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Für David

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage

ISBN 978-3-8270-7674-8

© 2013 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

»Alles ist mit allem verbunden.«

(John Wheeler)

Und:

»Liebe ist Heimweh.«

(Sprichwort nach Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, 1919)

I

DURCH STÄDTE, DURCH HALLEN,

DURCH WÄLDER

Du musst dich gut festhalten. Das ist alles.

Marie

Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen, dass die Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind.

Dass man ihnen entkommen kann, wenn man sie erwartet.

Zuerst muss ich von mir erzählen.

Und ich fange ganz am Anfang an.

Die Geschichte der Kindheit

Als Kind hatte ich viele Freunde. Fast ausschließlich Jungen. Die Mädchen konnten wenig mit mir anfangen. Ich war zu laut, zu grob, zu schnell, meist war ich schmutzig, die Arme voller blutiger Kratzer, die Beine voller blauer Flecken.

Ich war ein wildes Kind.

Im Garten meiner Großeltern gehorchte mir alles. Der Bach hinter dem Haus, die Insekten und die Pflanzen, die Nüsse und die Beeren, die Eichhörnchen und die Fische, der Teich und die Frösche darin, alles unterstand mir. Nur die Krähen hatten ihren eigenen Kopf, und ich fürchtete mich vor ihnen.

In den Ferien verbrachten wir oft ganze Tage im Garten, aber auch während der Schulzeit kamen die Jungen nachmittags vorbei. Niemand sonst hatte einen Garten wie meine Großeltern, weitläufig und verwinkelt, und darin gab es alles, Schilf um den Teich, hohe Bäume, ein kleines Gartenhaus voller Spinnweben und einen steinigen, schmalen Weg, der hinunter zum Bach führte. Dort, am Ufer und auch im Bach selbst, spielten wir vor allem im Sommer. Wir häuften Geröll und Äste zu Inseln an, auf denen wir standen und einander zuwinkten.

Unsere Vorhaben waren stets ehrgeizig und aussichtslos. Ein Boot wollten wir bauen, eine Brücke, einen Damm. Im Herbst verlegten wir unsere Spiele wieder zurück in den Garten. Unter dem Kastanienbaum errichteten wir aus Ästen, aus Laub, aus Ziegeln, die wir im Keller gefunden hatten, Burgen für die Ewigkeit. Wir spielten zu jeder Jahreszeit draußen. Auch im Winter, auch, wenn es schon früh dunkel wurde und meine Großmutter sich um uns fürchtete. Nur mein Onkel Paul konnte uns überreden, ins Haus zu kommen. Dann durften wir in sein Zimmer, wo alles besonders und anders war: Seine Steinsammlung zeigte er uns, und seine elektrische Schreibmaschine. Paul wollte uns beibringen, Schach zu spielen, aber uns wurde schnell langweilig. Mir wurde schnell langweilig, und ich gab den Ton an. Mir war nicht danach, still zu sitzen und kleine Holzfiguren vor- und zurückzuschieben. Mir war nach großen Expeditionen. Meine Pläne trug ich mit Bestimmtheit vor. Jeden Nachmittag entwarf ich einen neuen Kosmos, legte den Handlungsverlauf unserer Spiele fest, bis in jedes Detail, bis in die Unterhaltungen: Du würdest zum Haus des Jägers kommen, und ich wäre bereits dort. Du würdest fragen, und ich würde sagen.

Bei anderen Spielen ging es genau darum, nichts zu planen, nichts zu wissen. Es ging darum, sich im Wald zu verlieren und aufspüren zu müssen. Es ging darum, schneller als der andere zu sein, weniger Angst zu haben. Eines unserer wilderen Spiele bestand darin, dass wir hoch in die Bäume kletterten und uns in die flachen Baumkronen fallen ließen. Wenn uns das Netz der Zweige nicht hielt, krachten wir hinunter auf den Waldboden. Ich zog mir unzählige Kratzer und blaue Flecken zu, aber anders als meine Großmutter es mir voraussagte, brach ich mir nie einen Arm oder ein Bein.

Meine Großeltern waren immerzu in Sorge um mich. Sie fürchteten, ich würde im Bach ertrinken, ich würde beim Überqueren der Landstraße überfahren, dass mich ein namenloser, schwarz gekleideter Mann, der in den Städten und in den Dörfern die Kinder verschwinden ließ, mitnähme.

Vergeblich versuchten sie, meine Mutter davon zu überzeugen, dass es gefährlich sei, uns den halben Vormittag unbeaufsichtigt im Wald oder am Bach spielen zu lassen. Meine Mutter aber glaubte nicht an Verbote und nicht an Beaufsichtigung.

»Es ist gut für Nina und Marie, wenn sie sich allein zurechtfinden«, sagte meine Mutter bei jeder Gelegenheit, und ich nickte stolz, denn aus ihren Worten schloss ich, dass wir uns allein zurechtfanden.

Ich habe erst viel später verstanden, dass die Überzeugungen meiner Mutter, was für meine Schwester und mich gut sei, im Wesentlichen davon abhingen, was für meine Mutter gut war. Etwa zwei Jahre nach Ninas Geburt hatte meine Mutter erkannt, dass es nicht gut für ihre Töchter sei, in der Stadt aufzuwachsen, und war zurück nach Erlburg gezogen, ein kleines Dorf, in dem auch sie selbst großgeworden war. Es sei gut für uns, erkannte sie weiter, im Kreis der Familie aufzuwachsen. Dass wir hierfür unseren Vater zurückließen, war nicht weiter wichtig, und so zogen wir ohne ihn in das Haus meiner Großeltern, in dem auch mein Onkel Paul lebte.

Gut zehn Jahre später hatte meine Mutter genug vom Dorfleben. »Es ist viel zu ruhig für uns«, erklärte sie meiner Schwester und mir eines Abends. »Die Stadt wird uns guttun. Später werdet ihr mir noch dankbar sein, und neue Freunde findet ihr sicher auch schnell.«

Hier irrte meine Mutter.

Ich war ihr nicht dankbar, und ich fand auch keine neuen Freunde.

Auch meine Schwester murrte zunächst, aber anders als ich lebte sie sich schnell ein und gehörte an unserer Schule schon bald zu den beliebteren Mädchen. Ich hingegen machte alles falsch, die einfachsten Dinge machte ich falsch. Sprach zu laut und zu ernst, verstand die Witze auf dem Schulhof nicht. Ich korrigierte und berichtigte und fiel ins Wort und eckte an. In den Pausen saß ich allein auf einer Bank und las. Sportlich war ich damals nicht, bewegte mich ungelenk und langsam, stand betreten am Rand des Spielfelds und wartete, wie ich überhaupt immer wartete. Ich ahnte bereits, ohne dass ich es so genau hätte benennen können, dass ich mit diesem Abschnitt meines Lebens nicht viel mehr tun konnte, als ihn auszusitzen.

Als meine Mutter mit uns fort aus Erlburg und in die Stadt zog, war es, als habe sie meine Schwester und mich in ein anderes Land verfrachtet, an einen Ort mit fremden Gesetzen und Gepflogenheiten, sogar eine andere Sprache gab es, und andere Moden: klobige, schwere Schuhe und unförmige Hosen. Der Umzug war nicht nur die Abkehr von einem vertrauten Ort, sondern auch von einer vertrauten Zeit. In der Heimat war ich ein Kind gewesen, und in der Welt der Kinder hatte ich mich gut zurechtgefunden, aber an der neuen Schule waren die Kinder keine Kinder, sondern noch nicht voll ausgebildete Erwachsene. Sie wollten keine Spiele spielen, in denen ich Identitäten vorgab und festlegte, wer was zu sagen hatte. Sie wollten überhaupt keine Spiele spielen, oder wenn doch, dann solche, die so kompliziert waren, dass ich sie nicht verstand.

Mit einem Mal war es, als trüge ich mein eigenes Gravitationsfeld mit mir umher. Sobald ich unsere Wohnung verließ, entfaltete es sich wie ein Raum um mich. Ich machte alles schwer und ernst, meine Mutter sagte in dieser Zeit oft, beinahe täglich, so kommt es mir heute vor: »Nimm es dir nicht so zu Herzen.« Aber ich nahm mir alles zu Herzen – dass die anderen Kinder mein Haar lustig fanden, meine Pullover, meine Haltung, meine Art zu gehen, meine Art zu sprechen, meine Stimme, meine Größe, meine Bücher. Dass sie Bilder von ausgemergelten, in sich verknoteten Strichmännchen malten und meinen Namen darunter schrieben. Dass sie mich nachäfften, wie ich x-beinig neben dem Kiosk stand. Dass sie mich wegen meiner tiefen Stimme Froschmädchen nannten. Ich nahm mir auch zu Herzen, dass Nina beliebt war und ich nicht, dass meine Mutter erst spätabends nach Hause kam und ich meist alleine aß (Nina ging zu Freunden). Ich nahm mir jeden Tadel jeden Lehrers zu Herzen. Ich nahm mir das Leben zu Herzen. Und in meinem Gravitationsfeld zog ich Menschen und Momente und manchmal ganze Tage zu Boden. Ich hatte mich schon immer vor Krankheiten, vor Katastrophen, vor dem Tod gefürchtet, auch schon im Haus meiner Großeltern, aber in der Stadt fürchtete ich mich vor allem vor dem Leben.

Die beiden einzigen guten Freunde meiner Jugend hießen Merwin und Corwin. Etwa fünf Jahre sahen wir uns beinahe täglich, dann verloren wir uns aus den Augen.

Merwin und Corwin waren Zwillinge mit einem auffälligen Erscheinungsbild: Ich habe sie immer bloß im Anzug gesehen, und sie hatten beide kein einziges Haar auf dem Kopf, ihre polierten Schädel glänzten im Licht meiner Schreibtischlampe. Die beiden wohnten auf dem Dach des Hauses, gleich über unserer Wohnung, und eine Zeitlang fürchtete ich mich, wenn sie nachts an mein Fenster klopften. Bald schon aber waren sie meine einzigen Verbündeten, und ich erzählte ihnen alles. Im Nachhinein betrachtet waren sie mir weniger Freunde, denn zwei weise, wenn auch weltfremde Väter. Sie sprachen stets sanft, aber bestimmt; sie hatten klare Standpunkte, auch wenn sie nicht immer dieselbe Position vertraten. Sie hörten sich meine Sorgen an, meinen Kummer, sie bedauerten mich und gaben mir ungewöhnliche Ratschläge. »Schneide ihr doch den Zopf ab!«, empfahl Corwin, als ich von der blonden Sabine erzählte, die sich über mein krauses Haar lustig machte.

Merwin und Corwin hatten alle Bücher gelesen, die ich auch gelesen hatte, und dieselben Filme gesehen, und meist unterhielten wir uns in Andeutungen und Zitaten. Abends las ich ihnen vor. Man kann nicht sagen, dass wir Abenteuer erlebten, so wie ich sie früher mit den Freunden im Garten meiner Großeltern erlebt hatte, aber ich war nie allein.

Meine Mutter und Nina wussten nichts von meinen besten Freunden, und das war besser so, denn obwohl meine Mutter gern betonte, dass sie das exzentrische Leben einer Künstlerin führe, hätte der Spaß bei den imaginären Freunden ihrer Tochter sicher aufgehört.

*

Alles ändert sich. Das Gute und das Schlechte. Gerade als ich denke, dass es für immer so weitergehen wird, dass ich für den Rest meines unendlichen Lebens morgens um sieben aufstehen und mit dem Bus zur Schule fahren muss, mich für immer auf der Eckbank neben der Cafeteria und hinter den Büschen verstecken werde, gerade als ich das denke, ist alles schon wieder vorbei.

Ich kehre Merwin und Corwin den Rücken, kehre meinem alten Zimmer den Rücken und ziehe aus. Ich schreibe mich für Kulturwissenschaften ein, ich komme an. Und in den ersten Monaten meine ich, nicht mehr zu gehen, sondern zu schweben, durch die Gänge, die Vorlesungssäle, die Bibliothek und den Flur vor dem Lesesaal, in dem nur geflüstert werden darf. Es dauert eine Weile, bestimmt zwei, drei Monate, bis mich die Zweifel, die Sorgen wiederfinden, so wie sie mich immer finden, bis heute. Immerhin ist es mir nun ein Leichtes, unsichtbar zu bleiben. Wir sind zu viele, als dass es eine strikte Hierarchie gäbe, ein feinmaschiges Netz aus vorgegebenen Positionen – die Außenseiter, die Wilden, die Beliebten –, in dem jeder gezwungen ist, seine Rolle einzunehmen und sie zu behalten. Trotzdem fühle ich mich fremd, auf dem großen Rasen sitzend, auf dem Sommerfest, auf den Partys. Da ist die alte Angst, man werde mir auf die Schliche kommen, etwas herausfinden über mich. Ohne dass ich sagen könnte, was mein Geheimnis ist, der Fehler, der Makel, um den es geht, sehe ich seiner Enthüllung angespannt und voll böser Vorahnung entgegen. Die Welt scheint mir aus Detektiven zu bestehen, alle beauftragt mit der Ermittlung meiner Person und dunkler Geheimnisse, die ich selbst bloß erahne. Ich fürchte mich vor der Friseurin, die über mein stumpfes Haar streicht, vor dem Zahnarzt, der durch die Löcher und bis in die Abgründe im Kopfinneren zu blicken scheint, vor der Mutter, die sich beiläufig erkundigt, ob noch immer kein Mann, keine Frau, ja nicht einmal eine Katze meine Wohnung mit mir teile.

Ich fürchte mich.

Die Geschichte von Paul

Als ich die Bibliothek gegen sieben Uhr verlasse, habe ich drei Anrufe in Abwesenheit auf meinem Handy. Seitdem ich an meiner Magisterarbeit schreibe, nehme ich das Handy nicht mehr mit in den Saal. Schon in den Tiefen der Tasche sehe ich es blau leuchten. Und als ich auf dem Display lese, dass ich drei Anrufe verpasst habe, weiß ich, dass etwas Schreckliches passiert ist. Jemand muss gestorben sein.

Ich werde nicht behaupten, ich hätte eine Vorahnung gehabt. Es würde auch nicht stimmen. Ich habe mit meinen Befürchtungen bloß einmal richtiggelegen. Zumindest fast. Denn als ich die Nummer meiner Schwester sehe, bin ich überzeugt, dass meine Mutter gestorben ist. Meine Schwester würde mich nicht ohne Grund anrufen, wir haben uns ja nichts zu sagen.

Obwohl man auf dem Gang vor dem Lesesaal nicht telefonieren darf, rufe ich sie gleich zurück.

Meine Schwester nimmt ab und fängt an, umständlich von ihrer zu hohen Nebenkostenabrechnung zu erzählen und von einem Mann, den sie kennengelernt hat. Ich halte es für immer weniger wahrscheinlich, dass meine Mutter gestorben ist. Dann räuspert Nina sich, und in dem Räuspern erkenne ich, was ich gleich hätte verstehen müssen: dass sie wahllos und ein wenig gehetzt über Banalitäten spricht, weil sie hinausschiebt, mir zu erzählen, weswegen sie mich eigentlich angerufen hat. Ich habe den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um das zu begreifen, da sagt sie es bereits, »Paul ist tot«, sagt sie, und ich sacke zusammen; die Bücher in meinem Arm sind so schwer, dass ich sie nicht länger halten kann. Statt sie fallen zu lassen, setze ich mich mitten in den Gang und lege sie ab.

»Aber wie … wie ist er denn gestorben?«

»Sie wissen es nicht genau.«

»Und ungefähr?«

»Er hat wohl viele Schmerztabletten genommen. Und getrunken hat er ja sowieso.«

»Aha«, sage ich.

Ich sitze auf dem Boden vor den Schließfächern und würde gerne würgen. Stattdessen schlucke ich sehr konzentriert mehrmals hintereinander. Irgendwann höre ich meine Schwester am anderen Ende der Leitung quäken, und ihre Stimme scheint mir unangemessen, aufdringlich in ihrer Lautstärke und ihrem Ton.

»Marie, Marie bist du noch da?«, fragt sie.

Es fühlt sich nicht so an, als ob ich noch da wäre, aber ich antworte: »Ja.«

»Wir müssen jedenfalls nach Erlburg«, sagt Nina dann. »Ich kann dich morgen früh abholen. Mama fährt am Mittwoch, und ich denke, es wäre besser, wenn wir vorher schon da sind.«

Mein Onkel lebt in Erlburg. Hat in Erlburg gelebt. Auch als meine Mutter wieder in die Stadt ging, ist er nicht ausgezogen, hat mit 48 noch immer im Haus seiner Eltern gewohnt. Aber darüber hat sich niemand in unserer Familie lustig gemacht. Alle sind dankbar gewesen, denn nach dem Tod meines Großvaters hätte meine Großmutter nicht alleine leben können. Dank Paul, der sich zunehmend um seine Mutter gekümmert, sie überall hingefahren und alle Einkäufe erledigt hat, ist sie noch bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren in dem Haus geblieben.

Es gab vielleicht eine kurze Zeit – aber ich kann mich nicht an sie erinnern –, in der die Möglichkeit bestand, dass mein Onkel ausziehen würde. In einem der Brüche, die das Leben unterteilen, etwa nach der Schule, als er begann zu studieren. Paul aber blieb, wo er war, blieb in dem Haus, in welchem er Kindheit und Jugend verbracht hatte. Während seines Studiums zog er nicht aus, weil er sich eine eigene Wohnung nicht hätte leisten können, und nach seinem Germanistikabschluss zog er nicht aus, weil er sich bereits um seine Mutter, meine Großmutter, kümmerte. Er hatte gleich begonnen, an einer Doktorarbeit zu W.G. Sebald zu arbeiten. Die letzten fünfzehn Jahre hatte er an besagter Arbeit geschrieben, ohne dass irgendwer wusste, ob er Fortschritte machte und wie viele Seiten er bereits verfasst hatte. Ob überhaupt ein Abschluss in Aussicht stand, niemand wusste es.

Die Fahrt bis nach Erlburg dauert beinahe zwei Stunden, und einen Großteil der Zeit schweigen Nina und ich.

Obwohl wir beide in der gleichen Stadt wohnen, sehen wir uns nur selten. Ich kann mich nicht erinnern, ob es einmal anders war, ob es eine Zeit gab, in der wir einander nicht verwirrt, beinahe peinlich berührt, gegenüberstanden, wenn man uns alleinließ, nur wir beide, keine Mutter, keine unbeteiligten Dritten. Als hätte uns ein gemeinsamer Freund einander vorgestellt, um mit den Worten »Lernt euch kennen« davonzurauschen, obwohl wir beide auf den ersten Blick festgestellt hatten, dass wir nichts miteinander anfangen können. Aber es ist kein gemeinsamer Freund, der uns immer wieder zusammenführt, sondern eine gemeinsame Mutter.

»Was macht Tom?«, frage ich Nina, denn ich will mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte mir keine Mühe gegeben.

»Ach der«, sagt Nina.

»Wie läuft die Arbeit?«, fragt meine Schwester.

»Gut«, lüge ich.

Nina stellt lauten deutschen Hiphop an, von dem ich Kopfschmerzen bekomme. Umständlich schmiere ich mir Tigerbalm auf die Schläfen und versehentlich auch ein wenig in die Augen, sodass ich den Rest der Fahrt durch einen dramatischen Tränenschleier wahrnehme.

Alles ist anders. Erlburg ist mir fremd.

Es gibt einen neuen Kreisel, in der Mitte steht eine Skulptur: ein schmaler Kupferjunge neben einem Fahrrad. Ich nehme an, dass er etwas mit der Geschichte der Stadt zu tun hat. Es gibt zwei neue Supermärkte, und das alte Kino ist verschwunden. Irgendwo wird es ein bedeutend größeres Kino mit »plex« am Ende geben, aber wir wissen nicht wo, wir kennen uns nicht mehr aus in dem Dorf, in dem wir aufgewachsen sind.

Als Nina endlich vor dem Haus meiner Großeltern parkt, erschrecke ich. Auf der Rasenfläche hinter dem Grundstück stehen Neubauten. Wo vorher nichts war, sind nun Fremde zu Hause.

»Ich bin froh, dass ich damals mit euch in die Stadt gezogen bin«, sagt meine Mutter oft. »Wenn man bleibt, dann erwartet man, dass alles andere auch bleibt.«

Ich bin nicht geblieben, und ich habe trotzdem erwartet, dass alles bleibt.

Seitdem meine Großmutter vor zwei Jahren starb, redeten meine Mutter und Paul davon, das Haus zu verkaufen.

»Das Haus ist viel zu groß für Paul«, hat meine Mutter bei etwa jedem dritten Telefongespräch zu mir gesagt.

»Das Haus ist viel zu groß für mich«, hat Paul bei jedem einzelnen Telefongespräch zu mir gesagt.

Ich habe beiden zugestimmt, gleichzeitig aber gewusst, dass Paul nicht ausziehen würde. Statt sich etwa einen Untermieter zu suchen, hat mein Onkel außer seinem eigenen Zimmer nur noch die Küche und das Bad benutzt. Und der Rest des Hauses ist zunehmend verwahrlost und verfallen, ist zum Geisterhaus geworden.

Nachdem wir das Geisterhaus betreten haben, geht Nina in die Küche, um den Kühlschrank auszuräumen, und ich gehe hinauf in Onkel Pauls Zimmer. An den Wänden hängen Poster einer Band, die ich nicht kenne, die ich auf die späten Siebziger oder frühen Achtziger datiere, und ein gerahmtes Twin-Peaks-Plakat. Auf seiner Kommode und den beiden Fensterbänken steht noch immer seine staubige Mineraliensammlung. Seitdem er ein Kind war, hat mein Onkel Mineralien gesammelt, und auch als Erwachsener hin und wieder von der Eröffnung eines privaten Mineralienmuseums gesprochen. Natürlich ist es nie dazu gekommen. Als ich mich aber umsehe, die vergilbten Poster betrachte und die umfangreiche Sammlung an VHS-Videokassetten, die wie geheime Artefakte in ihren Schubern ruhen, denke ich, dass er sein Museum doch noch bekommen hat, oder vielleicht eher eine Zeitkapsel, denn ein Museum würde zumindest besucht, und ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass jemand das Zimmer meines Onkels betreten hat. Ich setze mich auf Pauls breites Bett. Ein Doppelbett, in dem er meines Wissens immer alleine geschlafen hat. Mir fällt auf, dass das Bett gemacht ist. Hat sich irgendwer darum gekümmert? Die Polizei? Die Sanitäter? Oder die Nachbarn, die Paul gefunden haben, nachdem meine Mutter sie gebeten hat, nach ihm zu schauen, weil sie ihn drei Tage lang nicht erreichen konnte? Vielleicht hat er das Bett auch selbst gemacht, vielleicht hat er seine Pullover zusammengelegt und in den Schrank geräumt, und vielleicht ist ihm schon ein wenig mulmig und schlecht gewesen, als er durch den Flur bis zur Tür zum ehemaligen Schlafzimmer seiner Eltern gelaufen ist, um sich dort auf den Teppich zu legen und nie wieder aufzustehen.

Plötzlich ist mir, als hätte jemand ein kleines Fläschchen mit Säure in meinem Magen umgekippt, ein Brennen breitet sich unter meinen Rippen aus. Ich lege eine Hand auf den Bauch, friere und sitze regungslos in Pauls Zeitkapsel. Die Veränderung hat das Haus umzingelt, die Zeit ist wie eine große, unaufhaltsame Welle über den Ort hinweggegangen, und vor der Haustür hat sie nicht Halt gemacht. Auch Paul hat sie gefunden, zwischen den vergilbten Postern und leiernden Kassetten hat sie ihn gefunden. So wie sie mich findet, wie sie uns alle finden wird, denn die Veränderung ist ja schon in uns, ist in unseren Körpern angelegt, die zerfallen, sich neu aufbauen, sich reparieren und wieder zersetzen und endgültig zersetzen.

Ich denke an meine Schwester, wie sie unten in der Küche verschimmeltes Brot wegwirft. Ich denke an meine Mutter, mit der ich immer noch jeden Tag telefoniere. Ich denke an meine verstorbenen Großeltern, die über fünfzig Jahre verheiratet waren und einander erst verloren durch den Tod meines Großvaters. Ich denke an meinen Vater, der uns irgendwann verlieren wollte, an Paul, den niemand gefunden hat. An die Menschen, mit denen wir gemeinsam ins Leben aufbrechen, und wie sie einer nach dem anderen stehen bleiben, aber man selbst läuft weiter, man kann gar nicht anders. Ich denke an mich selbst, im Garten meiner Großeltern und dass ich dort draußen Burgen für die Ewigkeit gebaut habe, aus Laub, aus Ästen. Ich war ein wildes Kind, und im Garten meiner Großeltern gehorchte mir alles.

Ich möchte die Uhren im Geisterhaus anhalten, die Türen verbarrikadieren und die Fenster, aber auch, wenn man beschließt, das Haus nie wieder zu verlassen, nicht hinausgeht und niemanden hereinlässt, ist und bleibt ein jeder Tag ein viel zu großer Schritt in die Zukunft, und wir werden weiter mitgeschleppt.

»Nina! Nina!«, rufe ich. Denn mit einem Mal bin ich sicher, hier und jetzt im Zimmer meines Onkels sterben zu müssen.

Und Nina kommt. Sie rennt die Treppe hinauf, vielleicht, weil sie denkt, ich hätte ein Geheimnis gefunden, Liebesbriefe, deren Adressat uns mehr als verblüffen wird. Sie rennt in Pauls Zimmer und findet mich hustend auf allen vieren. Sie schlägt mir auf den Rücken, denn sie fürchtet wohl, dass ich mich an einem von Pauls klebrigen Hustenbonbons verschluckt habe, dabei ist es ja das ganze Zimmer, Pauls Einsamkeit, die mir quer in der Luftröhre steckt.

Ich versuche aufzustehen, halb stolpernd, halb kriechend aus dem Zimmer zu kommen. Nina packt mich unter den Armen, zieht mich in den Flur. Dort gibt sie mich nicht frei, sie hält mich weiter im Klammergriff, lässt auch dann nicht los, als ich anfange zu strampeln, zu rudern und um mich zu treten. Sie hält mich fest, bis ich ruhig werde und in mich zusammensacke.

*

Nachdem wir Pauls Zimmer ausgeräumt haben, kehre ich in mein Leben zurück und weiß, dass ich nun alles ändern werde.

Ich werde aus meiner kleinen, dunklen Ein-Zimmer-Wohnung in eine helle freundliche WG voller heller, freundlicher Menschen ziehen. Ich werde meine Magisterarbeit zu Ende schreiben und dann etwas ganz und gar Unvorhersehbares tun und wie sämtliche Freunde meiner Schwester nach Südamerika reisen. Oder ich werde mir einen Übergangsjob suchen, in einem Café oder einer Bibliothek, wo ich viel mit Menschen in Kontakt und bald schon für meine Freundlichkeit bekannt sein werde.

(Ich werde freundlich sein.)

Ich werde nicht und unter keinen Umständen promovieren.

Ich werde die Bibliothek ein für alle Mal verlassen, ich werde Veränderungen begrüßen und die Menschen, die mir begegnen, mit offenen Armen in meinem Leben empfangen.

Aber zunächst schlafe ich. Ich schlafe bis zu vierzehn Stunden am Tag, an den Wochenenden noch länger. Auch in der Bibliothek schlafe ich. Meine Arbeit langweilt mich so sehr, dass ich nur noch wenige Minuten am Stück daran schreiben kann, bevor ich entweder einschlafe oder FreeCell spiele.

Zu meinem Abschluss schenkt meine Mutter mir ein Bild einer apokalyptischen, grauschwarzen Landschaft, auf dessen Rückseite sie mit Bleistift geschrieben hat: Große Veränderungen erfordern große Veränderungen.

Die Geschichte der Zweifel

Ein Jahr später habe ich nicht nur meine Wohnung, sondern auch die Stadt gewechselt. Ich bin nicht in eine helle, freundliche WG gezogen, sondern in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Allein. Ich habe mir keinen Übergangsjob besorgt; soweit ich beurteilen kann, bin ich nicht freundlich geworden.

Ich habe mit der Promotion begonnen.

Noch immer schlafe ich sehr viel.

Zumindest tagsüber.

Nachts liege ich wach und fürchte mich vor Einbrechern. Unter meinem Bett verwahre ich ein Pfefferspray und ein Brotmesser. Noch immer telefoniere ich täglich mit meiner Mutter. Sie versteht nicht, wieso ich keine Freunde finde. Sie selbst hat viele Freunde. Auch meine Schwester hat viele Freunde.

»Gehst du auf Partys?«, fragt sie mich regelmäßig. So wie sie mich früher gefragt hat, ob ich meine Zähne geputzt, ob ich auch Zahnseide benutzt habe, so fragt sie mich jetzt: Gehst du aus, gehst du weg?

»Auf was denn für Partys?«, frage ich.

»Ich weiß nicht. Von deinen Mitstudenten?«

»Ich habe keine Mitstudenten. Ich promoviere.«

»Dann von deinen Mit-was-auch-immer. Du kannst mir nicht erzählen, dass es in der ganzen Stadt keine Partys gibt. Das glaube ich dir nicht, Marie.«

»Es gibt bestimmt welche. Aber keine, zu denen ich eingeladen werde.«

Das ist eine Lüge. Ich werde eingeladen – von Institutsmitarbeitern, von Frank und Nils, die zusammen mit mir promovieren. Ich werde zu Brunchs und Geburtstagsfeiern und Sektempfängen eingeladen. In der Regel gehe ich nicht hin, und wenn ich doch hingehe, dann weiß ich nichts mit mir anzufangen. Während ich mich hinter bräunlichen Topfpflanzen herumdrücke, erschließt sich mir die englische Beschimpfung: A waste of space. Genauso fühle ich mich: als Verschwendung von Raum, als ein sperriges Zuviel, mit schlechter Haltung und einem Kopf voller unpassender Bemerkungen. Den ganzen Abend über hoffe ich, nicht angesprochen zu werden, denn ich habe ja nichts zu sagen. Den ganzen Abend über hoffe ich, angesprochen zu werden, denn nichts ist schlimmer, als in einem Raum voller Menschen der Einzige zu sein, mit dem sich niemand unterhalten möchte.

Seitdem ich das Graduiertenkolleg besuche, bin ich auf drei Dates gewesen, eine überschaubare Reihe an demütigenden Desastern. Ich habe kein Talent für unverbindliche Unterhaltungen, langweile mich schnell und bin zu ungeduldig, um einen Hehl daraus zu machen.

»Du bist zu kritisch«, sagt meine Mutter.

»Besser als nicht kritisch genug«, sage ich. Eine Anspielung auf meine Schwester, die im vergangenen Jahr glaubte, im Internet ihre große Liebe gefunden zu haben. Nach zweimonatigem E-Mail-Wechsel gab sie ihre Wohnung auf und zog ins fünfhundert Kilometer entfernte München, nur um zwei Wochen später mit hängendem Kopf bei meiner Mutter aufzutauchen und sich für ein halbes Jahr in ihrem Arbeitszimmer einzuquartieren.

»Ich meine nur«, sagt meine Mutter.

Sie verrät mir nicht, was sie nur meint, aber ich weiß es ja auch so, ich habe die Sätze so oft gehört, dass ich sie auch im Schlaf rezitieren könnte:

Ich werde auch nicht jünger. Eine große, geheimnisvolle Uhr tickt. Der Lauf der Zeit ist nicht aufzuhalten, und wer jetzt kein Haus baut, der baut keines mehr.

All das ist mir bekannt, und ich lache abfällig darüber, wenn ich mit meiner Mutter spreche. Nachts aber, wenn ich in meinem Bett liege, unter mir Pfefferspray und Brotmesser, hält mich die Vorstellung wach, dass etwas mit mir im Zimmer ist, ein unvorstellbar großes, dem Auge jedoch verborgenes Tier, das die Wände entlangschleicht. Ein Raubtier, nur schwerer, behäbiger, ein unsichtbarer Elefantenlöwe, der einen nicht zu Tode beißen, sondern mit seinem schieren Gewicht erdrücken würde. Will man nicht gefunden werden, ist es wichtig, vollkommen regungslos zu liegen, flach und genau getaktet zu atmen.

*

Die Professorin, die meine Arbeit betreut, ist eine robuste, energische Frau, und als sie beim Streichen ihrer Altbauwohnung von einem Stuhl fällt und sich den Oberschenkel bricht, sind wir alle sehr überrascht. Für mich, Frank und Nils, die Professor Dunker ebenfalls betreut, wird eine kleine Notkonferenz einberufen. In den Monaten zuvor bin ich zweimal mit Nils ausgegangen – aber an keinem der beiden Abende ist eine romantische Stimmung aufgekommen, stattdessen haben wir uns über Lacans Spiegelstadium gestritten. Den zweiten Abend haben wir in dem Einverständnis beendet, kein tatsächliches, sondern bloß ein freundschaftliches Verhältnis zu beginnen. Ich glaube aber nicht, dass man behaupten könnte, wir seien Freunde.

Als wir die Nachricht von Professor Dunkers Oberschenkelhalsbruch erhalten, tauschen wir besorgte Blicke und kauen an unseren Fingernägeln. Wann wird Professor Dunker zurückkommen, und was, wenn jemand anderes unsere Betreuung übernehmen muss, und was, wenn wir darauf hoffen müssen, von einem anderen Graduiertenkolleg irgendwo in Deutschland aufgenommen zu werden?

Es ist ein komplizierter Oberschenkelhalsbruch, teilt uns Professor Dunkers Mann mit. Er unterrichtet ebenfalls am Institut. Um mit uns zu sprechen, ist er in Professor Dunkers Büro gekommen, und dort steht er vor ihrem aufgeräumten Schreibtisch wie ein befangener Eindringling, wie eine traurige Schildkröte. Sie wird das Krankenhaus so schnell nicht wieder verlassen, erklärt er uns, und dass man über ein künstliches Hüftgelenk nachdenken müsse. Nicht bloß wegen des Sturzes. Sie habe schon länger Schwierigkeiten mit dem Laufen gehabt, aber das sei uns ja sicher aufgefallen. (Es war uns nicht aufgefallen.)

»Wir müssen sie besuchen«, sagt Frank später, als wir in der Cafeteria vor unserem dritten Kaffee sitzen.

Einen kurzen Moment suche ich nach einer Lüge (Ich bin allergisch gegen den Fußbodenreiniger, den sie in Krankenhäusern verwenden), aber statt mich lächerlich zu machen, nicke ich. Dann halte ich mich an meiner Kaffeetasse fest.

Schon als Kind habe ich mich vor Krankenhäusern gefürchtet. Was vielleicht auch auf einen Verhörer zurückzuführen war: Lange Zeit glaubte ich, es sei von »Krakenhäusern« die Rede und verstand nicht, warum man Menschen, denen es nicht gut ging, in ein Krakenhaus brachte; es schien mir unheimlich und grausam.

Bei dem ersten Krankenhausbesuch, den ich bewusst wahrnahm, war ich neun Jahre alt. Meine Schwester hatte sich den Arm gebrochen, und weil durch Zufall niemand zu Hause war, weder meine Großeltern noch mein Onkel Paul, musste ich mit in die Notaufnahme kommen. Ich erinnere mich noch an den hektischen Aufbruch und daran, wie meine Mutter über beigefarbenes Linoleum hastete, die schreiende Nina an der einen und mich an der anderen Hand. Und ich erinnere mich, wie ich sie erst später auf dem Parkplatz nach den Kraken fragte, die ich nirgendwo hatte entdecken können.

»Es gibt so viel, wovor wir uns als Kinder fürchten«, sagte meine Mutter und lachte, als ich sie einmal an den Vorfall erinnerte. Und ich lachte mit ihr. Tatsächlich dachte ich: Es gibt so viel, wovor man sich als Erwachsene fürchten kann.

Nils, Frank und ich haben uns auf dem Parkplatz verabredet. Jeder hat ein kleines, unpersönliches Geschenk besorgt, jetzt stehen wir zusammen wie drei Kinder, die nachsitzen müssen.

Kurz vor dem Tod meines Großvaters bin ich das letzte Mal in einem Krankenhaus gewesen, und es ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Ich bin nicht ganz bei mir, und alles, was ich tue, sage oder denke, hat nur bedingt mit mir zu tun, ich fühle mich meiner selbst enthoben. Die Angst ist wattig, umgibt mich zunächst wie ein unsichtbarer Raumanzug, durchdringt aber bald meinen gesamten Körper und füllt mich von innen her auf. Die souveränen Schwestern hier scheinen mir wie eine höher entwickelte Lebensform mit übernatürlichen Fähigkeiten. Ihre besondere Begabung liegt nicht darin, unter Wasser zu atmen oder zu fliegen, sondern darin, sich leicht und selbstverständlich in dem Schmerzgewaber zwischen den beschädigten und nicht wiederherzustellenden Körpern zu bewegen. Dass es hier Postkarten zu kaufen gibt und Schokoladenriegel, dass auch hier Kinder spielen und es nicht an allen Tagen regnet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies ein Ort ist, an dem gestorben wird.

Während ich mit Frank und Nils durch die Schiebetüren laufe, bin ich nicht mehr ich selbst, sondern bloß eine Schauspielerin, die mich spielt. Wie wir laufen, wie wir uns anschauen, was wir sprechen, das alles ist ein großes Schauspiel. Sogar Requisiten haben wir: Pralinen und Wein. (»Wieso sollte sie nicht trinken dürfen? Sie ist doch nicht wegen ihrer Leber im Krankenhaus«, sagt Frank.) Schon sehe ich unseren Film weiterlaufen, sehe uns ein schummriges Krankenhauszimmer betreten, in dem Professor Dunker in einem Bett liegt – nicht umringt von ihren Liebsten, denn ich habe sie nie von Liebsten sprechen hören. Nur ihr Mann wird an ihrem Bett sitzen.

Professor Dunker ist eine elegante Frau, die ihre Kleidung wie eine Uniform trägt. Sogar ihr glatt-glänzendes Haar scheint mir mehr Helm als Frisur. Obwohl sie nahezu blind sein muss, habe ich sie noch nie eine Brille tragen sehen. Selbst wenn ihre Augen schon gerötet und klein sind, befreit Professor Dunker sie nicht von den wassersaugenden Linsen.

In meiner Vorstellung aber ist Professor Dunker in ein weißes, papiernes Hemd gekleidet, und ihr Haar glänzt nicht mehr. Möglicherweise ist es plötzlich und ganz unerklärlich weiß geworden. Sie wird sehr fragil sein, und erst jetzt werden wir verstehen, dass es immer nur ihre Kleidung war, die sie aufrecht hielt; die sich wie ein magischer Mantel über ihren wahren Körper legte und ihn verschwinden ließ; dass Professor Dunker gealtert ist, wie wir alle es tun; dass sie unter ihrem anthrazitfarbenen Blazer längst stirbt. Aber wäre es doch nur bloß meine Vorstellung, und ginge es doch nur um das, was man sieht, und nicht um das, was man auch riechen kann, denn man wird den Tod riechen können. Und wenn wir erst zu viert um Professor Dunker sitzen und so tun, als bemerkten wir nichts weiter, werden wir in Wahrheit an nichts anderes denken als diesen klammen, erdigen Kellergeruch.

In Zeitlupe bewegen wir uns auf den Aufzug zu, der uns bis in den neunten Stock und in Professor Dunkers Krankenzimmer bringen wird. Mitten in der Eingangshalle bleibe ich stehen. »Geht schon mal vor. Ich komme nach. Ich muss nur noch kurz …«, sage ich und lasse meine Worte klammheimlich auströpfeln.

Frank und Nils ziehen die Augenbrauen hoch, aber keiner der beiden fragt mich, was ich noch muss.

Ich komme nicht nach. Ich warte, bis beide im Aufzug verschwunden sind, dann drehe ich mich um. An diesem Tag bin ich fünf Jahre alt und erlaube mir, davonzurennen. Die Pralinen stelle ich auf eine Bank und gehe im Eiltempo vorbei an Krankenwagen und gemächlich daherspazierenden Paaren.

Obwohl ich abends mit Frank und Nils verabredet bin, bleibe ich zu Hause. Als Frank anruft, murmele ich etwas von einer Magenverstimmung, die sich schon in der Eingangshalle bemerkbar gemacht habe. Deswegen sei ich ja auch nicht nachgekommen.

»Ich kurier das lieber aus«, sage ich und verstehe, dass ich die Wahrheit sage, dass es tatsächlich etwas gibt, von dem ich mich kurieren muss. Es fühlt sich auch an wie eine Krankheit, oder eher wie die Zeit unmittelbar vor ihrem Ausbruch, wenn man sich ihrer noch nicht sicher sein kann; das Stechen ist noch kein Stechen, und das Pochen ist noch kein Pochen; in den Knochen, in den Muskeln, im Gehörgang steckt bloß ein erstes Zittern, die Ahnung eines Schmerzes, der vielleicht irgendwann eine genaue Bezeichnung einfordert, Seitenstrangangina oder Magenschleimhautentzündung, vielleicht aber auch einfach verebbt und weiter nichts gewesen ist.

Abends telefoniere ich mit meiner Mutter, die mir erzählt, dass sie in der Woche zuvor in Erlburg gewesen ist. Sie beschwert sich darüber, dass nun überall Fahrradwege gebaut würden. Dabei fahre in Erlburg doch überhaupt niemand Fahrrad, es sei viel zu hügelig. Ich muss an meine Großmutter denken, an ihre Beschwerden über jede Baustelle, über jeden neuen Supermarkt, und was meine Mutter darüber zu sagen hatte. Aber weil ich mich nicht streiten will, behalte ich meine Gedanken für mich.

»Das Haus …«, sagt meine Mutter und verstummt.

Ich habe meine Mutter noch nie weinen gesehen oder gehört. Auch jetzt weint sie nicht, aber ich bin sicher, dass sie ganz reglos sitzt am anderen Ende der Leitung und an das Haus denkt, sich an die schwere Ruhe erinnert und an Möbel, die wie Leichen unter weißen Laken liegen.

»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Wahrscheinlich sollte man es verkaufen, oder … Es sollte wieder jemand dort leben. So ein großes Haus, und niemand wohnt darin. Das geht doch nicht.«

»Nein«, sage ich.

Ich liege auf der Couch, und über mir hängen Familienfotos, die ich aufgehängt habe, weil mir kahle Wände Angst machen.

»Ich habe das Gefühl, dass alle Menschen um mich herum sterben«, sage ich und komme mir im gleichen Moment albern und wie eine Lügnerin vor. Ein Oberschenkelhalsbruch ist eine ernste Sache, aber kein Tod. Gerade will ich zurückrudern, als meine Mutter sagt: »Das stimmt ja auch. Alle Menschen um dich herum sterben. Du wirst den Tod jedes Einzelnen, den du kennst, erleben. Außer du stirbst vorher.«

Mir fällt wieder ein, warum ich mich nach einem Albtraum nie von meiner Mutter trösten lassen wollte, sondern immer von meiner Großmutter.

Am nächsten Morgen kann ich nicht aufstehen. Unter der zementschweren Bettdecke liege ich etwa eine halbe Stunde, bevor es mir endlich gelingt, mich in die Küche zu schleppen. Dort gieße ich Milch in den Kaffeefilter und schalte statt dem Ofen die Heizung an. Ich beschließe, dass ich vermutlich einen schlechten Tag habe, aber der nächste Tag ist nicht anders und der danach auch nicht. Ich gehe nicht länger laufen, da ich es nicht einmal fertigbringe, die Beine ordentlich zu heben, über Zweige und Bordsteinkanten schlurfe und regelmäßig hinfalle. Zwar breche ich noch jeden Morgen in die Bibliothek auf, aber nur, um an meinem gewohnten Platz zu sitzen und verstohlen FreeCell zu spielen.

Das alles, rede ich mir ein, liegt an der momentan ungeklärten Situation. Ich fühle mich blockiert, weil ich nicht weiß, ob Professor Dunker die Arbeit weiterhin betreuen wird. Ich denke oft an Professor Dunker mit den Knochen, die leicht brechen, und dem weißen Haar und dem Papierhemd. Ich denke an die Professor Dunker meiner Vorstellung, nicht an die Person, die ich tatsächlich kenne.

Auch als Professor Dunker uns per E-Mail mitteilt, dass sie unsere Arbeiten weiter betreuen wird, ändert sich nichts. Und ich verstehe, dass ich nicht mehr schreibe, weil ich nicht mehr schreiben möchte, weil ich nichts mehr zu erzählen habe über Krankheiten und den oftmals irren Glauben an ihre Heilung. Ich versuche, mich an die Anfangszeit zu erinnern, an das, was mich antrieb. Es ging mir darum, erinnere ich mich, Dringlichkeit zu vermitteln, von Menschen zu erzählen, die glauben wollten und glauben mussten, dass sie sich selbst retten können, indem sie sechs Eier am Tag essen, reglos in ihrem Bett liegen und mit niemandem sprechen, die glaubten, dass sich ihre Stimmung wieder heben würde, wenn sie sich einen Zahn ziehen ließen.

Aber während ich blinzelnd meinen Computerbildschirm anstarre, verstehe ich, dass ich gar nichts vermittle. Niemand, der liest, was ich schreibe, wird sich danach verändert fühlen, getröstet oder versöhnt, niemand wird irgendetwas tatsächlich verstehen. Und ich bin weit von jeder Dringlichkeit entfernt; während ich an Quellenangaben feile, am Aufbau meiner Argumente, meiner These, fühle ich mich wie ein Schlafwandler, ein Mensch auf Autopilot.

Um mich herum wirken alle Menschen vollkommen glaubwürdig. Sie sitzen an ihren Tischen und tippen eifrig, und ich lauere, ich warte mit schmalen Augen und angespannten Schultern darauf, dass jemand aufspringt, dass jemand auf einen Tisch steigt und ruft: »Es ist genug, es reicht. Das alles ist großer Unsinn. Kommt, lasst uns aufstehen, kommt, lasst uns gehen.«

Während ich in meinem Bett liege und mir für meine Doktorarbeit eine Dokumentation über die Salpêtrière und andere berühmte Krankenhäuser des 19. Jahrhunderts anschaue, überlege ich mir, dass auch ich gern eine Krankenschwester wäre. Eine Ärztin würde ich nicht sein wollen, es ginge mir auch nicht darum, im Inneren bewusstloser Menschen herumzufuhrwerken. Überhaupt hätte ich gerne möglichst wenig mit Blut und Knochen zu tun. Ich wäre eine weichgezeichnete Krankenschwester. Und in meinem Krankenhaus gäbe es auch keine Spritzen oder Katheter und sicher keine Einläufe. Es gäbe nur sanfte, traurig schöne Patienten, die in ihren Betten lägen und darauf warteten, dass ich ihnen vorlese, dass ich ihnen das Haar aus dem Gesicht streiche und ihre Hand halte.

Aber ich muss nur an meine Flucht aus dem Krakenhaus denken, um zu erkennen, dass ich wohl niemals eine Krankenschwester sein werde.

*

In der Bibliothek sitzend bin ich sicher, dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht und ich eines Tages meinen Laptop zuklappen und nie wieder öffnen werde, ich werde schlafen, in der Bibliothek und zu Hause, an den Morgen, den Mittagen, den Abenden und durch die Wochenenden hindurch.

Doch statt des großen Zusammenbruchs kommst du.

*

Ich lausche auf Schritte, draußen hinter der Tür, warte darauf, dass jemand die Klinke herunterdrückt, den Raum betritt, jemand zu uns kommt, mit uns spricht. Aber es kommt selten jemand. Darum habe ich gestern ein Radio mitgebracht. Wenn ich einnicke, das kommt hin und wieder vor, dann tragen mich die Stimmen davon; während gesungen und berichtet, gewitzelt und informiert wird, treibe ich in meinem Kopf immer weiter fort, fernen Orten entgegen. Irgendwo dort, daran glaube ich, werden wir einander finden. Bis dahin aber ist die Stille so dicht, dass ich meine, sie auf meinem Gesicht zu spüren, auf den Wangen, den geschlossenen Lidern. Manchmal sage ich ein Wort oder einen ganzen Satz, damit irgendwer irgendetwas sagt. Lange Zeit habe ich nicht gewusst, was ich erzählen soll, denn ich muss sparsam mit unseren Geschichten sein: Ihre Zahl ist endlich. Die Geschichte Pauls, die Geschichte der Spinnen, die Geschichte des Fahrrads lassen sich alle bloß ein Mal erzählen, und wir werden einige tausend Meilen reisen müssen, bis zum Rand der Welt und wieder zurück, bevor es mir möglich sein wird, auch die letzte Geschichte zu erzählen.

Nun endlich weiß ich, wo und wie ich die Reise beginnen kann. Ich schlage das erste Heft auf. Bist du bereit?

Dann lass uns anfangen. Du hörst jetzt die erste Geschichte. Du musst die Augen nicht öffnen, musst dich nicht bewegen, musst nicht mit dem Kopf nicken und ihn auch nicht schütteln. Heute Nacht nehme ich dich mit auf eine Reise, auf hundert Reisen nehme ich dich mit, und vielleicht sind wir dorthin unterwegs, wo du noch nie hinwolltest, wo keiner zu Hause sein möchte. Und vielleicht wirst du hin und wieder allein sein, einsam sein, wirst denken, dass ich dich nicht finden werde, nicht weiß, wo du bist, keiner weiß, wo du bist, und du warten musst, wie Rapunzel in ihrem Turm, wie Schneewittchen im Sarg aus Glas, wie Dornröschen hinter der Hecke. Mach dir keine Sorgen, halte still, halte dich gerade, halte Ausschau, warte, bis sich eine Tür öffnet, jemand den Raum betritt, jemand deinen Namen sagt, jemand durch die Fluten, durch den Wald, durch die Straßen, durch die Nacht zu dir kommt und dich findet in der Stadt, die nie dieselbe bleibt, in dem Wald, in dem es immer schneit, in den Kellern der Kliniken und Fabriken, hoch über den Wolken und an der tiefsten Stelle des Meeres.

Die erste Geschichte:

Die letzten Tage in der Wechselstadt

»Aber die existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch nicht verstanden ist, bleibt unendlich.«

Werner Heisenberg, »Physik und Philosophie«, 1958