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Buch

Judith Kepler ist Tatortreinigerin. Sie wird gerufen, wenn der Tod Spuren hinterlässt, die niemand sonst beseitigen kann. In einem großen Berliner Bankhaus ist ein Mann in die Tiefe gestürzt. Unfall oder Selbstmord? Judith entdeckt Hinweise, die Zweifel wecken. Als sie die Polizei informiert, ahnt sie nicht, welche Lawine sie damit lostritt: Sie gerät ins Visier einer Gruppe von Verschwörern, die planen, die Bank zu hacken. Ihr Anführer ist Bastide Larcan, ein ebenso mächtiger wie geheimnisvoller Mann, der Judith zur Zusammenarbeit zwingt. Denn er kennt Details aus ihrer Vergangenheit, die für sie selbst bis heute im Dunklen liegen. Und in Judith keimt ein furchtbarer Verdacht – kann es sein, dass Larcan in die Ermordung ihres Vaters verstrickt war? Sie weiß, sie wird nicht ruhen, bis sie endlich die Wahrheit erfährt, was als Kind mit ihr wirklich geschah …

Weitere Informationen zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Elisabeth Herrmann

Stimme der Toten

Thriller

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Das vorangestellte Gedicht ist ein Textauszug aus: Arthur Rimbaud, »Das trunkene Schiff«. Aus dem Französischen von Paul Celan, in: Arthur Rimbaud, »Poésies«. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. © Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2007.
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Insel Verlag Berlin.

Auszüge aus »Zeugin der Toten« von Elisabeth Herrmann mit freundlicher Genehmigung des List Verlages. © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011


Copyright © der Originalausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Haus: Hayden Verry / Arcangel;

Himmel: FinePic®, München

CN · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-17158-2
V006

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Für Shirin, immer wieder!

Und gäb es in Europa ein Wasser, das mich lockte, so wärs ein schwarzer Tümpel, kalt, in der Dämmernis, an dem dann eins der Kinder, voll Traurigkeiten, hockte und Boote, falterschwache, und Schiffchen segeln ließ’.

Si je désire une eau d’Europe, c’est la flache
Noire et froide où vers le crépuscule embaumé
Un enfant accroupi plein de tristesses, lâche
Un bateau frêle comme un papillon de mai.


Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff

Prolog

Berlin-Biesdorf, August 2010

Mit einem lauten Knall explodierte die Fensterscheibe. Risse durchzogen das Glas wie ein riesiges Spinnennetz. Wieder ein Knall. Judith konnte sich nicht schnell genug ducken. Die Scheibe des Aquariums zersprang in tausend Splitter, sie zerfetzten Kleider und Haut, und bevor sie mit Kaiserley zu Boden geschleudert wurde, sah sie für den Bruchteil einer Sekunde das Wasser wie eine Säule im Raum stehen. Noch im Fallen ergoss sich eine einzige meterhohe Welle ins Zimmer. Kaiserley und sie prallten auf den Couchtisch, dann auf den Boden. Die Pistole wurde ihr durch die Wucht des Aufschlags aus der Hand geschleudert und landete außer Reichweite unter der Couch. Ein weißer Fisch schlug direkt neben Judiths Gesicht auf. Er zappelte und schnellte wie verrückt nach oben. Kaiserley presste seine Hand auf ihren Mund. Er war klatschnass, Wasser rann aus seinen Haaren auf sie herab. Judiths Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie schnappte genauso verzweifelt nach Luft wie der Fisch neben ihr.

Dann war es still. Ein letztes Klirren, es tropfte in die Pfützen auf den Boden. Gegenüber, keinen Meter entfernt, hinter dem Couchtisch, lag Merzig. Blut strömte über sein Gesicht. Er zuckte. Und das Funkeln in seinen Augen war nicht mehr der Widerschein seiner merkwürdigen Seele, sondern kam von messerscharfen Splittern aus Glas. Sein Kopf fiel zur Seite. In der Schläfe war ein kleines schwarzes Loch. Horst Merzig, ehemaliger Generalleutnant der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit, war tot. Judith spürte Kaiserleys Atem auf ihrem Gesicht. Langsam zog er seine Hand weg und legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Reglos blieb sie liegen. Und dann knirschten die Scherben hinter ihnen, als jemand darüberschritt.

»Wie schön«, sagte eine Frauenstimme. »Ein bisschen viel Wasser für eine harmlose Teeparty.«

Kaiserley wollte sich aufrichten.

»Ganz ruhig. Nichts überstürzen. Einer nach dem anderen, Hände über den Kopf, Gesicht zur Wand.«

Er rollte von Judith herunter und stand auf. Sie sah noch einmal zu der Pistole, aber die Frau war so nah, dass jede falsche Bewegung Judiths letzte sein könnte. Als sie mühsam auf die Beine kam, schlug der weiße Fisch noch einmal mit dem Schwanz. Dann blieb er reglos liegen. Nur sein Maul öffnete sich, wieder und wieder.

Die Frau war vielleicht Ende vierzig und ausgesprochen schön. Ein südländischer Typ mit schmalem, grazilem Knochenbau, aber durchtrainiert bis in die letzte Faser ihres perfekten Körpers. Sie trug einen dunklen, sportlichen Anzug und schwarze Lederhandschuhe. Ihre braunen Augen blickten bemerkenswert ruhig in die Runde – dafür, dass sie eine klobige Waffe mit Schalldämpfer hielt.

»Kaiserley«, sagte sie.

Judith sog scharf die Luft ein. Natürlich. Wo immer es auf dieser Welt so richtig dreckig zuging, kannte man sich. »Sie sind …?«

»Warrant Officer Angelina Espinoza, Central Intelligence Agency.« Als sie in Judiths verständnisloses Gesicht sah, setzte sie hinzu: »CIA

»Du hast nicht nur für die CIA gearbeitet«, sagte Kaiserley.

»Hände hoch! KGB, FSB, MfS … ich arbeite für den, der mich bezahlt. Und im Moment auf eigene Rechnung.«

Sie schritt um die Couch herum und trat so nahe an Judith heran, dass sie sich beinahe berührten.

»Wo sind die Mikrofilme?«

Judith spuckte ihr ins Gesicht. Espinoza holte aus, und Judith duckte sich nicht rechtzeitig. Der Schlag erwischte sie am Hinterkopf. Sie stürzte auf die Knie und sah aus den Augenwinkeln, wie Kaiserley sich auf Espinoza werfen wollte. Der Schuss klang wie ein knallender Champagnerkorken. Kaiserley stieß einen Schrei aus und brach zusammen. Seine Hände pressten sich auf den linken Oberschenkel. Ungläubig starrte er auf den roten dunklen Fleck, der sich in rasender Geschwindigkeit ausbreitete.

»Keine Angst, ich habe das Schießen nicht verlernt.« Espinoza zielte auf Kaiserleys Kopf. »Ich arbeite heute nur im Stil von Sekretärinnen. Die treffen meistens nicht beim ersten Mal.«

Merzig rührte sich nicht mehr. Seine blutunterlaufenen Augen starrten zur Decke. Die Agentin beugte sich zu Judith herab.

»Die Filme.«

»Was haben Sie mit meinem Vater gemacht?«

»Ich habe ihn erschossen. Keine Zeugen, kein Risiko. Er wusste, auf was er sich einließ. Man kann nur Sieger oder Verlierer sein.« Sie hob die Waffe und machte einen Schritt auf Judith zu. »Wo sind die Filme?«

»Ich weiß es nicht!«, schrie Judith. »Und wenn Sie uns beide abknallen, sie sind weg!«

»Die Polizei hat sie nicht gefunden. Der BND auch nicht. Aber Sie, die Putzfrau, Sie haben etwas. Sie wissen etwas.«

»Nein!«

»Diese Filme sind wertvoll. Man trägt sie bei sich. Man behält sie im Auge. Man versucht, sie erst in letzter Sekunde verschwinden zu lassen. Wo haben Sie sie gefunden? Im Müllschacht? Im Keller? Auf dem Dach?«

Sie drückte ab. Judith warf sich zur Seite, der Schuss verfehlte sie haarscharf. Espinoza spielte mit ihr Katz und Maus. Beim nächsten Mal würde sie treffen. Nicht tödlich. Noch nicht. Sie würde sie jagen, stellen und ausbluten lassen, genauso wie Kaiserley, der mit aschfahlem Gesicht halb ohnmächtig auf die Couch geworfen worden war. Sie dachte an die Flecken und die Scherben und das Wasser und die Königsbarsche, und dass sie unter Schock stehen musste, wenn die letzte Sorge ihres Lebens dem Saubermachen galt.

Sie griff den glitschigen, zuckenden Leib eines sterbenden Fischs und schleuderte ihn Espinoza ins Gesicht. Die Frau schrie auf und taumelte einen Schritt zurück. Ekel verzerrte ihr Gesicht und lenkte sie für den kurzen Moment ab, den Judith brauchte.

Ihre Hand schnellte unter das Sofa. Sie griff die Pistole und hechtete aus der Tür. Zwei weitere Champagnerkorken knallten, Putz rieselte von der Wand. Gehetzt sah sie sich um. Die Wohnungstür war zu weit entfernt. Sie lief in Merzigs Schlafzimmer und stellte sich hinter die geöffnete Tür. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie groß Espinoza war. Dann legte sie den Lauf der Waffe in der Höhe an die Tür, in der sie Espinozas Kopf vermutete, und wartete.

Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie hörte das Klirren von Glas und leise Schritte, die sich über den Flur näherten. Sie sah Merzigs schmales Bett und das matte Linoleum auf dem Fußboden. Ein paar Urkunden und alte Sportpokale, ein kleiner Stapel Bücher auf einem Regal über dem Bett. Ein Foto auf dem Nachttisch in einem schmalen, billigen Rahmen. Auf dem Digitalwecker leuchteten die Ziffern 21:04. Die Zeit, die auf ihrem Totenschein stehen würde. Die Schritte kamen näher.

»Renn!«, schrie Kaiserley. »Judith! Renn!«

Sie hielt den Atem an. Im diffusen Halbdunkel spürte sie mehr, als dass sie sah, wie ein Schatten durch den Türspalt ins Zimmer glitt. Sie drückte ab. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss ihr fast das Trommelfell, der Rückstoß schleuderte sie an die Wand. Die Tür hatte ein faustgroßes Loch. Sie hörte, wie ein Körper zu Boden fiel, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Dann sah sie, wie die Tür sich langsam, ganz langsam öffnete.

Kaiserley griff den Kristallaschenbecher, der auf dem Boden neben Merzig gelandet war. Eine andere Waffe hatte er nicht zur Verfügung. Sein Bein schmerzte, und als er den großen, dunklen Fleck auf dem Sofa sah, ahnte er das Ausmaß des Blutverlusts, den er gerade erlitt. Er stand auf und versuchte, sein linkes Bein so wenig wie möglich zu belasten.

Das Wohnzimmer war im wahrsten Sinne des Wortes ein Scherbenhaufen. Er wunderte sich, warum die Nachbarn noch nicht die Polizei gerufen hatten. Dann überschlug er, dass keine drei Minuten vergangen waren, seit Angelina hier aufgetaucht war. Sie kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. Die Sorge um Judith ließ ihn fast wahnsinnig werden. Seit dem Schuss drang kein Laut mehr aus dem Flur. Er hob den Ascher und humpelte zur Tür. Dann ließ er ihn sinken.

Angelina Espinozas Körper lag in Merzigs Schlafzimmer. Sie rührte sich nicht. Welche Waffe auch immer sie getötet hatte, von ihrem schönen Gesicht war nur noch ein blutiger Klumpen übrig. Die Frau, die Judiths Leben und das ihrer Eltern zerstört hatte, die durch Verrat eine Familie in den Abgrund getrieben und dem kleinen Mädchen, das Judith damals gewesen war, alles genommen hatte – sogar seinen Namen –, sie war tot.

»Judith?«

Mühsam stieg er über Angelinas Leiche und betrat das Zimmer. Judith saß auf Merzigs Bett. Die Pistole lag in ihrem Schoß. Sie hielt einen kleinen Bilderrahmen in den Händen und schaute nicht auf, als er zu ihr kam und sich neben sie setzte.

Das Foto zeigte drei Personen: Stasi-Agent Richard Lindner – Judiths Vater, eine hübsche blonde Frau – Judiths Mutter und ein Kind, das wie ein Engel in die Kamera strahlte. Über Judiths Gesicht liefen Tränen, aber sie blinzelte nicht und wischte sie auch nicht fort.

»Merzig hat den Haftbefehl für seine eigene Tochter unterschrieben«, sagte sie.

Kaiserley sah wieder auf das Foto. Er wollte den Arm heben und sie an sich ziehen, doch er spürte, dass er sogar dazu zu müde war.

»Er hat … O mein Gott. Merzig war mein Großvater.«

Kaiserley schwieg. Er spürte, wie sie sich an ihn lehnte und den Kopf auf seine Schulter sinken ließ. Sie hatte das schon einmal getan. Er versuchte, sich nicht zu bewegen. Vielleicht verharrte sie dann noch eine Weile so.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Judith, es tut mir so entsetzlich leid.«

Tränen tropften auf das Bild in ihrer Hand. »Ich hätte ihn umgebracht. Bei Gott, das hätte ich. Und er wusste das.«

»Das hätte ich nicht zugelassen.«

Sie nahm den Kopf weg. Augenblicklich war auch die Wärme fort.

»Was du dir immer einbildest«, sagte sie. Aber es klang nicht mehr so hart wie sonst. Es klang, als ob sie das gewusst hätte.

1

Berlin, sechs Jahre später

Friedrichstraße, sieben Uhr morgens. Rushhour. Judith Kepler war bereit, für einen Parkplatz einen Mord zu begehen.

Rund um den S-Bahnhof kollabierte der Verkehr. Pendler stürzten sich bei Rot über die Straße und streiften die Kühlerhauben der stehenden Wagen mit ihren Aktentaschen und Wintermänteln. Autos fuhren Stoßstange an Stoßstange und bewegten sich nur zentimeterweise vorwärts, die Fahrer degradiert zu machtlosen Revoluzzern, die wütende Hupkonzerte anstimmten. In der eiskalten Morgenluft lag ein Hauch von Anarchie. Falling down, dachte Judith. Sie liebte diesen Film. Aussteigen, die Uzi vom Beifahrersitz nehmen und eine Salve in den bleigrauen Himmel jagen. Hey, Leute, es ist nur ein ganz normaler Novembermorgen. Ich hatte auch keine Lust aufzustehen. Kein Grund, in euren Blechbüchsen verrücktzuspielen.

Sie schnitt den Irren auf der rechten Spur, der sich mit einem Nummernschild aus dem Landkreis Oder-Spree in den Hauptstadtverkehr gewagt hatte, setzte ihren Transporter mit der Aufschrift Dombrowski Facility Management halb auf den Bürgersteig direkt vor seine Nase und würgte den Motor ab. Der Mann am Steuer hinter ihr kollabierte beinahe.

Er hielt neben ihr und ließ das Seitenfenster herunter. »Sie wollen da doch nicht stehen bleiben? Das ist Absolutes! Absolutes!«

Judith Kepler achtete nicht weiter auf ihn. Sie nahm ihre Arbeitstasche, legte die Ausnahmegenehmigung, für die Dombrowski ein Vermögen bezahlt hatte (an wen eigentlich?), auf das Armaturenbrett, stieg aus und ignorierte die Geste, mit der ihr der Mann im Schutz seines Blechkastens deutlich zu erkennen gab, was er von ihr hielt. Dann holte sie den Zettel aus ihrer Overalltasche und verglich die angegebene Adresse mit dem Haus auf der anderen Straßenseite. Es wäre nicht nötig gewesen, denn die beiden Streifenwagen und das Absperrband, das die gläserne Drehtür freihielt, hielten die Passanten auf dem Gehsteig zurück, die sich nun ebenfalls stauten und ineinander verkeilten. Es sah aus, als warteten sie alle miteinander frühmorgens vor einem Hotel auf die Ankunft eines Rockstars. Dabei war es nur eine Bank.

CHL. Judith wusste nicht, was diese drei Buchstaben bedeuteten. Sie standen, von blauem Neonlicht angestrahlt, auf dem Dach des Gebäudes, das sich mit seiner funktionalen Glasfassade in nichts von der eintönigen Moderne des Regierungsviertels unterschied. Sie überquerte die Straße und drängte sich durch die Wartenden hindurch bis zu einem uniformierten Polizisten, der sie aufhalten wollte.

»Weitergehen!«, brüllte er sie an. »Hier gibt es nichts zu sehen!«

»Ich muss da rein.«

Judith hielt ihm ihren Firmenausweis entgegen, der erwartungsgemäß nicht den geringsten Eindruck machte.

»Später.«

»Ich habe den Auftrag, hier so schnell wie möglich …«

Ein Mann im Kamelhaarmantel rempelte sie an. Seine Aktenmappe aus Leder glänzte, als würde er sie jeden Abend mit Hingabe wienern.

»Hören Sie«, unterbrach er Judiths Erklärung, »ich müsste schon längst an meinem Arbeitsplatz sein. Wie lange dauert das denn noch?«

Der Polizeibeamte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wenden Sie sich an den Einsatzleiter.«

»Ich muss da rein«, wiederholte Judith.

»Ich auch«, knurrte der Kamelhaarmann.

Er war einen Kopf größer als Judith, roch nach teurem Rasierwasser, strich sich nervös über die millimeterkurzen, dunklen Haare und konnte nicht stillstehen. Ein Läufer, der den Startschuss herbeifieberte. Oder ein Getriebener, der feststellt, dass er die Orientierung verloren hat, dachte Judith. Offenbar war er es nicht gewohnt, in seine Schranken gewiesen zu werden, denn er holte ein Smartphone aus der Jackentasche und checkte stirnrunzelnd die eingegangenen Meldungen. Dabei murmelte er mehrmals: »Das wird Konsequenzen haben«, und zwar so laut, dass es jeder hören musste.

Judith stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in das Innere der Bank zu werfen. Das Gebäude war wohl nicht für den Publikumsverkehr gedacht, denn sie konnte weder Geldautomaten noch Kontoauszugsdrucker sehen, nur eine weite, menschenleere Eingangshalle mit einem Tresen neben den geöffneten Fahrstühlen. An den Wänden hingen riesige Gemälde, die modern wirken sollten, aber in Judiths Augen auch nicht viel mehr waren, als ein paarmal mit dem Farbroller über die Leinwand zu gehen. Links befand sich eine Sitzgruppe, die so neu aussah, als ob sie noch nie jemand benutzt hätte. Alles glänzte. Bis auf die orange-weißen Leitkegel in der Mitte der Halle auf dem spiegelnden Granitboden. Die Spurensicherung benutzte sie, um Tatorte zu markieren. Dort musste die Leiche gelegen haben.

»Selbstmord«, hatte Dombrowski gesagt und den Kopf geschüttelt. »Selbstmord in einer Bank. Davor könnte ich es ja noch verstehen. Bei der Auftragslage momentan denke ich auch manchmal an den Strick. Was ich mir von meinem Geldautomaten so alles anhören muss … Also, Judith. Schnelle, saubere Sache. Publikumsverkehr. Leichenfundort freigegeben. Viel Vergnügen.«

Das war seine Art, mit dem Tod umzugehen. Judith kannte ihren Chef lange genug, um sie ihm zu verzeihen. Sie rekapitulierte, was sie bei ihm über die verschiedenen Gesteinsarten gelernt hatte und wie man sie sauber bekam. Granit – Wasseraufnahme weniger als 0,32 Gewichtsprozent. Tiefengestein. Extrem hohe Reindichte und Belastbarkeit. Nässeresistent, aber säureempfindlich. Wenn poliert, dann Finger weg von Dampf- und Hochdruckreinigern. Sie überlegte, ob sie zum Transporter zurückgehen und weitere Arbeitsutensilien holen sollte, und entschied sich dagegen. Schrubber, Chlor und Steinwachs müssten reichen.

Zwei Männer, beide von mittlerer Größe und Statur, gekleidet wie Menschen, die es jederzeit vom Schreibtisch für Stunden hinaus in die Kälte treiben kann, tauchten von irgendwoher am Ende der Halle auf. Sie unterhielten sich konzentriert und kamen langsam auf die Eingangstür zu. Vor dem zentimeterdicken Panzerglas blieben sie stehen und schauten während ihrer Unterhaltung auf die wartenden und frierenden Menschen da draußen. Irgendetwas sagte Judith, dass die beiden zur Kripo gehörten. Der Anblick der Wartenden war ihnen egal. Sie machten ihren Job.

Langsam wurde es hell. Ein grauer windiger Morgen. Der Himmel demotivierend wie Judiths Kontostand. Der Wetterbericht verhieß Regen bei Temperaturen zwischen fünf und sieben Grad. November. Der Monat der Selbstmorde.

»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Judith zu dem Polizisten.

Auf den machte ihre Drohung einen ähnlichen Eindruck wie die gemurmelten Verwünschungen des Kamelhaar-Bankers: gar keinen.

Die beiden Männer hinter der Scheibe drehten sich um und schlenderten gemächlich durch die Halle zurück. Wir haben Zeit, hieß das. Wahrscheinlich Leute vom Kriminaldauerdienst, die auf die Ablösung warteten. Der Banker neben Judith versuchte noch, sich bei den beiden bemerkbar zu machen, doch es gelang ihm nicht. Zum wiederholten Mal sah er auf seine Armbanduhr, dann suchte er in der Menge nach Arbeitskollegen, mit denen gemeinsam er größere Chancen hatte, die Absperrung zu überwinden. Als er niemanden entdeckte, nahmen seine hellbraunen Augen wieder Judith ins Visier. Er sah eine schmale, durchtrainierte Frau Mitte bis Ende dreißig in einem blauen Reinigungsoverall, die sich Gedanken darüber machte, wie lange sie ihren Transporter wohl noch quer auf dem Bürgersteig im absoluten Halteverbot stehen lassen konnte.

»Was halten Sie davon?«

»Was?«

Der Banker musste mit ihr geredet haben. Seine Augen standen eine Winzigkeit zu eng beieinander und verliehen dem schmalen Gesicht dadurch einen Ausdruck von Überheblichkeit. Ohne diesen kleinen Makel wäre er im landläufigen Sinne gutaussehend: leidlich groß, harmonische Gesichtszüge und ein charmantes Lächeln, das ihm in diesem Moment allerdings nicht hundertprozentig gelang.

»Wir gehen hintenrum. Zum Lieferanteneingang. Wenn ich mich einfach an die Schöße Ihres überaus kleidsamen Overalls hängen dürfte?« Er grinste. Er fand sich witzig und hatte die Lösung seines Problems direkt vor sich stehen. »Adrian Jäger, Customer and Press Relationship Manager der CHL.« Auch die letzten Buchstaben sprach er englisch aus. Siie Äitsch Ell. »Kurz: Ich mache hier die Öffentlichkeitsarbeit.«

Er sah den alten Rollkragenpullover, den Judith unter dem Overall trug, und den aufgestickten Firmennamen. Den unausgeschlafenen Blick und die nachlässig zurückgenommenen Haare. Er reimte sich zusammen, wer sie war und was sie hier wollte, und vielleicht bemerkte er in diesem Moment sogar noch etwas anderes. Sein Blick wurde intensiver. Er übte seine Auftritte wohl an jedem lebenden Objekt, das ihm in die Quere kam. Solange es weiblich war.

»Und Sie? Was machen Sie hier?«

Jäger bahnte sich eine Gasse durch die Umstehenden. Judith folgte ihm. Ein paar Meter weiter blieb er stehen und wartete auf sie.

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Judith Kepler. Ich bin der Cleaner.«

2

Weiße Kreidestriche erinnerten an die Lage der Leiche, die längst abtransportiert worden war. Dort, wo der Kopf gelegen haben musste, hatte eine Blutlache von den Außenrändern her zu trocknen begonnen. Der Wachmann, der sie begleitet hatte, verabschiedete sich mit einem kurzen, verunsicherten Gruß. Judith stellte die Arbeitstasche ab, ging in die Knie und betrachtete den Boden. Sanft fuhr sie mit dem Finger über die Kreide. Dann sah sie hoch.

Das Atrium reichte hinauf zu einem gläsernen Dach. Jedes der sieben Stockwerke hatte eine eigene Galerie, von der aus man die Büros erreichte. In der obersten Etage stand ein Mann in weißem Overall am Geländer und strich vorsichtig mit einem Grafitpinsel über das schimmernde Metall. Vielleicht war das Opfer ja über die Brüstung geklettert und gesprungen. Judith schätzte die Höhe auf knapp dreißig Meter. In freiem Fall auf Granit. Sie beneidete die Bestatter nicht, die oft den weitaus schlimmeren Job hatten als sie.

Jäger, der Mann, für dessen Berufsbezeichnung man ein Fremdsprachenstudium brauchte und der sich hinter der Sicherheitsschleuse beim Pförtner hastig, das Handy am Ohr, mit einem Nicken und einem flüchtigen Lächeln von ihr abgewandt hatte, betrat das Atrium. Er ging direkt zu den Fahrstühlen, stutzte, kehrte um und kam zu ihr herüber.

»Ich kann es immer noch nicht glauben.«

Vor den Kreidestrichen blieb er stehen. Sein Gesicht, ungeübt in der Mimik des Mitgefühls, verzog sich zu etwas, das Bedauern ähneln sollte.

»Gestern waren wir noch zusammen beim Lunch. Wenn ich das gewusst hätte …«

Er sagte nicht, ob und was das geändert hätte. Beugte sich herab. Strich wie Judith über die Kreide. Betrachtete seine weiße Fingerkuppe. Erhob sich. Folgte mit den Augen den weißen Linien auf dem Boden.

»Warum hier?«

Judith schwieg.

»Warum?«

Er machte ein paar Schritte auf den Eingang zu. Die Drehtür bewegte sich nicht, Schaulustige und Mitarbeiter standen immer noch vor der Absperrung.

»Da geht man zusammen auf Geschäftsreisen und schickt die Kinder auf dieselbe Schule. Da glaubt man, man kennt sich.«

»Vielleicht war es ein Unfall?«

Judith kannte die Reaktionen auf den plötzlichen Tod. Fast immer waren sie eine Mischung aus Ratlosigkeit und Reue. Reue, die Chancen und Zeichen nicht erkannt zu haben. Ratlosigkeit, weil es vielleicht keine gegeben hatte.

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Jäger drehte ihr immer noch den Rücken zu.

Ein weiterer Bankangestellter durchquerte die Halle. Gleiches Alter, gleiche Größe, gleiche Frisur. Die Sohlen seiner Schuhe quietschten auf dem blanken Boden. Er trug wie alle hier Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Wahrscheinlich hielten sie sich einzig durch Farbe und Muster ihrer Binder auseinander.

»Morgen, Herr Jäger.«

Jäger nickte. Alle Hast, alle Unruhe waren angesichts der Tragödie von ihm abgefallen. Er stand in der Mitte der leeren Halle und sah aus wie jemand, den man auf einer einsamen Insel ausgesetzt hatte.

»Schreckliche Sache.« Der Kollege stellte sich neben ihn. »Die Abteilungsleiter wissen schon Bescheid. Außerordentliche Betriebsversammlung um zehn. Können Sie das koordinieren? Kleine Ansprache und so. Übrigens, Harras will Sie sprechen. Zwei Herren von der Kriminalpolizei warten im Konferenzraum. Sieht nach Selbstmord aus.«

»Selbstmord … Und Harras ist in Berlin?«

»Landet gerade in Schönefeld und hat den Heli bestellt.«

Der Name Harras wirkte wie ein Weckton. Jäger drehte sich um und lief an Judith vorbei, als hätte er sie noch nie gesehen.

Sie öffnete die Tasche und stellte die Arbeitsutensilien bereit. Irgendwo in diesem großen Haus musste es einen Putzraum geben. Die Fahrstuhltüren schlossen sich, die Etagenanzeige blinkte. Immer mehr Menschen kamen über den Lieferanteneingang ins Atrium, schielten beklommen zu der Kreidesilhouette mit dem dunkelroten Fleck und nahmen, wenn der Lift zu lange brauchte, lieber den Weg übers Treppenhaus. Eine junge Frau mit verweinten Augen eilte auf den Empfangstresen zu, stellte ihre Handtasche ab und zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Kostümjacke.

»Entschuldigen Sie«, sagte Judith. »Wo gibt es hier Wasser?«

»Wasser?«

Die Angesprochene erkannte Judiths Overall mit der Aufschrift »Dombrowski«. Dann warf auch sie einen scheuen Blick auf die Stelle, wo die Leiche ihres Kollegen gelegen hatte. »Ja, natürlich. Kommen Sie bitte.«

Ihr Make-up löste sich gerade rund um die Augen auf. Sie öffnete eine Tür, die so geschickt in die graue Wandverkleidung eingelassen war, dass Judith sie niemals selbst gefunden hätte. Augenblicklich flammte eine Neonröhre auf und beleuchtete einen schmalen Flur.

»Die zweite Tür rechts. Neben den Toiletten. Wie lange werden Sie ungefähr brauchen? Normalerweise öffnen wir um halb acht. Das schaffen Sie wohl nicht mehr, oder?«

Judith warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sieben Uhr zweiundzwanzig. »Könnte knapp werden. Ich beeile mich.«

Die junge Frau tupfte sich die Tränen ab und warf einen sorgenvollen Blick auf das Papiertaschentuch in ihrer Hand. »Kann ich Sie allein lassen? Ich muss noch mal vor den Spiegel.«

»Natürlich.«

Judith betrat einen kleinen, gefliesten Raum mit einem tiefen Waschbecken. Im Wandschrank entdeckte sie Schrubber, Besen und Eimer. Während das Wasser in den Eimer lief, griff sie nach dem Schrubber und klemmte sich mehrere Putztücher unter den Arm, ließ eines fallen, bückte sich und stutzte.

Es war nur eine Kleinigkeit. Aber Judith war geschult, kein Detail zu übersehen. Wer einen professionellen Tatortreiniger rief, der wollte nach seiner Rückkehr nichts mehr vorfinden, was an Tod und Verbrechen erinnerte. Keine Gerüche. Keine Flecken. Kein Blut. Judith schuf der Erinnerung eine weiße Leinwand, auf der man von vorne beginnen konnte. Da störte ein halb verwischter, blutiger Abdruck an der Unterseite des Beckens nur, den jemand in der Eile vergessen oder nicht bemerkt hatte. Und dieser Jemand war vor ihr da gewesen.

Sie setzte den Eimer ab, stellte den Schrubber an die Wand, legte die Tücher auf den Waschbeckenrand, ging in die Knie und betrachtete den Abdruck so genau, wie es das trübe Licht zuließ. Jemand musste sich mit blutgetränkten Handschuhen für einen Moment am Waschbecken abgestützt haben. Dann hatte er sie ausgezogen, sich lange und sorgfältig gewaschen und das Becken gereinigt. Nur die Spuren unter dem Rand hatte er vergessen. Sie waren auf der weißen Keramik getrocknet, hatten aber noch nicht die typische dunkelbraune Färbung angenommen, die entstand, wenn Monosacccharide, Harnstoff, Proteine, Salze und niedrigmolekulare Stoffe längere Zeit der Luft ausgesetzt waren.

Es war Blut. Frisches Blut.

Judith nahm den Eimer und kehrte zurück in die Empfangshalle. Vor den Kreidestrichen blieb sie stehen. Die Silhouette des Körpers erinnerte sie an die Ascheskulpturen von Pompeji. Im Tod hatte das Opfer noch versucht, sein Gesicht zu schützen. Ein Arm angewinkelt, der andere weit ausgestreckt. Die Spurensicherung hatte sorgfältig gearbeitet, die Kollegen von der Rechtsmedizin auch. Die Blutlache war in der Mitte kaum noch feucht.

Spuren waren eine heikle Sache. Sie mussten gemeldet werden, auch wenn sie in den seltenen Fällen, von denen sich die Cleaner untereinander erzählten, ermittlungstechnisch keine Rolle gespielt hatten. Judith stellte den Eimer ab. Theoretisch könnte sie jetzt anfangen. In einer Viertelstunde wäre sie fertig, und nichts mehr in dieser kühlen, strengen Halle würde daran erinnern, dass hier ein Toter gelegen hatte. Der Reinigungstrupp der Bank würde mit seinen Kehr- und Wischmaschinen noch einmal über den Boden fahren, die Drehtür nach draußen würde den Betrieb wieder aufnehmen, die Besucher könnten kommen, ebenso die Gleitzeitmitarbeiter, die Zeitungs- und Postboten. Sie alle würden durch die Halle zu den Fahrstühlen strömen, hinauf in die Büros fahren und den Arbeitstag beginnen. Freeze? Der Tod war ein lausiges Stoppschild.

Sie hörte ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Es kam von der jungen Frau am Empfangstresen, die gerade versuchte, ihr Namensschild am Revers zu befestigen, ohne sich dabei in die Finger zu stechen. Judith ging auf sie zu.

»Wer hat den Toten gefunden?«

Die junge Frau schluckte und wischte sich wieder über die Augen. »Der Kollege vom Wachdienst auf der Runde heute Morgen.«

»Wann war das?«

»Ich glaube so gegen sechs.«

Auf ihrem Schild stand Corinna Wrede, Front Officer CHL.

»Ist noch jemand von der Polizei im Haus?«

»Ja. Warum?«

»Ich muss etwas melden.«

Frau Wrede mochte Anfang zwanzig sein. Ihr gesamtes Auftreten war makellos. Nur die verschmierte Wimperntusche verlieh ihrem puppenhaften Gesicht etwas Pandahaftes. Oder es lag daran, dass sich ihre Augen vor Überraschung weiteten.

»Was denn?«

»Das möchte ich mit den Beamten besprechen.«

»Einen Moment bitte.«

Während sie telefonierte, rechnete Judith nach, wie lange das Blut auf dem Granitboden schon trocknete. Sie kam auf nicht mehr als sechs oder sieben Stunden. Der Tod musste um Mitternacht eingetreten sein. Wahrscheinlich hatte der Wachmann die Leiche bewegt und sich anschließend die Hände gewaschen. Es gab für alles eine Erklärung. Sie ärgerte sich über sich selbst und hätte den Anruf am liebsten rückgängig gemacht.

Es dauerte nicht lange, und die rechte Fahrstuhltür öffnete sich. Einer der beiden Männer vom KDD, die sie von der Friedrichstraße aus durch die Glasscheibe gesehen hatte, nickte der jungen Frontoffizierin zu und steuerte dann auf Judith zu. Er war vielleicht Anfang vierzig, hatte das blasse Herbstgesicht eines Angestellten, der nicht oft an die frische Luft kam, und müde, rot geränderte Augen. Der Kriminaldauerdienst arbeitete meist dann, wenn alle anderen schliefen. Man sah dem Beamten an, dass er für die Schichtarbeit nicht geboren war.

Er streckte ihr die Hand entgegen. Judith zog den rechten gelben Handschuh aus und wischte sich die Finger verlegen am Overall ab, bevor sie seinen Gruß erwiderte.

»Jobst Wagner, Kriminaldauerdienst«, stellte er sich vor. »Sie wollten uns sprechen?«

»Kepler von der Firma Dombrowski. Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen.« Wagner folgte ihr in den Flur. Als sie die Tür zum Waschraum öffnete und ihm aufhielt, hob er verwundert die Augenbrauen, trat dann aber ein. Frau Wrede lugte um die Ecke und sah ihnen nach.

»Jemand war vor mir hier«, sagte Judith. »Und er ist kein Profi. Zumindest nicht, was das Reinigen von Tatorten angeht.«

»Sie sind Cleaner?«

»Ja.«

Wagner kannte ihren Beruf, denn er stellte keine weiteren Fragen. Sie deutete auf die Blutspuren unter dem Waschbeckenrand. Er ging in die Knie und betrachtete die verwischten Abdrücke.

»Waren Sie das?«

»Nein. Ich bin eben erst gekommen.«

»Aber Sie tragen doch auch Handschuhe. Zeigen Sie mal her.«

Wie ein Schulkind streckte Judith die linke Hand aus und hielt ihm auch noch den rechten Schutzhandschuh zur Begutachtung entgegen. Wagner kontrollierte beides und entschuldigte sich dann.

»Sie glauben ja nicht, was wir alles erleben.« Er griff zu seinem Handy. »Kommando zurück. Ich hab noch eine Kleinigkeit für euch. Im Waschraum hinter den Personaltoiletten, Erdgeschoss.« Er nickte Judith zu. »Danke. Wir kümmern uns darum.«

»Darf ich trotzdem draußen schon anfangen?«

»Nein.«

Judith hatte es nicht anders erwartet. Sie kannte auch seinen Beruf.