der venezianischen Architektur beeinflusst war; hätte der Raum kein Dach, er wäre eine wundervolle Piazza. Geplant war, die handgefertigten Backsteine mit polierten blauen Ziegeln abzudecken, doch der Architekt verwarf diese Idee während des Baus. Trotzdem hat sich der Name der Halle gehalten.
Um 19 Uhr öffnet sich die große dunkle Tür oben am Ende der Galerie aus Granit. Von hier aus geht es fünfzig Schritte auf der Balustrade über den Doppelsäulen bis zur marmornen Treppe, die in die Halle hinabführt. Fanfaren ertönen, die Orgel unter dem Dach erklingt, mit zehntausend Pfeifen und 138 Registern eine der größten Skandinaviens, und der schwedische König schreitet voran, eine Nobelpreisträgerin geleitend, falls eine Frau unter den Preisträgern ist, ansonsten traditionell die Gattin des Physiknobelpreisträgers an seiner Seite. Sie bilden die Spitze dieser Prozession der Erlauchten, die die Treppe hinabsteigen zu den gewöhnlichen Sterblichen, zu Verwandten und Freunden der Preisträger und zur Jugend, die jedes Jahr durch etwa 250 Studenten aller schwedischen Universitäten repräsentiert wird. Diese haben über ein Losverfahren das Anrecht erworben, umgerechnet hundert Euro für ihr Ticket zu bezahlen und mit den schlechtesten Plätzen, denen unterhalb der Arkaden, vorlieb zu nehmen. Sie tragen elegante Anzüge oder Kleider, weiße Kappen und Schärpen in gelb-blau, den Farben Schwedens.
Die königliche Familie, die Nobelpreisträger und die übrigen Ehrengäste nehmen am Ehrentisch Platz, der in der Mitte steht, quer zu den anderen, und etwas breiter und großzügiger gedeckt ist als diese. Rund 90 Gäste sitzen hier – neben den Mitgliedern der königlichen Familie die Preisträger, Vertreter der Regierung und der Nobelstiftung – und genießen eine Platzbreite von 70 Zentimetern, während an den anderen Tischen nur 60 Zentimeter vorgesehen sind, weil ansonsten die zwischen 1300 und 1400 Gäste nicht unterzubringen wären. Es mag das erlauchteste Bankett der Welt sein, das behaglichste ist es ganz sicher nicht.
Da der Blaue Saal nicht symmetrisch ist, sondern sich zu einer Seite hin verjüngt, können die Tische nicht so parallel zueinander stehen, wie sie sollten, und da auch die Prachttreppe nicht exakt in die Mitte des Raumes führt, ist das Aufstellen der Tische und Stühle ein kompliziertes Puzzle. Eine Mitarbeiterin der Nobelstiftung war in den vergangenen Wochen mit nichts anderem beschäftigt als damit, die Sitzordnung auszutüfteln, was sich bei weitem nicht darauf beschränkt, neben jeden Herrn eine Dame zu setzen. Jeder geladene Gast durfte auf einem eigens dafür vorgesehenen Formular Wünsche hinsichtlich seiner Platzierung äußern, etwa was die Nähe zu König und Königin oder zu Kollegen anbelangt, und all diesen Anliegen wurde im Rahmen des Machbaren Rechnung getragen.
Die Tische sind prachtvoll geschmückt. Tischschmuck hat eine jahrhundertelange Tradition in Schweden – die entsprechende Abteilung im zweiten Stock des Nordiska Museet gilt als eine der großen Sehenswürdigkeiten Stockholms –, und da das Schwedische Fernsehen ausführlich vom Bankett berichtet, wird die Dekoration in den kommenden Wochen öffentliches Gesprächsthema sein und in vielen Familien zu Weihnachten stilbildend wirken.
Nun ist auch das Geheimnis des Menüs enthüllt. In schlichten Buchstaben steht es auf den Karten gedruckt, die an allen Plätzen ausliegen, geziert von nichts anderem als dem Profil Alfred Nobels in Gold. Trotzdem können die wenigsten Teilnehmer des Banketts etwas mit dem anfangen, was sie da lesen, denn obgleich vornehm auf alle Akzente verzichtet wurde, ist es Französisch, und zwar jenes Französisch der gehobenen Küche, das zu einer eigenen Literaturform geworden ist, einer Literatur der Speisekarten, die versuchen, Gedichte zu sein, und bei deren Lektüre auch gebürtige Franzosen nicht selten Ratlosigkeit befällt.
Die meisten begnügen sich damit zu lesen, dass der Sekt, der ihnen in der ersten Amtshandlung der 210 Kellner kredenzt wurde, ein 1992er Dom Perignon Vintage war, und beschließen, sich im Übrigen einfach überraschen zu lassen. Andere, mit mehr Ehrgeiz, Weltläufigkeit und Französischkenntnissen ausgestattet, enträtseln, dass es als Vorspeise Ziegenkäsetörtchen mit einer Garnitur von roter Beete sowie Jakobsmuscheln und Langoustinen in Trüffelvinaigrette geben wird. Zum Hauptgang folgt Hirschfilet an Zimtsoße mit gegrilltem Herbstgemüse und einem Chutney von Preiselbeeren, dazu Kartoffeln. Das Dessert, Glace Nobel betitelt, als handle es sich um ein Markenzeichen, besteht dieses Jahr aus einem Birnendélice auf Schokoladen-Vanille-Creme nach bayerischer Art, begleitet von Champagner-Birnen-Sorbet.
Aus unerfindlichen Gründen befindet sich die Küche im sechsten Stock. Das Essen wird mit behäbigen Lastenaufzügen nach unten geschickt, im Goldenen Saal auf Teller aufgegeben und von der Schar Weißbejackter, die sich in den ungefähr vier Stunden, die das Bankett dauert, mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von zehn Stundenkilometern bewegen, in unablässigem Einsatz über die große Treppe hinab in den Blauen Saal gebracht. 140 Kellner sind für die Speisen zuständig, 50 für den Wein, 10 stellen die Reserve dar, sind aber dennoch ebenfalls unablässig beschäftigt, und 10 weitere kümmern sich um die Erfüllung besonderer Wünsche. Vegetarier und Allergiker bekommen abweichend vom offiziellen Menü ein eigens für sie zubereitetes Essen. Die Organisatoren haben alles Nötige vorab in Erfahrung gebracht, und egal ob fleischlos, glutenfrei oder koscher, es ist nichts unmöglich.
Vor dem Dessert gibt es eine etwa zwanzigminütige musikalische Darbietung, wobei die Treppe als Bühne fungiert, die zu diesem Zweck meist blau beleuchtet wird, wohl um der Namensgebung des Saals doch noch einen Sinn zu verleihen. Mit dem Verebben des anschließenden Applauses senkt sich Dunkelheit über den Saal. Jeder weiß, was nun folgt: Das Glace Nobel wird serviert.
Eine Prozession von Kellnern, die so schnell einherschreiten, wie es sich mit der Erfordernis, feierlich zu wirken, gerade noch vereinbaren lässt, kommt mit von Funken sprühenden Wunderkerzen illuminierte Eiscreme die Treppe herunter. In Windeseile werden die Teller verteilt, die Kellner verschwinden im Dunkel und sind kurz darauf auf geheimnisvolle Weise erneut Bestandteil der Prozession. Es ist eine Zeremonie, die lachhaft wirken würde, wenn sie nicht so herzergreifend schön wäre.
Gegen Ende des Nobelbanketts schlägt noch einmal die Stunde der Preisträger. Sie treten der Reihe nach an ein kleines dunkles Pult in einer Nische neben der Treppe, schlichte elf Stufen über dem Boden der Halle, und sprechen Worte des Dankes, manche mit bebender Stimme, die meisten bescheiden, immer aber der Forderung eingedenk, ein Zeitlimit von drei Minuten nicht zu überschreiten. Es ist eine der segensreichsten protokollarischen Begrenzungen, denn nach diesem Tag, nach diesem Abendessen mit Champagner und schwerem Wein wäre niemand mehr imstande, langen und womöglich tief schürfenden Reden in fremden Sprachen oder dialektgefärbtem Englisch zu folgen.
Schließlich endet das Bankett. Da ein ungeschriebenes Gesetz fordert, dass niemand vor dem König den Saal verlässt, ist es an ihm, das Signal dazu zu geben. Freilich erhebt sich König Carl XVI. Gustaf nicht nach Belieben von seinem Stuhl, sondern genau zu dem Zeitpunkt, den das sorgsam ausgearbeitete Protokoll dafür vorsieht. Im Goldenen Saal muss der letzte Anrichtetisch verschwunden sein und das Tanzorchester bereitstehen, wenn das Bankett endet. Sobald die königliche Familie, die Preisträger, die Professoren und Studenten und all die übrigen Gäste aufstehen und die Treppen hochsteigen, erklingt bereits Musik, auch diesmal, wie jedes Jahr, als Erstes ein Wiener Walzer.
Gegen ein Uhr endet auch der Tanz im Goldenen Saal. Die königliche Familie, die noch einmal in der Prinzengalerie Hof gehalten und ihre Gespräche mit den Preisträgern abgerundet hat, zieht sich zurück, und die Gäste entschwinden in die Winternacht. Doch die ist deswegen keineswegs schon zu Ende. Kein Preisträger, der nicht zu mindestens einer der vielen Feiern, die die Stockholmer Studentenverbindungen ausrichten, eingeladen wäre. Die Chauffeure der VOLVO-Pullman-Limousinen, die den Laureaten für die Zeit ihres Aufenthalts in Stockholm zur Verfügung stehen, kennen die Wege, und ohnehin wird jeder Laureat von einem ganzen Tross von Studenten begleitet und betreut, jungen Leuten mit leuchtenden Augen, für die sie Idole sind, so etwas wie die Popstars der wissenschaftlichen Welt.
Auch Mitglieder des Nobelkomitees findet man auf diesen Festen. Eine ganz eigentümliche Heiterkeit geht von ihnen aus. Wieder einmal ist es vollbracht, wieder einmal ist alles gut über die Bühne gegangen. Ihre Entspannung scheint tiefer zu reichen als die aller anderen. Vielleicht, weil sie sich bewusst sind, dass ihnen im Grunde nur diese eine Nacht Pause vergönnt ist. Bereits am nächsten Morgen geht die nie endende Arbeit weiter: Es gilt, die Preisträger des kommenden Jahres ausfindig zu machen.
Diesmal jedoch ging etwas schief.
Der Nobelpreis kennt nur Sieger. Nicht einmal zweite und dritte Plätze werden vergeben, von weiteren Rängen ganz zu schweigen. Die Öffentlichkeit erfährt nie, wer nominiert war oder wie die Abstimmungen verlaufen sind – nur, wer gewonnen hat. Alle Entscheidungen sind unwiderruflich, und sie können nicht angefochten werden.
Die Aufgabe, die Preisträger zu küren, fällt den Nobelkomitees zu, von denen es für jede Preiskategorie eines gibt. Alfred Nobel hat die dafür zuständigen Einrichtungen in seinem Testament unmissverständlich benannt – interessanterweise, ohne sie vorher zu fragen. Nach Nobels Tod am 10. Dezember 1896 vergingen einige Jahre, ehe alle Institutionen bereit und imstande waren, die ihnen zugedachten Aufgaben zu übernehmen, sodass erst 1901 die Nobelpreise zum ersten Mal verliehen wurden: an den Deutschen Wilhelm Conrad Röntgen für die Entdeckung der von ihm noch so genannten »X-Strahlen«, an den Niederländer Jacobus van’t Hoff für die Bestimmung der Gesetzmäßigkeiten des osmotischen Drucks, an den Deutschen Emil Adolph von Behring für seine Arbeiten über Serumtherapie und an den französischen Dichter Sully Prudhomme. Der erste Friedensnobelpreis ging je zur Hälfte an den Franzosen Frédéric Passy und an den Schweizer Jean Henri Dunant, den Begründer des Roten Kreuzes.
Seither werden die Preise in Physik und Chemie von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften zuerkannt, für die Auswahl des Preisträgers in Medizin oder Physiologie ist das Karolinska-Institut in Stockholm zuständig, der Nobelpreis für Literatur ist Angelegenheit der Schwedischen Akademie, und der Friedensnobelpreis schließlich wird von einem vom Storting, dem norwegischen Parlament, gewählten Komitee vergeben. Im Jahre 1968 stiftete die Schwedische Reichsbank im Andenken an Alfred Nobel einen Preis für Wirtschaftswissenschaften, der seither umstritten ist und dessen Abschaffung immer wieder gefordert wird, weil er eben kein »richtiger« Nobelpreis sei.
Die Regeln, wer überhaupt Kandidaten nominieren darf, unterscheiden sich je nach Preis. Die beiden Grundregeln, die immer gelten, sind folgende: Erstens, niemand darf sich selbst vorschlagen. Zweitens, sowohl die Mitglieder der Komitees als auch ehemalige Nobelpreisträger dürfen Vorschläge machen. Darüber hinaus pflegt jedes Nobelkomitee ein weltumspannendes Netzwerk von Kontakten zu wichtigen Institutionen des Fachgebiets. Dieser Kreis umfasst jeweils mehrere tausend Personen, an die alljährlich ein Rundschreiben verschickt wird mit der Bitte, Kandidaten für den Nobelpreis zu benennen. Alle Nominierungen, die für die Preisvergabe des laufenden Jahres in Betracht gezogen werden sollen, müssen dabei zwingend vor dem ersten Februar bei dem betreffenden Nobel-Komitee eingegangen sein.
Vom ersten Februar an machen sich die Nobel-Komitees an die Bewertung der Nominierungen. Hierbei sind inzwischen jeweils eigens gegründete Nobel-Institute behilflich, da es heutzutage die Möglichkeiten eines fünfköpfigen Komitees bei weitem überstiege, auch nur die wichtigste Fachliteratur zu sichten, geschweige denn, die Arbeiten zu bewerten, die die Vorgeschlagenen geleistet haben.
Doch das Nobel-Komitee bereitet die Entscheidung nur vor, es trifft sie nicht. Es ist die Nobelversammlung, die letzten Endes den Preis vergibt, und Aufgabe des Komitees ist es, ihr bis zu ihrem Zusammentreten Anfang Oktober eine Liste von Vorschlägen vorzulegen, über die abgestimmt wird. In der Praxis sind diese Empfehlungen meist vorentscheidend, aber die Versammlung ist nicht gebunden, sondern kann theoretisch auch jemanden wählen, der nicht vom Komitee vorgeschlagen wurde. So verwarf die aus den etwa 50 Professoren des Karolinska-Instituts bestehende Nobelversammlung 1979 den damaligen Vorschlag des Komitees, von dem man nur weiß, dass er auf biomedizinische Grundlagenforschung ausgerichtet war, und erkannte den Nobelpreis stattdessen den Erfindern der Computertomographie zu.
Unmittelbar nach dieser Abstimmung erfolgt der berühmte Anruf bei dem oder den Betreffenden, und in einer Pressekonferenz im Anschluss daran wird der künftige Nobelpreisträger bekannt gegeben. Der Preis darf, so hat es Alfred Nobel verfügt, auf maximal drei Gewinner verteilt werden. Mit Ausnahme des Friedensnobelpreises, der auch an Institutionen und Gruppen gehen kann, kommen für Nobelpreise nur Einzelpersonen in Frage, die zudem zum Zeitpunkt der Wahl noch am Leben sein müssen. Einzig wer nach der Wahl und Bekanntgabe im Oktober, aber vor der Verleihung im Dezember stirbt, erhält den Nobelpreis posthum. Der letzte derartige Fall ereignete sich 1996, als William Spencer Vickrey kurz nach der Bekanntmachung, dass er mit dem Preis in Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet worden war, einem Herzleiden erlag.
Der Nobelpreis ist mit einem Preisgeld von heutzutage etwa einer Million Euro einer der am höchsten dotierten Preise der Welt. Und er ist es schon immer gewesen. Zwar war die Summe in den ersten Jahren des Nobelpreises, vor den großen Inflationen und Weltkriegen, nominell geringer, entsprach damals aber dem Gehalt eines Hochschulprofessors für fünfundzwanzig Jahre und stellte damit einen womöglich noch höheren Wert dar als heute. Nobels Vorstellung war es – deshalb auch seine für die damalige Zeit revolutionäre Ausrichtung des Preises auf Einzelpersonen –, junge, vielversprechende Forscher und Künstler zu fördern und unabhängig von materiellen Beschränkungen zu machen.
In der Praxis sind es aber in der Mehrzahl ältere Männer, die für lange zurückliegende Entdeckungen oder Werke ausgezeichnet werden. Seit Jahrzehnten liegt das Durchschnittsalter der Nobelpreisträger bei 62 Jahren, der Anteil der Frauen bei vier Prozent. Doch trotz aller Kritik und Anfeindungen ist der Nobelpreis nach wie vor – vielleicht sogar mehr denn je – die begehrteste Auszeichnung der Welt. Er ist eine Institution. Er muss sich nicht erklären, nicht rechtfertigen, ist niemandem Rechenschaft schuldig. Es gibt vielerlei Preise für vielerlei Leistungen, sogar einige besser dotierte, doch neben dem Nobelpreis verblassen sie alle.
Viele Entscheidungen der Nobelkomitees sind kritisiert worden, nicht wenige haben sich als Missgriffe herausgestellt, aber es sind immer unabhängige Entscheidungen gewesen. Soweit man weiß, haben weder offizieller noch diplomatischer Druck jemals Einfluss auf eine Preisentscheidung gehabt. Die Nobelinstitutionen legen Wert auf die Feststellung, auch von eventueller Lobbyarbeit interessierter Kreise unberührt zu bleiben.
Allen ist klar, dass es das Ende dieser Institution bedeuten würde, käme es jemals zu einem gekauften Nobelpreis.
Genauer gesagt: Wenn es dazu käme – und es bekannt würde.
In dem Jahr, in dem etwas schief ging, geschah es, dass Anfang Oktober eine McDonnell-Douglas 87 der SAS, die auf dem Mailänder Flughafen Linate gerade Anlauf für den Takeoff nahm, in einen Cessna-Business-Jet raste, der sich in dem an diesem Morgen herrschenden starken Nebel auf die Runway verirrt hatte. Das Passagierflugzeug rammte einen Gepäckhangar, zerbrach in zwei Teile und ging, voll betankt für einen Flug nach Kopenhagen, augenblicklich in Flammen auf. Keiner der 104 Passagiere, von denen 56 italienische Staatsangehörige waren, überlebte, ebenso wenig wie die sechs Mitglieder der Crew oder die vier Personen an Bord der Cessna.
Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass das Bodenradarsystem des Flughafens seit Tagen wegen Wartungsarbeiten außer Betrieb gewesen war. Die Kommunikation zwischen dem Tower und der Cessna war entgegen internationaler Standards, die den ausschließlichen Gebrauch der englischen Sprache vorschreiben, zum Teil auf Italienisch erfolgt, zudem hatte der Tower sich die Anweisungen vom Piloten der Cessna nicht rückbestätigen lassen. Eine Vielzahl von Fehlern, die allesamt vermeidbar gewesen wären, hatte zu einem tragischen Unglück geführt.
Über die Diskussion um die mangelhaften Sicherheitsmaßnahmen des Mailänder Flughafens und das ganze Zuständigkeitsdurcheinander der italienischen Flugaufsicht insgesamt wurde nie bekannt, dass unter den schwedischen Todesopfern drei Professoren des Stockholmer Karolinska-Instituts gewesen waren. Mit anderen Worten, drei Mitglieder des Komitees, das wenige Tage später über die Vergabe des Medizin-Nobelpreises zu entscheiden hatte.
Die meisten Ärzte fühlen sich in Kirchen unwohl, insbesondere, wenn eine Trauerfeier der Anlass ihres Aufenthalts darin ist. Das Sinnen und Trachten der Medizin ist auf Verbesserung des Lebens gerichtet oder zumindest auf seine Verlängerung, und wer sich diesem Kampf einmal verschrieben hat, sieht sich ungern mit der Tatsache konfrontiert, dass trotz aller Anstrengungen, Siege und Errungenschaften am Ende des Lebens dennoch unweigerlich der Tod steht, wie eh und je und ohne Aussicht auf Änderung.
In diesem Fall war der Tod früh, unerwartet und mit grausamer Plötzlichkeit gekommen, und er hatte zudem drei herausragende medizinische Forscher getroffen – eine zusätzliche Gemeinheit. Weil die italienischen Behörden die Leichname der drei Professoren noch nicht herauszugeben gewillt waren – es wurde gemunkelt, sie seien noch nicht einmal vollständig aus den Wrackteilen geborgen –, standen nur Fotos vorne beim Altar, in dezentem Chrom gerahmt und mit schwarzem Flor versehen, großformatige Schwarzweißabzüge der offiziellen Porträts, die die Pressestelle des Karolinska-Instituts von allen führenden Mitarbeitern zum Zwecke der Veröffentlichung bereithielt. Würdig sahen sie aus, alle drei. Ihre Witwen saßen in der ersten Reihe, eine in Tränen aufgelöst, die beiden anderen noch im Schock.
Die Bänke dahinter waren für die übrigen Professoren des Instituts reserviert, hinter diesen wiederum drängten sich Assistenten, Doktoranden, Laborhelfer, Sekretärinnen, Verwaltungsangestellte und schließlich zahlreiche Studenten, soweit der Platz in der Kirche dafür ausreichte.
In der Mitte der vierten Bankreihe saß Professor Hans-Olof Andersson, ein Pharmakologe, der seit nunmehr neunzehn Jahren dem Institut angehörte. Er würde später gestehen, von der Ansprache des Pfarrers nicht das Geringste mitbekommen zu haben. Er hatte stattdessen immer wieder verstohlen auf seine Armbanduhr gesehen und sich gefragt, ob vielleicht etwas mit ihr nicht in Ordnung war; die Zeit konnte doch unmöglich so langsam vergehen.
Während der Pfarrer fortfuhr zu erzählen, was für wunderbare Menschen die drei Verstorbenen gewesen waren, und alle mit ernster Miene lauschten, waren die Gedanken von Hans-Olof Andersson schon bei dem, was danach kommen würde. Er würde den Witwen die Hände schütteln und sein Beileid aussprechen müssen, und ihm graute vor diesem Moment. Aber es führte kein Weg daran vorbei. Die drei Toten waren Kollegen gewesen, man kannte einander von Feiern, Empfängen und anderen Anlässen. Mehr noch, eine der Frauen hatte sich ebenso rührend wie unerwartet um seine Tochter Kristina gekümmert, als vor vier Jahren Hans-Olofs Frau Inga bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Eine Schuld. Und er hatte keine Ahnung, wie er sie abtragen sollte, jetzt, wo es möglich und nötig gewesen wäre. Er wusste nicht einmal, was er sagen sollte. Es war alles so plötzlich gekommen. Alles kam immer so plötzlich.
Hans-Olof erklärte später, er habe sogar regelrecht so etwas wie Ärger auf die Verstorbenen verspürt. Was hatten die drei eigentlich in Italien zu suchen gehabt? Mitglieder der Nobelversammlung hatten Anfang Oktober in Stockholm wahrhaftig genug zu tun und auf alle Fälle Wichtigeres!
Er erzählte auch, er habe sich, wie einer inneren Stimme folgend, in genau dem Moment umgedreht, in dem ihn jemand direkt ansah. Bei diesem Jemand handelte es sich um Bosse Nordin, der drei Reihen weiter hinten auf einem Platz ganz außen unter den Glasfenstern saß und in eine flüsternde Unterhaltung mit einem Mann vertieft war, den Hans-Olof nicht kannte. Hans-Olof hatte den Eindruck, dass die beiden ihn angesehen, aber den Blick in genau dem Moment abgewendet hatten, als er zu ihnen hinüberschaute.
Bosse war so etwas wie Hans-Olofs bester Freund am Institut, falls in der in hohem Maß von Konkurrenzdenken geprägten Atmosphäre des Campus so ein Begriff überhaupt angebracht war. Hans-Olof hätte bereitwillig eingeräumt, dass das Gefühl der Nähe auch einfach daher rühren mochte, dass sich ihre Büros auf beiden Seiten des Von-Euler-Wegs genau gegenüberlagen und sie einander durchs Fenster sehen konnten, wenn sie miteinander telefonierten. Es ging bei diesen Gesprächen selten um Fachliches – Bosse war Zellphysiologe, Hans-Olof Pharmakologe; zwar gab es zwischen beiden Fachgebieten Berührungen, nicht jedoch, was ihre jeweiligen Forschungsrichtungen anbelangte. Sie unterhielten sich eher über Freizeitaktivitäten, Institutsklatsch und dergleichen. Die Stimme des anderen im Ohr, seine Gestalt umrahmt von Zimmerpflanzen und hinter halb spiegelndem Glas, so standen sie einander oft gegenüber, wenn sich einer von ihnen über die Beurteilung eines Studenten klar werden wollte, Bosse einen derben Witz oder einen Börsentipp loswerden musste oder Hans-Olof einen Erziehungsratschlag brauchte: Bosse hatte sage und schreibe vier Töchter, von denen zwei schon verheiratet waren, und alles erlebt, was ein Vater mit Töchtern erleben konnte.
Hans-Olof überlegte, wer der Mann sein mochte. In Bosses Büro hatte er ihn noch nie gesehen, seine seltsam fischartigen, weit auseinander stehenden Augen wären ihm aufgefallen. Bosse hörte ihm mit reglosem Gesicht aufmerksam zu, nickte nur ab und an oder stellte eine kurze Frage. Vielleicht ging es um eines von Bosses geheimnisvollen Geschäften. Hans-Olof wusste nichts Genaues, aber irgendwelche Nebengeschäfte musste Bosse machen, bei dem Lebensstil, den er führte. Ein Haus in der besten Gegend von Vaxholm, immer das neueste Modell, das VOLVO herausbrachte, Urlaube in Thailand oder Malaysia – dass das Gehalt eines Universitätsprofessors dafür nicht ausreichte, wusste Hans-Olof, und dass Bosse alles mit Börsenspekulationen finanzierte, glaubte er einfach nicht. Dazu hatten sich zu viele der Tipps, mit denen er hausieren ging, als Windeier entpuppt.
Hans-Olof bemerkte, dass eine ältere Frau, die, wie er sich vage erinnerte, in der Studentenverwaltung arbeitete, seine neugierigen Seitenblicke mit deutlicher Missbilligung beobachtete, und sah wieder nach vorn. Er sagte sich, dass es ihn im Grunde genommen nichts anging, was Bosse trieb. Der Pfarrer schien zum Ende gekommen zu sein, der Chor sang irgendetwas Getragenes. Als die Leute ringsum aufstanden, erhob sich auch Hans-Olof, warf im Aufstehen noch einmal einen Blick hinüber zu Bosse Nordin und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass dieser gerade auf ihn zeigte und der hagere Mann mit den Fischaugen verstehend nickte.
Um nicht erneut den Zorn der Frau aus der Studentenverwaltung zu provozieren, schwenkte Hans-Olof den Blick sofort wieder nach vorn zum Altar, aber dann wendete er den Kopf doch noch einmal neugierig zur Seite. Die beiden standen da, sahen voller Ernst zum Kreuz hinauf und sangen so halbherzig mit, wie die meisten Leute es in Kirchen eben tun. Nichts deutete darauf hin, dass sie ihn auch nur bemerkt hatten.
Nachdem alles überstanden war, fuhr Hans-Olof auf dem Weg zurück absichtlich ein paar Umwege, erwog, irgendwo einen Kaffee zu trinken, ließ es dann aber bleiben, nahm schließlich die Zufahrt über den Tomtebodaweg und parkte vor dem Berzelius-Bau, hinreichend weit weg vom Nobelforum, um nicht Gefahr zu laufen, irgendwelchen Presseleuten vor die Mikrofone zu geraten. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass die Medien sich so zurückhielten, anstatt den Tod dreier stimmberechtigter Mitglieder der Nobelversammlung wenige Tage vor der Abstimmung als Sensation auszuschlachten.
Auf dem Campus war wenig los. Studenten standen beisammen, hatten Aktentaschen oder Bücherstapel unter dem Arm, redeten, rauchten, lachten. Das Leben ging weiter.
Genau wie es damals weitergegangen war, als Hans-Olof aus dem Krankenhaus heimgekehrt war und Inga nicht.
Er nahm den Weg an den Gästehäusern vorbei, einen Schleichpfad zwischen Müllcontainern und einem Tank für flüssigen Stickstoff hindurch, der von hinten her zum Pharmakologischen Institut führte. Einst war das ein normaler Zugang gewesen, aber in den letzten Jahren hatte man begonnen, zwischen den Gebäuden Behelfsbauten aus Containern aufzustellen. Sie waren mit rotem Holz umschalt, ein Versuch, das Ziegelrot der altehrwürdigen Mauern ringsum zu imitieren, doch sie wirkten trotzdem nur wie wissenschaftliche Legebatterien. Auf den verbliebenen Wegen dazwischen kamen zwei Personen nur noch mit Mühe aneinander vorbei.
An dem Geländer am Südeingang war ein Fahrrad festgekettet, inzwischen seit über einer Woche. Jemand – der Hausmeister vermutlich – hatte einen Zettel daran befestigt, dass hier das Abstellen von Fahrrädern nicht erlaubt sei und dieses Rad in Kürze entfernt werden würde, wenn sein Besitzer dem nicht zuvorkäme. Es war ein neuwertiges Fahrrad; es fiel schwer, sich vorzustellen, dass es einfach vergessen worden war.
Hans-Olof nestelte seine Ausweiskarte aus der Tasche, die ihm in Verbindung mit dem aktuellen Zugangscode die Tür öffnen würde, und las dabei die übrigen Bekanntmachungen, die von innen an das Glas der Türe geklebt waren. Die Hälfte davon beschäftigte sich mit Verlegungen oder Absagen angekündigter Vorlesungen aus Anlass der drei Todesfälle.
»Professor Andersson?«, fragte in diesem Augenblick jemand hinter ihm. »Kann ich Sie bitte einen Moment sprechen?«
Hans-Olof fuhr herum. Wie aus dem Boden gewachsen stand da ein Mann in einem dunkelgrauen Wettermantel, mit einem Lederkoffer in der Hand.
»Wie bitte?« Er rückte seine Brille zurecht. Im nächsten Moment fiel ihm wieder ein, woher er das Gesicht kannte.
Es war der Mann, der in der Kirche mit Bosse Nordin gesprochen hatte. Der Mann mit den Fischaugen.
Mich sprechen?«, wiederholte Hans-Olof, während er den Mann ansah, zu verstehen versuchte, was das alles bedeutete, und ihn ein zunehmend ungutes Gefühl beschlich. »Warum? Ich meine, worum geht es?«
Der Mann verzog keine Miene. »Das lässt sich nicht in zwei Sätzen sagen.« Er hob den Koffer leicht an. »Ich muss Ihnen dazu etwas zeigen.«
»Ich habe jetzt aber keine Zeit.« Seine Standardausflucht. Bei Studenten funktionierte sie immer. »Lassen Sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben.«
»Es dauert nur ein paar Minuten«, beharrte der Mann mit den weit auseinander stehenden Augen. »Und es ist äußerst dringend.«
Hans-Olof Andersson schnaubte entrüstet. »Ich kann doch nicht einfach … Bloß weil Sie daherkommen und behaupten …« Er hielt inne. Irgendwie war er sich plötzlich sicher, dass der Mann nicht weggehen würde, egal was er sagte. »Wer sind Sie überhaupt?«, fragte er.
»Mein Name ist Jon Johansson.« Später sollte Hans-Olof berichten, dass schon in der Art, wie der Fremde diesen Allerweltsnamen aussprach, verächtliche Gleichgültigkeit mitgeklungen hatte, so, als wolle er ausdrücken: Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, dann lüge ich Ihnen eben etwas vor, na und?
»Und was wollen Sie?«
»Nur ein paar Minuten. Es wird nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wir hier draußen schon verplempert haben.«
»Warum? Wer schickt Sie? Professor Nordin?«
Die fischigen Augen des Mannes musterten ihn mit einem seltsam entrückt wirkenden Blick. Als seien es in Wirklichkeit kunstvoll bemalte Stahlkugeln. »Gehen wir doch einfach kurz in Ihr Büro, Professor Andersson«, sagte er dann mit einer Bestimmtheit, der Hans-Olof nichts mehr entgegenzusetzen hatte.
Resignierend drehte er sich also zur Tür um, zog seinen Ausweis durch den Schlitz des Lesers, tippte die Codeziffern ein und zog, als das Schloss klickte, die Tür auf. Er war von unbändigem Zorn gegen sich selbst erfüllt, als er den Flur entlang und die Treppe hoch stapfte und der Mann ihm mit seinem Koffer folgte, wortlos und mit der allergrößten Selbstverständlichkeit.
Sie gelangten schweigend oben an, ohne jemandem zu begegnen. Hans-Olof schloss die Tür seines Büros auf, und erst als er die Tür schon offen hatte, fiel ihm ein, dass er hätte vorgeben können, die Schlüssel im Auto vergessen zu haben; er hätte sich ohrfeigen können, dass ihm das nicht eher eingefallen war.
Nun war es zu spät. Mit einem stummen Kopfnicken auf den freien Stuhl deutend, ging Hans-Olof um seinen Schreibtisch herum, nahm wahllos Akten von den Stapeln auf dem Bücherregal und ließ sie vernehmlich auf die Schreibunterlage knallen, damit dem Mann klar wurde, dass Arbeit auf ihn wartete, wichtige Arbeit, und zwar jede Menge. Er sah aus dem Fenster, hinüber zum Bau des Nobelinstituts für Zellphysiologie, aber Bosse war nicht in seinem Büro.
Als er sich wieder umdrehte, hatte der Mann seinen Koffer geöffnet und ihn auf den Schreibtisch gelegt. Darin war etwas rötlichbraunes und blauweißes, und Hans-Olof musste erst einmal blinzeln und die Brille zurechtrücken, ehe er begriff, dass es Fünfhundert-Kronen-Scheine waren, ganze Bündel davon.
»Drei Millionen insgesamt«, sagte der Mann.
Hans-Olof war im ersten Augenblick sprachlos. Darum also ging es. Der Unbekannte war Journalist und versuchte auf diese Weise an Informationen zu kommen. Vermutlich wollte er wissen, was jetzt aus der Abstimmung wurde. Wer für die Toten nachrückte. Niemand, aber das würde Hans-Olof ihm nicht erzählen, wenn er zu dumm war, die Statuten zu lesen. Das Karolinska-Institut musste natürlich neue Leute für die nunmehr vakanten Stellen berufen. Und es würden wieder Wahlen für die Nobelversammlung stattfinden. Doch das war ein Vorgang, der Wochen dauerte.
Oder wollte der Mann etwas gänzlich anderes wissen? Womöglich vorab erfahren, wer dieses Jahr den Nobelpreis in Medizin erhalten würde? Das wäre natürlich ungeheuerlich. Ungeheuerlich auch, dass man in ihm jemanden vermutete, der derlei preiszugeben bereit sein könnte.
Er fand seine Stimme wieder. »Das ist zwecklos«, sagte er und schüttelte den Kopf, um zu unterstreichen, wie zwecklos.
»Ich bin nur der Bote«, sagte der Mann. Er streckte die Hand aus, berührte den Koffer, schob ihn eine Winzigkeit weiter auf Hans-Olof Andersson zu. »Die Leute, die mich schicken, haben mich beauftragt, Ihnen diese Summe – drei Millionen Schwedische Kronen in bar – anzubieten, wenn Sie bei der bevorstehenden Abstimmung über den Medizinnobelpreis für Frau Professor Sofía Hernández Cruz stimmen.«
Hans-Olof Andersson starrte den Mann mit einem ganz und gar irrealen Gefühl an. Schon die Vorstellung, jemand würde einfach mit einem Koffer voller Geld in das Büro eines Mitglieds der Nobelversammlung spazieren, in der ernsthaften Erwartung, derjenige ließe sich ohne weiteres bestechen, war lachhaft. Doch dass diese Bemühungen ausgerechnet Sofía Hernández Cruz gelten sollten, grenzte ans Absurde.
Sofía Hernández lebte und arbeitete in der Schweiz. Bekannt geworden war sie in ihrer Zeit an der Universität von Alicante, mit Experimenten zur Interaktion zwischen Hormonsystem und neuronaler Struktur, deren brillante Konzeption Hans-Olof faszinierte, seit er den ersten Artikel darüber gelesen hatte. Zugleich hatte sie damit einen Sturm moralischer Entrüstung ausgelöst, nicht nur, aber vor allem in Spanien. Selbst am Karolinska war Hans-Olof mit seiner positiven Einstellung alleine, intern galt die Spanierin als chancenlos. Dass jemand ihr den Nobelpreis mittels Bestechung zu verschaffen versuchte und sich mit seinem Ansinnen dann ausgerechnet an den vermutlich einzigen Stimmberechtigten wandte, der ohnehin längst beschlossen hatte, für Sofía Hernández zu stimmen – das war schon fast tragisch.
»Darf ich Ihr Schweigen als Einverständnis werten?«, erkundigte sich der Mann mit den weit auseinander stehenden Augen. Er machte eine entschuldigende Geste. »Ich muss meinen Auftraggebern Ihre Antwort übermitteln.«
Hans-Olof zog den Schreibtischstuhl zu sich heran, aus dem absurden Gefühl heraus, wie er später erzählte, er müsse einen Sicherheitsabstand zu dem Geld einhalten, und ließ sich erschüttert darauf nieder. »Sie sind verrückt. Packen Sie sofort Ihr Geld, und machen Sie, dass Sie hinauskommen.«
Der Mann stieß einen vernehmlichen Seufzer aus und sagte leise: »Sie machen einen Fehler, wenn Sie jetzt ablehnen. Glauben Sie mir.«
»Hinaus«, flüsterte Hans-Olof.
»Das ist ein gut gemeinter Ratschlag.« Der Mann schüttelte den Kopf, aber nicht tadelnd, eher besorgt. »Sie sollten das Geld nehmen und tun, was von Ihnen verlangt wird.«
»Hinaus.«
»Nehmen Sie es. Tun Sie sich einen Gefallen, und nehmen Sie es.«
»Hinaus!«, brüllte Hans-Olof. »Verlassen Sie augenblicklich mein Büro, oder ich rufe die Polizei!«
»Schon gut.« Der Mann hob die Hände und stand auf. »Schon gut. Wie Sie wollen. Kein Problem.« Er drehte den Koffer zu sich um, ließ den Deckel zuklappen und drückte die Verschlüsse herab, die nacheinander mit einem Geräusch wie zuschnappende Handschellen einrasteten. »Aber Sie werden sich noch wünschen, Sie hätten auf mich gehört.«
»Kein Wort mehr.«
Der Mann sagte tatsächlich kein Wort mehr. Er nahm seinen dunkelbraunen Koffer vom Tisch, als wäre nichts darin, höchstens Altpapier, wandte sich ab und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Das Geräusch, mit dem die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schien Ewigkeiten im Raum zu hängen, gar nicht mehr verklingen zu wollen. Oder hallte es nur in seinem Kopf wider? Hans-Olof stemmte sich hoch, ging zum Waschbecken, betrachtete sich in dem Spiegel darüber, schob fahrig ein paar seiner dünn werdenden weißen Strähnen zurecht. Rote Flecken im Gesicht, die Äderchen auf der Nase unübersehbar. Sein Blutdruck war jenseits von gut und böse, natürlich. Adrenalinüberschuss, und wie. Er brauchte einen Antagonisten, nein, etwas anderes … Er versuchte sich im Geist die biochemischen Regelsysteme zu vergegenwärtigen, die die Parameter des Blutkreislaufs regelten, die Punkte darin, an denen pharmakologische Wirkstoffe ansetzten. Aber er war zu aufgeregt, um sich konzentrieren zu können. Schließlich nahm er einfach ein halbes Dutzend Baldrianpillen aus einem unbeschrifteten braunen Fläschchen in seinem Schreibtisch und spülte sie mit etwas Wasser hinunter. Dann ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und wandte das Gesicht zum Fenster, um darauf zu warten, dass Bosse Nordin in sein Büro kam oder die Wirkung der Tabletten einsetzte.
Bosse kam nicht. Hans-Olof saß lange da und starrte in das dunkle, leere Zimmer gegenüber. Schließlich drehte er sich zum Schreibtisch um, nahm den Hörer auf und wählte die Nummer des Nobelkomitees. Er nannte seinen Namen, als eine der beiden Sekretärinnen sich meldete, und sagte: »Ich brauche einen Termin beim Vorsitzenden. So schnell wie möglich.«
Mit seinem vollen, weißen Haar und den dreiteiligen englischen Anzügen, die er zu tragen pflegte, hatte Ingmar Thunell, der Vorsitzende des Nobelkomitees, etwas von einem Grandseigneur an sich. Er war einer der ältesten Professoren des Instituts; nach Ende seiner dreijährigen Amtszeit als Chairman des Komitees würde er sich voraussichtlich emeritieren lassen – eine Perspektive, der nicht wenige im Kollegium sehnsuchtsvoll entgegensahen.
»Hmm«, sagte er bedächtig, als Hans-Olof mit seinem Bericht fertig war. Dann lehnte er sich im Sessel zurück, einem schweren braunen Ohrensessel mit goldenen Polsternägeln, stellte die gespreizten Finger seiner Hände gegeneinander und sah sein Gegenüber mit undurchdringlichem Blick an. »Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun?«
Diese Frage erstaunte Hans-Olof. Thunell galt als unumstrittene Kapazität auf dem Gebiet der Zellmembran, aber selbst Gutwillige sagten über ihn, er lebe seit geraumer Zeit in seiner eigenen Welt. Die Übrigen meinten unverblümt, er sei ein hoffnungslos altmodischer Idealist mit einem gehörigen Sprung in der Schüssel. Trotzdem – oder gerade deswegen – hatte Hans-Olof erwartet, dass sein Bericht bei ihm höchste Empörung auslösen würde.
»Ich weiß nicht«, bekannte er. »Ich bin davon ausgegangen, dass es Regeln für solche Fälle gibt. Maßnahmen.«
»Sie meinen Disqualifizierung?«
»So ungefähr. Als letzte Konsequenz, natürlich.«
Thunell klopfte mit seinen Zeigefingern gegeneinander, während er nachdachte, kleine, nervöse Bewegungen, und hörte wenig später wieder damit auf, offenbar, weil er zu einem Entschluss gelangt war. »Wie lange sind Sie schon am Karolinska, Hans-Olof?«, fragte er.
Obwohl Hans-Olof Professor war und im normalen Leben alles andere als ein Wunder an Geistesgegenwart, diese Auskunft konnte er jederzeit leicht geben. Er brauchte nur zum Alter seiner Tochter fünf Jahre dazuzuzählen, das war der Trick. »Im August waren es neunzehn Jahre.«
»Aber Sie waren noch nie im Komitee, soweit ich mich entsinne, oder?«
»Nein.« In das Nobelkomitee, jenes fünfköpfige Gremium, das die eigentlichen Vorarbeiten für die Abstimmung leistete, musste man von den übrigen Mitgliedern der Versammlung gewählt werden. Dazu war es in seinem Fall aus irgendeinem Grund nie zuvor gekommen.
»Dann muss ich Ihnen jetzt zunächst einmal etwas über die Arbeit im Komitee erzählen.« Thunell faltete die Hände und richtete den Blick in eine der oberen Zimmerecken. »Wenn wir uns Anfang Februar die Liste der Nominierungen ansehen, ist die erste Frage, die wir uns stellen, nicht die, wer von denen, die darauf stehen, den Preis verdient hat. Den Preis verdient haben viele, das wissen Sie so gut wie ich. Nein, die erste Frage, die wir uns stellen, ist: Warum ist dieser Mann oder diese Frau nominiert worden? Von wem? Und warum? Was verspricht sich der Nominierende davon? Ist die Nominierung vielleicht eine Gefälligkeit? Gibt es Verbindungen, von denen wir nichts wissen? Kontakte zu den Gutachtern? Und so weiter und so weiter. Die Frage der Einflussnahme stellt sich von Anfang an. In gewisser Weise ist sie sogar in unser System eingebaut, dadurch, dass jeder ehemalige Nobelpreisträger Kandidaten nominieren darf. Eine Regel, die die Inzucht fördert, nicht wahr? Statistisch gesehen hat jemand, der mit einem Nobelpreisträger zusammenarbeitet, deutlich größere Chancen, den Nobelpreis einmal selber zu bekommen. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Zudem arbeiten heutzutage viele hervorragende Wissenschaftler nicht mehr in staatlichen Einrichtungen, sondern in der Industrie, in Laboratorien, die von multinationalen Konzernen betrieben werden. Es ist klar, dass Firmen ein Interesse daran haben, jemanden aus ihren Reihen auf dem Siegerpodest zu sehen, und natürlich versuchen sie jene Art von Lobbyarbeit, die ihnen gegenüber Parlamenten und Regierungen Vorteile verschafft, auch bei uns zu betreiben.« Er richtete den Blick wieder auf Hans-Olof und schenkte ihm ein kaltes Lächeln. »In der Regel ohne Erfolg.«
Hans-Olof sah sein Gegenüber nicht ohne Bestürzung an. Das klang alles, als führe der Vorsitzende des Nobelkomitees solche Gespräche jeden Tag. »Der Mann wird es bei jemand anderem versuchen«, sagte er. »Irgendjemand wird das Geld womöglich sogar nehmen.«
»Mag sein.« Thunell beugte sich vor, kniff dabei die Augen leicht zusammen, ein abschätziger, listiger Blick. »Nebenbei gefragt, warum haben Sie es eigentlich nicht genommen?«
»Ich?« Hans-Olof schnappte nach Luft.
»Wenn Sie, wie Sie sagen, ohnehin vorhatten, für Hernández zu stimmen, hätten Sie es doch ohne schlechtes Gewissen nehmen können. Schließlich wäre Ihre Entscheidung dadurch ja nicht beeinflusst worden. Und drei Millionen Kronen, zumal steuerfrei, sind ein schöner Batzen Geld, würde ich sagen.«
Hans-Olof merkte, dass seine Hände sich um die Lehnen des Stuhls gekrallt hatten, auf dem er saß. »Herr Kollege, ich versichere Ihnen, dass ich das nicht eine einzige Sekunde lang erwogen habe«, erklärte er mit gepresster Stimme. »Die Reputation und Integrität des Nobelpreises sind mir heilig.«
»Heilig, so so«, meinte Thunell. Er atmete scharf ein, lehnte sich zurück, das Kinn auf die wie zum Gebet zusammengeführten Hände stützend, und verharrte eine ganze Weile so, ohne etwas zu sagen.
»Ich hoffe, Sie glauben mir«, sagte Hans-Olof schließlich, als er die Stille nicht länger ertrug.
Thunell nickte nachdenklich. »Wissen Sie«, begann er in einem seltsam beiläufigen Erzählton, »es entgeht mir nicht, was so geredet wird. Es ist mir auch nicht entgangen, dass die meisten abfällig über Sofía Hernández Cruz sprechen. Weil sie eine Frau ist. Eine Spanierin zumal – unvorstellbar, dass so jemand bedeutende Arbeit auf dem Gebiet der Neurophysiologie leisten kann, nicht wahr? Ganz zu schweigen von dieser unsäglichen Moraldiskussion. So sind sie, die Vorurteile unserer geschätzten Kollegen.« Er blickte gedankenverloren vor sich hin, nickte ein paar Mal sinnend. »Nun ja, vielleicht wären meine Vorurteile kein Haar besser. Aber ich habe Sofía Hernández Cruz einmal kennen gelernt. Das war, als sie noch an der Universität von Alicante arbeitete, zwei Jahre, bevor der ganze Zirkus in der Presse losging und sie nach Basel wechselte. Lange Zeit her. Sie forschte damals über die Funktionsweise von Narkotika, und obwohl das aus heutiger Sicht eine völlig konsequente Etappe ihrer Arbeit war, erinnere ich mich, dass ich es ausgesprochen paradox fand. Denn sie ist eine der hellwachsten Personen, die ich je getroffen habe. Und eine der klügsten obendrein.«
Hans-Olof rutschte unbehaglich auf die vorderste Kante des Stuhls. »Ihre Qualifikation habe ich nie bezweifelt. Wie gesagt, ich wollte ohnehin für sie stimmen.«
»Würden Sie mir zustimmen, dass Professor Hernández Cruz unredlicher Einflussnahme überhaupt nicht bedarf?«
»Absolut.«