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Zum Roman

Katharina denkt an ihre Kinder, sie denkt an ihre Kunden, und viel zu selten denkt sie an sich selbst. Bis sie ihren neuen Nachbarn David kennenlernt, der sie charmant und schlagfertig zum Lachen bringt. David sitzt im Rollstuhl und schweigt über seine Vergangenheit genauso hartnäckig wie Katharina über ihren großen Schmerz. Immer wieder begegnen sich die beiden im Garten unter der alten Kastanie. Und für Katharina beginnt der überraschendste Sommer ihres Lebens …

Zur Autorin

Kristina Valentin lebt und arbeitet in Norddeutschland. Sie verbringt jede freie Minute damit zu schreiben und liebt es, Geschichten zu erfinden. Sie veröffentlicht auch unter den Namen Kristina Steffan und Kristina Günak.

KRISTINA VALENTIN

Ein Sommer

und ein

ganzes Leben

ROMAN

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Originalausgabe 04/2018

Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück, 30827 Garbsen

Redaktion: Dr. Katja Bendels

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock/Zerbor, Floral Deco

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-19683-7
V003

www.diana-verlag.de

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Für Verena

»Eine Schwester ist wie ein kleines bisschen Kindheit,

das man für immer behalten darf.«

(Unbekannt)

1

Dieser Mai hat es in sich. Es ist unfassbar heiß. Matt bleibe ich im Flur unserer kleinen Wohnung stehen und atme tief durch. Es fühlt sich ein wenig an, als würde ich versuchen, durch glühend heiße Watte zu atmen.

»Wam«, murmelt meine Tochter Hanna in meine Halsbeuge, und ich lasse sie auf den alten Linoleumboden herunter. Mein Großer ist schon losgezogen, um alle Fenster aufzureißen. Lukas ist neun, und mich beschleicht immer häufiger die Vermutung, dass er der Einzige mit einer praktischen Veranlagung in unserer kleinen Familie ist. Das hat er von seinem Vater.

»Was gibt es zu essen?« Seine dunklen Haare sind vollkommen verschwitzt, und eine Welle der Zuneigung erfasst mich.

»Pizza«, sage ich kurz entschlossen und bringe damit meine Kinder schlagartig an den Rand eines Glückstaumels. Lukas klatscht in die Hände, und Hanna schüttelt ihre Locken.

Wir lieben Pizza. Alle. Und dann leider auch noch diese mit chemischen Zusätzen vollgestopfte Tiefkühlpizza. Deswegen bemühe ich mich regelmäßig um eine ausgewogene, nährstoffreiche und biologisch wertvolle Ernährung, damit ich Tage wie diese vor meinem mütterlichen Gewissen verantworten kann. Aber dieser Tag schreit einfach nach Pizza, schließlich habe ich stundenlang zwei reichlich widerspenstigen Menschen beim Streiten zugeschaut. Ich bin Mediatorin, und mit Streitschlichten verdiene ich meinen Lebensunterhalt, aber heute war alles zu lang, zu vollgepackt, und ich bin zu erschöpft, um mehr als fünf Minuten in der Küche zu stehen.

Trotz dieser Zeitersparnis dauert es dann doch fast zwei Stunden, bis meine Kinder endlich im Bett liegen. Hanna will nicht duschen, Lukas will aus der Dusche nicht mehr raus und sieht sich trotz der Außentemperaturen außerstande, kälter als mindestens Körpertemperatur zu duschen. Das trägt nicht zur Verbesserung des Raumklimas bei. Ich überstehe die Duschorgie mit leicht vibrierenden Nerven und dicken Schweißtropfen, die mir den Rücken hinunterlaufen. In der Wohnung sind es mittlerweile gefühlte 56 Grad.

Gegen neun betrete ich endlich meinen Balkon, sinke auf den roten Holzstuhl nieder und gönne mir einen Schluck eisgekühlten Roséwein. Ich möchte vor Wonne aufstöhnen, sehe aber davon ab, weil nur zwei Meter neben mir Signora Rosa gerade dabei ist, ihre Wäsche platzsparend übereinander auf ihren Minibalkon zu hängen.

Sie freut sich, mich zu sehen, und strahlt über das ganze Gesicht. Signora Rosa kommt aus Rom und spricht nur sehr wenig Deutsch. Sie ist meine Nachbarin, seit ihr Mann vor vier Monaten ein italienisches Restaurant gleich bei uns um die Ecke eröffnet hat. In ihrer Heimat war sie Krankenschwester, und sie hat Lukas schon zweimal ein aufgeschlagenes Knie verarztet. Ich bin nämlich nur so lange hart im Nehmen, bis Blut ins Spiel kommt. Beim Anblick einer blutenden Wunde, die sich an einem Körperteil meiner Kinder befindet, drohe ich ernsthaft in Ohnmacht zu fallen. Aber Signora Rosa kann das. Generell ist sie ausgesprochen nett zu allen Menschen im Haus und kümmert sich allein um ihre vier Kinder. Ihr Mann arbeitet schließlich den ganzen Tag im Restaurant.

Ihre Wohnung ist exakt so groß wie meine – 65 Quadratmeter –, womit sie nicht nur ihre Wäsche in Etagen trocknen, sondern die ganze Familie auch in mehreren Etagen schlafen muss. Plötzlich verspüre ich tiefe Dankbarkeit, weil wir nur zu dritt in der kleinen Wohnung wohnen, und bemühe mich auch gleich um einen dankbaren Gesichtsausdruck – wer weiß, vielleicht guckt ja just in diesem Moment eine höhere Instanz auf mich herunter, und das würde dann sicherlich mein Karma verbessern. Zu Signora Rosa sage ich: »Feierabend!«

»Feierabend« war eines der ersten Wörter, die ich ihr beigebracht habe.

Signora Rosa nickt mir fröhlich zu. Dann lacht sie, winkt und entschwindet. Sicherlich nicht, um Feierabend zu machen, sondern vermutlich, um in ihrer Miniaturküche schnell noch fünf komplizierte italienische Gerichte für ihre große Familie zu kochen.

Ich nehme noch einen Schluck Rosé und blicke in unseren trüben Hinterhof. Wenn man die Augen schließt und die hässlichen Fassaden der uns umzingelnden Gebäude nicht mehr sieht, kann man sich kurz einbilden, man befände sich irgendwo in Florenz oder Mailand. Die Tatsache, dass es von nebenan köstlich nach Rosmarin und Tomatensugo duftet, hilft dabei enorm. Man darf nur die Augen nicht aufmachen. Dann sieht man leider sehr deutlich, dass man direkt in einen alten und schäbigen deutschen Hinterhof starrt. Der auch noch den Blick auf den Horizont versperrt. Und dabei gehört der Blick in die Weite für mich zum größten Luxus.

Mein Balkon ist exakt 1,5 Quadratmeter groß. Darauf passen: mein roter Holzstuhl, ein kleiner Tisch, der platzsparend in das Geländer gehängt ist, drei Töpfe mit Lavendel und ich. Einen kurzen Moment versucht meine tief sitzende Sehnsucht nach einem eigenen Garten, einem eigenen Baum und ein wenig mehr Platz nach mir zu greifen, doch ich führe mir vor Augen, dass ich dankbar sein muss. Bin ich dann auch sofort wieder. Auch wenn ich so gerne mal wieder den Sonnenuntergang sehen möchte …

Und nackt durch den Garten springen. Bestenfalls in einem lauen Sommerregen. Obwohl, nach zwei Schwangerschaften würde ich vielleicht nicht mehr ganz so nackt herumspringen. Das letzte Mal war ich nämlich Anfang zwanzig. Das war im Garten von Kerstins Eltern, die zu dem Zeitpunkt im Urlaub waren – was meine beste Freundin Kerstin und ich ganze drei Wochen lang genutzt haben.

Sehnsüchtig erinnere ich mich an den Duft von Sommerregen und feuchtem Gras unter den Fußsohlen, bis Herr Hildebrand unter mir Rammstein aufdreht. Bei geöffneten Fenstern und definitiv nicht in Zimmerlautstärke. Links über mir fängt ein Baby an zu weinen, ebenfalls bei geöffnetem Fenster und mitnichten bei Zimmerlautstärke, und unten im Hof schiebt der Hausmeister die großen Müllcontainer auf die Straße. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht laut zu fluchen. Das kann ich gut, und ich überrasche oft meine Umwelt damit. Man sieht mir nämlich nicht an, wie hervorragend ich fluchen kann.

Gestandene Männer werden bei meinen Tiraden rot und sehen zu, dass sie Land gewinnen. Heute aber gelingt es mir, mich zusammenzureißen. Ich stehe auf und gehe ins Wohnzimmer, das gleichzeitig auch mein Schlafzimmer ist. Dort setze ich mich direkt vor den Ventilator und stelle mir vor, dass es die Meeresbrise ist, die mir die Stirn kühlt.

Der nächste Morgen beginnt unerfreulich, weil wir kollektiv verschlafen. Ich fange damit an, die Kinder machen es nach. Um halb acht erwache ich auf meinem Schlafsofa, blinzle in den hell erleuchteten Frühsommermorgen und freue mich, dass ich so großartig geschlafen habe, das tue ich nämlich sonst nur sehr selten.

Erst einen Moment später begreife ich, dass heute Dienstag ist und wir die Wohnung vor genau zehn Minuten hätten verlassen haben müssen. Ich schlage auf meinen Wecker ein, der mitten in der Nacht kommentarlos seinen Dienst quittiert hat. Dann zerre ich die murrenden Kinder an den Füßen aus dem Bett – sinnbildlich gesprochen, denn natürlich tue ich das nicht, aber ich wäre in der allgemeinen Hektik fast auf den Gedanken gekommen, weil Hanna einfach nicht aufwachen wollte.

Im Verlauf des weiteren Vormittags komme ich gleich dreimal zu spät. Im Kindergarten wollen die schrecklichen Erzieherinnen uns nötigen, bis neun Uhr auf dem Flur zu warten, weil der Morgenkreis schon läuft und dieser unter keinen Umständen gestört werden darf. Es handelt sich dabei wohl um ein wichtiges pädagogisches Konzept, welches sich mir leider überhaupt nicht erschließt. Deswegen geraten die Obererzieherin und ich mitten im Flur aneinander, woraufhin erst Hanna anfängt zu weinen, und dann Lukas mit einem tiefen Seufzer den Raum verlässt. Er möchte zur Schule. Jetzt. Mein Kind ist nicht nur schrecklich strukturiert, sondern auch noch notorisch pünktlich. Nachdem Hanna dann doch noch am Morgenkreis teilnehmen darf, transportiere ich Lukas mit quietschenden Reifen bis zum Schultor, und er rennt mit gesenktem Kopf und geschultertem Ranzen in das Gebäude. Ohne sich zu verabschieden.

Es ist ganz offensichtlich, dass ich heute Morgen nur sehr wenige Freunde auf dieser Welt habe. Ich beeile mich, in die Praxis zu kommen, in der ich einen Raum für meine Mediationen und Coaching-Termine gemietet habe. Und siehe da, heute ist selbst meine Lieblingskollegin Inge – die ganz nebenbei auch meine einzige Kollegin ist – sauer auf mich, weil sie eigentlich gemeinsam mit mir ihren anstehenden Coaching-Prozess für ein mittelständisches Unternehmen durchsprechen wollte. Aber nun sitzt mein eigener Klient schon mit einem Kaffee im Besprechungsraum.

Und das alles nur wegen diesem Wecker. Sebastians Wecker, um genau zu sein. Wie immer, wenn ich unachtsam bin und ein Gedanke es schafft, in Sebastians Richtung zu schweifen, zieht sich mein Herz schlagartig zusammen und schmerzt. Aber nur noch ganz kurz. Es ist wie eine Erinnerung an den Schmerz, der mich so lange begleitet hat.

Ich werde mich irgendwann mit der veränderten Situation befassen müssen, aber nicht heute, denn heute befasse ich mich mit der Perspektivlosigkeit von Herrn von Stuckreder. Der möchte nämlich kein Controller mehr sein, obwohl das sein ganzes bisheriges Leben lang sein Ziel gewesen ist. Er sieht auch aus wie ein Controller, spricht wie ein Controller und benimmt sich wie jemand, der alles und jeden, und das mit größter Leidenschaft, kontrolliert. Sein ganzes Leben ist bereits komplett durchgeplant. Trotzdem will er so nicht weitermachen. Viel lieber würde er nun geführte Reittouren auf Island anbieten. Und genau deswegen macht er jetzt ein Coaching.

Während Herr von Stuckreder ausführlich über seinen aktuellen inneren Dialog berichtet, denke ich an meinen eigenen beruflichen Werdegang. Es scheint, als hätte ich den Begriff »Sprunghaftigkeit« erst wirklich definiert. Ich habe Kunstgeschichte studiert, als Stadtführerin in Rom, Berlin und Madrid gearbeitet, Klos geputzt, im Büro gearbeitet, gekellnert, Bäume gefällt und bin schließlich, nachdem ich die Kommunikation als meine wahre Leidenschaft entdeckt hatte, Mediatorin und systemischer Coach geworden. Menschen allein mithilfe von Worten zu helfen begeistert mich. Die Kosten für die Ausbildung werde ich beim aktuellen Stand und der erwarteten Entwicklung meines Einkommens im Jahr 2025 abbezahlt haben. An Reittouren auf Island ist nicht zu denken. An Urlaub oder gar ein Häuschen mit Garten im Grünen ebenso wenig. Ein neuer Wecker ist vielleicht drin, womit mein strapaziertes Konto dann aber auch wirklich leer wäre. Ich höre Herrn von Stuckreder noch einen Moment lang zu und entscheide mich dann, etwas Verbotenes zu tun.

»Herr von Stuckreder«, unterbreche ich meinen Klienten und sehe ihn direkt an. Ich werde meinem Klienten jetzt einen Ratschlag erteilen. Das tut ein Coach nie. Wir begleiten den Prozess bis zur eigenen Erkenntnis durch zirkuläres Fragen und andere Coaching-Tools, aber so kann es hier nicht weitergehen. »Sie sind finanziell abgesichert, frei und ungebunden. Wir können jetzt noch hundert weitere Coaching-Stunden vereinbaren, in denen wir Pro- und Contra-Listen erstellen, Sie eine Timeline abschreiten, ich Sie Ihre Zukunftsvision visualisieren lasse oder wir mit der Wunderfrage arbeiten. Oder Sie kündigen, packen Ihre Sachen und probieren es einfach aus.« Herr von Stuckreder ist für einen Moment sprachlos. So klare Worte ist er von mir nicht gewohnt. Aber heute mache ich das mal anders. Weil meinem Klienten alle Türen offen stehen und es nur wenige Dinge gibt, nach denen ich mich so sehr sehne.

Ich beuge mich ein wenig vor und sage leise: »Mehr als Sie kann man ein Vorhaben nicht durchdenken. Ich vermute, dass Sie innerhalb der nächsten fünf Jahre das bestorganisierte Unternehmen auf ganz Island führen werden. Und falls nicht … kommen Sie einfach zurück und arbeiten wieder als Controller.« Herr von Stuckreder sieht mich lange an. Dann nickt er, trinkt seinen Kaffee in einem Zug aus und steht auf.

»Ich schicke Ihnen eine Karte!«, sagt er zu meiner Verblüffung und umarmt mich zum Abschied, was ich von dem kontrollierten Herrn von Stuckreder nun wirklich nicht erwartet hatte. Er geht zur Tür, hält inne, dreht sich noch einmal um und sagt voller Inbrunst: »Sie sind eine sehr kluge Frau, Frau Kahrens. Danke!« Dann verschwindet er endgültig. Und mit ihm mindestens zehn mal achtzig Euro Honorar.

Menschen bei Veränderungen zu unterstützen ist mein Beruf, und darin bin ich sehr gut. Ich kenne mich nämlich mit Veränderungen aus. Jahrelang war ich ein bisschen wie eine verrückt gewordene Kompassnadel, die sich konsequent um ihre eigene Mitte dreht. Aber seitdem meine Kinder da sind, ist alles anders geworden. Kinder brauchen Stabilität. Und im hektischen Alltag einer arbeitenden und alleinerziehenden Mutter kommt irgendwann zwangsläufig der Moment, an dem selbst die durchgeknallteste Kompassnadel sich nach Ruhe und Frieden sehnt.

Zum Glück habe ich vor zwei Jahren Inge getroffen, die mir seitdem in ihrer Praxis einen Besprechungsraum für meine Coaching-Stunden und Mediationen zu einem sehr fairen Preis vermietet. Es ist eine schwierige Branche, in der es oft Jahre dauert, bis man sich etabliert hat. Die Aufträge sind nicht kalkulierbar. Manchmal herrscht wochenlang Ebbe, und dann wollen sich plötzlich alle auf einmal durch mich begleitet über das Sorgerecht für ihre Kinder streiten oder eine Lebenskrise durchstehen. Inge arbeitet hauptsächlich in großen Unternehmen und begleitet Umstrukturierungsmaßnahmen oder coacht Führungskräfte, insofern kommen wir uns mit unseren Klienten auch nicht in die Quere.

Allerdings bleibt finanziell noch nicht viel übrig. Das Leben mit zwei Kindern kostet immens viel Geld. Und Nerven. Letztere waren mal ganz gut, lassen aber in letzter Zeit auch zu wünschen übrig. Alles in allem bleibt mir nichts anderes übrig, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Früher hätte ich meine Sachen gepackt und wäre weitergezogen. Heute geht das nicht mehr.

Ich lehne mich zurück und verschränke die Hände hinter dem Kopf. Es ist immer noch heiß. Sollten wir mit dieser Praxis jemals reich werden, würde ich uns eine Klimaanlage spendieren. Die großen Fensterfronten sind ein Highlight, bescheren uns aber jetzt, im viel zu frühen Sommer, eine Bullenhitze. Mein Blick fällt auf den Papierstapel vor mir und das Blatt, das darunter hervorlugt. Es ist die erste Rechnung der Privatschule. 350 Euro Aufnahmegebühr. Nach dem Sommer kommt Lukas auf die weiterführende Schule, und ich habe ihn auf einer privaten Schule angemeldet, die mich monatlich 300 Euro kosten wird. Dafür gibt es dort ein großartiges didaktisches Konzept, und nachdem wir uns jetzt vier Jahre durch die Grundschule gekämpft haben, hoffe ich, dass sich wenigstens Lukas’ schulischer Weg in eine positive Richtung entwickelt. Auch wenn ich mir diese Schule eigentlich gar nicht leisten kann.

Nun gilt es also, die monatliche Einkommensseite um 300 Euro aufzustocken. Aber man kann Klienten nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Vielleicht sollte ich bei unserem Blumenverkäufer auf dem Markt anheuern? Das wäre samstags, dann müsste ich nur die Kinder irgendwie unterbringen. Oder mitnehmen. Das Klingeln meines Handys unterbricht meine Gedanken.

»Kerstin Perle«, steht auf dem Display, und froh, meinen Geldsorgen zu entkommen, nehme ich das Gespräch an. Ich habe es wirklich geschafft, meine liebe Freundin Kerstin eine ganze Woche lang nicht zurückzurufen. Sie heißt nicht mit Nachnamen Perle, aber sie ist meine Perle. Mein Puschen. Die Freundin, die mein Innerstes kennt.

»Endlich!«, begrüße ich sie.

»Wie, endlich? Das wäre doch wohl eigentlich mein Spruch?« Kerstin lacht.

»Sorry, ich habe dich nicht vergessen, du bist nur immer wieder auf meiner To-do-Liste von Platz eins verdrängt worden.«

»Na, zum Glück bin ich hartnäckig. Katharina, wir müssen uns dringend sehen. Wirklich dringend.«

»Wie wäre es mit jetzt?« Ha! Schweigen am anderen Ende. Damit habe ich sie verwirrt. Üblicherweise muss man mit mir einen Termin drei Wochen im Voraus planen. Unflexibel ist mein zweiter Vorname, seitdem ich vollzeitarbeitende Mutter bin. Aber wenn ich schon nicht mein Leben umkrempeln kann, könnte ich ja mal mit den klitzekleinen Kleinigkeiten anfangen.

»Sieh an, sieh an!«, sagt Kerstin dann auch sehr beeindruckt von meiner geschmeidigen Flexibilität. »Kommst du zu mir? Bis wann hast du Zeit?«

»Bis halb zwei. Ich bin schon unterwegs!«

Ich lege Inge schnell einen Zettel hin und springe in meinen alten Toyota. Kerstin wohnt in einem der schönsten Stadtteile von Braunschweig. Hier sieht es immer ein wenig nach Bullerbü und heiler Welt aus. Die Häuser sind schön, die Straßen mit Bäumen gesäumt, und in den großen Gärten blüht die gesamte botanische Vielfalt.

Kerstins Eltern sind viel zu früh verstorben, und so hat sie ihr Elternhaus im Anemonenweg zu einem Zeitpunkt geerbt, als alle unsere Freunde gerade nach Berlin oder München aufbrachen, um zu studieren oder die Welt zu entdecken, und ich mit ihnen.

Kerstin ist hiergeblieben. Es ist aber auch nicht einfach nur ein Haus. Es ist eine echte kleine Villa, und diese Villa umarmt mich bei jedem Besuch mit einer Wärme, die mir überall anders fehlt. Es fühlt sich jedes Mal ein klein wenig an, als würde ich nach Hause kommen. Vielleicht weil ich einen Teil meiner Jugend hier verbracht habe. Vielleicht weil ich auch in schwierigen Zeiten hier jederzeit willkommen war.

Wie immer mache ich mir nicht die Mühe, erst zu klingeln, sondern laufe gleich an dem alten Haus vorbei direkt in den weitläufigen Garten, der direkt an ein kleines Wäldchen angrenzt. Es ist der Garten, in dem ich zum letzten Mal nackt getanzt habe. Im Sommerregen. Vor so vielen Jahren.

Mitten auf dem Rasen steht eine wunderschöne alte Kastanie. Wie erwartet, finde ich Kerstin genau dort. Sie hat Tee gekocht und die Füße entspannt auf einen Gartenstuhl gelegt.

»Bin da!«, singe ich unmelodisch, umarme sie kurz von hinten und lasse mich dann auf den freien Gartenstuhl fallen. Kerstin trägt ein zauberhaftes Sommerkleid, das ihre Kurven gekonnt in Szene setzt. Und sie wirkt so träge entspannt, dass allein ihr Anblick eine ähnliche Wirkung hat wie ein zwei Wochen dauernder Wellnessurlaub. Vor sechs Monaten hat sie erst ihren Freund aus dem Haus geschmissen und dann noch gleich ihren Job gekündigt. Da sie vorher im Vertrieb eines Badobjektherstellers unfassbar viel verdient hat, gönnt sie sich eine Auszeit und ist deshalb zurzeit die entspannteste Person der westlichen Hemisphäre.

Ich atme tief durch. Die Luft so dicht am Waldrand ist wunderbar kühl und frisch. Kein Vergleich zu unserem Brutkasten mitten in der Stadt.

Kerstin gießt mir Tee ein, und für einen Moment genießen wir beide die Stille.

Als sie ihren Edgar, Holger oder Ludger – ich erinnere mich aus Prinzip nicht mehr an seinen Namen, weil ich Edgar, Holger oder Ludger wirklich nicht mochte – vor die Tür gesetzt hatte, versuchte sie, mich zu bewegen, eine WG mit ihr zu gründen, doch die alte Villa ist zwar prachtvoll, aber klein. Wir hätten uns ein Bad teilen müssen, und da Kerstin kinderlos ist, hatte ich Angst, unsere liebevolle Freundschaft durch ein Zusammenleben mit mir und den Kindern ernsthaft zu gefährden. Ich kenne Kerstin nämlich sehr gut. Sie ist eigen und braucht ihre Ruhe. Und Ruhe gehört zu den Dingen, die wir leider nicht können.

»Was ist denn so dringend?« Vorsichtig nippe ich an meinem Tee.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagt Kerstin und hebt dabei die linke Augenbraue. Das tut sie immer, bevor sie etwas Wichtiges sagt. Da ihre Augenbraue aber mit allen anderen Gesichtsmuskeln eng verbunden zu sein scheint, heben sich auch gleichzeitig ihr Ohr und der Mundwinkel, und sogar die Nasenspitze erzittert sachte.

»Okay. Jetzt kommt es. Setz dich aufrecht hin und hör gut zu!«

Ich tue, wie mir geheißen.

»Ich gehe nach Barcelona!«

Erschrocken ziehe ich die Luft ein. »Oh«, sage ich schließlich und merke im selben Moment, wie unangebracht meine Reaktion ist, deshalb schiebe ich ein lahmes »Toll!« hinterher. Sie wird erwarten, dass ich mich freue. Aber wie könnte ich das, wenn meine beste Freundin, meine Verbündete im Leben, einfach so das Land verlässt?

»Diese Reaktion habe ich erwartet.« Kerstin lächelt unbeeindruckt. »Ich komme wieder. In zwei oder drei Jahren. Na ja, und natürlich besuche ich euch zwischendurch, und ihr mich. Meine alte Firma wollte sich ja mit der Kündigung nicht so recht abfinden, und jetzt haben sie mir vor einigen Tagen das Angebot gemacht, ihre Niederlassung in Barcelona zu leiten. Zu exzellenten Konditionen. Und deswegen brauche ich deine Hilfe.« Sie beugt sich vor. »Ich möchte dich bitten, mein Haus zu hüten.«

Spontan hebe ich die Tasse als Schutzschild vor mich. Natürlich möchte ich aufspringen und Kerstin ein »JAAAAA!« entgegenrufen. Aber das geht nicht. Sie könnte das Haus für eine beträchtliche Summe vermieten. Eine Summe, die ich niemals aufbringen könnte. Somit wäre dieses Angebot eine Form von Almosen, und die Annahme von Almosen ist absolut indiskutabel. Da Kerstin mich so gut kennt, liest sie all diese Gedankengänge direkt von meinem Gesicht ab.

»Ich will es keinesfalls vermieten. Die Vorstellung, dass hier fremde Menschen herumspringen, ist schrecklich. Ich will es auch dir nicht vermieten, sondern dich engagieren. Dieses Haus braucht Leben und wäre allein sehr traurig. Du müsstest alles instand halten und dich kümmern und nur die Kosten für Strom und Wärme übernehmen. Theoretisch müsste ich dich dafür sogar bezahlen.« Sie sieht mich an.

»Ich brauche da jetzt wirklich deine Hilfe«, fügt sie hinzu, als ich immer noch nicht reagiere.

Ich brumme ein wenig, kann aber nicht verhindern, dass sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht stiehlt. Allein die Vorstellung haut mich um. Grün, Platz und Baum. Alles in einem. Nur für uns.

»Brauchst du Bedenkzeit?« Kerstin grinst jetzt ebenfalls ziemlich breit.

Ich schüttle den Kopf. »Wann?«

»In vier Wochen. Es ist halt wie alles im Leben extrem kurzfristig. Ich habe schon angefangen zu packen. Wenn du jetzt kündigst, hast du noch genug Zeit, um alles zu organisieren. Und da du ja hier keine Miete zahlst, ist es egal, wann du aus deiner alten Wohnung ausziehst.«

»Ich dreh durch«, sage ich erst ganz leise, und dann drehe ich wirklich durch. Mit Hüpfen, Kreischen und Springen, also der Situation absolut angemessen.

2

Vier Wochen später ist es immer noch heiß. Die Hitzewelle hat Deutschland nach wie vor fest im Griff und entpuppt sich als unerwarteter Jahrhundertsommer. Alle stöhnen, nur mir können die schweißtreibenden Temperaturen nichts mehr anhaben, jetzt, da ich weiß, dass ich bald meinen eigenen Garten haben werde, mit Blick zum Horizont und einem Baum, unter den ich mich gedanklich jetzt schon mal lege, wenn es selbst mir zu warm wird. Die Kinder sind, genau wie ich, fürchterlich aufgeregt, und leider haben wir das Packen bis zum letzten Moment aufgeschoben.

Ich habe keine Ahnung, wo all die Dinge herkommen, die ich einpacke. Eine höhere Macht muss alle Schubladen, nachdem ich sie ausgeräumt habe, wieder auffüllen, und zwar mit den sonderbarsten Dingen wie Flaschenöffnern, mit denen ich nie im Leben eine Flasche öffnen könnte, ohne mir mindestens einen Finger zu brechen, oder kleinen, schleimigen gelben Monstern, die leider ihre angestammte Verpackung in Form einer Plastikdose verlassen haben und nun am Boden der Schublade herumschleimen. Und auch ein Eis habe ich gefunden. Nun natürlich nicht mehr in seinem natürlichen Aggregatzustand, sondern flüssig, verteilt im kompletten linken Bereich meiner Lieblingskommode. Da das Eis angeblich keiner meiner Familienangehörigen in die Schublade gesteckt hat, kann es nur besagte höhere Macht gewesen sein, die mich so auf die Probe stellen will. Oder sie hat einfach nur schlechte Laune oder braucht mal wieder was zum Lachen. Im Moment habe ich allerdings nicht die Zeit, dem nachzugehen, denn heute Morgen um acht Uhr ziehen wir um.

Um halb acht habe ich noch nichts an. Um Viertel vor acht habe ich zwar etwas an, stelle aber mit Entsetzen fest, dass plötzlich mein halber Kleiderschrank nicht eingepackt ist. Um fünf vor acht freue ich mich über die Tatsache, dass ich endlich, nach Jahren des Suchens, meine roten Chucks wiedergefunden habe, und um zwei Minuten nach acht öffne ich meinen Schwiegereltern, mit roten Chucks an den Füßen und drei Kochlöffeln in der Hand, die ich ebenfalls im Kleiderschrank gefunden habe, die Tür.

»Morgen. Was kann schon ins Auto?« Mein Schwiegervater tätschelt mir die Schulter, für ihn eine fast umreißend liebevolle Begrüßung, und stiefelt in die Wohnung, gefolgt von meiner Schwiegermutter, die unter der Last von zwei verschiedenen Nudelsalaten, Würstchen und frisch gebackenem Brot fast zusammenbricht.

Lukas fängt auch sofort an, mit seinem Opa Dinge ins Auto zu tragen – er ist ja nun mal so fürchterlich praktisch –, und Hanna bekommt vorab eine Portion Nudelsalat.

Meine Schwiegereltern und ich sind uns nicht sehr ähnlich. Sie leben seit 35 Jahren in ein und demselben Reihenhaus und haben seit mindestens genauso vielen Jahren dieselben Ansichten. Ich passte ungefähr so gut in ihr Leben wie ein Einhorn in eine katholische Messe, aber damals, als ich sie kennenlernte, dachte ich ja auch, dass wir zu zweit wären, um damit umzugehen. Für den Rest unseres Lebens. Dass ich irgendwann mit diesen beiden Menschen alleine würde fertigwerden müssen, hatte ich nicht eingeplant. Und dann haben sie mich überrascht, indem sie sich nämlich mit einer fast schon liebevollen Penetranz in unserem bewegten Leben festgekrallt haben. Um Lukas willen. Und irgendwann auch für Hanna. Mittlerweile wüsste ich nicht, was ich ohne sie tun sollte. Denn auch als Einhorn hat man nur einen Kopf und zwei Hände. Oder besser vier Hufe.

Inge und Kerstin tauchen direkt nach meinen Schwiegereltern auf, und mit so viel tatkräftiger Unterstützung schaffen wir es, unser Hab und Gut in weniger als drei Stunden in die Villa zu schaffen. Die Kinder verschwinden sofort in den Garten, und ich packe aus. Zumindest versuche ich das. Es wird mir aber schwer gemacht, weil ich ständig Nudelsalat essen soll, entscheiden muss, wo Dinge hinkommen, Hanna die Zöpfe neu flechten darf und Kerstin eine »Was ziehe ich bloß zum Flug an«-Beratung braucht. Sie wird morgen Nachmittag in ihr neues Leben aufbrechen und leidet schon jetzt unter einer solchen Flugangst, dass ich schon überlege, ob ich mich doch mal an Hypnose versuche.

»So? Oder Bluse zu rosa? Aber ich könnte mit der Bluse diesen Schal kombinieren, im Flieger ist es immer so kalt. Was denkst du?« Kerstin trägt inzwischen die achte Kleiderkombination.

»Perfekt«, sage ich und lasse mich auf den Badewannenrand sinken.

»Das sagst du nur, weil du die Nase voll hast.« Kerstin setzt sich neben mich. »Alles okay bei dir?«, fragt sie ganz unvermittelt. Ich zucke mit den Achseln und ringe mir ein Lächeln ab.

»Immerhin weiß ich so, wo du die nächsten drei Jahre bist«, sagt Kerstin und grinst mich schief an. Ich stelle das Lächeln auf der Stelle wieder ein. Die Tendenz des Gespräches behagt mir nicht.

»Du musst deine wilde Flucht langsam mal beenden. Zur Ruhe kommen. Deine Mitte wiederfinden.«

»Ja«, sage ich spitz. »Vielleicht sollte ich mal einen Work-Life-Balance-Workshop besuchen. Das wäre sicherlich hilfreich.«

Kerstin sagt daraufhin nichts, presst aber kurz die Lippen aufeinander.

Ich bin gar nicht auf der Flucht, will ich sagen, tue es aber nicht. Erstens sage ich das immer bei diesen Diskussionen, und zweitens bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich es nicht doch bin.

»Wirst du da dieses Jahr wieder hingehen?«

Erstaunt sehe ich sie an. »Wohin?« Dann dämmert mir, was sie meint.

»Ich weiß es nicht«, sage ich leise.

»Okay.« Kerstin deutet auf ihre Bluse. »Also, dieses Outfit?« Das Thema ist vom Tisch. Ich atme erleichtert auf und nicke zustimmend.

Am Abend verabschieden meine Schwiegereltern sich für die Nacht. Sie waren sehr hilfreich und sehr anstrengend. Kaum sind sie in ihrem Campingmobil den Anemonenweg hinweg entschwunden, ihr Auto haben sie schon vor langer Zeit verkauft, setzen sich alle zukünftigen und ehemaligen Bewohner der Villa auf die Stufen zum Garten, strecken die Beine von sich und blicken zum Horizont über den Baumwipfeln. Es ist immer noch hell. Kerstin verteilt kalte Getränke, mit denen wir uns erst die Stirn und dann innerlich kühlen. Ich lasse meinen Blick über den Garten und die strahlend weiße Wand der Villa schweifen. Die alten Backsteine, aus denen die Stufen gemauert sind, haben die Hitze des Tages gespeichert und wärmen mir den verspannten Rücken. Die untergehende Sonne wirft goldene Sprenkel in die Fenster mit ihren grün gestrichenen Rahmen und Läden.

Hanna ist so erledigt, dass ihr sogar im Sitzen die Augen zufallen, und sie lehnt sich gegen Kerstin, die ihr die verschwitzten Locken aus dem Gesicht streicht. Lukas hockt ganz dicht bei mir und hat seinen Kopf an meine Schulter gelehnt. Wenn er Nähe sucht, ist das immer ein untrügliches Zeichen für grobe Erschöpfung. Ich lege einen Arm um ihn und ziehe ihn noch dichter zu mir heran, obwohl sich das anfühlt, als ob ich versuchen würde, mit einem brennenden Kaminofen zu kuscheln. Meine Kinder glühen selbst im Winter. Wachsen scheint ihren Organismus ständig zu befeuern. »Morgen würde ich dich gerne meinen Nachbarn vorstellen. Dich sozusagen übergeben«, sagt Kerstin. »Für Heinz braucht man auch eine kurze, aber konkrete Einweisung.« Ich winke ab. »Den kenne ich doch schon.«

»Aber ich habe euch noch nie wirklich einander vorgestellt. Ich muss dich förmlich übergeben. Das gehört sich so. Abgesehen davon freue ich mich, dass du endlich David kennenlernst. Er ist echt super, und schließlich teilt ihr euch eine Gärtnerin, und du musst die Mülltonnen für David rausstellen.«

»Morgen«, nicke ich und seufze bleischwer.

Kerstin zieht Hanna, die einfach so eingeschlafen ist, den Becher Apfelsaft noch in der Hand, sanft auf ihren Schoß.

»Katharina«, sagt sie ganz leise.

»Hm?« Ich höre Lukas in meine Locken schnarchen.

»Ich werde dich so sehr vermissen.«

Ich atme tief durch. Auch ich werde meine beste Freundin so unfassbar vermissen. »Ich dich auch«, sage ich und merke, wie meine Stimme zittert. Wenn Kerstin weg ist, bin ich noch mehr allein. Ich schlucke trocken und spüre ihre warme Hand auf meiner.

Ich schlafe tief und fest und wache am nächsten Morgen erfrischt auf. Es dauert eine Weile, bis ich registriere, dass vor meinem Fenster die Vögel ein Konzert geben und es nicht der Lärm der Hauptverkehrsstraße ist, die Tausende von Autos in die Stadt befördert. Im Haus ist es noch ganz still, und ich beobachte das tanzende Morgenlicht auf den honigfarbenen Dielen im Schlafzimmer. Leise stehe ich auf, mache mir einen Kaffee und setze mich vor die tiefen Fenster im Wohnzimmer, um in den erwachenden Garten zu schauen.

Zeitgleich mit der Ankunft meiner Schwiegereltern kommt auch Kerstin aus dem Gästezimmer, in dem sie heute Nacht geschlafen hat, damit ich ihr Schlafzimmer schon beziehen kann. Immer noch voller Flugangst, aber bis zum Bersten mit Vorfreude auf ihr Abenteuer gefüllt, läuft sie kurze Zeit später energiegeladen vorweg, und ich folge ihr etwas langsamer über den von großen Bäumen beschatteten Fußweg. Der Anemonenweg ist eine richtige Bilderbuchstraße, und bei dem Gedanken daran, hier jetzt für drei Jahre leben zu dürfen, hüpft mein Herz vor Freude. Kerstin will mich den Nachbarn vorstellen. David und Heinz, der eigentlich Herr Grünemann heißt und auch so genannt werden will. Der unsichtbare und der strenge Nachbar, der aber trotz allem so vertrauenswürdig ist, dass er von jedem Nachbarn im Anemonenweg einen Haustürschlüssel hat. Wenn sich jemand aussperrt, klingelt man bei ihm und bekommt nach Nennung des Codewortes den Schlüssel ausgehändigt. David wohnt links von Kerstin in einem für diese Gegend schon fast frevelhaft modernen Flachdachbungalow. Heinz Grünemann wohnt rechts in einer monumentalen, hochherrschaftlichen Villa mit mindestens dreihundert Zimmern, und er pflegt, laut Kerstins Aussage, eine latente Abneigung gegen alles, das versucht, gemeinsam mit ihm auf diesem Planeten zu leben. Das Haus ist äußerst gepflegt, fast schon pingelig ordentlich. Kein Grashalm wagt es, seinen Kopf durch die akkurate Pflasterung der Auffahrt zu strecken. Der Hausbesitzer steht auf dem obersten Treppenabsatz und scheint uns schon zu erwarten.

»Heinz Grünemann. Wir kennen uns ja schon vom Sehen«, schnarrt er, und ich unterdrücke den Impuls, mir schnell noch einmal das Haar zu richten. Ich finde meine Haarbürste nämlich nicht mehr. Sie ist in irgendeinem der vielen unausgepackten Umzugskartons abgetaucht.

»Katharina Kahrens.« Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass er mir beim Händeschütteln fast die Finger bricht. Heinz Grünemann ist ausgesprochen Respekt einflößend, und ich bin erleichtert, als er meine Hand endlich wieder loslässt. Kerstin spricht mit ihrer Profi-Verkaufsstimme von beruflichen Herausforderungen, notwendigen Veränderungen und guter Nachbarschaft. Das tut sie, weil sie ihn ebenfalls unheimlich findet. Von ihr weiß ich auch, dass Heinz Grünemann mal bei der Bundespolizei war, jetzt aber im Ruhestand ist. Aber das nennt sich nur so, denn in Wahrheit gräbt er gerade seinen Garten um, streicht die Haustür oder pflastert seine Einfahrt neu.

»Ich sehe, Sie sind schon eingezogen!«, sagt Herr Grünemann, und ich kann nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, die Hacken zusammenzuschlagen. Stattdessen nicke ich und bemühe mich um einen freundlichen Gesichtsausdruck. »Und Sie haben Kinder!«

Wieder nicke ich. Die Kinder sind zum Glück nicht mitgekommen, die liegen nämlich noch unter schwiegermütterlicher Aufsicht im Bett.

»Zwei«, bestätige ich und bereite mich auf eine nun folgende »Kein-Kinderlärm-und-den-Rasen-nicht-betreten«-Tirade« vor, aber Herr Grünemann sagt nur:

»Die müssen auf der Straße aufpassen. Hier gibt es viele Idioten, die sich nicht an das Tempolimit von 30 halten.«

Dann streckt er Kerstin seine Hand so plötzlich entgegen, dass sie zusammenzuckt. »Gute Reise. Bis in drei Jahren.« Mit diesen Worten dreht er sich um und verschwindet in seiner Villa.

»Der ist aber zackig«, sage ich leise.

»Der war schon immer so, aber seit seine Frau vor fünf Jahren gestorben ist, wird es immer schlimmer.«

»Ich brauche einen Kaffee«, sage ich matt, doch Kerstin zieht mich über den Fußweg weiter zu David, von dem sie steif und fest behauptet, er sei der beste Nachbar in ganz Europa.

Wir klingeln also an der schicken Alutür mit Kamera und warten auf Einlass. Wir warten ganz schön lange. Währenddessen betrachte ich den Flachdachbungalow, der überhaupt nicht in diese Gegend passt. Als endlich die Tür aufgeht, dreht Kerstin sich mit einer ausladenden Handbewegung in meine Richtung und singt: »Tata! Ich präsentiere: Deine neue Nachbarin Katharina!«

David hat raspelkurze dunkle Haare, einen Dreitagebart und irritierend blaue Augen. Er sieht genau so aus, wie gut aussehende Männer aussehen sollten.

Grübchen in den Wangen hat er natürlich auch, und er grinst mich mit einem jungenhaften Charme an. »Katharina, schön dich endlich mal kennenzulernen.«

»Hi«, antworte ich mit unglaublicher Eloquenz und bin mir nur allzu sehr bewusst, dass ich David ziemlich plump anstarre. Kerstin hätte ja die Tatsache, dass David Rosenberg im Rollstuhl sitzt, wenigstens mal in einem Nebensatz erwähnen können.

Augenblicklich reiße ich mich zusammen. Ich bin Bundesverbands-Mediatorin und schmeiße mich todesmutig zwischen havarierte Ehen, da werde ich doch wohl in der Lage sein, mit meinem körperbehinderten Nachbarn ein freundliches Vorstellungsgespräch zu führen.

»Auf gute Nachbarschaft!«, sage ich endlich. »Wir sind meistens still und unauffällig, es könnte allerdings sein, dass meine Kinder aufgrund des fehlenden Gartenzauns das eine oder andere Mal in Ihrem Garten auftauchen. Ich bitte Sie, meine Kinder dann einfach wieder zurückzukomplimentieren.«

Er lacht. »Von mir aus könnt ihr den gerne mitnutzen. Es gibt sogar ein Baumhaus. Wie alt sind deine Kinder?«, fragt er und rollt ein kleines Stück zurück. Sind wir nicht eigentlich alle in einem Alter, in dem wir uns standardmäßig erst mal siezen? Nun, das scheint David Rosenberg nicht wirklich zu interessieren.

»Neun und vier«, antworte ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Kerstin sich die Hände reibt. Das tut sie immer, wenn sie sich freut. Ich habe allerdings keine Ahnung, worüber sie sich nun gerade genau freut.

»Kaffee?«, fragt David und sieht mir bei dieser Frage direkt in die Augen. Bevor ich antworten kann, hat Kerstin schon das Angebot angenommen und ist ihm in den Flur gefolgt.

Davids Haus ist sonderbar aufgeräumt, fast schon steril und mit einigen Designklassikern ausgestattet.

»Habt ihr Heinz schon getroffen?«, fragt mein neuer Nachbar, während er die Edelstahl-Profi-Espresso-Maschine in der Edelstahl-Profi-Küche anschmeißt. Die Küche ist extrem schick, und mir fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass es unter der Arbeitsfläche und dem Kochfeld keine Schränke gibt, wohl damit David mit dem Rollstuhl direkt heranfahren kann. Regale gibt es nur auf der linken und rechten Seite.

»Ja. Er hat gesagt: Gute Reise! Bis in drei Jahren«, erzählt Kerstin und setzt sich auf einen Designer-Küchenstuhl. »Und dann hat er sich umgedreht und ist wieder reingegangen.«

Ich lasse mich neben Kerstin nieder, während David drei Espressotassen füllt. Kaffee gibt es ja in bestimmten Kreisen nicht mehr. Kaffee bedeutet dann Espresso, denn Kaffee ist total out. Ich bin also auch total out und bräuchte jetzt wirklich sehr dringend einen fiesen alten gar nicht stylischen Filterkaffee. Gerne mit Milch und Zucker. Die Tasse, die vor mir landet, ist allerdings so klein, da passt noch nicht mal mehr ein homöopathischer Hauch von Milch rein. Von Zucker ganz zu schweigen. Ich nehme einen kleinen Schluck des schwarzen Gebräus und bekomme augenblicklich Herzrhythmusstörungen.

»Du stehst wohl nicht so auf Espresso?« David zieht die Nase kraus, was irgendwie sehr lustig aussieht, und nimmt mir die Tasse aus der Hand. Manchmal scheint mein Gesicht ein offenes Buch zu sein. »Du siehst aus, als würdest du eine schlimme Krankheit bekommen, wenn du noch einen Schluck nimmst.«

Ich nicke. »Das stimmt vermutlich auch. Kann das Monster auch echten Kaffee? Mit Pulver und heißem Wasser?«

David nimmt den von mir verschmähten Espresso gleich mit und bewegt sich einhändig im Rollstuhl durch die Küche. Tatsächlich holt er wortlos einen altmodischen Kaffeefilter samt Kaffeedose hervor, und ich bekomme einen echten Kaffee. Mit allen benötigten Zusatzstoffen.

Zwei Stunden später fahre ich Kerstin zum Bahnhof. Ich würde sie auch zum Flughafen bringen, aber das geht nicht. Sie weiß, warum. Sie klappert fast mit den Zähnen, so aufgeregt ist sie. Der perfekte Zeitpunkt, um da mal etwas zu klären. An der nächsten Ampel sage ich: »Das hättest du mir sagen können.«

»Was?« Angespannt sieht sie mich an.

»Dass David im Rollstuhl sitzt. Es ist nicht so, dass man direkt hintenüber fällt bei dieser Tatsache, aber du hättest mir drei Minuten dumm gucken wirklich ersparen können.«

»Ach«, sagt sie und klappert noch ein wenig mit den Zähnen.

»Ach, was?«

»Ich habe so viele barrierefreie Badumbauten gemacht, dass ich das wirklich nicht mehr erwähnenswert finde, ob jemand nun im Rollstuhl sitzt oder nicht. Abgesehen davon finde ich David ausgesprochen attraktiv.«

Ich muss ihr zustimmen. »Aber der Überraschungsmoment hat mich drei Minuten gekostet«, werfe ich ein, und sie grinst kurz, bevor sie wieder mit den Zähnen klappert.

»Dann wird es Zeit, dass dich so etwas nicht mehr überrascht. Was dachtest du, warum ich seine Mülltonne mit rausstelle? Weil er keine Lust dazu hat?«

»Hab ich mir keine Gedanken drüber gemacht. Warum sitzt er im Rollstuhl?«

»Das wird er dir selbst erzählen. Ich finde, das ist privat«, antwortet Kerstin, und ich sehe sie erstaunt an.

»Guck nicht so. Ich erzähle auch nicht jedem, was mit Sebastian passiert ist.«

Was für ein sonderbarer Vergleich.

»Was ist jetzt?«, fragt sie.

»Nichts.«

»Also, den Punkt, an dem wir seinen Namen aussprechen können, hatten wir aber schon vor drei Jahren erreicht.«

Ich nicke. Wo sie recht hat, hat sie recht. Wenigstens das ist besser geworden.