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ISBN 978-3-7307-0572-8

Inhaltsverzeichnis

PROLOG: DER MANN MIT DER ZIGARRE

VORWORT: DER GRÖSSTE ALLER SCHALKER

1. DER STOFF, AUS DEM LEGENDEN SIND

2. ORTSTERMIN: BLUMENSTRASSE 34

3. GO WEST, YOUNG MAN!

4. EIN KONFIRMAND SCHIESST TORE

5. KICKENDE KUMPEL

6. SIEGE UND NIEDERLAGEN

7. DIE GOLDENEN JAHRE

8. FAMILIENBANDE

9. BRAUNE SCHATTEN

10. GÖTTERDÄMMERUNG

11. DER LANGE ABSCHIED

EPILOG: ABENDLICHT

ANHANG:

QUELLEN UND LITERATUR

DER AUTOR

PROLOG: DER MANN MIT DER ZIGARRE

Ein Bier und einen Kurzen trinken und dabei eine Zigarre rauchen.

Willi Kuzorra, Bruder von Ernst

Ernst Kuzorra habe ich persönlich nie kennengelernt. Er war Jahrgang 1905, ich bin 49 Jahre später geboren, fast auf den Tag genau vier Jahre, nachdem Kuzorra am 12. November 1950 sein Abschiedsspiel für den FC Schalke 04 absolviert hatte. Aber ich bin Kuzorra oft begegnet - aus der Ferne. Natürlich hat er mich nie gesehen, diesen Knirps, mitten zwischen Tausenden von Schalke-Fans, die alle mindestens einen Kopf größer waren als ich, in der Mehrzahl Hüte trugen und blau-weiße Fahnen schwenkten.

Ich weiß aber noch genau, wann ich ihn das erste Mal zu Gesicht bekam. Es war der 27. November 1965, ein Samstag. An das Datum erinnere ich mich deshalb, weil mein Vater seine Eintrittskarte aufbewahrte - ich selbst kam damals einfach so ins Stadion - und weil damals sämtliche Spiele der Bundesliga samstags um 15 Uhr 30 angepfiffen wurden. Um 18 Uhr 15 zeigte die ARD-Sportschau Ausschnitte von drei Partien. Dann war der Fußballtag vorbei.

Wenn ich heute an die Samstage meiner Kindheit denke, fallen mir allerdings weder Schalke noch die Sportschau ein. Stattdessen steigt mir der Geruch von Graupensuppe mit Hackfleischklößchen in die Nase. „Sams- tach is Eintopftach!“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich mal wieder lustlos in dem Durcheinander auf meinem Teller herumstocherte. „Haste kein Hunger? Wat anderet gibt et nich!“ Ich sagte nichts und dachte sehnsüchtig an eine Riesenschüssel voll dampfender Spaghetti mit Tomatensoße.

Doch an diesem Novembersamstag ist alles anders. Zwar rühre ich wie stets missmutig in den gräulichen Graupen herum, aber viel Zeit zum Trödeln bleibt mir heute nicht.

Wenige Tage zuvor hat meine Mutter mich mit einem blau-weißen Stück Stoff, das mit Reißzwecken an einem abgesägten Besenstil befestigt ist, überrascht. Und mein Vater hat versprochen: Samstag gehen wir „auf Schalke“.

Ich beeile mich also ausnahmsweise, würge schnell ein paar Löffel hinunter, und schon bin ich weg vom Tisch, ziehe Schuhe und Anorak an und stürze mit der Fahne in der Hand durchs Treppenhaus nach unten auf die Straße, wo mein Vater bereits wartet.

Es ist halb drei. Und es regnet in Strömen. In einer Stunde ist Anstoß. Bis zur Straßenbahnhaltestelle sind es keine hundert Meter. Wir wohnen in Bulmke, in der Oskarstraße, gegenüber vom „Werk“. Das Werk ist der Schalker Verein, nicht der Fußballklub, sondern ein gigantisches Stahlwerk, dessen flackernde Hochofenfeuer Nacht für Nacht den Himmel über Gelsenkirchen erleuchten.

Kurz hinter der Grenzstraße steigen wir aus der Bahn und gehen das letzte Stück zu Fuß, mein Vater und ich mit meiner blau-weißen Fahne. Am Schalker Markt angekommen, haben sich uns bereits zahllose „Schlachtenbummler“ angeschlossen, die alle nur ein Ziel haben: die Glückauf-Kampfbahn, jenen magischen Ort, an dem der FC Schalke 04 seine Heimspiele austrägt und den ich bislang nur vom Hörensagen kenne.

Doch erst einmal heißt es geduldig warten. Denn vor der GlückaufKampfbahn kommt die Glück-auf-Schranke, dort, wo die Gleise der „Con- sol“-Werksbahn die Kurt-Schumacher-Straße kreuzen. Und diese Schranke ist, wenn man Pech hat, geschlossen, denn noch rollen die Kohlenzüge nahezu unaufhörlich in Richtung der Verladehäfen am Rhein-Herne-Kanal.

Mit dem letzten vorbeiratternden Waggon öffnet sich endlich die Schranke. Ein vielstimmiges Brausen erfüllt die Luft, das langsam anschwillt, als wir uns dem Stadion nähern. Es herrscht ein unentwegtes Drängen und Schieben, untermalt von Geschrei und „Schalke“-Rufen.

Eine lange Reihe gelber Straßenbahnen markiert den Endpunkt unseres Fußmarsches. Zur Linken erstreckt sich ein von Bäumen gesäumter Vorplatz mit dem Eingangsportal, das an den Portikus eines antiken Tempels erinnert. Zunächst müssen wir durch die Drehkreuze zwischen den „Säulen“, die als Kassenhäuschen fungieren. Ein Stehplatz kostet 2,90 Mark, mich lässt man drei Tage nach meinem elften Geburtstag umsonst ins Stadion.

Bis zum Anpfiff bleibt noch etwas Zeit. Also bekomme ich eine Bratwurst, mein Vater gönnt sich ein Bier im Pappbecher. Wir erklimmen die Erdwälle, die als Stehplatzränge dienen. Oben angekommen, erhasche ich zum ersten Mal einen Blick auf das grüne Rechteck, das viel kleiner ist, als ich es mir vorgestellt habe. Etwa 20 Meter Luftlinie sind es bis zum Spielfeldrand schräg unter mir, wo auf der Aschenbahn gerade Kolonnen von Rollstuhlfahrern ihre Plätze einnehmen, flankiert von Johanniter-Unfallhelfern, deren rot-weiß-graue Uniformen nicht so recht zum Blau-Weiß aller anderen passen wollen. Ich recke pausenlos den Hals, um nur ja nichts zu verpassen.

Vor der Haupttribüne wird plötzlich etwas aufgebaut, das wie eine elektronische Orgel auf einer Art Bollerwagen aussieht, und tatsächlich wehen kurz darauf die ersten Musikfetzen zur Gegengeraden herüber - Unterhaltung in der Steinzeit der Bundesliga. Dazwischen plärren Werbesprüche örtlicher Geschäfte aus den Lautsprechern.

„Da isser“, raunt jemand neben mir und deutet mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Haupttribüne. Hälse recken sich, Hände beginnen zu klatschen, ich stelle mich auf die Zehenspitzen, klatsche ebenfalls, bin aber zu klein, um zu erkennen, um wen die ganze Aufregung sich dreht. „Da is wer?“, frage ich meine Nachbarn, den Kopf nach links und rechts wendend. „Na, wer wohl - der Kuzorra!“

Kuzorra. Den Namen kennt in Gelsenkirchen jedes Kind, genannt wird er meist in einem Atemzug mit dem von Fritz Szepan. Ernst und Fritz, das Schwägerpaar aus Ostpreußen, Begründer des „Schalker Kreisels“, Gewinner von sechs deutschen Fußballmeisterschaften, Legenden schon zu Lebzeiten.

Eingekeilt zwischen riesigen Erwachsenen, sehe ich Kuzorra natürlich nicht. Fast nicht. Denn hinten auf der Tribüne, dort, wo gerade der meiste Trubel herrscht, erblicke ich einen Hut, eine Zigarre und einen Mantel. Der Hut nickt, die Zigarre qualmt, Hände klopfen auf den Mantel, die Ränge applaudieren und die Orgel dudelt. Der Fußballkönig hält Hof.

Den Hut, den Mantel und die Zigarre sehe ich in den folgenden Jahren noch oft. Dem Mann aber komme ich nie näher als eine Spielfeldbreite.

Ernst Kuzorra ist ständiger Gast auf der Tribüne der alten GlückaufKampfbahn und später auch im Parkstadion, diesem zugigen Rund, das so gar nichts mehr hat von der Herrlichkeit der alten Schalker Spielstätte. Für Kuzorra ist das Parkstadion das Symbol einer Zeit, die nicht mehr die seine ist: Mit der räumlichen Entfernung von den Wurzeln des einstigen Bergarbeiterklubs im Gelsenkirchener Stadtteil Schalke wächst auch die Distanz zur goldenen sportlichen Vergangenheit des Klubs.

An das Einlaufen der Spieler Minuten später habe ich keine Erinnerung mehr, ebenso wenig an den Spielverlauf. Gegner und Ergebnis hat mein Vater später auf der Eintrittskarte notiert, den Rest kann man im Internet recherchieren: 14. Bundesligaspieltag, der Tabellenfünfzehnte Schalke gewinnt 1:0 gegen den Tabellenachten Hannover 96, das Tor erzielt Günter Herrmann in der 44. Minute. Die Partie der in diesen Jahren permanent abstiegsbedrohten Königsblauen lockt an diesem verregneten Samstagnachmittag magere 15.000 Zuschauer in die Glückauf-Kampfbahn. Ein durchschnittliches Bundesligaspiel und ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür schickt. Meiner Faszination für das Geschehen um mich herum tut all dies keinen Abbruch. Schließlich ist es mein „erstes Mal“. Und wenn ich heute die kleine grüne Eintrittskarte in die Hand nehme, dann habe ich wieder das Raunen von den Rängen in den Ohren und sehe gegenüber auf der Tribüne den Mann mit der Zigarre.

Als ich an der Hand meines Vaters die Stufen der Gegengeraden hoch- und an der anderen Seite wieder hinunterstapfe, knacken unter meinen Füßen Fetzen von Plastikbechern, beinahe rutsche ich aus auf einer der matschigen Pommesschalen, die zusammen mit unzähligen zerknüllten Bratwurstpappen den Boden bedecken. Die Luft riecht nach Bier, Schweiß und Urin. Und als wir hinter dem Eingangsbereich am Schalker Vereinslokal vorbeikommen, gesellt sich ein anderer Duft hinzu - der einer Zigarre.

VORWORT: DER GRÖSSTE ALLER SCHALKER

Einen Fußballer wie Ernst Kuzorra gibt es nur alle hundert Jahre.

Ernst Poertgen

Für den früheren Bundestrainer Helmut Schön, der ihm mit dem Dresdner SC 1940 beim 1:0-Sieg der Schalker im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft gegenüberstand, war er „der größte Fußballer seiner Zeit“, „auf eine Stufe zu stellen mit Stars wie Fritz Walter, Franz Beckenbauer, Uwe Seeler, Günter Netzer oder Wolfgang Overath“. Für die Fans der Königsblauen hat er mit zunehmender Dauer der Erfolglosigkeit in der Gegenwart ohnehin längst Heldenstatus erlangt. Bereits zu Lebzeiten zur Legende verklärt, verkörpert bis heute kein anderer Spieler des Traditionsklubs den „Mythos vom Schalker Markt“ so perfekt wie Ernst Kuzorra. Er war Spielmacher und Seele der gefeierten Schalker Meistermannschaft, die zwischen 1934 und 1942 sechs Deutsche Meisterschaften und einen deutschen Pokal gewann, die mit Ausnahme des Jahres der Verbandssperre 1931 seit 1927 auf die Ruhrbezirksmeisterschaft, seit 1929 auf die Westdeutsche Meisterschaft und seit 1934 auf die westfälische Gaumeisterschaft abonniert war. Keine Vereinsmannschaft hat den deutschen Fußball zwischen den Weltkriegen bis in die 1940er-Jahre hinein stärker dominiert als der FC Gelsenkirchen-Schalke 04, wie sich der Verein in Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Gelsenkirchen für den Bau der Kampftahn Glückauf seit 1928 offiziell nannte. Und keiner personifiziert noch heute das längst ins Reich der Mythen und Legenden entrückte Schalke jener goldenen Jahre, als ein in seinen Anfängen als „Proleten- und Polackenverein“ geschmähter Provinzklub aus dem tiefsten Kohlenpott zum Inbegriff deutscher Fußballkultur wurde, besser als der Bergarbeitersohn aus der gleichnamigen Gemeinde in der Emscherzone. Dass sein Name zumeist in einem Atemzug mit dem seines kongenialen Sturmpartners Fritz Szepan genannt wird, schmälert die beherrschende Rolle Kuzorras für die Geschichte und den Mythos des bis heute erfolgreichsten Fußballvereins aus dem Ruhrgebiet keineswegs.

* * *

Weil Kuzorra solch eine überragende Bedeutung für den FC Schalke 04 hatte, drängt sich die Frage auf, welche Entwicklung der Verein ohne ihn genommen hätte. Ebenso gut könnte man umgekehrt darüber spekulieren, ob Kuzorra ohne „sein“ Schalke die Ausnahmeerscheinung im deutschen Fußball geworden wäre, die etwa Helmut Schön in ihm sah. Weitere Fragen ergeben sich beinahe zwangsläufig: Wie stark prägten die Spielweise und die Persönlichkeit Kuzorras den Verein? Wie stark formte die Schalker Spielkultur den jungen Ernst Kuzorra? Und: Welchen Einfluss hatte das schwerindustriell geprägte proletarische Milieu des „Industriedorfes“ Schalke auf die Entwicklung des talentierten Nachwuchsspielers mit Wurzeln im ländlichen Masuren?

Anfänge im mythischen Dunkel

Für Ernst Kuzorras Debüt in der Schalker Ligamannschaft wird in der Literatur durchweg der 22. April 1923 genannt. An diesem Tag bestritt der TuS Schalke 77 ein Freundschaftsspiel gegen die Sportfreunde 07 Essen, das die Schalker 4:1 gewannen. In der Lokalpresse fand diese Partie keine Erwähnung, was einerseits merkwürdig anmutet, weil etwa die Gelsenkirchener Zeitung in knappen Artikeln regelmäßig über ausgetragene Partien berichtete oder zumindest die Spielergebnisse vermeldete, andererseits aber nicht weiter verwundert, weil die Fußballberichterstattung damals noch in den Kinderschuhen steckte.

In der Gelsenkirchener Presse erstmals nachweisbar ist ein Einsatz von Kuzorra in der Ligamannschaft für den 6. Januar 1924. An diesem Tag, einem Sonntag, absolvierten die Schalker ihr erstes Spiel unter dem neuen Vereinsnamen „FC Schalke 04“. Auf dem Platz an der Grenzstraße trafen sie auf den BV 12 Gelsenkirchen. In der Montagsausgabe des Westdeutschen Sport-Extra-Blattes, der Sportbeilage der Gelsenkirchener Zeitung, wies der Klub am 7. Januar in einer Anzeige auf die Umbenennung hin: .„Fußballklub Schalke 04 e.V‘ heißt fortan die Spielabteilung des Turn- und Sportvereins Schalke 1877, vorbehaltlich der Genehmigung des Verbandes“. Dieselbe Ausgabe unterrichtete ihre Leser auf der Titelseite auch über das Ergebnis einer Begegnung „B.V 12 Gelsenkirchen - Sportklub Beeck 04 Schalcke 1:4“. Offenbar herrschte in der Redaktion noch Verwirrung über den Namenswechsel. Im Innenteil folgte dann der Spielbericht, diesmal korrekt überschrieben mit „B.V. 12 Gelsenkirchen - F.C. Schalke 04 (vorm. 77) 1:4“.

Die Partie gegen den Lokalrivalen war die fünfte Rückrundenpartie der ersten „langen“ zweijährigen Saison 1922/24 in der Emscher-Kreisliga, und die „neuen“ Schalker gewannen 4:1. In dem für die damalige Zeit recht langen Artikel wurde, was seinerzeit äußerst selten vorkam und ein Indiz für herausragende Leistungen war, nur ein Spieler namentlich erwähnt: „Wieder zieht F.C. vor das feindliche Tor, wo ein blendend eingeleiteter Angriff von Kuzorra im letzten Moment durch Linksaußen abseits gestellt wird.“ Dem 18-Jährigen gelangen in der Partie zwei Treffer, die beiden anderen gingen auf das Konto von Heinrich Seppelfricke.

Diese erste namentliche Erwähnung Kuzorras als Mitglied der ersten Mannschaft bedeutet aber nicht, dass dies auch sein erster Einsatz in der Schalker Ligaelf war. Denn offenbar spielte er schon länger in der ersten Mannschaft, worauf zwei Artikel aus der Gelsenkirchener Allgemeinen Sportzeitung vom selben Frühjahr schließen lassen. So berichtete das Blatt am 31. März 1924 ausführlich über eine Auswärtspartie der Schalker gegen Jugend Düren, welche die Schalker nur knapp mit 3:2 (1:2) für sich entschieden, denn „Schalke erlaubte sich Schnitzer, wie man es nicht gewohnt ist“. Über Kuzorra heißt es, er „war gegen früher auch nicht der alte, das entschuldigt aber seine lange Krankheit, ebenso die alte Verletzung vom letzten Meisterschaftsspiel“. Immerhin erzielte „Kuzora durch schönen Prachtschuß“ den Ausgleich.

Als die Schalker am 18. Mai 1924 im letzten Spiel der „zweiten Halbserie“ der Saison 1922/24 gegen Wattenscheid 09 über ein 1:1 nicht hinauskamen, befand die Gelsenkirchener Allgemeine Sportzeitung: „Der Sturm zeigte keine saubere Arbeit. [...] Kuzora immer noch zu langsam.“ Wohl aufgrund der Verletzung und Krankheit, welche das Blatt in seinem Spielbericht vom 31. März erwähnte. Offenbar war Kuzorra da für die erste Mannschaft längst unverzichtbar, und das nicht nur, wenn es gegen den ärgsten Lokalrivalen STV Horst-Emscher ging: „Im Schalker Sturm vermißte man den Halblinken, trotzdem ist eine leichte Überlegenheit nicht zu verkennen“ (TuS, 3.11.1924).

Den „Halblinken“ hatte Turnen und Sport bereits zwei Jahre zuvor in der Ausgabe vom 18. April 1922 in einem Spielbericht über eine Begegnung zwi- sehen „Schalke 77 1 B“ und der 1. Mannschaft des TV Ockendorf erwähnt. Das Spiel fand am Karfreitag, den 14. April, statt, und die Sehalker Liga-Reserve gewann 5:1: „Fünf Tore waren der Erfolg der Anstrengungen der blau-weißen Stürmer, die beiden ersten waren Praehtleistungen des Halblinken, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.“ Und wer konnte damit anders gemeint sein als der 16-Jährige aus der Schalker Blumenstraße?

Erstmals namentlich erwähnt wurde Kuzorra von derselben Zeitung anderthalb Jahre später, als Turnen und Sport in der Ausgabe vom 10. September 1923 über eine Partie der Schalker Reserve gegen die Reserve von Union Gelsenkirchen im benachbarten Rotthausen berichtete. Gespielt wurde um einen von einem örtlichen Geschäftsmann gestifteten Pokal, und die Schalker gewannen 3:0: „[...] aufgeregtes Spiel auf beiden Seiten. Wer wird Sieger? Der Bann, der die Zuschauer in Spannung hielt, wird gebrochen, als der kleine Halblinke Kozora unhaltbar einsendet. Ein Prachtschuß.“

Der 17-Jährige gehörte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht zum festen Kader der Liga-Elf, mit der er am 22. April 1923 gegen die Sportfreunde Essen aufgelaufen war, sondern erspielte sich über regelmäßige Einsätze in der Reserve allmählich einen Stammplatz in der ersten Mannschaft.

Ob Kuzorras Einsatz in der Partie gegen die Essener am 22. April 1923 aber tatsächlich sein Ligadebüt war oder ob er seinen Einstand in der „Ersten“ schon eine Woche zuvor, am 15. April, gegen Germania Bochum gab, wo, wie das Fachblatt Fußball und Leichtathletik in seiner Ausgabe vom 24. April 1923 berichtete, Schalke 77 „jüngere Kräfte“ ausprobierte, „die sich auch teilweise bewährten“ (deren Namen das Blatt seinen Lesern aber verschwieg), oder ob er erst ein knappes Jahr später beim 4:1 gegen den BV 12 Gelsenkirchen erstmals mit der Liga-Elf auflief, dürfte allerdings aufgrund der mageren Quellenbasis auch weiterhin ebenso im mythischen Dunkel bleiben wie die Anfänge des Vereins, dem er zeitlebens symbiotisch verbunden blieb.1

Die spielbestimmenden Mannschaften im deutschen Fußball kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aus dem Ruhrgebiet: Der VfB Leipzig, die SpVgg Fürth und der 1. FC Nürnberg spielten die Deutsche Meisterschaft mehr oder weniger unter sich aus. Noch war das Revier Fußballdiaspora, der Fußball ein Zeitvertreib von Real- und Oberschülern aus bürgerlichen Elternhäusern.

Erst allmählich begeisterten sich nach der Jahrhundertwende auch kleine kaufmännische und technische Angestellte und Kaufleute für den vielfach noch als „Fußlümmelei“ verunglimpften neuen Sport aus England. Sie strebten auf diesem Wege nach gesellschaftlicher Anerkennung und Akzeptanz in Kreisen des Bürgertums. Dass ausgerechnet die wilhelminischen Militärs dem Fußball in Deutschland dann zum Durchbruch als proletarischem Massensport verhaften, mutet angesichts der Tatsache, dass der zivile Spielbetrieb im Ersten Weltkrieg weitgehend zum Erliegen kam, paradox an.

„Ein Zeichen der Wegwerfung“

Der Hass auf den Fußball aus England nahm im Deutschen Kaiserreich teils groteske Formen an. Die Kirchen beider Konfessionen fürchteten um die Sonntagsruhe, die wilhelminische Obrigkeit beanstandete die Sittenwidrigkeit der Sportkleidung, und beide fürchteten, dass ein Fußballspieltag unweigerlich in einer Sauftour durch die Kneipen der Umgebung enden würde. Andere Kritiker sahen mit dem Fußball mehr oder weniger den Untergang des Abendlandes heraufziehen. So zog der Philosoph und Turnführer Karl Christian Planck in seiner kultur- und zivilisationskritischen Kampfschrift Fußlümmelei - Über Stauchballspiel und englische Krankheit sämtliche Verachtungs- und Empörungsregister und versuchte, dem Fußballspiel pseudowissenschaftlich den Garaus zu machen:

„Was bedeutet aber der Fußtritt in aller Welt? Doch wohl, dass der Gegenstand, die Person nicht wert ist, dass man auch nur die Hand um ihretwillen rührte. Er ist ein Zeichen der Wegwerfung, der Geringschätzung, ja schon, auf die bloße Form hin gesehen, häßlich. Das Einsinken des Standbeins, die Wölbung des Schnitzbuckels, das tierische Vorstrecken des Kinns erniedrigt den Menschen zum Affen.“

Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche deutsche Schulbehörden das Fußballspielen verboten, in Bayern etwa blieb es an Schulen bis 1913 untersagt.

Eine Erklärung bietet die im Militär schon früh verbreitete Erkenntnis, dass der Konkurrenz- und Wettkampfgedanke des Fußballs sich bestens für Zwecke der Wehrertüchtigung und zur Steigerung der Kamp&raft instrumentalisieren ließ. Auf diese Weise kamen hinter den Fronten des Krieges Hunderttausende eingezogene Arbeiter erstmals in Kontakt mit dem runden Leder. Und nachdem die Angestellten schon seit den 1890er-Jahren in den Genuss des arbeitsfreien Sonntags gekommen waren, bescherte der 1918 reichsweit eingeführte Achtstundentag erstmals auch der Arbeiterschaft ein nennenswertes Mehr an Freizeit, die nun auch für sportliche Aktivitäten genutzt werden konnte.

Dem standen allerdings in den zumeist jeglicher soziokultureller Infrastruktur entbehrenden industriellen Agglomerationen an Ruhr und Emscher, abgesehen von den organisatorischen Bemühungen der politischen Lager und der Kirchen, keine adäquaten Freizeitangebote gegenüber. Was Preußens „Wilder Westen“ stattdessen reichlich bot, waren Freiflächen zwischen Siedlungshäusern und autofreie Straßen, auf denen bewegungshungrige Jugendliche nach Feierabend dem stupiden Fabrikdrill entfliehen konnten.

Somit erwiesen sich die unter dem Primat der Industrie wild wuchernden Revierstädte bei aller städtebaulichen Unzulänglichkeit letztlich als ein ideales Fußballbiotop. Hier fand im Schatten von Fördertürmen, Fabrikschloten und Hochöfen, zwischen Werkssiedlungen, Versorgungsleitungen, Bahnstrecken und Brachflächen jeder, der die Lust verspürte und ein Talent dafür hatte, gegen einen Ball zu treten, günstige Voraussetzungen vor, um den neuen Sport auszuüben. Für die bislang meist unter dem Dach von Turnvereinen existierenden Fußballabteilungen an Rhein und Ruhr, die sich nach der von der „Deutschen Turnerschaft“ (DT) am 1. September 1923 beschlossenen „reinlichen Scheidung von Turnern und Sportlern“ gezwungenermaßen als eigenständige Vereine konstituierten, bildeten diese Jugendlichen ein schier unerschöpfliches Reservoir.

Und einer dieser fußballverrückten Halbwüchsigen war der kleine Ernst Kuzorra aus der Blumenstraße in der Gemeinde Schalke, der sich Jahrzehnte später noch gut an seine frühe Fußballbesessenheit erinnerte: Als Kind konnte ich keinen Stein und keine Blechdose auf der Straße liegen lassen. Jeden Tag, so Gott will, gab es nur Fußball, Fußball.2 Was sein Bruder Willi Jahre später bestätigte: „Er konnte keine Blechdose liegen sehen“ und sei bei jedem etwas tiefer hängenden Ast hochgesprungen: „Dann hat der Ernst Kopftälle geübt!“

* * *

Vom größten aller Schalker zu erzählen heißt auch von dem Verein zu erzählen, der zeitlebens Kuzorras fußballerische Heimat war und dem er bis zu seinem Tod untrennbar verbunden blieb. Es hat in der Geschichte des Fußballs viele symbiotische Beziehungen zwischen einem Spieler und einem Verein gegeben. Man denke an Lionel Messi und den FC Barcelona oder an Uwe Seeler und den Hamburger SV. Jüngstes Beispiel für solche unerschütterliche Vereinstreue ist die Liaison von Francesco Totti mit der AS Rom, die im Mai 2017 nach 28 Jahren endete. Doch wohl niemals war eine solche Beziehung inniger und dauerhafter als die zwischen Ernst Kuzorra und dem FC Schalke 04.

Die vorliegende Biografie zeichnet somit nicht nur das Leben des Schalker Ausnahmespielers nach, sondern erzählt zugleich die Geschichte von Schalke, genauer gesagt, zweier Schalkes: des Vereins und des Ortsteils, die beide ebenfalls symbiotisch miteinander verbunden waren. Ohne die Erfolge der Schalker Fußballer wäre die seinerzeit noch selbstständige Gemeinde Schalke wohl im Zuge der Zusammenfassung mit dem Stadtkreis Gelsenkirchen, mit Heßler, Braubauerschaft, Bulmke-Hüllen und Ückendorf im Jahr 1903 sang- und klanglos in der Anonymität der neuen, 140.000 Einwohner zählenden Großstadt Gelsenkirchen untergegangen. Der Aufstieg des FC Schalke 04 hingegen sorgte dafür, dass der Name Schalke in den 1920er- und 1930er-Jahren über die Region hinaus zu einem Begriff wurde - und zum Synonym für eine neue, aufregende Fußballkultur. Deren Protagonisten schickten sich damals an, den süddeutschen Vereinen die Vorherrschaft im deutschen Fußball streitig zu machen.

Und der Ortsteil Schalke bot ideale Bedingungen zur Verwirklichung solcher Träume, hatten die prosperierenden Betriebe der Schwerindustrie und des Bergbaus doch ein vitales Interesse daran, die seinerzeit übliche wilde Fluktuation teils ganzer Belegschaften zu unterbinden. Weshalb sie bereit waren, die Gründung von Vereinen nach Kräften zu unterstützen, von denen sie sich erhoffien, dass sie ihre Mitglieder zu mehr Sesshaftigkeit animieren würden. Die Integration am Arbeitsplatz sollte Hand in Hand gehen mit der sozialen Integration über gemeinsame Aktivitäten in einem frühindustriellen Umfeld, in dem Arbeit, Wohnen und Freizeit noch eine Einheit bildeten. Und welche Vereine wären dazu besser geeignet gewesen als solche, in denen eine Sportart betrieben wurde, deren Durchbruch zum Massenspektakel nach dem Ersten Weltkrieg auch in Deutschland nicht mehr aufzuhalten war.

Der Fußball faszinierte und elektrisierte die proletarischen Massen, weil er den Träumen der Arbeiter von Aufstieg und Erfolg und ihren Sehnsüchten nach Anerkennung und sozialer Teilhabe erstmals eine breite Projektionsfläche bot. Und als der „Malocherklub“ Schalke 04 mit seinem Kapitän Ernst Kuzorra in den 1920er- und 1930er-Jahren zahlreichen Widerständen zum Trotz zur beherrschenden Kraft im deutschen Fußball aufstieg, empfanden Hunderttausende von Arbeitern an Rhein und Ruhr dies auch als einen Triumph ihrer Region, der Kuzorra und „seine“ Schalker endlich jenes Selbstwertgefühl und jenen Stolz vermittelten, die sie in ihrer eigenen, oftmals von Demütigungen und Niederlagen, von Unterdrückung und Entbehrung geprägten industriellen Existenz nicht fanden.

* * *

Kuzorra und Schalke, Schalke und Kuzorra - um diese beiden Pole kreisen die nachfolgenden Kapitel. Sie gehen den wechselseitigen Einfl üssen auf den Grund, indem sie danach fragen, inwieweit der Erfolg des einen die Ausnahmestellung des anderen bedingte und umgekehrt. Um jedoch nicht der Entstehung einer neuen Legende Vorschub zu leisten, wonach der Erfolg der Schalker beinahe ausschließlich dem Ausnahmetalent Kuzorras zu verdanken sei, gilt es nach weiteren Faktoren zu suchen, die diesen Erfolg ermöglichten oder zumindest begünstigten. Allen Ausnahmekönnern zum Trotz war und ist Fußball ein Mannschaft ssport, in dem zwar einzelne Spieler Akzente setzen und herausragende Akteure durchaus Spiele entscheiden, ihre Teams prägen und zum oftmals irrationalen Mittelpunkt von Publikumsinteresse und Fanverehrung werden, in dem aber letztendlich immer die ganze Mannschaft gewinnt, in dem der Erfolg letztendlich immer ein mannschaftlicher ist, ganz gleich, wer die Tore erzielt. Das wusste bei aller spielerischen Dominanz auch Ernst Kuzorra: Die Mannschaft war wichtig, nicht der Schütze. Daher ist die eingangs angestellte kontrafaktische Überlegung, ob der FC Schalke 04 seine Triumphe auch ohne Kuzorra errungen hätte oder ob Kuzorra mit einer anderen Mannschaft ebenso erfolgreich gewesen wäre und sie zu ebensolchen Höhen geführt hätte, letztendlich insoweit müßig, als der Erfolg eines Teams immer, damals wie heute, von zahlreichen - personellen und strukturellen - Faktoren abhängt. Auch ein herausragender Einzelspieler wie Kuzorra brauchte ein entsprechendes Umfeld und Rahmenbedingungen, um sein Talent und seine besonderen Qualitäten zu entfalten und zu dem zu werden, der er für zahlreiche Fußballexperten und für die Fans der Königsblauen sowieso bis in alle Ewigkeit bleiben wird: der größte aller Schalker.

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1 Wesentliche Informationen zu Kuzorras Anfängen in Schalke stammen aus mehreren Gesprächen mit dem Schalke-Statistiker Thomas Görge im November 2017.

2 Editorischer Hinweis: Um sie von anderen Zitaten abzuheben und sich ständig wiederholende Formulierungen wie „erinnerte sich Kuzorra“, „meinte Kuzorra“ u.ä. zu vermeiden, erscheinen sämtliche Kuzorra- Zitate hier und in den nachfolgenden Kapiteln in Kursivschrift ohne Anführungen.