ISBN 978-3-492-97568-1

Januar 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Illustrationen: Timo Kümmel

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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1. Rivalen

»Mir würde das nicht munden.« Zweifelnd betrachtete Gonter den schwarzen Wurm, der sich im Maul des Feuersalamanders wand.

»Gebraten können sie ganz lecker sein«, meinte Eivora.

Sie lachte, weil Gonter sein Gesicht verzog, sodass es wie ein zerknautschter Lederball aussah.

»Mit Gemüse«, fuhr sie, noch immer lachend, fort. »Man nimmt nur ganz wenig Öl, dann knistern die Würmer in der Pfanne. Am besten schmecken sie auf Kohlblättern, wenn man etwas Butter darübergießt.«

»Hör auf!« Gonter schüttelte sich und spuckte aus.

Aglix, der Feuersalamander, bevorzugte seine Mahlzeit roh. Mit einem Ruck des gelb-schwarzen Köpfchens schleuderte er den Wurm in die Luft und fing ihn geschickt so wieder auf, dass er ihn wie eine Nudel einschlürfen konnte. Für einen Moment sah es so aus, als wände sich eine ungewöhnlich dicke, schwarze Zunge aus seinem Maul.

»Außerdem sind Felswürmer nützlich«, erklärte Eivora. »Sie bohren sich durchs Lavagestein und machen Mutterboden daraus. Ohne sie würde hier nichts wachsen.«

Jetzt wirkte Gonter interessiert. Der große, breitschultrige Mann ging sogar in die Hocke und strich das brünette Haar zurück, um zu beobachten, wie der letzte Zipfel des Wurms in Aglix’ Maul verschwand. Eivora dagegen betrachtete lieber das Spiel der Muskeln unter dem Stoff von Hose und Hemd. Die Erinnerung daran, wie sie den kräftigen Körper in der vergangenen Nacht erkundet hatte, wärmte sie.

Gonter schob seine Pranke durch das Gras, das hier im Ascheland spröde und dunkelgrün war, auf Aglix zu. Es war eine Einladung an den Feuersalamander, aufzuspringen und sich in die Höhe heben zu lassen.

Aglix’ Kehle zuckte. Der kleine Körper ruckte herum und huschte zwei Handspannen weit in Sicherheit.

»Er hat noch immer Angst vor mir«, stellte Gonter fest.

Eivora schmunzelte, als der Lurch ihren Stiefel und dann ihr Bein heraufkletterte.

»Er weiß eben, wo er bequem sitzt.«

Aglix verharrte am Gehänge des Kurzschwerts, bevor er seinen Weg auf die linke Schulter fortsetzte.

Gonter stand wieder auf. »Wird es hier niemals heller?« Wenn er in die Ferne schaute, die Augen leicht zusammengekniffen und das Kinn vorgereckt, ähnelte er einer Heldenstatue. Solche Standbilder bröckelten mit der Zeit. Der Gedanke gefiel Eivora nicht.

Die milchige Sonnenscheibe sah aus, als läge sie hinter einem Schleier, so wie auch der Himmel, der grau erschien, obwohl die Wolken weitergezogen waren. »Das Ascheland kennt kaum sonnige Stunden«, antwortete sie. »Irgendeiner von Rorgators Vulkanen spuckt immer, und der Seewind treibt die Asche über das Land westlich der Stadt.«

»Ohne den Staub in der Luft wäre es ein schöner Tag.«

»Windstill ist es hier beinahe nie. Aber wir können zur Hornspitze reiten. Der Hügel ist so hoch, dass wir dort klare Sicht über das Umland haben müssten.«

»Dürfen wir die anderen denn allein lassen?« Gonter sah zu den Ochsenkarren hinüber. Einer stand vor der Scheune, dem einzigen größeren Gebäude außerhalb der Mauer von Togusos Wehrhof, der wie eine kleine Burg wirkte. Wer dort eingeteilt war, hatte es leicht. Man brauchte das Heu nur mit Forken aus der Dachluke zu befördern. Die anderen drei Fuhrwerke warteten vor dem Tor. Die Öffnung in der Bruchsteinmauer war zu eng für sie, sodass die Sklaven die Abgaben für die Stadt ächzend herausschleppen mussten. Ein Wagen war schon beinahe mit Fässern und Säcken gefüllt.

»Hier gibt es keine Schwierigkeiten«, stellte Eivora fest.

Der durch den Rat von Eisen und Gold bestellte Schreiber trug auf seiner Liste die Menge an Getreide und Äpfeln ein. Neben ihm standen zwei Hellebardiere. Einer von ihnen lehnte sich auf den Schaft der Waffe und kämpfte augenscheinlich gegen seine Müdigkeit.

Pirlitu kam aus dem Tor. Die schwarze Frau hielt eine große Armbrust lässig über die Schulter gelegt. Drei Halbwüchsige folgten ihr. Einer trug eine strahlend grüne Tunika und hatte das flachsblonde Haar sauber auf Kinnlänge geschnitten. Die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, kleideten sich einfacher. Da kein Reif um ihren Hals lag, waren sie Freie, also wohl Kinder von Pächtern, die das Land für den Wehrbauern beackerten.

»Ihr stellt euch gut an«, lobte Pirlitu. »Probieren wir es auf etwas weitere Entfernung!«

»Sollen diese Kinder die nächsten Armbruster des Klingenrauschs werden?«, zweifelte Gonter.

»Ich war zwölf, als ich meinen Vater auf den ersten Feldzug begleitet habe«, erinnerte Eivora.

Gonter seufzte. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, wie anders ihr lebt.«

»Pirlitu weiß, was sie tut.« Eivora zeigte auf die kleine Gruppe. »Vor drei Stunden sind die Werber ausgeritten. Während du bei den Ochsen geholfen hast, haben sich bestimmt vier Dutzend Interessenten eingefunden. Die meisten sind mit hängenden Köpfen wieder abgezogen. Jetzt sind es noch drei, und auch wenn sie mit nach Rorgator kommen, ist ungewiss, ob sie die Ausbildung überstehen.«

»Was denkst du, wie lange es dauert, bis Pirlitu ihre Verluste ausgeglichen hat?«

»Ihre Einheit hat eine Sollstärke von fünf Bannern«, rechnete Eivora achselzuckend. »Nach der Schlacht von Ygôda waren noch einhundert Armbruster einsatzfähig, aber die zwei Wochen seither haben einigen Verwundeten gereicht, um sich zu erholen.« Bei der Erwähnung der Verletzten zwickten die Fäden in Eivoras Bein, wo die Axt sie getroffen hatte. »Trotzdem muss sie etwa die Hälfte neu rekrutieren. Aber sie wird lieber mit drei Bannern in die Schlacht ziehen, auf die sie sich verlassen kann, als mit fünf mäßigen.«

»Bedeutet eine geringe Anzahl an Kämpfern denn nicht auch, dass der Preis sinkt, den der Klingenrausch für seinen Dienst verlangen kann?«

»Doch, aber wenn wir unseren Elitestatus verlieren würden, wäre das schlimmer. Es gibt nur vier andere Legionen, die so hoch eingestuft sind wie wir.«

Pirlitu zog mit Kreide einen Kreis auf die Bretterwand der Scheune und maß fünfzehn Schritt Entfernung ab.

»Lass uns zur Hornspitze reiten«, schlug Eivora erneut vor. »Ich will dir die Gegend zeigen.«

In der Umgebung des Wehrhofs standen halb kahle Bäume einzeln oder in kleinen Gruppen auf den abgeernteten Feldern. In einiger Entfernung sah man weitere Gehöfte, ebenso trutzig wie Togusos Besitz. Im Osten stieg das Massiv aus ineinander übergehenden Kegelbergen steil an. Seit einer Woche war der Frejo sehr aktiv, das Magma brannte tiefrot an seiner Flanke. Ein befestigter Pfad führte zwischen den Vulkanen hindurch in den sich zum Meer öffnenden Talkessel, in dem Rorgator lag.

Mit ausgebreiteten Armen kam Toguso auf sie zu, als sie die Pferde losmachten. »Ihr wollt mich doch nicht etwa verlassen, ohne von meinem Wein gekostet zu haben?«

»Hier wächst Wein?«, staunte Gonter. »Die Winzer meines Vaters bestehen darauf, dass ein Hang gar nicht genug Sonne haben kann, um gute Trauben gedeihen zu lassen.«

Toguso lachte. Er war so groß wie Gonter, und früher hatte er wohl über ebenso viel Kraft verfügt, aber das Alter formte seine Schultern weicher und den Bauch runder. Die Augen jedoch kündeten vom Instinkt eines Kriegers, selbst, wenn Fältchen an ihren Winkeln gerade von seiner fröhlichen Stimmung zeugten. »Du hast ganz recht, der Tropfen stammt nicht von meinem eigenen Boden. Edler Wein ist eine Leidenschaft, für die ich gern mein Silber gebe. Ich wäre geehrt, wenn ein Kenner wie du, Prinz Gonter, mir helfen könnte, herauszufinden, ob ich meinen Reichtum klug angelegt habe.«

»Ich gestehe, die Asche trocknet meine Kehle aus.« Gonter rieb über seinen Hals. »Gegen ein Gläschen wäre doch nichts einzuwenden, oder?« Fragend sah er Eivora an.

Zwischen den hünenhaften Männern kam sie sich besonders klein vor, aber unsicher fühlte sie sich trotzdem nicht. Stattdessen fragte sie sich, wieso der Wehrbauer so freundlich zu den Begleitern derjenigen war, die ihm Rorgators Anteil an seiner Ernte nahmen. Ein solcher Besuch war niemals Grund zur Freude.

»Woher weißt du, dass Gonter ein Prinz ist?«, fragte sie.

Togusos Lächeln erschlaffte nur kurz und kehrte umso breiter zurück. »Ich weiß noch, was sich in Rorgator tut. Neugier ist ein Laster, das man kaum ablegen kann, wenn man einmal Bannerherr gewesen ist.«

»Du hast eine Hundertschaft Söldner befehligt?«, fragte Gonter. »Dann hast du die Finger sicher in der Schlacht verloren.«

Die Lederkappe an Togusos rechter Hand sah auf den ersten Blick wie ein Handschuh aus, der den Daumen freiließ. In Wirklichkeit steckte jedoch nur der Zeigefinger in einer Hülle. Die drei äußeren waren Nachbildungen, entweder aus Holz oder aus Metall. Sie behielten unbeweglich ihre Krümmung bei. Wohl deswegen trug Toguso sein Schwert auf der rechten Seite.

»Leider liegt keine Ehre in dieser Verletzung.« Der Wehrbauer machte sich auf den Weg zum Tor, und da Gonter ihm folgte, schloss sich auch Eivora an. »Meine Finger liegen in der Schatzhalle meiner Legion, um jeden daran zu erinnern, dass du dich besser nicht besäufst, wenn die Kameraden dich in der Schlacht brauchen.«

»Eine Strafe also«, stellte Eivora fest.

Toguso nickte. »Eine gerechte. Damit«, er schwenkte die verkrüppelte Hand, »kann ich natürlich nicht mehr mithalten. Aber ich habe genug Silber für meine Dienste bekommen, um diesen Hof zu kaufen.«

Hinter dem Tor öffnete sich ein kleiner Hof. Außer dem Herrenhaus drängten sich hier auch eine Schmiede, der Speicher und die Gesindeunterkünfte.

Eine Frau mit blonden Zöpfen kam ihnen mit einem Mädchen an der Hand entgegen. »Ich will nicht, dass Estro sich anwerben lässt!«, rief sie besorgt.

»Nicht jetzt, mein Herz.« Toguso legte die Hände an die Schultern der wenigstens zwanzig Jahre jüngeren Frau. »Wir reden später darüber.«

»Aber er ist da draußen mit der Kampfherrin! Ich will nicht, dass sie ihn mitnehmen!«

»Niemand nimmt ihn mit. Gönn ihm doch, dass er zeigen kann, wie geschickt er mit der Armbrust ist.«

»Mit Stolz fängt es immer an, und hinterher ist man tot!«

»Wir reden gleich darüber, mein Herz. Erst muss ich unseren Gästen vom Wein kredenzen.«

»Ich will nicht …«

»Gleich!«, rief er scharf.

Stumm drückte sie das Mädchen an sich.

Im Erdgeschoss gab es nur schmale Fenster in den aus groben Steinen gefügten Wänden. Kein Angreifer, der die Außenmauer überwinden mochte, würde sich hier hindurchquetschen können. Im ersten Stockwerk dagegen waren die auf den Hof gehenden Fenster weiter und ließen das verschleierte Tageslicht herein. Oberhalb der Eingangstür führte eine Röhre durch die Wand. Hier konnte man siedendes Öl auf Gegner gießen, die sich mit einer Ramme Zutritt erzwingen wollten.

Die heimelige Einrichtung schien gegen den wehrhaften Bau zu rebellieren. Toguso entzündete Kerzen auf einem gläsernen Tischleuchter, auf dessen Armen angeraute Flächen Hirsche und Hasen zeigten. Sie sahen aus wie Reif an Fensterscheiben.

»Vielleicht wollt ihr die Stiefel ausziehen«, bat Toguso. »Meine Frau liebt diesen Teppich.«

Er war aus haardünnen Fäden geknüpft. In warmem Gelb und Ocker zeigte er eine Wüstenlandschaft, über der sich ein blauer Himmel spannte.

Sie folgten der Aufforderung des Hausherrn.

»Er kitzelt unter den Füßen.« Gonter schmunzelte. Neugierig musterte er die geschwungenen Tischbeine, die Vitrinen mit zerbrochenen Klingen, die Schnitzereien an der Tür und das Dutzend Öllämpchen, die sich an einem Gestänge unter der Decke drehten.

»Musst du den Zorn deiner Frau nicht fürchten?« Eivora zeigte auf die Stiefel, die Toguso noch immer trug.

Er stellte eine Karaffe auf den Tisch und sah an sich hinunter. »Du hast recht, aber sie wird mir noch mehr zürnen, wenn ich mir ihre Sorgen nicht sofort anhöre.« Er zeigte auf ein Regal, auf dem wie Blütenkelche geformte Gläser standen. »Schenkt uns ein, wenn ihr so gut sein wollt. Ich bin gleich zurück.«

Damit eilte er hinaus.

»Ein netter Mann«, sagte Gonter. »Ich verstehe nur nicht, wieso er in diesem Ascheland lebt.«

Nachdenklich brachte Eivora die Trinkgefäße zum Tisch. Der Teppich kitzelte tatsächlich unter den nackten Füßen, aber sie sah Abdrücke von Stiefeln, auch an den Stellen, die Toguso diesmal nicht betreten hatte.

»Er ist ein Veteran«, sagte sie. »Viele ehemalige Söldner erwerben Land vor den Bergen. Hier sind sie weitgehend ihre eigenen Herren, und für Rorgator bilden die Wehrhöfe einen Schutzgürtel.«

»Das klingt nach einem Vorteil für alle.«

Eivoras Blick fiel auf einen Eisenharnisch, der an einer schmalen Treppe hing, die wohl zum Dach hinaufführte. Die Ziselierung zeigte einen kreischenden Vogel, der dem Betrachter mit ausgebreiteten Flügeln Tropfen entgegenfächelte. »Er war bei den Blutkrähen!«

Gonter runzelte die Stirn. »Ist das schlecht?«

Eivora betastete das Metall. »Das weiß ich noch nicht. Die Blutkrähen sind unsere ärgsten Rivalen.«

»Aber er ist jetzt ein Veteran«, gab Gonter zu bedenken.

Langsam nickte sie. Sie sah auf ihre Stiefel, die neben der Tür standen. Barfuß konnten sie draußen nicht schnell laufen. Im Ascheland war das scharfkantige Lavagestein häufig, es riss einem die Sohlen auf.

»Hier ist etwas faul«, murmelte sie.

Lachend reichte Gonter ihr ein gefülltes Glas. »Richtig. Deine Sorge ist unpassend. Entspann dich! Wir sind nicht mehr auf einem Feldzug. Lass doch mal locker.« Er schwenkte die rote Flüssigkeit. »Dem Geruch nach könnte es wirklich ein guter Tropfen sein.«

Aglix streckte das Köpfchen und züngelte.

»Siehst du?«, fragte Gonter. »Er stimmt mir zu.«

Eivora nahm das Glas.

Gonter tauchte den kleinen Finger in seinen Wein und ließ den Lurch daran lecken. »Ein gemeinsamer Trunk war schon oft der Beginn einer Männerfreundschaft.«

Eivora seufzte. »Also gut. Aber wir ziehen die Stiefel wieder an.«

»Wieso bist du so ungemütlich?«

In ihr machte sich ein ganz schlechtes Gefühl breit, aber wie sollte sie Gonter das erklären? So eine Regung hatte sie verspürt, als der Klingenrausch durch den Hohlweg vor Askelion marschiert war und die Späher die Abkürzung übersehen hatten, über die ihre Gegner in die Flanke gebrochen waren. Aber sie befanden sich nicht auf dem Marsch, sondern in einem gemütlichen Zimmer mit einem weichen Teppich. Gonter würde das nicht verstehen. Sie konnte ja selbst nicht greifen, woher ihre Unruhe kam.

Aber musste sie es ihm überhaupt erklären? Sie war eine Kampfherrin, und über seinen Status in der Legion war noch nicht einmal entschieden. Sie hatte den Befehl, und daran änderte auch der Umstand nichts, dass sich seine kräftigen Hände ihr nachts so zärtlich widmeten. Sie war ihm keine Rechenschaft schuldig, wenn sie eine Entscheidung traf.

Das war jedoch ein Thema, das sie derzeit lieber vermied. Es wäre es wirklich schade, die Zeit, die ihnen die Pflichten des Söldnerlebens ließen, mit Streit zu verschwenden. Eine kleine List mochte da mehr Gewinn bringen.

»Wir steigen aufs Dach.« Sie zeigte die Treppe hinauf. »Ich will dir doch die Umgebung zeigen, und da wir nicht zur Hornspitze kommen, muss dieses Haus als Ausguck genügen.«

Sie verließen den weichen Teppich, zogen die Stiefel an, nahmen ihre Gläser und begannen, die Stufen hinaufzusteigen.

»Erzähl mir noch einmal von deiner Heimat«, bat Eivora. Mit festem Schuhwerk fühlte sie sich schon sicherer, und sie hörte ihn gern davon reden. Das beruhigte sie.

»Ich bin in einem Land voller Wälder aufgewachsen«, sagte Gonter. »In den Bergen stehen vor allem Tannen. Im Abendlicht erscheinen sie blau, bei Mittag tiefgrün. In den Senken wachsen Birken mit hellem Laub und weißen Stämmen. Wenn die Rehe dazwischen …«

Eivora schrie auf, weil ein plötzlicher Schmerz in ihren linken Oberschenkel stach.

»Was ist los?«, fragte Gonter.

Sie presste die Hand auf die Wunde. Die Pein verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Nur ein Pochen blieb zurück. »Eine ungeschickte Bewegung«, sagte sie.

»Die Liebe strengt manchmal mehr an als ein Gewaltmarsch«, neckte er. »Vielleicht sollte ich dich ein wenig schonen.«

»Untersteh dich!«, warnte sie, während sie den Verschluss der Klappe am Kopfende der Treppe öffnete.

»Du bist also dagegen, dass ich dich schone?«

»Auf jeden Fall.« Sie drückte die Klappe auf.

»Und warum schonst du mich dann?« Mit einem Mal war seine Stimme ernst.

»Das würde mir nie in den Sinn kommen«, erwiderte sie schwach, während sie aufs Dach trat.

Die Schräge stieg nur maßvoll an, überall konnte man stehen. Unter den Zinnen öffneten sich runde Löcher, durch die normalerweise wohl das Regenwasser abfloss, die man aber bei einem Angriff auch für siedendes Öl benutzen könnte.

»Du weißt, was ich meine.« Auch sein Gesicht war ernst.

Sie fühlte sich, als würde ihr eine Waffe entwunden. Aber Gonter war kein Gegner. Vielleicht war er der Mann, den sie liebte. Sie wusste nicht genau, wie sich so etwas anfühlte.

»Du hast Togusos Hand gesehen.« Sie zog ihre Tunika hoch, um die Narbe an ihrem Bauch zu entblößen. »Und auch bei mir war es mehr als ein Mal knapp.«

»Ich bin doch jetzt da, um auf dich aufzupassen.«

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »So ist das nicht. Söldner kämpfen nicht für ihre Liebste, sondern für ihre Einheit. Du wirst Befehle erhalten, die uns manchmal trennen und ein andermal zusammenführen werden. Du kannst nicht kämpfen, wo du willst.«

»Aber wir werden unter demselben Banner stehen.«

Sie sah ihm in die Augen. »Wieso? Warum willst du dir das antun?«

Er verzog den Mund. »Weshalb fragst du das? Du weißt, dass ich mit dem Schwert umgehen kann, also tu nicht so, als wäre ich ein grüner Junge. Ich war mit dir gemeinsam in Ygôda!«

»Ja, und das war deine erste Schlacht.«

»Aber nicht meine letzte.«

»Warum?«, rief sie. »Man wird Söldner, weil die Heimatstadt zerstört wurde. Weil man dem Hunger entkommen will. Weil man in eine Familie von Kriegern geboren wurde. Weil man Reichtum sucht. Und der sieht oft so aus.«

Sie zeigte über das Land. Hier gab es keine Wälder, sondern nur abgeerntete Felder und ein paar Baumgruppen in einer hügeligen Landschaft, auf die ein Himmel aus Asche drückte.

»Und zwar auch nur, wenn man ihn erlebt. Toguso hatte Glück, er hat nur ein paar Finger verloren. Andere lassen einen Arm oder ein Bein auf dem Schlachtfeld.«

Mit einem hellen Klicken stellte er sein Glas auf dem Dach ab. Er nahm sie in seine Arme, und sie genoss es, seine Kraft zu spüren. Solche Momente konnte man nicht mit Schätzen aufwiegen.

Aber man konnte sie auch nicht wie Schätze hinter dicken Mauern horten und für die Ewigkeit bewahren. Sie kamen und gingen wie Sonnenstrahlen.

»Ich habe in einem Käfig aus Seide und Silber gelebt«, flüsterte Gonter in ihr Haar. »Jetzt bin ich frei und bei der Frau, die ich liebe. Ich könnte nicht glücklicher sein. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Eivora spürte Tränen aufsteigen und ärgerte sich darüber, weil sie nicht weinen wollte. Sie hätte Gonter wegstoßen sollen, damit er von dieser Träumerei abließe. Er verstand nicht, was es bedeutete, immer wieder in eine Schlacht zu ziehen. Söldner sprachen selten von der Zukunft, weil sie wussten, dass die meisten von ihnen keine hatten. Kampf, immer wieder Kampf, das war es, was den Dämonen gefiel, und nur die Stärksten überlebten das. Eivora war verwirrt, weil sie nicht begriff, wieso sie das auf einmal störte. Selbst der Gedanke an ihren Hort aus Silbermünzen vermochte sie nicht zu trösten.

»Ich habe Angst davor, dass du irgendwann aufwachst und erkennst, was du aufgegeben hast«, gestand sie. »Und dann wirst du mich hassen.«

»Nein«, sagte er ernst. Er hob ihr Kinn an und küsste sie. »Ich werde niemals gering von der Frau denken, die mich aus den Fesseln meines Vaters befreit hat.«

Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Gonter bringt mich durcheinander, erkannte sie. Für sie war es immer selbstverständlich gewesen, von Schlachtfeld zu Schlachtfeld zu marschieren, bis sie schließlich auf einem liegen bleiben würde. Sie hatte auch nie Probleme damit gehabt, die Krieger unter ihrem Befehl gefährlichen Situationen auszusetzen. Ausgerechnet bei diesem kräftigen Mann wurde sie zur Glucke. Schon die Erinnerung, dass er in Gefangenschaft geraten war und beinahe an einem Fleischerhaken von Ygôdas Mauer gehängt worden wäre, ließ ihr Herz rasen.

»Es wird Zeit, dass ich auf das Feldzeichen des Klingenrauschs schwöre.«

Sie genoss das Vibrieren in seinem Brustkorb, während er sprach. Es beruhigte sie, und sie liebte es, seine Muskeln zu spüren. Eivora drängte ihre Sorge zurück, sie wollte sich diesen Moment nicht verderben lassen.

»Ich werde mich der Legion verpflichten und …«

»Was?«, fragte sie, weil er nicht weitersprach.

»Da kommt Besuch.«

Eivora löste sich von ihm und sah über die Zinnen. Fünf Reiter galoppierten über einen Hügel, gerade verschwanden sie wieder in einer Senke.

»Sie halten genau auf uns zu«, sagte Gonter.

Mit einem Schlag war Eivoras Misstrauen zurück. Togusos merkwürdige Freundlichkeit, der Umstand, dass er sie in den Wehrhof gelockt hatte, das Theater mit den Stiefeln … »Das ist eine Falle!«, rief sie.

»Wieso meinst du …«

»Raus hier!« Sie lief zur Treppe, sprang die Stufen hinunter und verfluchte sich dafür, die Armbrust am Pferd gelassen zu haben. Sie hatte nur das Kurzschwert und ein Messer, das zum Obstschälen gedacht war, dabei.

Hinter sich hörte sie Gonters schwere Schritte. »Weshalb glaubst du …«

Aglix kroch unter ihre Rüstung.

»Warum galoppiert jemand?« Sie riss die Tür auf. Glücklicherweise befand sich der Riegel innen, bei einem Angriff wollte sich der Herr des Wehrhofs nicht einschließen lassen. Das kam ihnen jetzt zugute.

»Weil er es eilig hat«, schloss Gonter.

»Genau!« Auf dem Weg ins Erdgeschoss nahm Eivora nur jede dritte Stufe. »Sie wollen unbedingt hier sein, bevor wir weg sind.«

Togusos Frau schrie, als sie aus der Küche kam und Eivora plötzlich vor ihr stand. Von ihrem Mann und dem Mädchen war nichts zu sehen, aber sie hielt einen unterarmlangen Stoßdolch in der Hand, den sie bestimmt nicht gebraucht hatte, um Speisen damit zuzubereiten.

Eivora versetzte ihr im Vorbeilaufen einen Kinnhaken, sodass sie zurücktaumelte und wimmernd in die Knie ging.

»Übertreibst du nicht etwas mit …«

»Besser, zehnmal übertreiben als einmal draufgehen!« Sie sprang auf den Hof und rannte weiter zum Tor.

Immerhin kam Gonter mit. Er riss sogar einen Träger samt Getreidesack um, bevor dieser den Ausgang der Ummauerung blockierte. Der Mann rief verärgert, schien sich aber nicht mit den Söldnern anlegen zu wollen.

Draußen, neben der Scheune, auf der Seite gegenüber jener, auf der Pirlitu das Geschick der jungen Armbruster prüfte, sprach Toguso mit den offenbar gerade abgesessenen Reitern. Sie trugen Schwarz, Rot und Grau, die Farben der Blutkrähen.

»Runter!«, zischte Eivora und hockte sich hinter den Tisch des Schreibers.

»Was ist denn hier los?«, fragte dieser.

Eivora sah unter dem Tisch hindurch zu den Neuankömmlingen, die ihre Pferde festbanden und die Waffen von den Sätteln lösten.

Ihre eigenen Reittiere standen an einer Ulme zwanzig Schritt entfernt. Pirlitu bemerkte noch nichts, sie korrigierte die Haltung des Mädchens an der Armbrust.

»Wir müssen zu den Pferden«, raunte Eivora Gonter zu.

Er runzelte die Stirn, nickte aber. »Auf dein Zeichen.«

Die Krieger kamen auf das Tor zu, während Toguso zurückblieb. Es waren drei Männer und zwei Frauen. Nach der Schwere ihrer Schritte zu urteilen, trugen sie Rüstungen unter Umhängen und Wappenröcken. Die Bewaffnung machte Eivora stutzig. Drei von ihnen hatten Streitkolben dabei, unterarmlange Knüppel mit eisernen, stumpfen Schlagköpfen, die anderen beiden Kampfhämmer. Die Ausbeulungen unter den Umhängen verrieten die Schwerter, die sie aber wohl nicht benutzen wollten. Zudem trugen sie irgendwelche Geflechte auf den Schultern, die Eivora nur ungenau erkennen konnte. Für zusammengelegte Seile waren sie zu dünn, für Umhänge zu löchrig. Die Schilde ließen sie bei den Pferden.

Unter den fragenden Blicken des Schreibers und seiner Hellebardiere hockte sich Eivora so, dass sie aufspringen und sich zugleich nach vorn abstoßen konnte. Die Blutkrähen waren noch zehn Schritt entfernt. Sie wollte sie noch etwas näher herankommen lassen. Wenn Gonter und Eivora es zu den Pferden schafften, sollten ihre Gegner möglichst lange zu ihren eigenen Reittieren brauchen.

Pirlitu bemerkte den Besuch nun auch. Sie nahm dem Mädchen die Armbrust ab und tauschte den Bolzen aus.

Eivora winkte ihr so, dass der Tisch die Bewegung vor den Kriegern verbarg.

Als sie noch fünf Schritt entfernt waren, stieß sie sich ab und rannte los. Sie hörte Gonter hinter sich.

Nach einem Moment der Überraschung nahmen die Blutkrähen die Verfolgung auf. Sie versuchten gar nicht erst, ihre Absicht zu verbergen.

Auch für Pirlitu war die Lage klar. Ihre Armbrust knallte. Dumpf schlug der Bolzen ein, stöhnend ging ein Krieger zu Boden.

Eivora riss die gebogene Klinge aus der Scheide und zertrennte das Lederband, das ihr Pferd am Baum hielt. Der zweite Schlag befreite Gonters Rappen.

Mit dem Breitschwert in der Hand fing er ein Netz ab, das einer der Gegner auf ihn schleuderte. Das hatten sie also auf den Schultern getragen!

Das Geflecht wickelte sich um Gonters Klinge. Die blonde Kriegerin, die es geworfen hatte, riss daran und hätte Gonter damit beinahe die Waffe entwunden, aber seine Faust hielt sie so fest, dass die Schneide einige Fäden durchtrennte und der Stahl freikam.

Eivora schwang sich aufs Pferd und zwang es zwischen Gonter und die Angreifer. Drei konnte sie abdrängen, aber die Frau, die auch das Netz geschleudert hatte, warf sich auf die andere Seite, packte Gonter am Gürtel und riss ihn aus dem Steigbügel, noch bevor er sich in den Sattel schwingen konnte.

Mit einer einzelnen Gegnerin wird er selbst fertigwerden müssen, dachte Eivora und hackte auf die drei anderen ein. Hell klingend prallte ihr Kurzschwert von einem Streitkolben ab. Ein Kampfhammer schlug in die Brust ihres Pferds, das daraufhin stieg und mit den Vorderläufen austrat. Eivora hatte Mühe, sich im Sattel zu halten, aber immerhin landete ein Gegner im Gras.

Ein Netz flog über Eivora. Sie legte sich mit ihrem Gewicht gegen den Zug und schnitt mit dem Kurzschwert. Ihr Gegner scheiterte beim Versuch, sie aus dem Sattel zu reißen, doch die Maschen gaben nur widerwillig nach. Eivora drängte die Panik zurück.

Der Verstand ist die wichtigste Waffe.

Sie zog ihr kleines Messer und durchschnitt damit die Fäden. Als sie Kopf und Schultern freibekam, sah sie, dass sich nur noch ein Gegner mit ihr beschäftigte, ein weiterer hockte mit Pirlitus Bolzen im Bauch am Boden, während die anderen drei bei Gonter waren.

Sie hatten ihn vom Pferd getrennt, aber er hielt sich wacker. Einer hatte seinen Kampfhammer verloren und umklammerte den eigenen Unterarm, eine Kriegerin humpelte.

Gonter täuschte einen Ausfall an und schlug einen überraschenden Bogen, der die humpelnde Frau von den Füßen holte. Den darauffolgenden Kolbenschlag parierte er mit einer abfallenden Wehr.

Eivora wandte sich wieder ihrem Gegner zu. Sie gab dem Zug des Netzes um ihren Oberkörper nach und lenkte ihr Ross gegen den Krieger, dessen Mund sich unter dem struppigen Schnurrbart zu einem überraschten Ruf öffnete. Er sprang aus dem Weg, musste dafür aber endgültig das Netz fahren lassen.

Rorgators Eintreiber sammelten sich am Eingang des Wehrhofs. Sie beobachteten das Geschehen, ohne einzugreifen. Dies war nicht ihr Kampf.

Pirlitu eilte heran. Sie hatte die Armbrust wieder gespannt und einen Bolzen eingelegt, wollte aber wohl nicht in das Gemenge schießen. »Hammerschlag!«, rief sie, wohl, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Derjenige, den sie zuerst getroffen hatte, bewegte sich kaum. Er starrte nur grimmig auf das Geschehen.

Eivora lenkte ihr Pferd zu Gonter und schrie nun ebenfalls den Kampfruf des Klingenrauschs hinaus: »Hammerschlag!«

Die blonde Frau schleuderte ihr Netz in einem tiefen Bogen, sodass es sich um Gonters Beine wickelte. Blitzschnell war ein Kamerad bei ihr. Gemeinsam rissen sie Gonter von den Füßen.

Entsetzt schrie Eivora auf, als sie sah, wie der dritte Krieger mit dem Kampfhammer ausholte. Er konnte Gonter unmöglich verfehlen, und der Helm hing am Sattel, statt den Kopf zu schützen! Ein entschlossener Schlag würde den Schädel zerbrechen wie eine Tonvase.

Gonter musste sich zur Seite werfen! Sofort!

Oder das Schwert zur Deckung hochreißen!

Er tat keins von beidem.

Zu Eivoras Überraschung schlug der Gegner jedoch nicht mit dem Kopf des Hammers zu, sondern nur mit dem Stiel, und statt des Gesichts traf er nur den Bereich über dem Ohr.

Ächzend kippte Gonter zur Seite.

Hinter Eivora knallte Pirlitus Armbrust. Der Bolzen schlug in den Rücken des Hammerschwingers. Er ragte ein gutes Stück heraus, blieb aber stecken, hatte außer dem Umhang also auch die Rüstung durchschlagen.

Der Krieger umklammerte den Hammer und bog seinen Rücken durch, als läge er auf einem Rad, während er rückwärtsstakste.

Gonter fasste seinen Knöchel und riss ihn um.

Die beiden Gegner, die ihn mit dem Netz zu Fall gebracht hatten, schienen unentschlossen.

Pirlitu warf sich mit gezogenem Dolch auf denjenigen, den Eivora umgeritten hatte. Dabei fauchte sie wie ein Panther.

Eivora rammte ihrem Pferd die Fersen in die Flanken, sodass es einen weiten Satz machte. Sie streifte die beiden Krieger bei Gonter, was ausreichte, um sie abzulenken. In einer engen Kehre riss sie das schnaubende Tier herum.

»Zwei von euch sind schon verwundet!«, rief sie. »Wer will der Nächste sein?«

Drohend schwenkte sie ihre Klinge, die eigentlich zu kurz für den Kampf aus dem Sattel war. Zudem behinderten sie die Reste des Netzes.

Dennoch machte sie genügend Eindruck, damit sich die zwei auseinanderstellten. Sie waren keine Anfänger, sie wussten, wie sie sich so positionierten, dass eine Reiterin nicht beide zugleich angehen konnte.

Dafür mussten sie aber Gonter vernachlässigen, der sich nun aus dem Netz strampelte.

Eivora verzichtete auf einen Angriff und zwang ihr Pferd stattdessen, rückwärtszugehen. Das missfiel dem Tier, es wieherte protestierend, aber Eivora wollte Zeit gewinnen. Pirlitu kam gut mit ihrem Gegner zurecht, sie prügelte ihm gerade den Dolchknauf gegen die Stirn, und Gonter wäre in ein paar Herzschlägen wieder kampffähig.

Ein Bolzen schlug knapp vor Eivora in den Boden. Ihr Gesicht ruckte in die Richtung, aus der er gekommen war.

Der Schütze war der gut gekleidete Jüngling, der Pirlitu seine Fähigkeiten präsentiert hatte. Offenbar hielt er sich jetzt für einen Krieger. Allerdings nur so lange, bis sich Eivoras Blick in seine Augen bohrte. Er ließ die Armbrust fallen und rannte zum Wehrhof.

Der in den Rücken getroffene Kämpfer hatte den Bolzen aus der Wunde bekommen, die blutige Spitze ragte aus seiner Faust. Er schwankte mit bleichem Gesicht, hielt den Kampfhammer aber noch immer umfasst.

Gonter entwaffnete ihn mit einem entschlossenen Schwertstreich. Dann rempelte er ihn aus dem Weg, um zu seinem Rappen zu kommen.

Eivora trieb ihr Pferd an. Im Vorbeireiten wehrte sie einen Hieb ab. Sie wechselte das Kurzschwert in die Linke und streckte Pirlitu die andere Hand entgegen.

Die Kampfherrin griff zu und schwang sich hinter Eivora auf den Pferderücken. Ihr eigener Hengst stand auf der anderen Seite der Scheune, viel zu weit entfernt.

»Nach Rorgator!«, rief Eivora und ließ die Zügel schießen. Gonter folgte ihr.

Erst eine Meile später fielen die Pferde in Schritt.

»Sie folgen uns nicht«, sagte Pirlitu. »Die sind wir los.«

»Wer war das?«, fragte Gonter. »Wird Rorgator angegriffen?«

»Nein, das waren Söldner«, sagte Eivora. »Blutkrähen. Die ehemaligen Kameraden deines neuen Trinkkumpans Toguso.«

Er runzelte die Stirn, was aber dort zu schmerzen schien, wo ihn der Stiel des Hammers getroffen hatte. Er drückte die flache Hand gegen die Stelle.

»Ist der Knochen gebrochen?«, fragte Pirlitu.

»Nein. Zum Glück nicht.«

»Das war wirklich Glück«, meinte Eivora. »Wenn er es gewollt hätte, wäre dein Schädel jetzt Matsch.«

Er schien gekränkt, erwiderte aber nichts.

»Das war kein Glück«, widersprach Pirlitu. »Sie wollten uns lebend.«

Eivora dachte an die Netze und nickte. »Aber wieso?«

Nun, da die Aufregung des Kampfs nachließ, spürte sie die Wärme an ihrem linken Bein und das Zittern des Oberschenkels. Die Wunde war wieder aufgebrochen.

»Lege einen Pfad aus Schmerzen, über den sein Wissen zu dir kommt«, flüsterte Wilania-Pressito in Fiafila-Ignutos Ohr.

Es irritierte, den Atem der anderen Frau zu spüren, während vor ihnen der Gefangene an Ketten von der Decke hing. Er trug nichts außer einem Schurz, und durch das Eisengewicht in Form eines zähnefletschenden Dämonenhaupts, das an den Fußgelenken zog, wirkte seine gestreckte Gestalt besonders schlank. Dunkle Flecken auf der Haut zeugten davon, dass die Knechte ihn vorbereitet hatten. Eine grobe Arbeit, zu deren Ergebnissen Blutergüsse über den Rippen und dem rechten Schienbein zählten. Der Flaum aus dichten, hellen Haaren auf seinen Unterarmen erschien Fiafila-Ignuto viel zu weich für die Härte der Situation.

Wo ist mein Mitleid mit diesem geschundenen Menschen?, fragte sie sich.

»Der Glühende Tempel ist der falsche Ort für Mitleid«, antwortete die Stimme in ihrem Kopf. Sie gehörte dem Homunkulus, der aus ihrer linken Schulter wuchs. Trotz der aufgetragenen Steinsalbe spürte sie seine Hitze auf der ihm zugewandten Seite ihres Gesichts. Er entfaltete seine fächerförmigen Ohren so weit, dass die trockene graue Haut knisterte.

Wilania-Pressito war ebenfalls eine Avatar. Die Gestalt des aus ihrer Schulter wachsenden Homunkulus ähnelte Ignuto. Unter Knochenwulsten strahlten schwarze Äuglein ihre Bosheit in die Welt hinaus. Seine Nase war nicht ganz so breit wie Ignutos, die Hörner bogen sich etwas stärker. Auch er hatte keinen Mund, aber Ohren, die über seine Schultern hinausreichten, wenn er sie, wie jetzt, ausbreitete. Auch Pressito wuchs mit dem Rumpf aus seiner Trägerin heraus. Statt Beinen hatten die Homunkuli Wurzeln, die sich mit den Jahren immer tiefer in den Körper ihres Wirts bohrten. Manchmal glaubte Fiafila-Ignuto, die Bewegungen des dämonischen Gefährten an ihrem Herzen zu spüren, aber so weit konnte er nach den paar Wochen, die sie ihn trug, noch nicht sein. Bei Wilania-Pressito dagegen hätte das niemanden verwundert. Ihr Homunkulus war älter, orangefarbene Äderchen liefen über die graue Haut des sichtbaren Teils des Wesens.

»Schau nicht mich an«, mahnte die erfahrene Avatar und zeigte auf den Gefangenen. »Konzentriere dich auf ihn.«

»Ist er überhaupt bei Bewusstsein?«

»Finde es heraus.«

Fiafila-Ignuto wollte den Schwamm im bereitgestellten Eimer benutzen, aber die Frau hielt sie zurück. »Greif in seinen Kopf.«

Fiafila-Ignuto sah wieder den Mann an. Er hing so reglos, dass er an eine Säule erinnerte, obwohl das Gewicht an seinen Füßen den Boden nicht berührte. Der Kopf war vor den gestreckten Armen auf die Brust gesackt. Der Schweiß auf seiner Haut leuchtete im Schein des Kohlebeckens, in dem mehrere Zangen und Haken glühten. An den Wänden des kleinen Raums brannte ein halbes Dutzend Fackeln, die für zusätzliche Hitze sorgten. Bestimmt trug das dazu bei, dass sich die Homunkuli hier so wohlfühlten.

Hauptsächlich freute sich Ignuto jedoch auf die Qual, die dem Mann bevorstand. Man hatte ihn dabei erwischt, mit Blei gestrecktes Gold an den Glühenden Tempel abzuliefern. Jetzt konnte er nicht mehr entkommen. Vielleicht würde er noch leben, wenn man ihn aus diesem Raum trüge, um ihn in einen Magmastrom zu werfen, möglicherweise würde er auch bereits bei der Folter umkommen. In keinem Fall wäre dies das Ende seiner Pein. Die Dämonen warteten schon auf seine Seele.

»Schmeckst du seine Gefühle?«, fragte Wilania-Pressito.

Zögernd schüttelte Fiafila-Ignuto den Kopf. Nun, da sie ihn so genau betrachtete, regte sich ihr Mitleid doch noch, und gern hätte sie ihm Linderung verschafft. Das löste widersprüchliche Emotionen in ihr aus. Das, was von der Priesterin des milden Windgottes Basäon noch übrig war, triumphierte, weil sie sogar hier, im Hochtempel der Dämonen, zu Empfindungen fähig war, die diese Wesen verabscheuten. Ignuto dagegen stieß diese Form der Empathie ab. Er wurde noch heißer, als könnte er die sanfte, für ihn ekelhaft schwächliche Regung dadurch wegbrennen.

Fiafila-Ignuto neigte ihren Kopf nach rechts, um wenigstens ein bisschen mehr Abstand zwischen ihre Wange und den sengenden Homunkulus zu bringen. »Warum müssen wir ihn so behandeln?«, fragte sie. »Wir könnten doch zunächst versuchen, ihn auf einen Stuhl zu setzen und ganz in Ruhe zu befragen. Er wird sicher alles sagen, was er weiß, weil ihm klar ist, was wir ihm sonst antun.«

Wilania-Pressito schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Ihre linke Gesichtshälfte sah aus wie eine Skulptur aus Kohle, keine einzige Strähne, noch nicht einmal die Augenbraue hatte sich gegen die Hitze behauptet, aber rechts fiel eine blonde Mähne über ihre Schulter. Wellen liefen durch das glänzende Haar, als begehrten sie gegen die Erstarrung auf der verbrannten Seite auf. »Seine Zunge kann lügen, seine Gedanken nicht.«

»Dann sind die Bilder, die wir sehen, immer die Wirklichkeit?«

»Wenn wir sie richtig deuten«, schränkte die andere Avatar widerstrebend ein.

Fiafila-Ignuto dachte an die zwei Gelegenheiten, bei denen sie Bilder in Pirlitus Verstand gesehen hatte. Beide Male war die Kampfherrin mit Feuer in Berührung gekommen, und beide Male war die Vision so schnell vergangen wie ein Blitz, der ein Gemälde beleuchtete. Sie waren sofort in völlige Finsternis zurückgefallen. »Wie lässt sich eine Rückschau auf tatsächlich Gewesenes von einer Fantasie unterscheiden?«

»Mit Erfahrung. Die Erinnerungen müssen zusammenpassen und auch mit dem übereinstimmen, was wir von den wirklichen Vorgängen wissen.« Wilania-Pressitos noch nicht erstarrte Gesichtshälfte lächelte, und ihr Homunkulus legte das gehörnte Haupt in den Nacken. »Vor allem musst du lernen, ihn auf dem rechten Pfad des Schmerzes zu halten. Zu wenig, und seine kühle Überlegung kann beliebige Bilder erzeugen, wenn er es darauf anlegt. Zu viel, und die Panik flüchtet sich in haltlose Fantasien.«

»Also kann er auch in seinen Gedanken bewusst lügen?«

Ihr Lächeln wandelte sich zu einem wölfischen Grinsen. »Nur, wenn er besser ist als du. Aber heute wird das nicht geschehen. Ich helfe dir. Jetzt nimm eine Fackel.«

Noch immer sträubte sich etwas in Fiafila-Ignuto dagegen, aber die Vorfreude des Homunkulus gewann die Oberhand. »Er wird ohnehin sterben«, säuselte Ignuto in ihren Gedanken. »Und er wird auch leiden. Diesem Schicksal kann er unmöglich entkommen. Du ersparst ihm nichts, wenn du jemand anderen das Verhör führen lässt.«

Ihm nicht, aber mir.

Sie nahm eine Fackel aus der Wandhalterung. Tief atmete sie ein, während sie die prasselnden Flammen betrachtete.

»Er hätte sich nicht erwischen lassen sollen.«

Sie ging zu ihm. Noch immer hing er reglos an der Kette.

»Erkennst du inzwischen, ob er bei Bewusstsein ist?«, fragte ihre Lehrerin.

Sie betrachtete ihn, bis das Mitleid nur noch ein Wispern war, so leise wie ein Hauch, der durch Sommergras strich. Allmählich schmeckte Fiafila-Ignuto die Gefühle des Gefangenen. Angenehm bitter mischte sich die Furcht mit einem Rest unvernünftiger Hoffnung, die eine interessante Note einbrachte. Auch ein Traum hätte eine solche Stimmung auslösen können, aber sie passte zu gut zur Lage, in der er sich befand.

»Ich glaube, er ist wach«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte Wilania-Pressito genüsslich. »Nur sein Schmerz ist eingeschlafen. Unter den Schlägen ist er ein wenig taub geworden. Weck seine Pein wieder auf.«

Es schien Fiafila-Ignuto, als sähe sie jemand anderem zu, während sie die Fackel so dicht an Bauch und Brust des Gefangenen vorbeiführte, dass die Flammen über seine Haut leckten und nach dem Gesicht tasteten.

Stöhnend hob er den Kopf.

»Du hast den Glühenden Tempel also um sein Gold betrogen.« Sprach Ignuto diese Worte? Benutzte er Fiafilas Mund? Sie dachte nicht darüber nach, was sie sagte. »Wo ist das Gold hin? Wer hat es jetzt?«

»Immer verhüllt.« Der Gefangene hörte sich an, als hätte er eine Kartoffel im Mund. Das war wohl eine Folge der Vorbereitung durch die Knechte. »Habe niemanden erkannt.«

Fiafila-Ignuto schmeckte Schmerz und Angst. Beides erregte sie, sie fühlte, wie sie wacher und aufmerksamer wurde. »Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagt«, meinte sie unsicher.

»Gib ihm etwas mehr Schmerz, aber nicht zu viel. Nur so lange, bis du siehst, woran er denkt.«

Sie berührte ihn mehrmals mit der Fackel, am Brustkorb, am Bauch und an der Achsel.

Zischend atmete er ein, dann schrie er.

»Er hat keinen Stolz«, urteilte der Homunkulus verächtlich. »Er kämpft nicht gegen den Schmerz an, sondern lässt sich hineinfallen.«

»Achte darauf, dass er bei Bewusstsein bleibt«, wies Wilania-Pressito sie an.

Plötzlich kam Fiafila-Ignuto das, was sie tat, wieder fremd vor. Sie nahm die Fackel zurück. War das wirklich sie, die einen Menschen quälte? Dabei hatte sie doch gelernt, wie man anderen half, selbst denen, die einem unfreundlich begegneten. Sie hatte Heilern geholfen, Wunden zu verbinden, statt sie zu schlagen. Auf welchen Pfad begab sie sich, wenn sie diesen Mann auf den Weg des Schmerzes stieß?

»Denk an unseren Pakt!«, forderte Ignuto. »Wir haben uns verbunden. Du musst uns schützen, denn wenn du umkommst, werde auch ich sterben.«

Wir sind doch gar nicht in Gefahr.

»Tu nicht so dumm. Wir befinden uns im Glühenden Tempel. Wer hier Schwäche zeigt, wird zum Opfer.«

»Er hat doch nur betrogen«, murmelte sie. »Dafür ist eine solche Strafe viel zu hart.«

»Du bist nicht diejenige, die an diesem Ort die Gesetze macht. Das tun jene, die vielfach stärker sind als alles, was du dir vorzustellen vermagst.«

Widerwillig, in ihrem Trotz aber auch fest, stieß sie ihm die Fackel in die Magengrube.

Der Gefangene schrie gellend.

»Da habe ich doch etwas gefunden, das dir die Sache erleichtern wird.«

Die Erinnerung des Mannes stand so deutlich vor Fiafila-Ignutos geistigem Auge, dass sie die Kammer kaum noch wahrnahm. Sie sah an behaarten Männerarmen entlang bis zu den Händen, die einen dünnen Frauenhals würgten. Jemand anderes goss Wein in den nach Luft ringenden Mund der Frau, die unter Stößen bebte. Ihre kleinen Brüste zitterten bei jedem neuen Vordringen, und Männer lachten.

Sie wird geschändet, erkannte Fiafila-Ignuto.

»Und zwar nicht von irgendwem, sondern von unserem Gast hier.«

In ihrer Wut schlug Fiafila-Ignuto so fest zu, dass ihr die Fackel entfiel. Sie fasste den mit Leinenbinden umwickelten Griff eines Eisenhakens und riss ihn so heftig aus dem Becken, dass Kohlestücke herausspritzten und zerplatzten, als sie auf den Boden prallten.