Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 20 Jahre »Das zweite Gedächtnis«
  7. Anmerkungen
  8. Erster Teil
    1. 05.00 Uhr
    2. 06.00 Uhr
    3. 1941
    4. 06.30 Uhr
    5. 07.00 Uhr
    6. 07.30 Uhr
    7. 08.00 Uhr
    8. 1941
    9. 08.30 Uhr
  9. Zweiter Teil
    1. 09.00 Uhr
    2. 10.00 Uhr
    3. 11.00 Uhr
    4. 12.00 Uhr
    5. 1941
    6. 13.00 Uhr
    7. 13.30 Uhr
    8. 14.00 Uhr
    9. 14.30 Uhr
    10. 15.00 Uhr
    11. 15.30 Uhr
    12. 15.45 Uhr
  10. Dritter Teil
    1. 16.15 Uhr
    2. 16.45 Uhr
    3. 17.00 Uhr
    4. 18.00 Uhr
    5. 1943
    6. 18.30 Uhr
    7. 19.30 Uhr
    8. 20.00 Uhr
    9. 20.30 Uhr
    10. 21.30 Uhr
    11. 22.30 Uhr
    12. 23.00 Uhr
    13. 24.00 Uhr
  11. Vierter Teil
    1. 1.00 Uhr
    2. 1945
    3. 02.30 Uhr
    4. 03.00 Uhr
    5. 04.30 Uhr
    6. 06.30 Uhr
    7. 1954
    8. 07.00 Uhr
    9. 08.00 Uhr
  12. Fünfter Teil
    1. 10.45 Uhr
    2. 11.00 Uhr
    3. 12.00 Uhr
    4. 13.00 Uhr
    5. 15.00 Uhr
    6. 15.45 Uhr
    7. 16.00 Uhr
    8. 16.30 Uhr
    9. 19.30 Uhr
    10. 21.30 Uhr
    11. 22.29 Uhr
    12. 23.00 Uhr
    13. 24.00 Uhr
    14. 01.30 Uhr
  13. Sechster Teil
    1. 08.30 Uhr
    2. 16.00 Uhr
    3. 20.30 Uhr
    4. 21.30 Uhr
    5. 22.48 Uhr
  14. Epilog
    1. 1969
  15. Danksagung

Über das Buch

Ein Mann erwacht in einem dunklen, kalten Raum. Er öffnet die Augen und stellt fest, dass er auf dem Fußboden einer öffentlichen Toilette liegt. Und dass er sich an nichts mehr erinnern kann. Ohne einen Cent in der Tasche macht Luke, der Mann ohne Gedächtnis, sich daran herauszufinden, was mit ihm geschehen ist. Bald wächst in ihm der schreckliche Verdacht, dass der Verlust seiner Erinnerung nicht auf natürlichen Ursachen beruht. Hat er etwas gewusst, das so brisant war, dass man ihm die Vergangenheit raubte, um ihn zum Schweigen zu bringen?

Über den Autor

Ken Follett, Autor von über zwanzig Bestsellern, wird oft als »geborener« Erzähler gefeiert. Betrachtet man jedoch seine Lebensgeschichte, so erscheint es zutreffender zu sagen, er wurde dazu »geformt«. Ken Follett wurde am 5. Juni 1949 im walisischen Cardiff als erstes von drei Kindern des Ehepaares Martin und Veenie Follett geboren. Nicht genug, dass Spielsachen im Großbritannien der Nachkriegsjahre echte Mangelware waren – die zutiefst religiösen Folletts erlaubten ihren Kindern zudem weder Fernsehen noch Kinobesuche und verboten ihnen sogar, Radio zu hören. Dem jungen Ken blieben zur Unterhaltung nur die unzähligen Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte – und die Abenteuer, die er sich in seiner eigenen Vorstellungswelt schuf. Schon früh lernte er lesen; er war ganz versessen auf Bücher, und nirgendwo ging er so gern hin wie in die öffentliche Bibliothek. »Ich hatte kaum eigene Bücher und war immer dankbar für die öffentliche Bücherei. Ohne frei zugängliche Bücher wäre ich nie zum eifrigen Leser geworden, und wer kein Leser ist, wird auch kein Schriftsteller.« Als Ken Follett zehn Jahre alt war, zog die Familie nach London. Nach seinem Schulabschluss studierte er Philosophie am University College; dass der Sohn eines Steuerinspektors sich für dieses Fach entschied, mag auf den ersten Blick befremden, aber bedenkt man, dass Kens religiöse Erziehung viele Fragen aufgeworfen und offengelassen hatte, erscheint sie gar nicht mehr so untypisch. Ken Follett ist der Überzeu-gung, dass die Entscheidung für dieses Studienfach ihm die Weichen in seine Zukunft als Schriftsteller gestellt hat. »Zwischen der Philosophie und der Belletristik besteht ein Zusammenhang. In der Philosophie beschäftigt man sich mit Fragen wie zum Beispiel: ›Wir sitzen hier an einem Tisch, aber existiert der Tisch überhaupt?‹ Eine verrückte Frage, aber beim Studium der Philosophie muss man solche Dinge ernst nehmen und braucht eine unorthodoxe Vorstellungsgabe. Beim Schreiben von Romanen ist es genauso.« In einem Hörsaal danach zu fragen, was wirklich ist, war eine Sache – doch plötzlich sah sich Ken mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert: Er wurde Ehemann und Vater. Er heiratete seine Freundin Mary am Ende seines ersten Semesters an der Universität. Im Juli 1968 kam ihr Sohn Emanuele zur Welt. »So etwas plant man nicht, wenn man erst achtzehn ist, aber als es geschah, war es ein unglaubliches Erlebnis.«

KEN FOLLETT

DAS ZWEITE
GEDÄCHTNIS

Roman

Aus dem Englischen von
Till R. Lohmeyer und Christel Rost

BASTEI ENTERTAINMENT

20 Jahre »Das zweite Gedächtnis«

DAls ich Das zweite Gedächtnis verfasste, wusste ich nicht, dass Robert Ludlum zwanzig Jahre zuvor einen Roman über einen Mann geschrieben hatte, der sein Gedächtnis verliert. Ich hatte Die Bourne-Identität nicht gelesen (das ist noch immer so), und die Bourne-Filme gab es noch nicht. Ich schrieb in seliger Unkenntnis des Umstands, dass Matt Damon in einer höchst erfolgreichen Hollywood-Serie einmal diesen Jason Bourne spielen würde.

Über Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, wurden etliche großartige Geschichten geschrieben. Man hat damit einen wunderbar dramatischen Anfang: Wo bin ich? Was ist mit mir passiert? Wem gehört das Gesicht im Spiegel? Und dann schafft die allmähliche Entdeckung der eigenen Vergangenheit – Familie, Geliebte, Fähigkeiten, Erlebnisse – eine Erzählung, die den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Das früheste Beispiel, das mir einfällt, ist Die Rückkehr von Rebecca West, veröffentlicht 1918. Der Held kommt aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nach Hause, nachdem er einen Granatschock erlitten hat. An die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens erinnert er sich nicht. Seine Ehefrau ist für ihn eine vollkommen Fremde, aber er ist hoffnungslos in eine Frau verliebt, mit der ihn in seiner Jugend eine Romanze verband.

Meine Geschichte spielt zum größten Teil in den Fünfzigerjahren, in der Frühzeit der Erforschung des Weltalls. Während meiner Recherchen lernte ich mit großem Vergnügen Huntsville, Alabama, kennen, wohin Wernher von Braun und andere deutsche Raketenwissenschaftler nach dem Zweiten Weltkrieg verlegt wurden, um das Raumfahrtprogramm der USA in Gang zu bringen.

Die Geschichte umfasst auch Rückblicke in die Vierzigerjahre, und bei meinen Recherchen hat es mir die größte Freude bereitet, einige der lebhaften, intelligenten Frauen zu interviewen, die zu einer Zeit die Harvard University besuchten, als so etwas als höchst undamenhaft betrachtet wurde.

Ich habe die Filmrechte nie verkauft, aber das ist egal. Ich habe Das zweite Gedächtnis sehr gern geschrieben, und Millionen von Lesern hat es in vielen Sprachen gefallen. Wenn Sie das Buch 2000 verpasst haben sollten, ist jetzt Ihre Gelegenheit.

Ken Follett, 2020

Historische Anmerkung

Der Start des ersten amerikanischen Weltraumsatelliten, Explorer I, war ursprünglich für Mittwoch, den 29. Januar 1958, vorgesehen. Am späten Abend wurde er auf den nächsten Tag verschoben, angeblich wegen ungünstiger Witterungsbedingungen. Beobachter in Cape Canaveral begriffen das nicht, denn in Florida herrschte strahlender Sonnenschein. Die Armee dagegen verwies auf den Jetstream, eine starke Luftströmung in großen Höhen, der ungünstig gewesen sei.

Am nächsten Abend kam es erneut zu einer Verschiebung – aus den gleichen Gründen, wie es hieß.

Am Freitag, dem 31. Januar, wurde es ernst.

Seit ihren Anfängen im Jahr 1947 hat die Central Intelligence Agency Millionen von Dollar in ein Forschungsprogramm investiert, dessen Ziel es war, ganz normale Menschen, ob nun freiwillig oder unfreiwillig, mithilfe von Drogen und anderen esoterischen Methoden völlig unter ihre Kontrolle zu bekommen. Auf Befehl sollten sie handeln, sprechen, die wertvollsten Geheimnisse ausplaudern – und sogar vergessen.

John Marks, The Search for the ›Manchurian Candidate‹: The CIA and Mind Control, 1979.

05.00 Uhr

Die Jupiter-C-Rakete steht auf der Abschussrampe im Komplex 26, Cape Canaveral. Aus Geheimhaltungsgründen ist sie mit riesigen Planen verhängt, die lediglich den unteren Teil der ersten Stufe freilassen. Es ist der gleiche wie bei den bekannten Redstone-Interkontinentalraketen, doch was sich sonst unter der Hülle verbirgt, ist ganz und gar einzigartig …

Als er aufwachte, fürchtete er sich.

Schlimmer noch: Er hatte eine Höllenangst. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Atem ging stoßweise, sein Körper war gespannt wie eine Bogensehne. Es war wie nach einem Albtraum – nur dass das Aufwachen keine Erlösung mit sich brachte. Er hatte das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, wusste aber nicht, was es war.

Er öffnete die Augen. Das Licht aus einem anderen, dürftig beleuchteten Raum erhellte seine Umgebung schwach. Er nahm undeutliche Schemen wahr; sie wirkten vertraut, aber zugleich beunruhigend. Irgendwo in der Nähe lief Wasser in einen Behälter.

Er versuchte, sich zu beruhigen, schluckte, atmete regelmäßig, bemühte sich, klare Gedanken zu fassen. Er lag auf einem beinharten Untergrund. Er fror, und alles tat ihm weh. Er hatte eine Art Kater: Kopfschmerzen, Übelkeit, sein Mund war trocken.

Er setzte sich auf und schlotterte vor Angst. Es roch unangenehm nach feuchten Fliesen, die mit einem starken Desinfektionsmittel gereinigt worden waren. Er erkannte die Konturen einer Reihe von Waschbecken.

Er befand sich in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt.

Ekel überkam ihn. Er hatte auf dem Fußboden in einer Männertoilette geschlafen! Was, zum Teufel, war mit ihm geschehen? Er konzentrierte sich. Er war vollständig bekleidet mit einer Art Mantel und schweren Stiefeln, hatte jedoch das Gefühl, dass es sich dabei nicht um seine eigenen Sachen handelte. Allmählich legte sich die Panik, doch an ihre Stelle trat eine tiefere Furcht – eine, die nicht so sehr auf Hysterie, sondern mehr auf Vernunft gründete. Was immer ihm zugestoßen sein mochte: Es war sehr schlimm.

Er brauchte Licht.

Er rappelte sich auf, stand, sah sich um, spähte in die Düsternis und fragte sich, wo der Ausgang sein mochte. Zum Schutz vor unsichtbaren Hindernissen streckte er die Arme aus, bis er an eine Wand stieß, von dort aus tastete er sich wie eine Krabbe im Seitwärtsgang weiter. Eine kalte, glasige Oberfläche deutete er als Spiegel. Dann waren da eine Handtuchrolle und ein Metallkasten, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Automaten handelte. Schließlich fanden seine Fingerspitzen einen Schalter. Er knipste ihn an.

Helles Licht ergoss sich über weiß gekachelte Wände, einen Betonfußboden und mehrere Toilettenkammern, deren Türen offen standen. In einer Ecke lag etwas, das aussah wie ein Bündel alter Kleider. Er dachte angestrengt nach. Was war gestern Abend passiert? Er hatte keinerlei Erinnerung daran.

Die hysterische Furcht kehrte zurück, als ihm klar wurde, dass er sich an absolut gar nichts erinnern konnte.

Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut herauszubrüllen. Gestern … vorgestern … nichts. Wie war sein Name? Er wusste es nicht.

Er ging auf eine Reihe Waschbecken zu, über der ein großer Spiegel angebracht war. Ein schmutziger, in Lumpen gehüllter Landstreicher mit stumpfem Haar, verdrecktem Gesicht, irrem Blick und hervortretenden Augen sah ihn an. Eine Sekunde lang starrte er die Gestalt an – dann überkam ihn eine furchtbare Erkenntnis. Erschrocken schrie er auf und fuhr zurück. Der Mann im Spiegel tat das Gleiche. Der Landstreicher war er selbst.

Jetzt hatte er der Panik nichts mehr entgegenzusetzen; sie überrollte ihn wie eine Woge. Er öffnete den Mund und rief mit vor Entsetzen zitternder Stimme: »Wer bin ich?«

Das Kleiderbündel bewegte sich, drehte sich um. Ein Gesicht erschien, eine Stimme brummte: »Du bist ein Penner, Luke, reg dich ab.«

Ich heiße Luke.

Es erschütterte ihn, wie ungeheuer dankbar er für diese Auskunft war. Ein Name bedeutete nicht viel, aber er war immerhin etwas, woran man sich festhalten konnte. Er starrte seinen Gefährten an. Der Mann trug einen zerrissenen Tweedmantel, der um die Taille von einem Stück Schnur zusammengehalten wurde. Ein verschlagener Blick lag auf dem verschmierten Gesicht. Der Mann rieb sich die Augen und stammelte: »Mir brummt der Schädel.«

»Wer bist du?«, fragte Luke.

»Ich bin Pete, du Schwachkopf, hast du keine Augen im Kopf?«

»Ich kann mich nicht …« Luke schluckte, um die Panik in den Griff zu bekommen. »Ich habe mein Gedächtnis verloren!«

»Das überrascht mich nicht! Du hast die Pulle gestern Abend ja fast allein geleert. Ein Wunder, dass von deinem Verstand überhaupt noch was übrig ist.« Pete leckte sich die Lippen. »Ich hab kaum einen Schluck von dem verdammten Bourbon abbekommen.«

Bourbon! Das kann einen Kater schon erklären, dachte Luke. »Warum sollte ich eine ganze Flasche Whiskey in mich hineinkippen?«, wollte er wissen.

Pete lachte spöttisch. »Das ist so ungefähr die dämlichste Frage, die ich je gehört habe. Um dir einen anzusaufen natürlich!«

Wieder dieser Horror. Ich bin ein besoffener Penner, der nachts in Männerklos unterkriecht, dachte Luke.

Er hatte einen Wahnsinnsdurst. Er beugte sich über ein Waschbecken, drehte das kalte Wasser an und trank direkt aus dem Hahn. Sofort ging es ihm besser. Er wischte sich den Mund ab und zwang sich erneut zu einem Blick in den Spiegel.

Das Gesicht wirkte jetzt ruhiger, der irre Blick war verflogen und einem eher bestürzten, verzweifelten Ausdruck gewichen. Das Spiegelbild zeigte einen dunkelhaarigen, blauäugigen Mann Ende dreißig ohne Bart, aber mit starkem Bartwuchs. Dunkle Stoppeln umschatteten sein Kinn.

Er wandte sich wieder an seinen Gefährten. »Luke wie? Wie heiße ich mit Nachnamen?«

»Luke … soundso. Woher soll ich das wissen, verdammt noch mal?«

»Wie komme ich hier her? Seit wann geht das schon so? Wie ist das passiert?«

Pete kam mühsam auf die Beine. »Ich brauch ’n Frühstück«, sagte er.

Luke spürte, dass er auch Hunger hatte. Ob ich Geld bei mir habe, fragte er sich und durchsuchte seine Taschen – den Regenmantel, das Jackett, die Hosen. Alles leer. Er hatte weder Geld noch eine Brieftasche, nicht einmal ein Taschentuch. Keine Wertgegenstände, keinerlei Hinweise. »Ich glaub, ich bin pleite«, sagte er.

»Was du nicht sagst«, erwiderte Pete sarkastisch. »Komm jetzt!« Er stolperte durch eine Tür.

Luke ging ihm nach.

Der nächste Schock folgte auf dem Fuße: Luke betrat einen riesigen, menschenleeren Tempel. Es herrschte eine unheimliche Stille. Auf dem Marmorfußboden standen Bankreihen aus Mahagoni, standen da wie in einer Kirche vor Beginn einer gespenstischen Versammlung. Auf Steinträgern über Säulenreihen erhoben sich surreale, behelmte Steinkrieger und wachten über die heilige Stätte. Hoch über ihren Häuptern wölbte sich eine reich mit vergoldeten Achtecken geschmückte Kuppel. Luke schoss der verrückte Gedanke durch den Kopf, er sei einem sinistren Kult zum Opfer gefallen und habe bei dessen Ritualen das Gedächtnis verloren.

Von ehrfürchtiger Scheu ergriffen fragte er: »Wo sind wir denn hier?«

»Union Station, Washington, D. C.«, antwortete Pete.

Der Groschen fiel, und Luke begriff endlich, was das alles bedeutete. Erleichtert sah er den Dreck an den Wänden, die platt getretenen Kaugummis auf dem Marmorboden, die Bonbonpapiere und Zigarettenschachteln in den Ecken, und kam sich furchtbar dumm vor. Er befand sich in einer pompösen Bahnhofshalle, und es war noch zu früh am Morgen, als dass sie schon voller Reisender gewesen wäre. Er hatte sich selbst Angst eingejagt wie ein Kind, das sich im dunklen Schlafzimmer vor eingebildeten Gespenstern fürchtet.

Pete hielt Kurs auf einen Triumphbogen mit der Aufschrift Exit, und Luke lief ihm hinterher.

Eine aggressive Stimme rief: »He! He, Sie da!«

»O je«, sagte Pete und beschleunigte seinen Schritt.

Ein untersetzter Mann in eng sitzender Eisenbahner-Uniform stürzte, sichtlich empört, auf die beiden zu. »Wo kommt ihr zwei Berber her?«

»Wir gehen ja schon, wir gehen ja schon«, winselte Pete.

Luke empfand es als Demütigung, sich von einem feisten Amtsträger aus dem Bahnhof jagen zu lassen.

Doch der Mann gab sich nicht damit zufrieden, sie einfach los zu werden. Er blieb ihnen dicht auf den Fersen und schimpfte: »Ihr habt hier wohl gepennt, was? Ihr wisst doch, dass das verboten ist!«

Es ärgerte Luke, wie ein Schuljunge zurechtgewiesen zu werden, obwohl er sich eingestand, dass er es vermutlich nicht anders verdiente – schließlich hatte er ja in der verdammten Toilette geschlafen. Er verkniff sich eine scharfe Entgegnung und ging schneller.

»Das ist keine Absteige hier«, fuhr der Mann fort. »Und jetzt verpisst euch, ihr Penner, ihr verfluchten!« Er rempelte Luke an der Schulter.

Luke drehte sich um und stellte sich dem Mann von der Bahn. »Fass mich nicht an!«, sagte er und war selbst überrascht von der ruhigen Drohung, die in seiner Stimme mitschwang. Der Eisenbahner blieb abrupt stehen. »Wir gehen ja schon. Sie können sich also jedes weitere Wort sparen, ist das klar?«

Der Mann trat einen Schritt zurück, er hatte offenbar Angst.

Pete packte Luke am Arm. »Komm, wir verschwinden.«

Luke schämte sich. Der Typ war ein dummer Wichtigtuer, er selbst und Pete hingegen Vagabunden. Jeder Bahnangestellte hatte das Recht, sie hinauszuwerfen – es gab also nicht die geringste Veranlassung zu Drohgebärden.

Sie traten durch das majestätische Portal ins Freie. Draußen war es noch dunkel. Auf dem kreisförmigen Bahnhofsvorplatz parkten ein paar Autos, doch die Straßen waren still. Die Luft war bitterkalt. Luke zog die Lumpen, die er trug, enger um seinen Körper. Es war ein frostiger Wintermorgen in Washington, Januar oder Februar vielleicht.

Welches Jahr haben wir, fragte er sich.

Pete wandte sich nach links; er wusste offenbar, wohin er wollte. Luke folgte ihm. »Wohin gehen wir?«, fragte er.

»Ich kenne da so eine Kirche in der H-Straße, da gibt’s ’n Frühstück umsonst – solange du dich nicht dagegen sträubst, ein frommes Lied zu singen. Oder zwei.«

»Meinetwegen ein ganzes Oratorium. Ich bin am Verhungern!«

Zielstrebig steuerte Pete im Zickzack durch das von heruntergekommenen Mietshäusern geprägte Viertel. Die Stadt war noch nicht erwacht. Die Häuser waren dunkel, die Läden vor den Geschäften, die Schnellrestaurants und Zeitungskioske noch geschlossen. Lukes Blick fiel auf ein mit billigen Vorhängen verhängtes Schlafzimmerfenster, und er stellte sich dahinter einen Mann im Tiefschlaf vor, in Decken gehüllt, neben sich, warm und kuschelig, die Ehefrau. Neid wallte in ihm auf. Anscheinend gehörte er, Luke, zu jener menschlichen Gemeinschaft, die sich im allerfrühesten Morgengrauen, wenn der Normalbürger noch friedlich im Bett liegt und schläft, auf die Straße hinauswagt: der Mann in Arbeitskluft unterwegs zu einem frühen Job; der junge Radfahrer, dick vermummt in Schal und Handschuhen; die einsame Frau, die im hell erleuchteten Innenraum eines Busses eine Zigarette raucht.

Wirre, beklemmende Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Wie lange bin ich schon Alkoholiker? Habe ich jemals versucht, trocken zu werden? Habe ich eine Familie, die mir gegebenenfalls helfen kann? Wo habe ich Pete kennen gelernt? Woher haben wir den Sprit bekommen, wo ihn getrunken?

Doch Pete war maulfaul, und Luke bezwang seine Ungeduld in der Hoffnung, dass sein Begleiter vielleicht etwas mitteilsamer wurde, wenn er erst einmal etwas im Magen hatte.

Sie kamen zu einer kleinen Kirche, die trotzig ihren Platz zwischen einem Kino und einem Tabakladen behauptete. Sie traten durch einen Nebeneingang ein und stiegen eine Treppe hinunter, die in den Keller führte. Luke fand sich in einem lang gestreckten Raum mit niedriger Decke wieder, bei dem es sich anscheinend um die Krypta handelte. Auf der einen Seite erkannte er ein Klavier und eine kleine Kanzel, an der anderen befand sich eine Küchenzeile. Dazwischen standen drei einfache, auf Schragen gestellte Tische mit Bänken. Drei andere Penner saßen bereits da – je einer an jedem Tisch – und starrten geduldig ins Nichts. In der Küchenecke stand eine rundliche Frau und rührte in einem großen Kochtopf. Der Mann neben ihr, ein Graubart mit Priesterkragen, sah von seinem Kaffeebecher auf und lächelte.

»Nur herein, meine Herren, nur herein mit Ihnen!«, sagte er fröhlich. »Kommen Sie ins Warme!« Luke beäugte ihn misstrauisch und fragte sich, ob hier alles mit rechten Dingen zuging.

Es war in der Tat warm – atemberaubend warm nach der kalten Winterluft draußen. Luke knöpfte seinen abgewetzten Trenchcoat auf, und Pete sagte: »Morgen, Pastor Lonegan.«

»Waren Sie schon einmal hier?«, fragte der Pastor. »Ich habe Ihren Namen vergessen.«

»Ich bin Pete – und der da ist Luke.«

»Petrus und Lukas, zwei Jünger des Herrn!« Die Jovialität wirkte echt. »Fürs Frühstück kommen Sie ein wenig zu früh, aber frischen Kaffee gibt es schon.«

Luke hätte gerne gewusst, wie es ein Mann, der in aller Herrgottsfrühe aufstehen musste, um einen Raum voll verblödeter Vagabunden mit Frühstück zu versorgen, schaffte, sich seinen Frohsinn zu bewahren.

Der Pastor goss Kaffee in zwei Steingutbecher. »Milch und Zucker?«

Luke wusste nicht, ob er Milch und Zucker im Kaffee mochte. »Ja, bitte«, sagte er aufs Geratewohl, bedankte sich, nahm den Becher und nippte am Kaffee. Er schmeckte ekelhaft sahnig und süß. Wahrscheinlich trinke ich ihn normalerweise schwarz, dachte Luke. Doch da das Gebräu auch das Hungergefühl besänftigte, trank er den Becher rasch aus.

»In ein paar Minuten werden wir ein kurzes Gebet sprechen«, sagte der Pastor, »und danach dürfte Mrs. Lonegans berühmter Haferbrei servierfertig sein.«

Luke kam zu dem Schluss, dass sein Verdacht ungerechtfertigt gewesen war: Bei Pastor Lonegan stimmten Schein und Wirklichkeit überein – er war ein fröhlicher Zeitgenosse, der gerne anderen Menschen half.

Luke und Pete setzten sich an den klobigen Brettertisch, und Luke musterte seinen Gefährten. Bisher waren ihm nur das dreckige Gesicht und die Lumpen aufgefallen, die er am Leibe trug. Jetzt bemerkte er, dass die typischen Merkmale des Langzeitsäufers fehlten: keine geplatzten Äderchen, keine trockenen Hautfetzen, die sich vom Gesicht abschälten, keine Schnitte oder blauen Flecken. Vielleicht ist Pete einfach noch zu jung, dachte Luke; er schätzte ihn auf etwa fünfundzwanzig. Pete hatte eine kleine Missbildung: Ein dunkelrotes Muttermal zwischen rechtem Ohr und Kiefer. Seine Zähne waren schief und verfärbt. Den dunklen Schnurrbart hat er sich wahrscheinlich stehen lassen, um von seinen schlechten Zähnen abzulenken – irgendwann in längst vergangenen Tagen, als ihm seine äußere Erscheinung noch nicht gleichgültig war. Luke spürte unterdrückte Wut in seinem Kumpel – einen Hass auf die Welt, vielleicht, weil sie ihn hässlich gemacht hatte, vielleicht aber auch aus einem ganz anderen Grund. Vielleicht hing Pete einer Verschwörungstheorie an und glaubte, irgendeine ihm verhasste Bevölkerungsgruppe richte das Land zugrunde – chinesische Einwanderer, arrivierte Neger oder ein undurchsichtiger Klub von zehn Superreichen, die insgeheim den Aktienmarkt beherrschten.

»Was glotzt du mich so an?«, fragte Pete.

Luke zuckte mit den Schultern, antwortete aber nicht. Auf dem Tisch lag eine Zeitung, daneben ein Bleistiftstummel; die Seite mit dem Kreuzworträtsel war aufgeschlagen. Lukes Blick fiel auf die leeren Kästchen; er nahm den Bleistift zur Hand und begann, die gesuchten Wörter einzutragen.

Immer mehr Berber schlurften herein. Mrs. Lonegan stellte einen Stapel Geschirr bereit: schwere Suppenschalen und Löffel. Luke hatte das Kreuzworträtsel fast gelöst, nur ein Wort fehlte noch, Kleiner Ort in Dänemark, mit sechs Buchstaben. Pastor Lonegan sah ihm über die Schulter, zog überrascht die Augenbrauen hoch und sagte leise zu seiner Frau: »Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!«

Sofort war das fehlende Wort da – Hamlet. Luke trug es ein und dachte: Woher weiß ich das?

Er schlug die Zeitung auf und sah nach dem Datum auf der Titelseite. Es war Mittwoch, der 29. Januar 1958. Dann fesselte die Schlagzeile seinen Blick – US-Erdtrabant bleibt auf dem Boden –, und er las:

Cape Canaveral, Dienstag: Nach zahlreichen technischen Problemen hat die US-Marine einen zweiten Versuch, ihre Vanguard-Rakete in den Weltraum zu schicken, kurz vor dem geplanten Start abgebrochen.

Die Entscheidung fiel zwei Monate nach dem ersten Versuch, der mit einer demütigenden Katastrophe endete. Damals war die Rakete zwei Sekunden nach der Zündung explodiert.

Die amerikanischen Hoffnungen auf den Start eines Weltraumsatelliten, der dem sowjetischen Sputnik erfolgreich Paroli bieten kann, richten sich nun auf die konkurrierende Jupiter-Rakete der Armee.

Ein lauter Akkord auf dem Klavier ließ Luke aufblicken. Mrs. Lonegan spielte die einleitenden Töne eines bekannten Kirchenlieds, und gleich darauf begannen sie und ihr Mann What a Friend We Have in Jesus zu singen. Froh darüber, dass er sich an das Lied erinnern konnte, stimmte Luke ein.

Dieser Bourbon wirkt sich echt seltsam aus, dachte er. Ich kann ein Kreuzworträtsel lösen und ein Kirchenlied mitsingen, habe aber keine Ahnung, wie meine Mutter heißt. Trinke ich vielleicht schon seit Jahren, sodass mein Gehirn entsprechend ruiniert ist? Wie habe ich es nur so weit kommen lassen können?

Nach dem Choral las Pastor Lonegan einige Bibelverse und versicherte daraufhin allen Anwesenden, dass auch sie gerettet werden könnten. Das hat diese Bande hier auch dringend nötig, dachte Luke. Doch wie auch immer – selbst empfand er nicht das Bedürfnis, sein Vertrauen in Jesus zu setzen. Zunächst einmal wollte er herausfinden, wer er überhaupt war.

Der Pastor extemporierte einen Segen, alle sprachen ein Tischgebet, dann stellten sich die Männer an, und Mrs. Lonegan teilte Haferbrei mit Sirup aus. Luke schlang drei Schalen voll hinunter. Danach ging es ihm wesentlich besser, und der Kater verschwand rasch.

Luke war ungeduldig, er hatte noch so viele Fragen. Er wandte sich an den Pastor: »Sagen Sie, Sir, haben Sie mich hier schon einmal gesehen? Ich habe mein Gedächtnis verloren.«

Lonegan musterte ihn aufmerksam. »Ich glaube, nein«, sagte er. »Aber ich kann mich irren. Ich habe jede Woche mit Hunderten von Leuten zu tun, wissen Sie. Wie alt sind Sie?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Luke und kam sich dabei sehr dumm vor.

»Ende dreißig, würde ich sagen. Lange sind Sie noch nicht auf der Straße, das sieht man einem nämlich an. Sie haben einen federnden Gang, Ihre Haut ist rein unter dem Dreck, und außerdem sind Sie geistig noch so fit, dass Sie ein Kreuzworträtsel lösen können. Hören Sie auf zu trinken, und Sie werden wieder ein ganz normales Leben führen können.«

Luke fragte sich, wie oft der Pastor diesen Rat schon erteilt haben mochte. »Ich werd ’s versuchen«, versprach er.

»Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an uns.« Ein junger Mann, der offensichtlich geistig behindert war, tätschelte beharrlich Lonegans Arm. Der Pastor wandte sich ihm mit geduldigem Lächeln zu.

»Wie lange kennst du mich schon?«, fragte Luke Pete.

»Weiß nicht. Du hängst hier schon ’ne Zeit lang rum.«

»Wo haben wir die vorletzte Nacht verbracht?«

»Immer mit der Ruhe, ja! Früher oder später wird sich dein Gedächtnis schon wieder melden.«

»Ich muss aber wissen, wo ich herkomme.«

Pete wirkte unschlüssig. »Was wir jetzt brauchen, ist ein Bier«, sagte er endlich. »Dann können wir wieder klar denken.« Er wandte sich zum Gehen.

Luke hielt ihn am Arm fest. »Ich will kein Bier«, sagte er entschieden. Pete will offenbar nicht, dass ich mich mit meiner Vergangenheit beschäftige, dachte er. Vielleicht hat er Angst, einen Kumpel zu verlieren. Aber da kann ich ihm auch nicht helfen – ich habe Wichtigeres zu tun als Pete Gesellschaft zu leisten. »Ehrlich gesagt, ich wär jetzt gerne ein Weilchen allein.«

»Für wen hältst du dich eigentlich? Für Greta Garbo?«

»Ich meine das ernst.«

»Du brauchst mich aber! Allein schaffst du ’s nicht. Mensch, du weißt ja nicht mal, wie alt du bist.«

In Petes Blick lag eine gewisse Verzweiflung, doch Luke ließ sich davon nicht beirren. »Du machst dir Sorgen um mich, das ist nett von dir. Aber ich will herausfinden, wer ich bin, und dabei bist du mir keine Hilfe.«

Pete zögerte einen Augenblick, dann zuckte er mit den Schultern. »Na schön, das ist dein gutes Recht.« Er wandte sich wieder dem Ausgang zu. »Alsdann, bis irgendwann mal.«

»Bis irgendwann mal, ja.«

Pete ging. Luke schüttelte Pastor Lonegan die Hand. »Vielen Dank für alles«, sagte er.

»Ich hoffe, Sie finden, was Sie suchen«, antwortete der Pastor.

Luke stieg die Treppe hinauf und trat auf die Straße. Einen Straßenzug weiter stand Pete und sprach mit einem Mann in einem grünen Regenmantel und einer dazu passenden Mütze. Wahrscheinlich bettelt er ihn an, damit er sich sein Bier kaufen kann, dachte Luke, schlug die entgegengesetzte Richtung ein und bog bei nächster Gelegenheit um die Ecke.

Es war noch immer dunkel. Luke bekam kalte Füße und spürte plötzlich, dass er zwar Stiefel trug, aber keine Socken. Während er weiterhastete, begann es leicht zu schneien. Nach ein paar Minuten verlangsamte er seine Schritte wieder. Es gab keinen Grund zur Eile; es war vollkommen egal, ob er schnell ging oder langsam. Er blieb stehen und suchte Schutz in einem Hauseingang.

Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte.

06.00 Uhr

Die Rakete ist auf drei Seiten von einem gerüstartigen Wartungsturm umgeben, der sie in stählerner Umarmung hält. Der Turm – eine umgebaute Ölbohrplattform – ist auf zwei Radpaare montiert, die auf breitspurigen Schienen laufen. Vor dem Start wird die Konstruktion, die höher ist als ein mehrstöckiges Haus, um knapp einhundert Meter zurückgerollt.

Elspeth wachte auf voller Sorge um Luke.

Eine Weile blieb sie noch im Bett liegen. Das Herz war ihr schwer, so sehr bangte sie um den Mann, den sie liebte. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an und setzte sich auf.

Ihr Motelzimmer war mit Weltraumdekor ausgestattet. Die Stehlampe hatte die Form einer Rakete, und die Bilder an den Wänden zeigten Planeten, Halbmonde und Umlaufbahnen in einem aberwitzig unrealistischen Nachthimmel. Das Starlite gehörte zu einer dicht gedrängten Gruppe neuer Motels, die im Dünengelände um Cocoa Beach, Florida, zwölf Kilometer südlich von Cape Canaveral, wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, um die wachsende Zahl von Gästen aufzunehmen. Der Innenarchitekt hatte offenbar das Thema »Weltraum« für genau das Richtige gehalten, doch Elspeth kam sich vor, als hätte man sie im Zimmer eines Zehnjährigen einquartiert.

Sie griff nach dem Telefon, das auf dem Nachttisch stand, und wählte die Nummer von Anthony Carrolls Büro in Washington, D.C. Der Ruf ging ab, aber am anderen Ende meldete sich niemand.

Sie probierte es mit der Privatnummer, doch das Ergebnis war das gleiche. War etwas schief gegangen?

Ihr wurde übel vor Angst. Anthony ist gerade auf dem Weg ins Büro, redete sie sich ein. Ich probiere es in einer halben Stunde noch einmal. Länger als dreißig Minuten ist er bestimmt nicht unterwegs.

Unter der Dusche musste sie daran denken, wie sie Luke und Anthony kennen gelernt hatte. Die beiden studierten vor dem Krieg in Harvard und sie in Radcliffe. Die Jungs gehörten beide dem Harvard Glee Club an, dem Universitätschor. Luke hatte einen hübschen Bariton, Anthony einen prächtigen Tenor. Sie selbst war damals Dirigentin der Radcliffe Choral Society und hatte ein gemeinsames Konzert mit dem Glee Club organisiert.

Luke und Anthony waren die besten Freunde und doch ein ungleiches Paar. Beide waren sie große, sportliche Typen, doch damit endete auch schon die Ähnlichkeit. Bei den Radcliffe-Mädchen hießen sie »der Schöne und das Biest«. Der Schöne war der stets elegant gekleidete Luke mit seinem welligen schwarzen Haar. Anthony mit seiner großen Nase und dem langen Kinn sah nicht gut aus, und man hatte bei ihm immer den Eindruck, er trage einen Anzug, der ihm nicht gehörte. Seine Energie und Begeisterungsfähigkeit machten ihn dennoch anziehend für die Studentinnen.

Elspeth hielt sich nicht lange unter der Dusche auf. Im Morgenrock setzte sie sich an den Schminktisch und trug ihr Make-up auf. Ihre Armbanduhr hatte sie zuvor neben den Eyeliner gelegt, um ja nicht zu verpassen, wann die halbe Stunde vorüber war.

Auch damals, als sie zum ersten Mal mit Luke sprach, hatte sie im Morgenrock am Schminktisch gesessen. Bei einer so genannten Schlüpferjagd. Eine Gruppe von Harvard-Boys, einige davon angetrunken, war spätabends durch ein Fenster im Erdgeschoss in das Studentinnenheim eingedrungen. Heute, fast zwanzig Jahre später, kam es Elspeth schier unglaublich vor, dass sie und die anderen Mädchen damals nichts Schlimmeres befürchtet hatten, als dass man ihnen womöglich die Unterwäsche klauen könne. War die Welt damals noch so unschuldig gewesen?

Luke war rein zufällig bei ihr im Zimmer gelandet. Er studierte Mathematik wie sie. Zwar trug er eine Maske, doch Elspeth erkannte ihn an seinen Kleidern, dem hellgrauen Jackett aus irischem Tweedstoff mit einem rot gepunkteten Baumwolltaschentuch in der Brusttasche. Unter vier Augen mit ihr wirkte Luke auf einmal sehr gehemmt, als ginge ihm just in diesem Augenblick auf, dass er einen großen Blödsinn begangen hatte. Elspeth hatte gelächelt, auf ihren Kleiderschrank gedeutet und gesagt: »Oberstes Fach.« Worauf Luke zu ihrem Bedauern – denn sie waren recht teuer gewesen – zwei hübsche weiße Schlüpfer mit Spitzenbesatz an sich nahm. Doch schon am nächsten Tag bat er sie um ein Rendezvous.

Elspeth konzentrierte sich auf ihr Make-up. Da sie schlecht geschlafen hatte, war es diesmal schwieriger als sonst. Grundierung glättete ihre Wangen, und lachsrosa Lippenstift hellte ihre Mundpartie auf. Sie konnte ein abgeschlossenes Mathematikstudium von der renommierten Universität Radcliffe vorweisen, doch am Arbeitsplatz erwartete man von ihr immer noch, dass sie wie ein Mannequin aussah.

Sie bürstete sich das Haar. Es war rotbraun und modisch geschnitten: kinnlang und am Hinterkopf nach innen gewellt. Dann zog sie sich rasch an: ein Kleid mit einem ärmellosen Oberteil aus braun-grün gestreifter Baumwolle und mit einem breiten, dunkelbraunen Kunstledergürtel.

Seit ihrem ersten Versuch, Anthony telefonisch zu erreichen, waren neunundzwanzig Minuten vergangen.

Die letzte Warteminute vertrieb sie sich mit Gedankenspielen um die Zahl 29.

Es war eine Primzahl – also eine Zahl, die lediglich durch den Faktor 1 geteilt werden konnte. Abgesehen davon war die 29 ziemlich uninteressant. Das einzig Ungewöhnliche war, dass 29 plus 2x2 für jeden x-Wert bis 28 ebenfalls eine Primzahl war. Sie zählte die Reihe in Gedanken auf: 29, 31, 37, 47, 61, 79, 101, 127 …

Dann griff sie zum Telefon und wählte noch einmal Anthonys Büronummer.

Niemand hob ab.