Cover

Rolf Sellin

Wenn die Haut zu dünn ist

Hochsensibilität – vom Manko zum Plus

Kösel

Alle Fallgeschichten in diesem Buch beruhen auf realen Begebenheiten. Um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen, wurden persönliche Details verändert.

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Erweiterte Neuausgabe

Copyright © 2011, 2020 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © Tanja Luther / plainpicture

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-06004-6
V003

www.koesel.de

Inhalt

Vorher

Nachher

Vorwort: Ein Buch verändert mein Leben

Hochsensible: Menschen mit dünner Haut

Hohe Sensibilität: Ein Minus im Leben oder ein Plus?

Selbsttest: Sind Sie hochsensibel?

Test: Ist Ihr Kind hochsensibel?

High Sensation Seekers: Hochsensibel und trotzdem den »Kick« brauchen

Selbsttest: Hochsensibel und zugleich High Sensation Seeker?

Wenn die eigene Wahrnehmung immer nur stört

Wie der innere Kampf beginnt

Erschwerende Umstände in der Kindheit

Das braucht Mut: Hochsensible Männer

Sie fallen meist nicht auf: Hochsensible Frauen

Zwischen Anpassungsdruck und Idealisierung: Hochsensible Kinder

Die eigene Wahrnehmung steuern lernen

Selbstzentrierung durch bewusste Wahrnehmung

Kraft, Energie und Wachstum durch Abgrenzung

Über die Grenzen gehen: Bis es schließlich knallt

Voraussetzungen für Abgrenzung

Schmerz, Symptom, Krankheit: Wenn der Körper sich meldet

Leichter leben im Alltag

Stressresistenter werden

Hochsensible denken anders

Hochsensibel, ahnungsfähig, medial

Ignorieren, ausweichen, explodieren: Konfliktverhalten

Alles geben: Hochsensible und ihr Beruf

Zwischen Sehnsucht und Rückzug: Soziale Kontakte

Herausforderung: Hochsensible und Partnerschaft

Therapeutische Wege, therapeutische Abwege

Womit hohe Sensibilität manchmal verwechselt wird

Wie Knoten entstehen

Die Knoten lösen

Hohe Sensibilität: Ein ständiger Anstoß für die eigene Entwicklung

Zusätzliche wirksame Methoden

Lösungen für Situation 1: Den inneren Abstand zum Wahrgenommenen selbst bestimmen

Lösungen für Situation 2: Inmitten von Trubel und Geschäftigkeit – und doch bei sich

Lösungen für Situation 3: Im Kontakt mit anderen sich selbst nicht verlieren

Ein paar Schritte weiter...

Danksagung

Buchempfehlungen

Wenn Sie sich in nachfolgendem Text wiederfinden, ist dieses Buch für Sie.

Vorher

Ein typischer Moment

Gerlinde machte sich wieder einmal Vorwürfe, dass sie nicht so unbeschwert war wie ihre Kolleginnen. Die stellten nichts in Frage, rechneten bei ihren Projekten nicht mit Pannen, die eintreten könnten und auf die sie Gerlindes Meinung nach gar nicht richtig vorbereitet waren. Mit ihren Fragen würde sich Gerlinde nicht unbedingt beliebt machen, also ließ sie es. Außerdem hätte sie auch noch gewusst, wie sie den Kolleginnen dann helfen könnte, aber eigentlich war das Angelegenheit der Vorgesetzten und nicht ihre Aufgabe. Und jetzt warf sich Gerlinde auch noch vor, dass sie sich mal wieder den Kopf von anderen zerbrach.

Die Kolleginnen waren längst in der Mittagspause. Zuerst hatte sie mit Erleichterung auf die Ruhe reagiert, doch jetzt bedrängten sie andere Reize: das Rauschen der Klimaanlage, ein leises Pfeifen in den Heizkörpern, das Anfahren des Aufzugs, die Gebläse von Laptops, tickende Uhren … Obwohl sie eigentlich noch ein wenig mehr Zeit gebraucht hätte, die Arbeit sauber abzuschließen, fühlte sie sich gedrängt, es ihren Kolleginnen gleichzutun, und brachte die Arbeit irgendwie zu Ende. Sie machte oberflächlich Ordnung auf dem Tisch, obwohl sie das nicht mochte, weil es dann noch schwerer war, etwas zu finden, doch welchen Eindruck hätte ihr Schreibtisch sonst gemacht?

Auf dem Weg war sie halb noch am Arbeitsplatz, halb schon in der Kantine. Sollte sie überhaupt essen gehen oder lieber einen Spaziergang machen? Aber nachher hieß es wieder, sie wäre eigenbrötlerisch. Als sie bei den Kollegen aus dem Marketing vorbeikam, bezog sie deren Lachen auf sich. Vielleicht sollte sie erst einmal in den Spiegel schauen, ob irgendetwas an ihr nicht in Ordnung war? Sie blickte an sich selbst herunter, ob sie etwas Auffälliges entdecken könnte. Dem Hausmeister, der ihr mit einer Leiter entgegenkam, versuchte sie zuerst zu der einen Seite auszuweichen, dann zur anderen. Durch eine geschickte Drehung der Leiter verhinderte er noch rechtzeitig einen Zusammenstoß.

In der Kantine schlugen die ganzen Eindrücke über Gerlinde zusammen; das gleißende Licht, rivalisierende Essensgerüche, die nicht zusammenpassten, das Stimmengewirr in Konkurrenz zum Geklapper von Besteck, das metallische Kratzen einer Suppenkelle, das sie zusammenfahren und ihre Zähne schmerzen ließ.

Da kam Herr Stechel auf sie zu und nötigte ihr wieder ein dienstliches Gespräch auf, mitten vor der Essensausgabe. Sie ließ alles über sich ergehen, konnte sich kaum konzentrieren in dieser Umgebung. Je mehr ihr alles zu viel wurde, desto häufiger sagte sie Ja und Amen. Zugleich wusste sie, dass sie das später wieder einmal bereuen würde.

Endlich war sie ihn los. Wo sollte sie sich nur anstellen? Ohne zu wissen, was es hier gab, wählte sie die kürzeste Schlange als das geringste Übel. Kaum hatte sich jemand hinter sie gestellt, spürte sie auch schon dessen Ungeduld. Von vorn wurde sie gebremst, von hinten bedrängt, und sie stand dazwischen. Sie reagierte mit einem Schweißausbruch. Und dann plagte sie auch noch die Angst, sie selbst könnte einen schlechten Geruch verströmen, der den anderen den Appetit verderben würde. Sie hielt die Spannung nicht mehr aus. Welchen Eindruck würde es machen, wenn sie jetzt aus der Schlange ausscherte? Hielt man sie dann für unentschieden? Oder für zu sensibel? Für zu wenig belastbar? Wenn das so weiterging, würde sie gleich einen Druck auf die Blase spüren, der sie zwingen würde, die Toilette aufzusuchen. Der Gedanke daran reichte, und schon spürte sie den Drang. Am besten, sie entzog sich rechtzeitig, solange sie noch kein Tablett trug, und verzichtete ganz auf das warme Essen. Am Kuchenstand kam man gleich dran. Obwohl sie abnehmen wollte, aß sie etwas Süßes. Das war am einfachsten. Jetzt hieß es nur noch, einen ruhigen Platz irgendwo am Rand zu finden, auch wenn es ihr nicht leichtfiel, in dem ganzen Durcheinander der Kantine das Tablett so weit zu balancieren, denn sie fühlte sich am Ende ihrer Kräfte. Da winkte ihr auch schon Frau Welz und machte den Platz neben sich frei. Wie sollte sie da ablehnen? Also lächelte Gerlinde und strebte dem für sie vorgesehenen Platz zu. Sie wusste schon, was sie jetzt erwartete. Frau Welz würde wieder einmal ihre ganzen Probleme vor ihr ausbreiten. Eine Seite in ihr fühlte sich dadurch geehrt, denn Frau Welz teilte schließlich nicht mit jedem ihre Probleme. Auch gefiel ihr die Tiefe in den Gesprächen, wenn es um so wichtige Lebensthemen wie die Ehe ging. Und Gerlinde fielen ja auch immer gute Lösungen für die Probleme anderer ein, auch wenn Frau Welz noch jeden ihrer Vorschläge ausgeschlagen hatte.

Heute wollte Gerlinde auch einmal etwas Privates loswerden. Als sie von sich zu sprechen begann, hatte Frau Welz plötzlich etwas Dringliches zu erledigen und musste schnell aufbrechen.

Wenn Sie sich in nachfolgendem Text wiederfinden möchten, ist dieses Buch auch für Sie.

Nachher

Ein typischer Moment

Bevor sie in die Mittagspause ging, nahm sich Gerlinde die Zeit, die sie brauchte, um ihre Arbeit in Ruhe abzuschließen. Sie ordnete den Schreibtisch, verschaffte sich den Überblick über das, was zu erledigen war, ordnete die Aufgaben nach Dringlichkeit und Wichtigkeit. Wenn etwas Unerwartetes und vielleicht Brandeiliges auf sie zukam, dann würde sie sich auch dem gewachsen fühlen. Sie hatte akzeptiert, dass sie manchmal für ihre Arbeit etwas länger brauchte, und wusste ihre Umsicht und Verantwortlichkeit ebenso zu schätzen wie ihr Chef.

Sie sammelte sich kurz, bevor sie sich auf den Weg in die Kantine machte. Der Begriff »sich sammeln« machte sie schmunzeln. Sie hatte tatsächlich das Gefühl, als würde sie ihre Aufmerksamkeit und damit ihre Energie aus allen möglichen Winkeln der Arbeitsabläufe zurückpfeifen und wieder auf sich selbst konzentrieren. Sie nahm nun ihren Körper wieder intensiver wahr und ihre Atmung, die zugleich ruhiger und tiefer wurde. Dadurch fühlte sie sich auch insgesamt stärker. Die Spannungen im Kopfbereich, zu denen es hin und wieder noch kam, ließen deutlich nach. Ab und zu konzentrierte sie noch viel zu viel Energie im Kopf, obwohl sie wusste, wie sie leichter und entspannter arbeiten konnte.

Auf dem Weg zur Kantine vernahm sie das muntere Plaudern der Marketing-Kollegen. Sie registrierte es und grüßte freundlich. Die Kollegen grüßten zurück. Nein, so reagierte man nicht auf jemanden, der Gegenstand des Gesprächs war. Aus welchem Grund sollte sie auch der Mittelpunkt ihres Gesprächs sein? Wenn sie bei sich war, interessierte sie das im Übrigen wenig.

Früher hatten alle möglichen Stimmungen anderer Menschen automatisch auf sie abgefärbt. Gerlinde beschloss, die Heiterkeit der Kollegen jetzt ganz bewusst zu übernehmen, ohne den Anlass ihrer guten Laune zu kennen. Mit dieser Stimmung betrat sie die Kantine. Sie freute sich darüber, wie das Licht durch das Seitenfenster auf die Pflanzen fiel. Ihre Blätter warfen eigenartig geformte Schatten auf den Boden, die sie an Werke von Matisse erinnerten. Weil sie bei sich war und ihre Aufmerksamkeit selbst lenkte, registrierte sie nur die Geräuschkulisse in der Kantine, ohne dass die Lautstärke und das Durcheinander der Stimmen sie tangierten. Da stürzte mal wieder Kollege Stechel auf sie zu und wollte ihr ein dienstliches Gespräch aufdrängen. Heute wirkte es so, als würde er kurz vor ihr abbremsen. Ehe er losreden konnte, kam sie ihm zuvor und kündigte ihm an, ihn gegen 14 Uhr wegen einer Frage anzurufen. Dann könne er alles Weitere mit ihr besprechen. Mit einem freundlichen Lächeln ließ sie ihn hinter sich.

Vor der Essensausgabe nahm sie sich Zeit herauszufinden, welches Gericht ihr schmecken würde. Das war zugleich ein gutes Training dafür, ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen und für sich zu sorgen. Außerdem konnte sie eine Entscheidungsmethode ausprobieren. Wie würde sich ihr Körper fühlen nach dem Verzehr von weichen Spaghettis mit einer rotbraunen Soße und blassen Klößchen, nach dem Genuss von bayerischem Schweinsbraten mit Kartoffeln und Kraut oder nach dem Gemüseeintopf Gärtnerin? Sie prüfte noch einmal und entschied sich für den Gemüseeintopf, der ein stimmiges Gefühl im Bauch hervorrief, auch wenn sie dafür Schlange stehen musste. In der Reihe grenzte sie sich nach hinten ab, nach vorn ließ sie sich genügend Abstand, auch wenn die Kollegin von hinten stärker zu drängen versuchte. Das Schlangestehen erinnerte sie an ihre Aufenthalte in London, an das Warten auf die Doppeldeckerbusse. Und schon hielt sie das Tablett mit dem gewünschten Gemüseeintopf in ihren Händen.

Nachdem sie Frau Welz kürzlich die Telefonnummer eines Ehe-Therapeuten in die Hand gedrückt hatte, winkte diese nun nicht mehr, um sie an ihren Tisch zu lotsen. In wessen Gesellschaft würde sie heute gern essen? Oder brauchte sie die Nachbarschaft von Kollegen, die auch mit sich selbst beschäftigt waren? Doch allein sein, das konnte sie immer noch. Wie wäre es, einmal mit Herrn Steiner und Frau Küfner ins Gespräch zu kommen? Die waren ihr sympathisch. Gerlinde grüßte und fragte, ob der Platz neben ihnen frei wäre.

Das fiktive Beispiel von Gerlinde zeigt: Dass jemand hochsensibel ist, sagt nichts darüber aus, ob diese Person zufrieden oder unzufrieden ist, glücklich oder unglücklich, erschöpft oder energiegeladen. Es gibt Hochsensible, die unter ihrer Sensibilität leiden, während andere ihre Veranlagung konstruktiv zu nutzen wissen.

Möchten Sie lernen, wie sich Hochsensibilität von einem Manko in ein Plus verwandeln lässt? Dann seien Sie herzlich willkommen.