Rainer Kessler
Der Weg zum Leben
Ethik des Alten
Testaments
Mit einem Geleitwort von
Landesbischof Professor Dr. Heinrich Bedford-Strohm
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ISBN 978-3-641-15985-6
V001
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Zur Erinnerung an
Willy Schottroff (1931–1997) und
Luise Schottroff (1934–2015)
INHALT
Geleitwort von Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorwort
Vorüberlegungen
Teil I: Prolegomena
§1 Wozu dient eine Ethik des Alten Testaments?
1. Die Aufgabe der Rekonstruktion
2. Die Ethik des Alten Testaments als Mittel der kirchlichen Selbstverständigung
3. Die Kirche als Diskursteilnehmerin
4. Die apologetische Aufgabe einer Ethik des Alten Testaments
§2 Zur Geschichte der »Ethik des Alten Testaments«
1. Von Johann Philipp Gabler bis ins 1. Viertel des 20. Jahrhunderts
2. Die Entwicklung seit Johannes Hempels »Ethos des Alten Testaments«
3. Typen der Darstellung der Ethik des Alten Testaments
4. Eckart Ottos »Ethik« von 1994
§3 Der Gegenstand einer »Ethik des Alten Testaments«
1. Die Schriften der Hebräischen Bibel als Gegenstand der Ethik des Alten Testaments
Impuls 1: Exkurs zur Terminologie
2. Ethik und Sozialgeschichte
3. Theologie und Ethik des Alten Testaments
4. Vom »Ethos des Alten Testaments« zur »Ethik des Alten Testaments«
§4 Ethik des Alten Testaments in kanonischer Perspektive
1. Vielfalt und Einheit
2. Kanonwerdung als historischer Prozess
3. Das Kohärenzargument
4. Das Rezeptionsargument
5. Einwände gegen den kanonischen Ansatz
§5 Die Quellen einer Ethik des Alten Testaments
1. Die Verortung des Problems
2. Erzähltexte
3. Prophetenworte
4. Normative Texte
5. Ethische Grund-Sätze
Teil II: Kanonische Darstellung
A. Tora
§6 Die Tora als Erzählung und Weisung
1. Erzählung und Weisung
2. Schöpfung und Erwählung, Segen und Befreiung
3. Die Struktur der Darstellung
4. Zwei Anmerkungen zum vorgestellten Strukturierungsvorschlag
§7 Gen 1–4 – Die anthropologische Grundlegung der alttestamentlichen Ethik
1. Die Erschaffung der Menschheit als Bild Gottes (Gen 1,26-28): die Gottesbildlichkeit
2. Segen und Herrschaftsauftrag (dominium terrae)
3. »Männlich und weiblich«
Impuls 2: Gottesbildlichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte
4. Der Sabbat als Ziel der Schöpfung
5. Die »zweite Schöpfungserzählung« in Gen 2
6. Die Gebotsübertretung
Impuls 3: »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«? – Erbsünde und Autonomie
7. Vergehen, Strafe und Schutz (Gen 4)
§8 Gen 5–11 – Katastrophe und Bewahrung der Menschheit
1. Die Weiterwirkung des Segens
2. Der Weg in die Katastrophe
3. Gottes Eingriff: die Bestrafung
4. Gottes Eingriff: der Menschheitsbund und die ersten Gebote
5. Der Universalismus der Urgeschichte
§9 Gen 12–50 – Segen für und durch die Erzelternfamilien
1. Der Segen für und durch Abraham (Gen 12,1-3)
2. Segen für die Völker als Thema der Genesis
3. »Hüte dich davor, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, einen Bund zu schließen« (Ex 34,12)
4. Die Edomitertexte der Bibel
§10 Gen 22 – Störungen: der unmoralische Gott
1. Die Unmoral der Protagonisten
2. Gott und die Moral
Impuls 4: Gott und die Moral – einige grundsätzliche Positionen
§11 Ex 1–15 – Die Befreiung aus der Sklaverei
1. Stellenwert und Bedeutung des Themas
2. Die narrative Entfaltung des Themas in Ex 1–15
3. Die Erinnerung an die Befreiungserfahrung in den Gesetzestexten
§12 Ex 15–18 – Der Weg zum Sinai
1. Die Anfänge der Rechtssetzung vor dem Sinai
2. Die Entdeckung des Sabbats und der biblische »Urkommunismus«
Impuls 5: Wie kommunistisch ist die biblische Wirtschaftsethik?
3. Rechtsentstehung aus Präzedenzfällen
§13 Der narrative Rahmen der Sinaiperikope – Gehorsam und Bundesschluss
1. Das Verhältnis von Exodus- und Sinaiüberlieferung
2. Bund und Gehorsam
3. Bundesbruch und Erneuerung der Tafeln
Impuls 6: Befreiung – Gebote – Gehorsam
§14 Der Dekalog – Das Eingangsportal in die Tora
1. Die Stellung des Dekalogs im Kontext
2. Die Entstehung des Dekalogs
3. Die Datierung des Dekalogs
4. Eine knappe Auslegung der Dekalog-Verbote und -gebote
5. Der sozialgeschichtliche Hintergrund des Dekalogs
6. Die Satzformen des Dekalogs und sein rechtlicher Charakter
Impuls 7: Der Dekalog als Wertekatalog – Ein Irrweg der Dekalogrezeption
7. Der Dekalog als Eingangsportal in die Tora
§15 Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33)
1. Aufbau und Entstehung des Bundesbuchs
2. Das Bundesbuch als Rechtskorpus
3. Der institutionelle Hintergrund des Bundesbuchs
4. Die so genannte Theologisierung des Rechts
Impuls 8: Ethik und Recht – grundsätzliche Gedanken
5. Ethik und Recht im Bundesbuch: »Ausdifferenzierung« oder »Einbettung«?
6. Zur ethischen Bewertung des Bundesbuchs
§16 Die priesterliche Gesetzgebung (Ex 24,12 – Num 10,10)
1. Priesterschrift und Heiligkeitsgesetz
2. Sexualtabus und das Denken in den Kategorien von Rein und Unrein (Lev 18 und 20)
Impuls 9: Homosexualität in der Hebräischen Bibel
3. Die Heiligung des Lebens (Lev 19)
Impuls 10: Das Liebesgebot der Hebräischen Bibel
4. Talion und Rechtsgleichheit für Einheimische und Fremde (Lev 24,10-23)
5. Jhwhs Eigentumsvorbehalt (Lev 25–26)
6. Ethik nach Verlassen des Sinai (Num 10,11 – 36,13)
§17 Das Deuteronomium
1. Das Deuteronomium und die Tora vom Sinai
2. Aufbau und Entstehung des Deuteronomiums
3. Felder materialer Ethik im Deuteronomium
4. Die theologische Bedeutung des Deuteronomiums für die Begründung einer Ethik
Impuls 11: Segen als Grundlage und Ziel, Gerechtigkeit als Bedingung einer ökologisch-sozial ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialethik
§18 Der Pentateuch als Ganzer
1. Erzählung und Weisung im Pentateuch
2. Das Zusammenwirken der Gesetzeskorpora im Pentateuch
3. Vom Transzendieren des Gegebenen
B. Die Prophetie
§19 Die Prophetie im Spannungsfeld von Tora und Geschichte
1. Die Entstehung der großen Geschichtserzählung
2. Torabezug in der Geschichtsdarstellung
3. Die vordere Prophetie und die Ethik des Alten Testaments
§20 Josua und Richter – Die Landnahme zwischen Eroberung und Befreiung
1. Eine dichte Lektüre der Landnahmetexte
2. Ethische Bewertung
Impuls 12: Identitätsstreben und Ethik
3. Einfriedungsmaßnahmen
4. Das Leben im Land: Liberated Israel?
§21 Der Streit um das Königtum
1. Formen von Selbstorganisation in der Tora
2. Die Etablierung des Königtums in Israel
3. Die Königsgeschichte im Licht von 1 Sam 8–12
Impuls 13: Die ethische Relevanz der Staatsform
4. Königsherrschaft Gottes und Messiashoffnung
§22 Samuel und Könige – Menschen statt Vorbilder
1. Fehlverhalten und Tragik – Saul
2. Conditio humana statt Vorbildethik – David und Salomo
3. Lüge und Täuschung: Ethik in Erzählungen – zwei Fallbeispiele
4. Elija, Elischa, Jehu und die »Durchsetzung des Monotheismus«
5. Und Gott?
§23 Die hinteren Propheten oder Schriftpropheten
1. Die Schriftpropheten im Kanonteil »Prophetie«
2. Prophetie und Tora
3. Unrechtserfahrung als Ursprung von Tora und Prophetie
§24 Jesaja – Gerechtigkeit und Heil
1. »Wehe, die das Böse gut und das Gute böse nennen« (Jes 5,20)
Impuls 14: Wirtschaft, Recht und Ethik
2. »… das Recht trägt er zu den Völkern« (Jes 42,1)
3. »Wahrt das Recht, und übt Gerechtigkeit« (Jes 56,1)
4. Zweierlei Maß
§25 Jeremia – Ethik im Licht der Tora
1. Jeremia als Sozialkritiker
2. Jeremia als Lehrer der Tora
3. Jeremia und der neue Bund
Impuls 15: Die Tora als Inhalt des neuen Bundes im Neuen Testament
§26 Ezechiel – Im Schatten des Traumas
1. Kritik als Begründung für den Untergang Judas und Jerusalems
2. Das Bild des gewalttätigen Gottes und die Ethik des Alten Testaments
3. Das Leben der Gerechten
Impuls 16: Vom Umgang mit historischer Schuld
§27 Die Zwölf Propheten – Ethische Schlaglichter
1. Hosea – Gewaltüberwindung im Inneren Gottes
Impuls 17: Monotheismus und Ethik
2. Amos – Die Universalität moralischer Ansprüche
3. Micha – »Er hat dir gesagt, Mensch, was gut ist …« (Mi 6,8)
4. Maleachi – Ethik und Kult
§28 Tora und Prophetie als Ganze
1. »Recht und Gerechtigkeit« als Grundlage der Ethik
2. Tora und Prophetie als offenbarter Gotteswille
3. Tora für Israel und Recht für die Völker
C. Die Schriften
§29 Die Ethik der Schriften zwischen Weisheit und Tora
§30 Ethisches in den Psalmen
1. Gott als Rächer der Bedrängten
Impuls 18: Das ethische Problem biblischer Rachewünsche
2. Das Bild des gerechten Menschen
3. Schuld und Vergebung
§31 Die Weisheit
1. Weisheit als Geistesströmung und Literaturgattung
2. Die Quellen weisheitlicher Erkenntnis
3. Die Frage nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen
§32 Hiob
1. Das Leiden des Einzelnen und die gerechte Weltordnung
2. Die paternalistische Ethik der Hiobdichtung
3. Die Diesseitsbezogenheit der Ethik des Hiobbuches
§33 Das Buch der Sprüche
1. Der pädagogische Charakter der Spruchweisheit
2. Erkennen und Handeln – zum Verhältnis von Beobachtung und Norm
3. Das Ziel weisheitlicher Unterweisung
Impuls 19: Werte und Gesinnung, Tugenden und gutes Leben
4. Reflexionen über die Weisheit (Spr 1–9)
5. Das Verhältnis der Sprüche zu Prophetie und Tora
§34 Kohelet
1. »Alles ist Windhauch« – die vergebliche Suche nach dem Glück
2. Das von Gott geschenkte Glück
3. Ethik im Licht von Skepsis und Gottesfurcht
4. Zur Bedeutung der Ethik Kohelets
Impuls 20: Herrenmoral und Frauenfeindlichkeit in alttestamentlichen Texten
§35 Das Werden der Tora zur Regel für die Gemeinschaft
1. Das Esra-Nehemia-Buch
2. Die Tora als feste Bezugsgröße in der Chronik
3. Schritte zum Geltungsgewinn der Tora
Teil III: Altes Testament und christliche Ethik
§36 Die jüdische Bibel und das christliche Alte Testament
1. Das so genannte Apostelkonzil (Apg 15)
2. Tora und Naturrecht
3. Das Alte Testament im Neuen
§37 Einheit und Vielfalt der alttestamentlichen Ethik
1. Die Abstraktion ethischer Prinzipien
2. Ethische Vielfalt und Sozialgeschichte
3. Identität in Abgrenzung und Offenheit
4. Variabler Umgang mit der Vielfalt ethischer Positionen
§38 Historischer Abstand, Schriftprinzip und biblische Erinnerung
1. Der historische Abstand der biblischen Texte
2. Das Schriftprinzip und seine Krise
3. Biblische Erinnerung
4. Rezeptionsgeschichte als Vermittlung der biblischen Erinnerung
§39 Ethik für die globalisierte Moderne
1. Plausibilisierung und Übersetzung
2. Ethik im Diskurs
3. Die Ethik des Alten Testaments und die Menschenrechte
4. Die Ethik des Alten Testaments als Ethik der Befreiung
Literatur
Abkürzungen
Sekundärliteratur
Anmerkungen
Register
der Begriffe, Sachen und Namen
der Bibelstellen
GELEITWORT
von Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Unsere Gesellschaft ist auf der Suche nach Grundorientierungen und Werten. Die christliche Ethik ist dabei ein wichtiger Maßstab.
Immer wieder ist zu hören und zu lesen, dass der Einfluss der christlichen Kirchen auch in ethischen Fragestellungen mehr und mehr zurückgeht.
Mein Eindruck dagegen ist eher, dass die Kirchen und viele Repräsentanten des Christentums nicht nur gehört, sondern von Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichen Gruppen aktiv gebeten werden, auf Basis christlicher Grundüberzeugungen zu beraten und Position zu beziehen. Die Tatsache, dass dem Deutschen Ethikrat mit Prof. Dr. Peter Dabrock ein evangelischer Theologieprofessor vorsteht, unterstreicht diese Wahrnehmung.
Die Grundlage für die christliche Ethik ist und bleibt die Bibel. Daher ist es für eine christliche Ethik grundlegend notwendig, die biblischen Bücher immer wieder neu auf ihren ethischen Gehalt hin zu untersuchen und in die jeweilige Zeit hinein zu interpretieren und auszulegen.
Es ist daher erstaunlich, dass im deutschen Sprachraum letztmalig eine Ethik des Alten Testaments im Jahr 1994 erschienen ist. So freue ich mich sehr, dass Rainer Kessler nun eine Ethik des Alten Testaments geschrieben hat, die hiermit vorliegt.
Der Titel »Der Weg zum Leben« bringt bereits viel von dem zum Ausdruck, was das Buch vermitteln will. Die Ethik des Alten Testaments ist primär keine Umsetzung von Normen und Vorschriften, sondern will vielmehr Hilfe und Wegweisung für ein erfülltes Leben des Einzelnen sowie für ein gelingendes Zusammenleben in der Gemeinschaft sein. Rainer Kessler verfolgt in seinen Ausführungen einen ganzheitlichen Ansatz, der nicht lediglich die Gesetzessammlungen und Weisheitstexte des Alten Testaments auf ihren ethischen Gehalt hin untersucht, sondern darüber hinaus den gesamten alttestamentlichen Textbestand mit den darin enthaltenen Erzählungen, Prophetenbüchern und Psalmen in seine Überlegungen einbezieht und daraus ethische Schlussfolgerungen zieht.
Der bewusste Blick des Autors auf die Vielfalt ethischer Aussagen innerhalb des Alten Testaments, die auch schon als »Vielzahl von Ethiken« bezeichnet wurde, spiegelt die Komplexität wider, die sich aus der Tatsache ergibt, dass zu ähnlichen Sachverhalten unterschiedliche Einschätzungen innerhalb des Alten Testaments vorliegen. Dabei macht Rainer Kessler deutlich, dass dieses Nebeneinander von widersprüchlichen Positionen nicht hinderlich, sondern vielmehr notwendig für eine eigene verantwortete ethische Urteilsbildung ist.
Gerade für unsere heutige Zeit halte ich das für besonders wichtig. Bei der Menge an Informationen, die täglich auf uns einströmen, ist es sehr komplex und manchmal mühevoll geworden, sich eine ausdifferenzierte Meinung zu den verschiedenen Sachverhalten und Fragestellungen zu bilden. Manche sehnen sich nach simplen Antworten und Wahrheiten. Die Tatsache, dass populistische Strömungen in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen haben, und das weltweit, ist ein Indiz dafür. Umso wichtiger ist es zu zeigen, dass nicht früher alles klarer, einfacher und besser war, sondern bereits Menschen zur Zeit des Alten Testaments um verantwortete ethische Urteilsbildung gerungen haben und dabei auch mit Dilemmata umzugehen hatten.
»Wir brauchen die Ethik des Alten Testaments, um für die gesellschaftlichen Diskurse gerüstet zu sein« schreibt Rainer Kessler in seinem Aufsatz »Was ist und wozu brauchen wir eine Ethik des Alten Testaments?« aus dem Jahr 2010. Das möchte ich im Hinblick auf die kommunikativen und ethischen Herausforderungen der heutigen Zeit deutlich unterstreichen.
Ich bin froh und dankbar, dass mit Rainer Kesslers »Weg zum Leben« ein Buch eines Alttestamentlers vorliegt, das nicht nur seziert, exegesiert und dann die einzelnen Puzzleteile den Systematischen Theologen zur weiteren Verarbeitung überlässt, sondern selbst systematische Überlegungen einbezieht und dadurch auch für sich genommen bereits eine klar profilierte, kompetente und relevante ethische Orientierung in verständlicher Form anbietet.
Für Menschen auf der Suche nach Grundlagen biblischer Ethik und nach Orientierung ist »Der Weg zum Leben« ein wichtiges und für die eigene Urteilsbildung in ethischen Fragestellungen hilfreiches Buch.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine inspirierende, anregende und das eigene ethische Urteilsvermögen bildende und unterstützende Lektüre.
München, im August 2017
VORWORT
Ethik spielt sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung von Kirche als auch in deren Selbstverständnis eine nicht unerhebliche Rolle. Kirchliche Organe und Leitungspersonen melden sich bei Fragen zu Wort, die sie für ethisch relevant halten. Viele Angehörige christlicher Gemeinden setzen sich aus christlich-ethischen Motiven aktiv für Menschen ein, die Hilfe brauchen, von der Kinderbetreuung über die Flüchtlings- und Obdachlosenhilfe bis zur Zuwendung zu Alten und Pflegebedürftigen. Selbst religiös indifferente Menschen können der Kirche eine gewisse moralische Kompetenz zugestehen, sei es in der Erziehung im Religions- und Konfirmandenunterrricht, sei es im diakonischen und karitativen Handeln, sei es im Diskurs, der in Ethik-Kommissionen oder -Beiräten geführt wird.
Zugleich beanspruchen die Kirchen aller Konfessionen, dass ihr Handeln und Reden wesentlich durch die biblische Überlieferung bestimmt ist. Besonders die evangelische Kirche stilisiert sich gern als Kirche des Wortes. Wegen des 500-jährigen Reformationsjubiläums belegte sie ihre Revision der Lutherbibel, wiewohl 2016 erschienen, mit dem Etikett »Luther 2017«. Die Bibel in deutscher Sprache und die sich auf die Reformation zurückführende evangelische Kirche sollen als untrennbare Einheit wahrgenommen werden.
Und doch besteht zwischen biblischer Orientierung und ethischer Kompetenz ein tiefer Graben. In der deutschsprachigen Bibelwissenschaft sind Fragen der biblischen Ethik Randfragen. Die letzte »Ethik des Alten Testaments« in deutscher Sprache ist 1994 erschienen. Umgekehrt spielt das biblische Argument in ethischen Stellungnahmen in aller Regel nur eine marginale Rolle, wenn der Bezug auf die Bibel nicht sogar ausdrücklich als überholt zurückgewiesen wird.
Als ein Mensch, der seit seinen Studentenjahren politisch interessiert und engagiert war, der nach manchen Umwegen in der Bibel wesentliche Orientierung gefunden hat und für den Fragen des Glaubens untrennbar mit Fragen des rechten Handelns verbunden sind, leide ich seit langem an diesem Zustand. Während meiner Lehrtätigkeit in Marburg seit 1993 habe ich deshalb immer wieder Veranstaltungen abgehalten – in aller Regel mit Kollegen aus der in Marburg stark vertretenen Sozialethik –, in denen über den Zusammenhang von Bibel und Ethik nachgedacht wurde. Auch in den alttestamentlichen Fachveranstaltungen lag und liegt mir immer daran, die Relevanz der Texte für heutige Fragestellungen herauszustellen. So war es folgerichtig, dass ich in meinem letzten aktiven Semester, dem Wintersemester 2009/10, eine vierstündige Vorlesung »Ethik des Alten Testaments« gehalten habe. In meiner letzten Vorlesung, deren Text 2011 in der Zeitschrift Evangelische Theologie veröffentlicht wurde, habe ich das Programm dazu unter dem Titel »Was ist und wozu brauchen wir eine Ethik des Alten Testaments?« vorgestellt. Das hier vorliegende Buch stellt die Ausarbeitung dieses Ansatzes dar.
Ansatz und Aufbau des Entwurfs werden auf den folgenden Seiten vorgestellt. Den Hauptteil bildet die Darstellung der impliziten Ethik der Hebräischen Bibel, die dem Kanon entlanggehend präsentiert wird. Vorangestellt sind diesem Hauptteil Prolegomena, die Grundfragen behandeln, die mit der Verfassung einer Ethik des Alten Testaments verbunden sind. Abgeschlossen wird das Buch mit Überlegungen dazu, wie man von einer Ethik des Alten Testaments zu einer heute zu verantwortenden ethischen Haltung kommen kann.
In die fortlaufende Darstellung sind zwanzig grafisch abgehobene Elemente eingefügt, die ich Impulse nenne. In ihnen geht es mir darum, von den jeweils behandelten Texten ausgehend direkt auf ethische Probleme und Fragen unterschiedlichster Art zuzugreifen. Wer nicht nur an der historischen Rekonstruktion der Ethik des Alten Testaments, sondern an deren Relevanz für aktuelle Fragestellungen interessiert ist, sollte hier besonders fündig werden. Da eine am Kanon orientierte Darstellung bestimmte Themen notwendigerweise an verschiedenen Stellen behandelt – ich nenne nur ethisch relevante Stichworte wie »Recht und Gerechtigkeit« und »Glück« oder Themenfelder wie »Sklaverei« oder »Geld« –, sei zudem auf das Sachregister verwiesen, mit dessen Hilfe solche zusammengehörenden Fragen erschlossen werden können. Desgleichen verweist das Register der Bibelstellen auf Texte hin, die trotz der insgesamt am Kanon orientierten Darstellung in anderem Zusammenhang behandelt werden.
Zu danken ist wie bei solchen Angelegenheiten immer vielen. Doch nur wenige können auch genannt werden. Der Heidelberger Arbeitskreis ist ein loser Zusammenschluss von Menschen unterschiedlichster Profession, die sich seit genau vierzig Jahren – das erste Treffen fand 1977 in Villigst statt – um Fragen der sozialgeschichtlichen Bibelauslegung und ethischen Relevanz biblischer Texte bemühen. Seit über dreißig Jahren nehme ich an den jährlichen Begegnungen teil. In Zeiten allgegenwärtiger Plagiatsvorwürfe vermag ich gar nicht anzugeben, wie viele der auf den folgenden Seiten vorgestellten Gedanken in diesem Kreis entstanden und in mein eigenes Denken eingegangen sind. Der Erinnerung an die verstorbenen Gründungsmitglieder dieses Kreises, Willy und Luise Schottroff, die bis in die letzten Tage ihres Lebens an seinen Diskussionen teilgenommen haben, ist das Buch gewidmet.
Wie erwähnt, hat die Zusammenarbeit mit der Sozialethik meine akademische Tätigkeit in Marburg wesentlich geprägt. Mein Dank gilt namentlich den Professoren Siegfried Keil, Wolfgang Nethöfel, Franz Segbers, Michael Haspel und Peter Dabrock, die allesamt mittlerweile entweder im Ruhestand oder nicht mehr in Marburg tätig sind. Frühere gemeinsame Veranstaltungen und das mit allen bis heute fortdauernde Gespräch haben auf vielfältige Weise die vorliegenden Ausführungen provoziert und beeinflusst.
Mit vielen konnte ich über viele Einzelfragen sprechen. Aber nur eine hat das Manuskript zur Gänze gelesen, PD Dr. Uta Schmidt, Heidelberg und Gießen. Ihre wertvollen Anmerkungen sind vielfach in die Endfassung des Textes eingegangen. Dafür sage ich tief empfundenen Dank. Leserinnen und Leser können ihr sowie dem Programmleiter des Gütersloher Verlagshauses, Herrn Diedrich Steen, zudem dafür danken, dass sie zu einer zehnprozentigen Kürzung des Manuskripts beigetragen haben.
In besonderer Weise dankbar bin ich Herrn Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm. Noch vor seiner Zeit als Landesbischof hat er als Herausgeber der »Evangelischen Theologie« für meinen dort veröffentlichten Artikel »Was ist und wozu brauchen wir eine Ethik des Alten Testaments?« 2011 Worte gefunden, die mich zur Weiterarbeit ermutigten. Dass er sich bereit erklärt hat, trotz seiner Doppelbelastung als Landesbischof und Vorsitzender des Rates der EKD jetzt ein Geleitwort für dieses Buch zu verfassen, empfinde ich als Ehre und Auszeichnung. Es ist mein Wunsch, dass die Ethik des Alten Testaments – nicht unbedingt in meiner Rekonstruktion, sondern überhaupt! – sowohl in der wissenschaftlichen theologischen Ethik als auch bei kirchenleitenden Menschen von Kirchenvorständen bis zu Kirchenpräsidenten, Bischöfen und Bischöfinnen und Präsides so wahrgenommen wird, wie es ihr angemessen ist. In Heinrich Bedford-Strohm kommt beides in glücklicher Weise zusammen.
Die Zahl vierzig symbolisiert in der Bibel oft eine runde, abgeschlossene, manchmal sogar vollkommene Größe. Um keine falschen Anklänge aufkommen zu lassen, ist die folgende Darstellung in 39 Paragraphen unterteilt. Alles andere wäre unangemessen.
Rainer Kessler
Marburg an der Lahn und Frankfurt am Main, im Juli 2017
VORÜBERLEGUNGEN
Was soll ich tun? Diese Frage ist nach Immanuel Kant eine der drei Grundfragen der Philosophie – neben den Fragen: Was kann ich wissen?, und: Was darf ich hoffen? –, die sich alle auf die vierte Frage: Was ist der Mensch? beziehen.1 Die Frage ist freilich älter als die philosophische Beschäftigung mit ihr. Seit Menschen Sprache haben, haben Eltern ihren Kindern gesagt, was sie tun sollen, und haben menschliche Gemeinschaften eine Vorstellung davon ausgebildet, wie sich ihre Mitglieder verhalten sollen. Auch die Hebräische Bibel, die in christlicher Aufnahme zum Alten Testament der Bibel aus zwei Testamenten wurde, entstammt einer Welt, in der man sich Gedanken über das rechte Verhalten machte. Sie finden ihren Niederschlag in dieser Schriftensammlung.
Die Frage, was wir tun sollen, ist universal. Die Antworten aber werden in konkreten Gemeinschaften gegeben. Von einer universalen Ethik, die die Kulturen der Welt einbezöge, sind wir noch weit entfernt – wenn es sie denn je geben sollte. Nachdenken über Ethik kann immer nur im eigenen Kulturkreis anfangen, auch wenn sie dort nicht enden sollte. Zu diesem Kulturkreis gehören für mich das antike Mesopotamien und Ägypten, die Welt des Mittelmeeres seit der Antike, die islamische Kultur und dann das Europa nördlich der Alpen, also der Kulturkreis, den man seit Luthers Bibelübersetzung als Morgenland und Abendland bezeichnet.
In diesem Kulturkreis haben sich seit dem Beginn des philosophischen Nachdenkens über Ethik verschiedene Felder des Fragens ausgebildet. Ethik kann als Frage nach dem guten Leben, als Frage nach dem Glück verstanden werden: Was sollen wir tun, um glücklich zu leben? Ethik kann auch als Frage nach der Gerechtigkeit gestellt werden: Wie muss eine Gesellschaft aussehen und wie muss ich mich in ihr verhalten, dass sie als gerecht bezeichnet werden kann? Es ist aber auch möglich, Ethik vom Subjekt und seinen moralischen Einstellungen und Gefühlen her zu entwickeln, denn jeder Mensch verhält sich in seinem Leben sittlich – oder eben unsittlich. Aufgabe der ethischen Theorie ist es, diese Felder in Beziehung zueinander zu setzen. Sie muss zum Beispiel fragen, ob es legitimerweise ein Glück geben kann, das auf Unrecht beruht – oder eine Form von Gerechtigkeit, die den Einzelnen unglücklich macht.2
Ethisches Nachdenken kann nicht davon absehen, dass es unterschiedliche konkrete Kontexte gibt, innerhalb derer sich die Frage stellt, was wir tun sollen. Einer dieser Kontexte ist die Erziehung, ob spontan innerhalb der Familie oder organisiert in pädagogischen Einrichtungen. Ein anderer Kontext ist das weite Feld der Entscheidungsfindung, nicht nur im staatlichen Bereich bis hin zur Gesetzgebung, sondern auch im Sport, in einem Krankenhaus oder einem Industriebetrieb. Das diskursive Nachdenken, das auf diesem Gebiet gefordert ist, unterscheidet sich klar von dem Zwang zur schnellen ethischen Entscheidung in einer Notsituation, wofür als Beispiel gewöhnlich der Mensch herhalten muss, der beobachtet, wie ein Kind in einen Teich fällt. Es ist deutlich, dass in all diesen Situationen Ethik eine andere Kontur erhält, und es versteht sich, dass auch hier die ethische Theoriebildung vor der Aufgabe steht, diese Situationen nicht zu vereinseitigen, sondern in Beziehung zueinander zu setzen.
Sowohl unser unmittelbares moralisches Verhalten als auch die Reflexion auf die Frage, was wir tun sollen, speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Dazu gehört das, was wir in der Erziehung aufgenommen haben, aber auch rationale Überlegungen und moralische Gefühle. Wir werden gelenkt von unserem Gewissen, das sich im Lauf unseres Lebens gebildet hat, und von allgemein verbreiteten Ansichten über das, was recht ist zu tun. Im Einzelfall wird es kaum möglich sein, all diese Faktoren auseinanderzuhalten.
Alle aber stützen sich bewusst oder unbewusst auf einen Bestand an kollektiven Überlieferungen. Eine davon, und in unserem Kulturkreis mit die prägendste, ist die Bibel in ihren zwei Testamenten. Ihrem alttestamentlichen Teil will ich mich in dieser Studie zuwenden.
Ich stelle diese Überlegungen unter den Titel »Der Weg zum Leben«. Damit nehme ich ein Bild auf, das insbesondere in der Weisheitsliteratur der Hebräischen Bibel seinen Platz hat (Spr 2,19; 5,6; 6,23 u.ö.). Doch auch in Tora und Prophetie ist die Metaphorik von Leben – und seinem Gegenteil, dem Tod – zu finden. Mit der Tora legt Mose dem Volk »Leben und Glück, Tod und Unglück« vor (Dtn 30,15) und ruft es auf den Weg des Lebens. Und Ziel prophetischer Kritik ist nicht der Tod der Kritisierten, sondern der Ruf ins Leben (Am 5,6.14; Ez 18,31). Nach dem Verständnis des Alten Testaments sollen wir das, was wir tun sollen, nicht tun, um eine Norm zu erfüllen, sondern um Leben im umfassenden Sinn als Einzelne und als Gesellschaft zu gewinnen.
TEIL I:
PROLEGOMENA
Eine Darstellung der »Ethik des Alten Testaments« kann schwerlich mit dem Alten Testament selbst beginnen. Vielmehr sind vor der Hinwendung zum Text der Bibel eine Reihe von Fragen zu klären, die den Stellenwert des Unternehmens umreißen. Solche Fragen sind: Wozu dient eine Ethik des Alten Testaments? Welches ist ihr Gegenstand? Auf welche Quellen stützt sich die Darstellung? Diesen Fragen geht Teil I der folgenden Untersuchung unter dem Titel »Prolegomena« nach. Erst in Teil II, dem weitaus umfangreichsten der Arbeit, erfolgt die Rekonstruktion der Ethik des Alten Testaments. Unter teilweiser Aufnahme der in den Prolegomena diskutierten Probleme behandelt nach dem Durchgang durch die Hebräische Bibel ein III. Teil die Frage, wie sich die historische Darstellung der Ethik des Alten Testaments zu heute zu beantwortenden ethischen Fragestellungen verhalten könnte.
§1 WOZU DIENT EINE ETHIK DES ALTEN TESTAMENTS?
Die Darstellung der Ethik des Alten Testaments dient zunächst der Rekonstruktion der in der Hebräischen Bibel zugrunde liegenden ethischen Vorstellungen. Sie ist aber mehr als das. Sie dient ferner der Selbstverständigung innerhalb der Kirche, für die das Alte Testament Teil ihrer heiligen Schrift ist. Des Weiteren wird die Ethik des Alten Testaments durch die Kirche als eine der Diskursteilnehmerinnen in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht. Innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses fällt der Darstellung der Ethik des Alten Testaments zugleich eine apologetische Aufgabe zu.
1. Die Aufgabe der Rekonstruktion
Eine eigenständige Darstellung der Theologie der Bibel im Unterschied zu gegenwärtig systematisch formulierter Theologie gibt es erst nach dem Beginn der historisch-kritischen Forschung. Bis dahin sind systematische Theologie und biblische Theologie identisch, wobei die Verfasser davon ausgehen, dass ihre systematische Darstellung der Theologie mit der Bibel übereinstimmt. Zwar kann die Art, wie diese Übereinstimmung ausgedrückt wird, differieren. Sie kann von einem sehr losen Schriftbezug, der zudem mit Argumenten aus der Tradition (Kirchenväter, Konzilsbeschlüsse) angereichert wird, bis zum Beleg jeder einzelnen dogmatischen oder ethischen Aussage durch eine Schriftstelle (die so genannten dicta probantia) reichen.
Gegenüber dieser Ineinssetzung von systematischer und biblischer Theologie und Ethik weist die historische Kritik auf deren Differenz hin. Für die Zeit der Aufklärung ist dies die Differenz zwischen historischen, kontingenten Ereignissen, die in die biblischen Überlieferungen eingegangen sind, und allgemeinen Vernunftwahrheiten, die überzeitliche Geltung beanspruchen. Dabei kann das Verhältnis beider unterschiedlich aufgefasst werden. Während Baruch de Spinoza (1632-1677) 1670 sagt, er fände in der Schrift »nichts, das nicht mit der Vernunft im Einklang wäre oder das ihr widerstritte …«,1 spricht Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) im Jahr 1777 davon, dass zwischen dem, was uns historisch von Christus überliefert ist, und dem, was wir heute glauben und denken können, der »garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe«, liegt.2
Für die Theologie und in ihr die Fachexegese ist Johann Philipp Gabler (1753-1826) der Erste, der 1787 die Unterscheidung zwischen historischer (biblischer) und systematischer (dogmatischer) Theologie fruchtbar macht. Er definiert: »Die biblische Theologie besitzt historischen Charakter, überliefernd, was die heiligen Schriftsteller über die göttlichen Dinge gedacht haben; die Dogmatische Theologie dagegen besitzt didaktischen Charakter, lehrend, was jeder Theologe kraft seiner Fähigkeit oder gemäß dem Zeitumstand, dem Zeitalter, dem Orte, der Sekte, der Schule und anderen ähnlichen Dingen dieser Art über die göttlichen Dinge philosophierte.«3 Ganz im Sinn der Aufklärung unterscheidet Gabler für die hermeneutische Aufgabe der Vermittlung von biblischer und dogmatischer Theologie zwischen dem historisch Kontingenten und dem zeitlos Notwendigen und Gültigen.
Bei Gabler geht es dezidiert um dogmatische Theologie, also um die Lehre der Kirche, und nicht um Ethik. Gleichwohl ist der entscheidende Schritt getan, der in der Unterscheidung zwischen systematischer und historischer Theologie besteht, gleich ob es sich dabei um Dogmatik oder Ethik handelt.
Diese Unterscheidung impliziert notwendigerweise zwei Aufgaben. Die erste ist die der historischen Rekonstruktion. Denn nur durch sie kann ich überhaupt feststellen, dass und inwieweit Theologie und Ethik der Bibel nicht mit gegenwärtig zu formulierender Theologie und Ethik identisch sind. Die zweite Aufgabe ist die der hermeneutischen Bemühung um die aktuelle Aneignung der historischen Theologie und Ethik. Deren Erfolgsaussichten mag man unterschiedlich beurteilen. Aber hinter die Aufgabe selbst der hermeneutischen Vermittlung gibt es kein Zurück. In der Darstellung der Ethik des Alten Testaments kann sie allerdings ihren Platz erst nach der historischen Rekonstruktion finden (siehe dazu unten §38).
Somit lässt sich als erste Aufgabe einer Darstellung der Ethik des Alten Testaments die Aufgabe der Rekonstruktion angeben. Sie berührt Arbeitsfelder, die jede historisch-kritische Arbeit am Alten Testament angehen muss, auch wenn diese bei der Darstellung der Ethik nur am Rand berührt werden können. Da die Rekonstruktion sich mit Texten befasst, muss sie deren sprachliche Gestalt erkunden, und zwar sowohl philologisch als auch literarisch. Da das Alte Testament eine Zusammenstellung von Schriften ist, die über mehrere Jahrhunderte hinweg entstanden sind, muss die Rekonstruktion der Frage nach der Entstehung dieser Schriften nachgehen. Und gerade als historische Rekonstruktion muss sie schließlich die Frage behandeln, unter welchen Bedingungen diese Schriften entstanden sind. Neben den allgemeinen historischen Bedingungen sind dies insbesondere auch die sozialen Verhältnisse, wie sie die Sozialgeschichte darzustellen versucht.
Zusammengefasst kann man diesen Teil der Aufgabe einer Darstellung der Ethik des Alten Testaments als »historische Ethik« bezeichnen.
2. Die Ethik des Alten Testaments als Mittel der kirchlichen Selbstverständigung
Als historische Ethik ist die Ethik des Alten Testaments noch keine theologische Ethik. Sie muss das auch nicht werden. Die historische Rekonstruktion trägt ihren Wert in sich. Sie erweitert den Wissensbestand der Menschheit. Darüber hinaus ist angesichts der unbestreitbaren Wirkmächtigkeit der biblischen Aussagen in der abendländischen Geschichte die Rekonstruktion dessen, was die Bibel – hier die des Alten Testaments – sagt, eine notwendige Voraussetzung, um diese Geschichte verstehen zu können, ohne dass damit Geltungsansprüche dieser Texte übernommen werden müssten.
Allerdings ist die Bibel über ihren Charakter als historische Quelle hinaus in aktuellen religiösen Gemeinschaften zudem eine Urkunde, die Geltung beansprucht. Das trifft auf das Judentum, das sich auf die Schrift der Hebräischen Bibel stützt, ebenso wie auf die christliche Kirche zu, für die die Bibel aus Altem und Neuem Testament eine normative Grundlage ist. Dies gilt, auch wenn in den konkreten Kirchen sowohl der Umfang des Kanons differiert als auch die Art der Geltung unterschiedlich gesehen wird. Bei Letzterem geht es neben allgemeinen hermeneutischen Entscheidungen vor allem um die Rolle, die neben der Schrift selbst die Auslegungen der Kirchenväter, die Beschlüsse von Konzilien und des päpstlichen Lehramtes oder die Bekenntnisschriften der Reformation spielen.
Zudem ist in den theologischen Ethiken protestantischer Provenienz – dies ist der konfessionelle Rahmen, in dem ich mich bewege – strittig, welchen Stellenwert neben dem Neuen das Alte Testament für die Ethik haben soll. Traditionell und verbreitet ist in der christlichen Ethik die Reduktion des Alten Testaments in inhaltlich-ethischer Sicht auf den Dekalog. Dazu treten in der Regel noch ethisch relevante Theologumena. So verzichtet kaum eine Ethik auf die imago-dei-Vorstellung von Gen 1. Auch die mit der Erzählung von Gen 2–3 begründete Lehre vom Sündenfall nimmt für zahlreiche protestantische Ethiken eine Schlüsselstellung ein. Auf solche Texte ist bei der historischen Rekonstruktion ein besonderes Augenmerk zu richten.
Neben der selektiven Aufnahme des Alten Testaments stehen allerdings auch Positionen, die den vollständigen Verzicht auf das Alte Testament fordern. Für Friedrich Schleiermacher (1768-1834) sind die Schriften der Hebräischen Bibel im Grunde entbehrlich. Im §132 der Glaubenslehre formuliert er in einem Zusatz zur »Lehre von der heiligen Schrift«: »Die alttestamentischen Schriften verdanken ihre Stelle in unserer Bibel theils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, theils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen theilen.«4 In der Tradition Schleiermachers steht dann ein Großteil der liberalen protestantischen Ethik des 19. Jhs. An dessen Ende formuliert Adolf von Harnack (1851-1930) in seinem viel zitierten Urteil über Marcion als explizite Forderung: »Das AT im 2. Jh. zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jh. beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jh. als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.«5 Dass die Rückbesinnung auf die Theologie Schleiermachers im 21. Jh. auch eine erneute Ablehnung des Alten Testaments im Gefolge hat,6 beruht zwar nicht auf innerer Notwendigkeit, kann aber auch nicht verwundern.
Allerdings ist der Versuch, erneut die Ablehnung des Alten Testaments zu begründen, seinerseits auf heftige Ablehnung gestoßen.7 Denn in neuerer Zeit wurden immer mehr Stimmen laut, die entgegen dem völligen Verzicht auf das Alte Testament oder seiner Reduktion auf wenige Texte die Ethik der Hebräischen Bibel grundlegend in die Formulierung einer christlichen Ethik einbeziehen wollen. So erhebt Frank Crüsemann die Forderung, »daß unbeschadet des historischen Abstandes allein die Tora die Grundlage einer biblisch orientierten christlichen Ethik sein kann«.8 Und unter Aufnahme dieser Forderung arbeitet Franz Segbers »Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik« heraus und stellt sie unter den Obertitel »Die Hausordnung der Tora«.9
Wie die Frage nach der hermeneutischen Bearbeitung des historischen Abstands zwischen Altem Testament und Gegenwart ist auch die Frage nach der Geltung des Alten Testaments für ethische Entscheidungen innerhalb der Kirche sinnvollerweise erst nach der Rekonstruktion der Ethik des Alten Testaments zu behandeln (§38). Dass ich eine solche Rekonstruktion unternehme, kann aber schon als Hinweis darauf gesehen werden, dass ich solche Geltung voraussetze.
3. Die Kirche als Diskursteilnehmerin
Dass die Bibel für die Verständigung über Glauben und Handeln der Christinnen und Christen innerhalb der Kirche eine normative Rolle spielt, ist kaum zu bestreiten. Doch lebt die Kirche nicht auf einer einsamen Insel. Sie ist Teil der Gesellschaft. Und jedes einzelne Mitglied einer Kirche ist dies ebenfalls. Welche Rolle Kirche und Christenmenschen in der Gesellschaft spielen, hängt dabei nicht nur von der Schrift ab, an der sich diese orientieren, sondern – neben vielem anderen – auch von der Art der Gesellschaft, in der sie leben. Eine biblisch begründete und hermeneutisch vermittelte Ethik kann nicht in jeder Gesellschaft gleich aussehen. Im Deutschland des 20. Jhs hat sich das einerseits in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft und andrerseits während des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik deutlich gezeigt. Wie heute eine christliche Ethik in einem muslimischen Land, das nur sehr eingeschränkte Religionsausübung für christliche Gemeinschaften zulässt, aussehen könnte, vermag ich nicht zu sagen.
In der Weltgegend, in der ich lebe und nach der Bedeutung des Alten Testaments für eine christliche Ethik frage, sind die Kirchen Teil einer pluralistischen Gesellschaft. In ihr gibt es nebeneinander verschiedene Lebensstile, Weltanschauungen, Religionen, politische Überzeugungen usw. Dem Selbstverständnis dieser Art von Gesellschaft zufolge besteht kein Zwang zu deren Vereinheitlichung. Gleichwohl besteht aber ein Zwang zum friedlichen Zusammenleben. Gerade hier spielt Ethik eine entscheidende Rolle, denn auf vielen Feldern ist ein einheitliches Handeln gefordert, selbst wenn die religiösen, weltanschaulichen, politischen oder sonstigen Begründungen dafür bei den einzelnen Gliedern der Gesellschaft unterschiedlich ausfallen. Dies gilt besonders dann, wenn es um rechtliche Festlegungen geht, die ethisch fundiert sind.
In demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaften erfolgt die Konsensbildung im Diskurs und in demokratischer Entscheidung. Wie immer man das Verhältnis zwischen dem Diskurs, der der Idee nach herrschaftsfrei sein muss, und der Faktizität von Macht und Herrschaft bestimmt – auch auf diese Frage wird nach der Rekonstruktion der alttestamentlichen Ethik zurückzukommen sein (§39) –, in einer pluralistischen Gesellschaft sind einzelne Christinnen und Christen sowie die Kirchen Teilnehmerinnen am Diskurs. Beschreibt man die gegenwärtige Gesellschaft des europäisch-amerikanischen Typs des näheren als »postsäkulare Gesellschaft«, dann ist es nicht nur aus Gründen der Fairness ein Gebot, den »Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit« zu vermeiden, sondern »die säkulare Gesellschschaft« würde sich geradezu »von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden«, wenn sie sich keinen »Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprache« bewahrte, wie Jürgen Habermas das formuliert hat.10
4. Die apologetische Aufgabe einer Ethik des Alten Testaments
Dass die christlichen (und andere) Religionsgemeinschaften als gleichberechtigte Teilnehmerinnen am gesellschaftlichen Diskurs anerkannt werden, ist allerdings nicht unbestritten. Bis in die frühe Neuzeit hinein war es umgekehrt. Eine Ethik, die nicht religiös fundiert war, galt als undenkbar. Unter Berufung auf ein aus dem Kontext gerissenes Pauluszitat (Röm 14,23: »Alles, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde«) hatte schon Augustinus die Tugenden der Heiden als Laster qualifiziert.11 Atheisten galten als per se unmoralisch. Diese Frontstellung hat sich teilweise umgekehrt. Heute – und natürlich nicht erst seit heute – gibt es eine Kritik an der Religion – meist speziell den monotheistischen Religionsformen –, die diesen vorwirft, unmoralisch zu sein.12
Dabei kann besonders das Alte Testament in den Fokus der Kritik geraten. Dass dabei alle Klischees der antisemitischen Gruselkammer herangezogen werden, mag man als Ausrutscher ansehen. Dennoch ist es für einen Teil der Zeitgenossen einleuchtend, was Richard Dawkins über den Gott des Alten Testaments schreibt: »Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten – die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.«13 Dass man mit einer Schrift, die von einem solchen Gott handelt, keine Moral begründen kann, liegt nahe.
Nicht alle Kritiker einer theistisch begründeten Ethik kommen so polemisch daher. Wir werden unten bei der Behandlung der Erzählung von der Bindung Isaaks in Gen 22 die scharfsinnige Argumentation von Winfried Schröder kennen lernen. Er kann zur Begründung seiner These, dass »[r]eligiöse Überzeugungen theistischen Typs … die Anerkennung moralischer Normen … unter einen grundsätzlichen Vorbehalt [stellen]«, eine namhafte Reihe christlicher Theologen ins Feld führen.14
Solche Einwände sind ernst zu nehmen, ob sie nun in der polemischen Art des Richard Dawkins oder reflektiert wie bei Winfried Schröder vorgetragen werden. Innerhalb der Theologie und biblischen Exegese gibt es auch durchaus ein Bewusstsein dafür. Gerade an der Gewaltfrage arbeiten sich zahlreiche exegetische Studien ab. Für viele andere nenne ich Titel wie »Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen«15, »Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments«16 oder »Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen«.17 Die apologetische Aufgabe besteht nicht in der Verteidigung der biblischen Texte. Das wäre hermeneutisch völlig unreflektiert. Aufgabe einer Ethik des Alten Testaments ist es zunächst darzustellen, was das Alte Testament sagt. »Apologie«, so verstanden, ist nicht Rechtfertigung, sondern faire Darstellung. In einem zweiten Schritt ist allerdings zu fragen, inwiefern das Dargestellte Geltung beanspruchen kann. Dabei ist dann auf die vorgebrachten Einwände einzugehen.
Die Frage nach der Moralität des biblischen Gottesbildes und der auf dieses Bild sich beziehenden Ethik ist ein Motiv, das die Rekonstruktion der Ethik des Alten Testaments dauernd begleiten muss.