Bert Hellinger
mit Hanne-Lore Heilmann
Mein Leben. Mein Werk.
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© 2018 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Dr. Diane Zilliges
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie, Zürich
unter Verwendung eines Fotos von Olff Appold
Fotos: Privatarchiv Hellinger
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-23231-3
V002
Für Sophie, meine große Liebe
Urworte, orphisch
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
Vorwort
1Kindheit und Jugend
2Arbeitsdienst und Soldatenleben
3Ordensleben und Priesterweihe
4Als Missionar in Südafrika
5Rückkehr nach Deutschland und Austritt aus dem Orden
6Therapieausbildungen und Heirat
7Der Durchbruch zur Familienaufstellung
8Die klassische Familienaufstellung
9Die Unterscheidung der Gewissen
10Die erste Ordnung der Liebe: Das Recht auf Zugehörigkeit
11Die zweite Ordnung der Liebe: Die Rangordnung
12Die dritte Ordnung der Liebe: Der Ausgleich von Geben und Nehmen
13Die Ordnungen der Liebe zwischen Mann und Frau
14Die Eltern-Kind-Beziehung
15Die Abtreibung
16Was in Familien krank macht
17Der systemische Hintergrund verschiedener Krankheiten
18Erfolge und neues Glück
19Familienaufstellungen mit Juden im Dienst der Versöhnung
20Die Anfeindungen
21Das Neue Familienstellen
22Alles geht weiter
23Die Zukunft
Statt eines Nachworts
Danksagung
Bibliografie
Vorwort von Bert Hellinger
Wer wie ich auf fast einhundert Jahre Lebenszeit zurückblickt, hat eigentlich viel zu erzählen. Schon lange bat mich deshalb meine Frau Sophie, meine Autobiografie zu verfassen. Doch ich weigerte mich standhaft. Meiner Ansicht nach fand man das, was ich zu sagen habe, in den über hundert Büchern, die ich geschrieben habe. Denn mein Lebensweg war mit dem Ende des Dritten Reiches nicht mehr von äußeren Umständen, sondern von meinen Erkenntnissen und Gedanken bestimmt. Denen folgte ich unbeirrt und teilte sie in vielfältiger Weise mit.
Da ich weder Rockstar noch Hollywood-Schauspieler bin, die ja gerne Privates öffentlich verhandeln, sah ich keine Veranlassung, mehr von mir zu berichten. Dennoch nährten manche Ereignisse in meinem Leben Gerüchte und Spekulationen. Ein ehemaliger Priester, der sich mit fast achtzig Jahren von seiner Frau scheiden lässt, um eine wesentlich jüngere zu heiraten, wird mit der neuen Partnerin schnell Objekt von Mutmaßungen. Weder meine Frau Sophie noch ich nahmen jemals dazu Stellung. Ebenso wenig wehrte ich Angriffe auf meine Person ab. Ich konzentrierte mich stattdessen auf meine Arbeit. Denn meiner Überzeugung nach setzt sich das, was wirkt, durch. Und so geschah es auch.
Was nun brachte mich dazu, meine Meinung zu ändern und doch meine Autobiografie zu schreiben? In erster Linie war es der Blick auf mein Alter und die damit verbundenen notwendigen Schritte. 2018 habe ich meine sämtlichen beruflichen Aktivitäten wie die Hellingerschulen und den Verlag Hellinger Publications meiner Frau Sophie übertragen. Seit bereits fast zwanzig Jahren habe ich mit ihr zusammen das Familienstellen weiterentwickelt und weltweit Seminare gegeben.
Doch es stellt sich die Frage, wie lange ich dazu noch in der Lage sein werde. Zwar erfreue ich mich guter Gesundheit, doch spüre ich, wie die Jahre ihren Tribut fordern. Die Kraft lässt nach, Körper und Geist fordern vermehrt Erholungsphasen. Das stimmt mich nicht traurig, denn ich denke, dass ich nach den vielen Jahrzehnten intensiven Arbeitens auch etwas mehr Ruhe verdient habe. Bereits in diesem Jahr habe ich deshalb meine Reisetätigkeit eingeschränkt, immer öfter überlasse ich Sophie auch das alleinige Leiten von Seminaren. Inzwischen geht sie voran, und ich folge ihr – auch in der weiteren Entwicklung des Familienstellens. Die Wege, die sie dabei einschlägt, die Erkenntnisse, denen sie folgt, erfüllen mich mit Bewunderung und Freude.
Mit der Übernahme aller meiner beruflichen Aktivitäten hat meine Frau eine große Bürde auf sich genommen. Sie fordert von ihr viel – nicht nur Zeit, sondern auch Energie und Inspiration. Ihre Bereitschaft, sich auf all das einzulassen, ist ein Zeichen ihrer Liebe zu mir und ihrer Identifizierung mit dem Familienstellen. Wer so eine Partnerin in seinem Leben finden durfte, hat das Glück erfahren.
Doch darf ich meiner Frau auch aufbürden, später – wenn ich nicht mehr bin, und das kann jeden Tag passieren – für mich zu sprechen? Fragen, die mit meiner Person zusammenhängen, für mich zu beantworten? Sozusagen das für mich zu erledigen, wozu ich keine Lust hatte? Dazu habe ich kein Recht. Und selbst wenn sie das alles für mich übernehmen würde, wäre sie dann glaubwürdig? Würde man ihr nicht Parteilichkeit unterstellen und sie damit zusätzlichen Schwierigkeiten aussetzen? Es ist deshalb an der Zeit, mich selbst zu erklären und damit Klarheit in verschiedenen Bereichen zu schaffen.
Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich für ein derart umfangreiches Werk wie meine Autobiografie auf Unterstützung angewiesen sein würde. In meinem Alter ist es einem kaum noch möglich, Wochen am Computer zu sitzen, um das Erlebte zu Papier zu bringen. Hier kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe, wobei ich nicht an Zufälle glaube, sondern es eher mit dem von Carl Gustav Jung verwendeten Begriffen der Synchroniziät oder Koinzidenz halte.
Nachdem meine Frau Sophie und ich uns seit einiger Zeit mit dem Thema der Autobiografie befasst hatten, erhielten wir eines Abends einen Anruf von unserer engen Freundin Christina Niederkofler, Leiterin der Hellingerschule in Italien. Sie war mit der langjährigen Journalistin und Buchautorin Hanne-Lore Heilmann befreundet, die innerhalb ihrer Ausbildung zur Familienaufstellerin mehrere Seminare in Italien absolviert hatte. Hanne-Lore Heilmann hatte sich an jenem Tag an Christina Niederkofler mit der Idee gewandt, eine Hellinger-Biografie zu schreiben, und um die Vermittlung eines Treffens mit meiner Frau und mir gebeten. Bereits am nächsten Tag reiste Christina Niederkofler bei uns an, um das Thema näher zu besprechen. Schon vier Tage später kam Hanne-Lore Heilmann für zwei Wochen zu uns. Wir schlugen ihr vor, an meiner geplanten Autobiografie mitzuarbeiten. Eine Idee, der sie sofort zustimmte.
Bereits wenige Tage später stieß auch mein enger Freund Dr. Rüdiger Rogoll, Neurologe, Psychiater, Psychotherapeut und ehemals einer der bekanntesten Transaktionsanalytiker Europas, für mehrere Tage zu uns. Wenn man auf ein so langes Leben wie ich zurückblickt, haben sich manche Erinnerungen in verschlossene Hinterzimmer des Gedächtnisses zurückgezogen. Hinzu kam, dass mein Blick und meine Ausrichtung immer nach vorn gingen. Um meine Erinnerungen zu erreichen, braucht man einen besonderen Schlüssel. Den besaß mein Freund Rüdiger Rogoll. Er kannte mich seit den 1970er-Jahren und hatte viele Ereignisse mit mir geteilt. So schloss er zahlreiche meiner Gedächtniszimmer mit dem Satz auf: »Weißt du noch damals, als du …« Und plötzlich war die Erinnerung wieder da. Vor allem aber begleitete mich meine Frau Sophie auf dieser Reise in die Vergangenheit.
In den kommenden Monaten war Hanne-Lore Heilmann häufig bei meiner Frau und mir zu Gast, um mir beim Zusammentragen der Teile meines Lebens behilflich zu sein. Immer stieß auch Rüdiger Rogoll dazu. Und so wurde in dieser Vierergruppe meine Lebensgeschichte Stück für Stück aufgerollt. Alle verband dabei nicht nur ein gemeinsames Ziel, sondern auch gegenseitige Achtung, Respekt und Zuneigung. Ein schöneres Arbeiten kann man sich nicht wünschen.
So hoffe ich, dass die Harmonie, die das Entstehen dieses Buches begleitete, auch auf den Leser wirken und er durch meine Autobiografie den Weg zu einem erfüllteren und glücklicheren Leben finden möge.
Vorwort von Hanne-Lore Heilmann
Vor rund fünfzehn Jahren erzählte mir mein guter Freund Holger Richter, langjähriger Programmdirektor von RTL-Radio in Luxemburg, von seinen Erfahrungen mit Familienaufstellungen von Bert Hellinger. Das, was ich hörte, faszinierte mich so sehr, dass ich selbst ein Seminar besuchte. Auch ich hatte – wie wohl jeder – ein Problem in meinem Leben, das ich mit einer Familienaufstellung hoffte zu lösen. Was ich bei dem Seminar erlebte, beeindruckte mich tief. Noch mehr: Es ließ mich nicht mehr los. Ich begann, mich mit der Methode Hellingers intensiver zu beschäftigen, und schrieb mich schließlich als Studentin bei der Hellingerschule ein, um das Aufstellen selbst zu erlernen.
Heute kann ich mit voller Überzeugung sagen: Nichts hat mein Leben so verändert wie die Erkenntnisse von Bert Hellinger. Für mich gibt es deshalb ein Leben vor Hellinger und ein Leben nach Hellinger. Viele meiner Entscheidungen wurden von seinem Gedankengut beeinflusst. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Dank seiner Erkenntnisse über die Ordnungen des Lebens ist mein Verständnis für andere Menschen gewachsen. Was mich früher gegen jemanden aufgebracht hatte, vermag ich heute in einem anderen Licht zu sehen. So verdanke ich Bert Hellinger nicht nur ein größeres Wissen über die menschliche Seele, sondern auch einen Zuwachs an innerem Frieden.
Während meiner Ausbildung zur Familienaufstellerin lernte ich bei Seminaren im Südtiroler Brixen Christina Niederkofler, Leiterin der Hellingerschule in Italien, kennen. Seitdem verbindet uns eine enge Freundschaft. Sie war es auch, die den Kontakt zu Bert und Sophie Hellinger herstellte, aus dem die Idee zu dieser Autobiografie erwuchs.
Dass mir die Möglichkeit gegeben wurde, an Bert Hellingers Autobiografie mitzuwirken, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Vor allem aber möchte ich meine Mitarbeit als eine Verneigung vor dem Lebenswerk Bert Hellingers verstanden wissen.
In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel Zeit mit Bert und Sophie Hellinger in ihrem Haus im Berchtesgadener Land verbringen und in ihnen zwei außergewöhnliche Menschen kennenlernen dürfen. Nie zuvor bin ich einer so gütigen Person wie Bert Hellinger begegnet. Stark hat mich auch seine Frau Sophie beeindruckt, die mit einer nicht endenden Energie ihr Leben dem Familienstellen widmet und es mit ihren eigenen Erkenntnissen inzwischen in neue Dimensionen geführt hat.
Viele intensive und schöne Momente durfte ich im Hause Hellinger erleben. Besonders ist mir ein Sommerabend in Erinnerung geblieben, als wir auf ihrer Terrasse mit Blick auf den Watzmann saßen, jenem Schicksalsberg, der schon über hundert Todesopfer gefordert hat. Bert Hellinger stimmte das Abendlied »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius an. Er kannte alle Strophen auswendig:
»Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolzen Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nicht Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod;
und wenn du uns genommen,
lass uns in’ Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott.«
In die letzte Strophe stimmte Sophie Hellinger leise mit ein, und so sangen sie gemeinsam in der Abenddämmerung:
»So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen.
Und unsern kranken Nachbarn auch!«
Nach einem Moment des Schweigens sagte Bert Hellinger: »Das war ein voller Tag.«
Das sagte er am Ende jedes Tages.
Einmal, als Sophie Hellinger mich in Salzburg vom Flughafen abgeholt hatte, sagte sie auf der Fahrt zu ihrem Haus zu mir: »Hier ist jetzt deine zweite Heimat.« Das hat mich sehr berührt.
Danke, Sophie.
Danke, Bert Hellinger.
Mit meiner Autobiografie begebe ich mich auf eine Reise. Auf eine Reise in die Vergangenheit, die mich in die Gegenwart führt. Der Mann trifft das Kind, das Alter die Jugend, das nahende Ende den Anfang. Ich durchschreite mein Leben, das sich zu einem Kreis schließen wird, dem jetzt ein letztes Stück noch fehlt. Das ist die Zukunft, von der mir nur noch wenig bleibt. Ich schaue auf sie ohne Wehmut. Denn viel Zeit wurde mir geschenkt. Eine reiche Zeit, die zu gestalten mir gestattet wurde, während sie mich prägte. Mit all den Ereignissen und Menschen, mit all den Erkenntnissen und Gedanken. So schau ich heute voller Dankbarkeit und Demut auf diese Zeit. Sie hat es gut mit mir gemeint.
Kindheit und Jugend
Ich wurde am 16. Dezember 1925 als zweites Kind meiner Eltern Albert und Anna bei Neumond in dem beschaulichen Ort Leimen nahe Heidelberg geboren. Meine Eltern gaben mir den Namen Anton. Obwohl ich nicht viel von Astrologie verstehe, scheint sie mit ihren – womöglich zufälligen – Vorhersagen in Verbindung mit meinem Geburtsdatum doch recht behalten zu haben: Neumondgeborene, so wird behauptet, tendieren dazu, die Welt mit ihren Idealen und ihrem persönlichen Charakter zu prägen. Dem im Sternzeichen des Schützen Geborenen schließlich wird nachgesagt, dass er sich nicht unterordnen will, immer er selbst bleibt, andere mitzureißen vermag, sie aber auch fordert. Dabei tritt er bedingungslos für das ein, was er für wahr und richtig hält.
Was ich für wahr und richtig halte, habe ich mein Leben lang geäußert. Oft entgegen den Warnungen vor den Konsequenzen. Diese zu tragen war ich immer bereit. Nicht bereit war ich, mich zu beugen, nur bereit, mich zu fügen. Wer sich beugt, verliert seine Größe und Würde. So beugte ich mich schon als Jugendlicher nicht dem grausamen System der Nationalsozialisten und wurde als potenzieller Volksschädling zum Abschuss freigegeben. Aber ich fügte mich den Gesetzen der katholischen Kirche, denn sie waren im Einklang mit meinem Gewissen. Als ich mich ihnen nicht mehr fügen konnte, legte ich gegen alle Widerstände mein Priesteramt nieder. Ebenso habe ich mich auch nie um die Meinungen anderer gekümmert, denn das sind festgefahrene, vorurteilsbehaftete Denkmuster, die nach Bestätigung gieren. Manche haben mich später aus ihrer Meinung heraus angegriffen, ohne dass ich mich davon in meinem Weg beirren ließ. Dem besseren Argument dagegen war ich immer aufgeschlossen.
Wenn ich auf meine Kindheit blickte, war ich lange zwiegespalten. Wie andere auch habe ich mich in Abhängigkeit von meinen jeweiligen neuen Lebensumständen bis ins hohe Alter hinein immer wieder in neuer Form dem Verhältnis zu meinen Eltern gestellt. Nur so gelang es mir, das Ausmaß ihrer Liebe zu begreifen.
In der Mitte meines Lebens war ich meinen Eltern in Dankbarkeit und Demut zugewandt. Jeder glaubt ja dann, dass zum Beispiel das Verhältnis zur Mutter in Ordnung sei. Wenn man aber tiefer geht, erkennt man, dass diese pure Ansicht nicht reicht. Es geht nicht darum, dass man nur denkt oder meint, mit der Mutter im Einklang zu sein, sondern dass man dies voller Überzeugung ganz intensiv innerlich fühlt. Je mehr man sich solchen Situationen stellt, zum Beispiel, was man mit der Mutter durchlebt hat, umso öfter kommen Erinnerungen an frühere Verletzungen hoch, die noch nicht geheilt sind. Erst wenn diese vergessen sind, erst wenn man sich – selbst wenn man es wollte – nicht mehr an sie erinnert, kann von Heilung gesprochen werden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder solche Vorgänge bei sich beobachten kann. Ebenso bin ich mir sicher, dass man durch verschiedene Aufstellungen mit der Mutter in Resonanz treten kann und auf diese Weise verdrängte Situationen, die einem nicht mehr bewusst sind, ans Licht kommen. Ein altes Ereignis wird gleichsam angestoßen und in seinen Folgen gelöst. Das ist ein lebenslanger Prozess. Denn jeder Schritt hat seinen eigenen, vom jeweils veränderten Verhältnis zur Mutter bestimmten Ausgangspunkt. Gerade so, wie man nie in dasselbe Wasser eines Flusses steigen kann.
Die ersten Jahre meines Lebens bis zur Einschulung verbrachte ich in dem nur viertausend Seelen zählenden Ort Leimen, dem Geburtsort meiner Eltern. Mein Vater, ein Ingenieur, war wie bereits auch mein Großvater mütterlicherseits, der schwere körperliche Arbeit geleistet hatte, in der dortigen Zementfabrik beschäftigt, der heutigen Heidelberg Cement AG.
Die Familie lebte in einer Arbeitersiedlung, damals Arbeiterkolonie genannt, die – ähnlich wie die bekannten Krupp-Siedlungen in Essen – ab 1900 aus dem Privatvermögen des Firmenpatriarchen Friedrich Schott errichtet worden waren. Er selbst nannte dieses Bauprojekt »Wohnhäuser für brave und verdiente Arbeiter«. Jede Familie hatte von der Fabrik außerdem ein Stück Land bekommen, auf dem Obst und Gemüse zur Eigenversorgung angebaut wurde. Mein Großvater hielt auch Hühner und ein Schwein. Es war sozusagen der Übergang vom bäuerlichen zum industriellen Zeitalter. Von morgens bis abends bestimmte die Arbeit in der Fabrik und anschließend weiter auf den Feldern den Tag.
Als ich geboren wurde, war mein Großvater bereits pensioniert. Aber dadurch, dass ich vor der Einschulung längere Zeit bei meinen Großeltern lebte, wuchs ich in dieses Milieu, dieses Leben der einfachen Menschen hinein. Für uns Kinder, und davon gab es viele, war es eine Idylle. Uns stand eine Wiese und ein mit Schatten spendenden Bäumen bepflanzter Platz zum Spielen zur Verfügung. Und wir konnten auf ganz selbstverständliche Weise bei den verschiedenen Familien ein und aus gehen, als ob wir dazugehörten. Es war fast wie in einer Großfamilie.
Das Leben dieser Menschen hatte etwas besonders Herzliches, Gerades. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt. Bis heute ist Leimen vom Gefühl her Heimat für mich. Noch heute habe ich das monotone Brummen der Seilbahn und das leise Klackern ihrer zweihundertfünfundsechzig gemächlich schaukelnden grünen Loren beim Lauf über die Stützen im Ohr, die den hochprozentigen Kalkstein aus den sechs Kilometer entfernten Steinbrüchen über die Dächer Leimens in das Zementwerk transportierten.
Ich hatte immer ein Herz für das Einfache, das Schlichte. Selbst in Zeiten des Wohlstandes konnten die Verlockungen des Geldes keinen Reiz auf mich ausüben. Eine geradezu ländliche Bodenständigkeit und ausdauerndes, diszipliniertes Arbeiten bestimmten mein Leben. Nicht die feine Küche, sondern eine gute Kartoffel oder ein von meiner kräuterkundigen Frau Sophie zubereitetes Essen machen mich glücklich. Statt einer neuen Limousine steht ein zwanzig Jahre alter Wagen in unserer Garage. Er verrichtet immer noch treu seine Dienste – warum einen neuen kaufen?
Mein Luxus ist ein schönes Heim mit Blick auf die imposante Kulisse des Watzmanns. Viele Bergsteiger haben an diesem Schicksalsberg ihr Leben gelassen. Bei uns gibt es Gästezimmer für Freunde und Verwandte, die uns oft besuchen und mit denen wir in der Küche oder auf der Veranda an schlichten Holztischen speisen. Oft begleiten sie Sophie und mich beim täglichen Nachmittagsspaziergang entlang eines nahe gelegenen Baches. Er spendet uns Kraft und innere Ruhe. Die Freude an der Natur, die harmonische und inspirierende Gemeinschaft mit anderen Menschen entziehen sich der Macht des Geldes.
Als ich fünf Jahre alt war, siedelten meine Eltern mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Robert und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Marianne nach Köln über. Doch mich ließen sie bis zur Einschulung bei meinen Großeltern zurück. Den wirklichen Grund dafür habe ich nie erfahren. Ich vermute, dass meine Eltern so den Großeltern den Abschied von der Familie etwas versüßen wollten. Obwohl ich gern bei ihnen lebte, empfand ich die Trennung von den Eltern dennoch als einen tiefen Einschnitt. Ich fühlte mich zurückgelassen und auch zurückgesetzt, da Robert in das neue Zuhause mitkommen durfte. Dass auch Marianne bei den Eltern bleiben durfte, zählte für mich nicht so sehr. Sie war schließlich die Kleine. Meinen Bruder sah ich da wohl eher als Konkurrenz.
Dadurch, dass ich bei meinen Großeltern bleiben musste, wurde vor allem mein Verhältnis zu meiner Mutter nachhaltig beschädigt. Diese Wirkung habe ich später oft innerhalb von Familienaufstellungen bei Klienten beobachtet, die Ähnliches erlebt hatten. Ich habe es die »frühe unterbrochene Hinbewegung zur Mutter« genannt.
Was bedeutet diese unterbrochene Hinbewegung zur Mutter für den Einzelnen? Das Leben kommt zuerst durch die Mutter zu uns. So wie wir unsere Mutter nehmen, nehmen wir unser Leben. Was immer wir an unserer Mutter auszusetzen haben, haben wir an unserem Leben auszusetzen. Wer sich von seiner Mutter abwendet, wendet sich vom Leben ab. Daher gelingt das Leben zuerst in unserer Beziehung zu unserer Mutter. Wer seine Mutter genommen hat, der strahlt, wird geliebt und zieht sofort andere an. Der Einklang mit der Mutter ist der Schlüssel zum Glück.
Dem Nehmen der Mutter steht bei vielen jedoch eine frühe Erfahrung entgegen. Sie erlebten bis zum fünften Lebensjahr, meist in der Zeit von drei bis vier Jahren, eine Trennung von der Mutter. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Kind für eine bestimmte Zeit weggegeben wurde oder es krank war, ohne dass die Mutter es besuchen konnte, oder wenn die Mutter nach einer Krankheit zur Erholung wegmusste. Die Trennung wird vom Kind als ein großer Schmerz erlebt. »Wo ist sie denn? Bin ich verloren?«, fragt es sich innerlich. Das ist ein Trauma, denn die notwendige Hinbewegung ist nicht möglich.
Die Hilflosigkeit, ohne die Mutter zu sein, die Verzweiflung, nicht zu ihr gehen zu können, wo man sie doch so sehr braucht, führt bei dem Kind zu einer inneren Entscheidung. Es hat plötzlich ein anderes inneres Bild von der Mutter, das mit Schmerz und mit einem Vorwurf verbunden ist. Oft verwandelt sich der Schmerz der Trennung auch in Wut oder in Verzweiflung. Es sagt dann zum Beispiel innerlich: »Ich gebe sie auf.« »Ich bleibe allein.« »Ich bleibe auf Abstand zu ihr.« »Ich wende mich von ihr ab.« »Ich ziehe mich zurück; niemand ist wirklich für mich da; ich stehe allein auf meinen Füßen.«
Das Kind verändert sich danach. Wenn die Mutter wiederkommt, schiebt das Kind aus Erinnerung an den Schmerz die Mutter weg und entzieht sich ihr. Es lässt sich zum Beispiel nicht mehr von ihr berühren, es verschließt sich vor ihr und vor ihrer Liebe. Wenn die Mutter versucht, dem Kind näher zu kommen und es in den Arm zu nehmen, weist es sie innerlich und oft auch äußerlich ab. Die Mutter meint dann vielleicht, etwas falsch gemacht zu haben, und zieht sich ebenfalls zurück. So kommen beide nicht mehr richtig zusammen.
Das wirkt sich auch im späteren Leben aus. Sogar als Erwachsener hat ein solches Kind oft Angst vor Nähe. Wann immer es auf jemanden zugeht, erinnert es den Schmerz von damals und unterbricht die Hinbewegung. Statt beispielsweise in der Paarbeziehung auf den anderen zuzugehen, wird darauf gewartet, dass dieser in diese Bewegung kommt. Doch die Nähe wird dann oft nur schwer ausgehalten. Statt den anderen glücklich willkommen zu heißen, wird er auf unterschiedliche Weise zurückgewiesen. Wer so traumatisiert ist, kann sich, obwohl er darunter leidet, nur zögernd öffnen, und das auch meist nur für kurze Zeit. Ähnlich ergeht es ihm sogar oft mit dem eigenen Kind.
Ein solches Trauma wird sowohl im Gefühl als auch in der Erinnerung gelöst, wenn man trotz aller Angst in die Trennungssituation zurückgeht und die unterbrochene Hinbewegung innerlich oder in einer Familienaufstellung nachholt. Trotz des aufsteigenden Schmerzes, trotz der Enttäuschung und der Wut von damals geht man in kleinen Schritten auf die Mutter zu – in Liebe. Bis man am Ende in ihre Arme fällt, von ihr umarmt und festgehalten wird und endlich wieder ganz mit ihr eins ist.
Ich selbst habe erst in der Mitte meines Lebens die Leistungen meiner Mutter in ihrer ganzen Fülle würdigen können. Das gelang mir in einer Therapie in Amerika. Der Therapeut hatte drei Quadrate auf den Boden gezeichnet. Danach musste ich mich in die Mitte jedes Quadrates stellen. Anschließend sollte ich sagen, in welchem ich mich am besten gefühlt hätte. Aber für mich waren alle gleich. Der Therapeut erklärte mir, dass ein Quadrat für die beste Mutter der Welt, eines für die schlechteste Mutter und das dritte für meine Mutter stehe. Da musste ich über mich selbst und über diese angenommenen Vorwürfe lachen. Plötzlich fühlte ich mich wie neugeboren, kraftvoll und stark. Mir wurde bewusst, dass mein Vorwurf gegen meine Mutter mich daran hinderte, zu ihr zu gehen. Dadurch, dass ich immer noch Erwartungen an sie hatte, war ich eigentlich ein Kind geblieben, war noch nicht richtig erwachsen geworden.
In Meditationen ging ich außerdem in die Zeit vor meinem Trauma zurück. Ich erinnerte die glücklichen Erfahrungen mit meiner Mutter, voller Vertrauen, von ihr gehalten, genährt mit einem Blick voller Liebe. Ich erinnerte scheinbare Kleinigkeiten, durch die ich mich selbstvergessen geborgen fühlte. Mit dem neuen Bild im Herzen schaute ich auf meine Mutter nach dem Trauma. Ich hielt dieses positive Bild fest und ließ es in meiner Seele über das andere, vorwurfbehaftete Bild hinaus weiten Raum gewinnen. Ich setzte mich über meinen früheren Entschluss hinweg und sagte zu meiner bereits verstorbenen Mutter: »Ich komme zurück zu dir.«
Damals erst begriff ich, dass meine Mutter immer für mich da war. Ohne zu klagen, hatte sie alles gemacht – gewaschen, gekocht, genäht, und sie hatte sogar in der Nazizeit für mich, den Regimegegner, wie eine Löwin gekämpft.
Obwohl ich die Bedeutung meiner Mutter für mich erkannt hatte, war ich noch immer nicht mit ihr in vollem Einklang. Vor allem jetzt, in meinem hohen Alter, überfiel mich immer wieder ein Gefühl der Traurigkeit und Verlorenheit, wenn ich daran dachte, dass mein Bruder wohl das Lieblingskind meiner Mutter gewesen ist. Es war an einem Samstag, wenige Wochen vor meinem zweiundneunzigsten Geburtstag, dass ich von diesem Gefühl erneut eingeholt wurde. Da sagte meine Frau Sophie zu mir: »Komm, lass uns das aufstellen.« Sie und eine Freundin, die gerade bei uns zu Besuch war, gingen als Stellvertreterinnen in die Aufstellung, ich wurde später mit hineingenommen. Die Wirklichkeit kam ans Licht, und ich spürte die große Liebe, die meine Mutter immer für mich empfunden hatte. Ja, diese Liebe war immer da, und auch meine Liebe zu ihr. Seitdem ist meine Seele von einem tiefen Frieden erfüllt.
Was zeigt uns das? Sogar mit fast hundert Jahren bleibt man immer noch das Kind; sogar bei einem fast Hundertjährigen entscheidet das Verhältnis zur Mutter über das Wohl und Wehe der Seele. So unfassbar groß ist die Bedeutung der Mutter für unser Leben.
Wo also beginnt unsere Freude an uns? Sie beginnt mit der Freude an unseren Eltern. Ich stelle mir vor, dass Gott auf unsere Eltern schaut, so wie er sie gemacht hat. Wie zeigt er seine Freude über sie? Mit welchem Götterfunkeln? Er findet sie sehr gut.
Erst wenn wir auch unsere Eltern gut finden, so wie sie sind, finden wir uns selbst gut, und mit uns alles andere auch. Hier finden wir die große Freude, eine Freude, die mitreißt. Von ihr mitgenommen reichen wir uns die Hände und tanzen den Tanz des Lebens. Diese Freude ist eine geistige Freude, eine umfassende Freude ohne Wenn und Aber. Sie ist reine Lebensfreude und reines Glück.
Kurz vor meiner Einschulung holten mich meine Eltern zu sich nach Köln. Das war natürlich eine große Veränderung – von der fast ländlichen Idylle ging es in die pulsierende Großstadt. Doch als Kind fügt man sich schnell neuen Umständen, man wird gleichsam in sie mitgenommen. Es bleibt einem ja auch nichts anderes übrig. Ist man bei den Eltern, bewegt man sich dabei in einem sicheren Feld. Das Neue wird dann weniger als bedrohlich, sondern als aufregende Bereicherung empfunden, der man sich neugierig zuwendet.
Als ich nach Köln kam, hatte die Stadt mit Konrad Adenauer als Oberbürgermeister einen beeindruckenden Aufschwung erlebt. Nach Abzug der englischen Besatzungstruppen hatte er dafür gesorgt, dass der Flughafen Butzweilerhof zu einem Verkehrsknotenpunkt im Westen ausgebaut wurde. Bereits 1928 gab es ständige Flugverbindungen nach Berlin, Paris, Amsterdam, Genf, London, Brüssel, Kopenhagen, Hamburg und München. 1929 war mit dem Bau der Autobahn Köln–Bonn begonnen worden, und 1930 kam sogar Henry Ford persönlich in die Stadt zur Grundsteinlegung des neuen Werkes der bis dahin in Berlin ansässigen Ford Motor Company AG. Fasziniert war ich vor allem von dem 1925 fertiggestellten Hansahochhaus in der Neustadt-Nord. Es hatte für die damalige Zeit unglaubliche siebzehn Geschosse und war mit einer Höhe von fünfundsechzig Metern sogar für kurze Zeit das höchste Haus Europas. Besonders freute ich mich, wenn meine Mutter mich in das Kaufhaus Tietz mitnahm. Dort wurde man mit der ersten Rolltreppe Deutschlands vollautomatisch in den nächsten Stock transportiert – für mich immer wieder ein Erlebnis.
Und dann war da natürlich der Kölner Dom. Dieser imposante gotische Sakralbau, der mit seiner weltweit größten, siebentausendeinhundert Quadratmeter messenden Doppelturmfassade die päpstliche Macht Roms und die Bedeutung des katholischen Glaubens in der Region repräsentierte. So beeindruckend und Ehrfurcht einflößend er sich im Herzen Kölns erhob, so vertraut und nah war er mir gleichzeitig. Denn bereits als Fünfjähriger hatte ich den Entschluss gefasst, Priester zu werden.
Diese Idee kam mir einfach so. Beeinflusst wurde sie anfangs sicher durch meinen Großvater. Täglich morgens um sechs Uhr besuchte er in der Zeit, als ich bei ihm lebte, mit mir die Frühmesse. Es beeindruckte mich sehr, welche tiefe Andacht und innere Ruhe die Eucharistiefeier bei ihm bewirkte. Wie schön müsste es doch sein, dachte ich wohl damals, wenn ich selbst als Priester am Altar stünde und eine derartige Wirkung bei den Gläubigen hervorrufen würde. Als Kind konnte ich natürlich noch nicht den wahren Umfang des Priesterberufs erkennen.
Doch auch später, etwa während der Pubertät, wurde mein Berufswunsch nie von einer anderen Vorstellung abgelöst. Meine Entscheidung muss auf der Ebene meiner Beziehung zu Gott gesehen werden, natürlich zu Gott in meiner damaligen Vorstellung. Durch mein Elternhaus befand ich mich in einem religiösen Feld. Insofern war meine Entscheidung nicht frei. Mein Vater und in ganz besonderer Weise meine Mutter waren fest in ihrem katholischen Glauben eingebunden. Meine Mutter war es auch, die mich in meinem Entschluss bestärkte. Der Priesterberuf war damals mit einer großen Reputation verbunden – nicht nur für denjenigen, der sich zu diesem Schritt berufen fühlte, sondern auch für seine gesamte Familie. Sie fühlte sich dadurch ebenfalls Gott näher. Gleichzeitig wurde das Ergreifen des Priesteramts durch ein Kind als eine Art Pfand gegenüber Gott gesehen, damit es der ganzen Familie gut gehe. Meine Frau Sophie allerdings glaubt, dass ich mich unbewusst meiner Mutter zu Gefallen für den Priesterberuf entschieden hatte. Vielleicht hat sie recht – wie in so vielen Dingen.
Mit dem für die damalige Zeit typischen braunen Lederranzen auf dem Rücken, darin Griffel und Schiefertafel mit an einem Band baumelndem Schwamm verstaut, ging es für mich in die Volksschule. Sie befand sich in dem Kölner Stadtteil Ehrenfeld, in dem das berühmte Duftwasser 4711 und das Parfüm »Tosca« für die »Frau ab fünfzig« von der Kölnisch-Wasser-Fabrik Ferd. Mülhens hergestellt wurde. Gepaukt wurde Sütterlinschrift, die in den 1920er-Jahren die deutsche Kurrentschrift abgelöst hatte. Unverändert galt das Motto aus der Kaiserzeit: »Hände falten, Schnabel halten, Kopf nicht stützen, Ohren spitzen.«
Die vierjährige Volksschulzeit war für mich eine Qual. Täglich prügelte mich mein Lehrer mit einem Holzstock. Wenn ich wegen der Schmerzen nicht ruhig auf meinem Stuhl sitzen konnte, ging es aufs Neue los. Aufstehen, nach vorn gehen, über die Bank legen und gezüchtigt werden. Warum der Lehrer es dermaßen auf mich abgesehen hatte, blieb mir ein Rätsel. Doch Lehrer wurden damals als solche Autoritätspersonen geachtet, dass es unvorstellbar war, sich zu beschweren. Das galt für die Eltern – und erst recht für die Schüler.
Auch zu Hause herrschte ein strenges Regiment. Dafür war vor allem mein Vater verantwortlich. Fleißig, immer viel arbeitend und diszipliniert ließ er mir nichts durchgehen. Regelmäßig schlug er mich mit einem Gummischlauch, eine schmerzhafte Züchtigung, die mich zusammen mit seiner Unnachgiebigkeit stark belastete.
Wie sehr ich unter der körperlichen Züchtigung in meiner Kindheit gelitten hatte, zeigte sich vor vierzehn Jahren in Mexiko. Ich besuchte dort einen Körpertherapeuten, der durch das Drücken bestimmter Körperstellen die schmerzhaften Ereignisse aus der Zeit von sechs bis zehn Jahren aktivieren konnte. Die dabei freigesetzten Energien wurden anschließend durch Ausstreichen abgeleitet und die Spannungen durch eine abschließende Massage aufgelöst. Die bei dieser Behandlung erinnerten Schmerzen und inneren Verletzungen waren so stark, dass ich zwei Stunden ununterbrochen geweint hatte. Ich brauchte zwei Tage, um mich davon zu erholen und innerlich zu meiner Mutter zurückzufinden. Nie hätte ich gedacht, dass meine Kindheitserlebnisse solche Auswirkungen haben könnten.
Andererseits unterstützte und förderte mich mein Vater im Laufe der Jahre bei allem, was ich wollte. Ohne meine Mutter besuchte er mit mir die Oper, Konzerte und Museen, ging mit mir zum Schwimmen und auf Radtouren. Auch ermutigte und ermahnte er mich, intensiver Geige spielen zu üben. Insgeheim hoffte er, dass ich Musiker werden würde, um nicht so schwer arbeiten zu müssen wie mein Großvater und er. Meinem Priesterwunsch stand er skeptisch gegenüber, der entsprach eher der Intention meiner Mutter und ihrer Eltern. Dagegen war mein Vater, obwohl gläubig, von der Kirche nicht so angetan.
Jahrzehnte später, als ich mich bereits der Psychotherapie zugewandt hatte, kam ich mit Stanley Keleman zusammen, dem Begründer der Formativen Psychologie und Direktor des Center for Energetic Studies im kalifornischen Berkeley. In einem Gespräch klagte ich über die Strenge meines Vaters und die aus meiner Sicht dadurch bedingte schwere Kindheit. Stanley Keleman schaute mich an, lachte und sagte: »Aber du bist doch stark.« Da begriff ich, welche Kraft von meinem Vater auf mich übergegangen war und wie wichtig er durch seine Strenge für mich war. Von dem Moment an war ich ihm tief verbunden.
Wir erfahren uns betroffen, wenn uns eine Nachricht bis ins Herz getroffen hat. Betroffen fühlen wir uns auch, wenn wir erkennen, dass wir auf einem Weg waren, der uns eher von anderen weggeführt als zu ihnen hingeführt hat. Betroffen kehren wir um und zu ihnen zurück.
Natürlich haben unsere Eltern auch Unzulänglichkeiten und Schwächen. Manches haben sie aus unserer heutigen Sicht falsch gemacht. Nun stelle man sich vor, man hätte ideale Eltern gehabt, in jeder Hinsicht ideal, und alles wäre wunderbar gelaufen. Wie tüchtig wäre man für das Leben? Gerade die Fehler, die Herausforderungen, das, was uns auch manchmal mit großem Leid abverlangt wurde, geben uns eine besondere Kraft, wenn wir dem zustimmen.
Man kann das für sich einüben. Man schaut alles an, was in seiner Familie abgelaufen ist. Man sieht, was man ausklammern will, was man weghaben will und wie arm man wird, wenn man sich so verhält.
Jetzt geht man den umgekehrten Weg. Man schaut alles an, genauso wie es war, und sagt: »Ja. So war es. Ich stimme ihm zu, genauso wie es war. Jetzt mache ich etwas daraus. Ich lerne davon und gewinne Kraft.«
Jetzt kann man sich vorstellen, wie es ist, wenn jemand aus einer idealen Familie kommt. Kann er mit anderen mitfühlen? Kann er Barmherzigkeit fühlen? Oder ist er vom lebendigen Leben weitgehend abgeschnitten? Wenn man jetzt auf sich schaut und auf andere, die manches Schwere mitgemacht haben – wie anders können sie mit anderen mitfühlen und wie viel mehr Kraft haben sie, auch anderen beizustehen und andere zu lieben?
Der 30. Januar 1933. Der Tag, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte. Es war ein nasskalter Tag in Köln mit Schneebuckeln auf den Bürgersteigen. Mittags um zwölf Uhr war die Nachricht im Radio verkündet worden. Extrablätter wurden verkauft, und Menschenmassen hatten sich auf dem Neumarkt versammelt. Am Abend kam mein Vater zur Tür herein und sagte zu meiner Mutter: »Hitler ist Reichskanzler.« Meine Eltern waren sehr bedrückt. Sie ahnten, dass jetzt der Weg in die NS-Diktatur frei sein würde. Ich war damals über die Reaktion meiner Eltern erstaunt und fragte, warum alle so euphorisch seien, nur sie nicht. Mein Vater antwortete: »Alle, die jetzt so euphorisch sind, werden zu spät erkennen, wie viel das, was auf uns zukommt, kosten wird. Ich habe Angst, wirklich Angst.«
Trotz des schlechten Abschneidens der NSDAP bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 hatte sich die Hoffnung zerschlagen, dass der braune Spuk bald vorbei sein dürfte. Bereits am Abend zogen betrunkene SA-Leute grölend durch die Straßen Kölns und zwangen Passanten zum Hitlergruß. Am nächsten Tag gab es einen Marsch der braunen Horden von Deutz zum Rudolfplatz mit einer »deutschen Weihestunde« in den Messehallen. Das Geschehen wurde von den Kölnern eher teilnahmslos beobachtet und mit flapsigen Bemerkungen bedacht. Doch schon wenig später sollten sich viele für die Nationalsozialisten begeistern. Hunderte Kölner Kommunisten und Sozialdemokraten wurden in den folgenden Wochen von der SA verschleppt, misshandelt und umgebracht. Das alles mit Duldung und sogar unter Beteiligung der Polizei. Bereits am 1. April beauftragte außerdem der Personaldezernent der Stadt die Verwaltung, alle Juden zu melden, eine Anweisung, die sogar über die erst 1935 beschlossenen Nürnberger Rassegesetze hinausging.
Meine Eltern waren durch ihren tiefen Glauben gegen die Verführungen des Nationalsozialismus gefeit. Obwohl viel Druck auf ihn ausgeübt wurde, weigerte sich mein Vater während der gesamten NS-Zeit, der Partei beizutreten. Dazu gehörte größter Mut.
Ich erinnere mich an einen Sonntag wenige Wochen nach der Machtübernahme. Meine Eltern wollten mit uns Kindern einen Ausflug ins Bergische Land machen. Nach der Frühmesse warteten wir auf die Straßenbahn. Da kam ein SA-Mann und machte meinem Vater gegenüber eine Bemerkung. Was mein Vater ihm antwortete, weiß ich nicht, aber es muss die Wut des SA-Manns entfacht haben. Er brüllte meinen Vater an und wollte ihn verhaften. Das hätte er gedurft. Denn Hermann Göring, Reichskommissar für das preußische Innenministerium und damit Dienstherr der preußischen Polizei, hatte nach der Machtübernahme kurzzeitig die SA als staatliche »Hilfspolizei« eingesetzt.
In diesem gefährlichen Moment kam zum Glück die Straßenbahn, und wir stiegen schnell ein. Der Fahrer schloss sofort die Tür und fuhr los. Doch der SA-Mann verfolgte uns brüllend auf einem Fahrrad. Der Fahrer überfuhr die nächsten Haltestellen, bis er den SA-Mann abgehängt hatte. Die Fahrgäste klatschten Beifall. Diese Haltung der Bevölkerung sollte nicht lange währen.
Das Jahr 1936 wurde für mich ein Wendejahr. Es führte mich auf eine Bahn, die für die Hälfte meines gesamten Lebens bestimmend werden sollte. Noch ahnte ich nichts davon. Die vier Volksschuljahre waren beendet, und ich wechselte ins Aloysianum, einem 1910 in Lohr am Main gegründeten Studienseminar und Internat der Mariannhiller Missionare. Meine Mutter hatte durch eine Bekannte von der Einrichtung des römisch-katholischen Männerordens gehört, der hauptsächlich in der Afrika-Mission tätig war. Sie sah im Besuch des Internats eine gute Vorbereitung auf meinen angestrebten Priesterberuf. Mein Vater fügte sich, wenn auch zunächst zögernd, der Entscheidung meiner Mutter und erklärte sich bereit, für die Kosten aufzukommen.
Für meinen Aufenthalt im Internat hatte meine Mutter einen riesigen Koffer gepackt, der beim Tragen über den Boden schleifte. Am Kölner Bahnhof setzte sie mich in den Zug und verabschiedete sich einfach. Ich ging allein auf die Reise in mein neues Leben. Während der Fahrt lösten sich in mir widerstreitende Gefühle ab – einerseits Angst, Furcht und Verzweiflung, andererseits freudige Aufgeregtheit und Erwartung, etwa im Sinne von: endlich! Zum Glück waren im Zug noch andere Kinder, die mich von meinen Gedanken ablenkten und für eine kurzweilige Fahrt sorgten.
Während das Aloysianum sozusagen mein neues Zuhause wurde, besuchte ich das Franz-Ludwig-von-Erthal-Gymnasium des Ortes, ein Lateingymnasium, benannt nach dem 1730 in Lohr am Main geborenen Fürstbischof von Würzburg und Bamberg. Der Orden unterhielt keine eigene Schule. Während bis ١٩٣٣ trotz der wirtschaftlichen Notlage der Dreißigerjahre bis zu hundertfünfzig Schüler im Aloysianum lebten, gingen nach der Machtergreifung Hitlers die Schülerzahlen zurück. Das lag an der Diskriminierung klösterlicher Bildungseinrichtungen.
Noch heute sehe ich die vom Barock beeinflusste dreigeschossige Anlage mit drei Querbauten vor meinem geistigen Auge; die lichtdurchfluteten Gänge; die jugendstilverglasten Fenster; die Treppen mit schmiedeeisernen Geländern und glatten Handläufen aus Holz; die Anstaltskirche mit Zwiebelhaube. Im Aloysianum fühlte ich mich daheim. Es war für mich eine schöne Zeit. Nie litt ich an Heimweh. Denn in dieser anderen Welt hatte ich viel mehr Möglichkeiten und auch Freiheiten als in meinem Elternhaus. Und vor allem: endlich keine Prügel mehr!
Wie viel mir das Aloysianum bedeutete, wurde mir schon an einem Sommertag in meinem ersten Internatsjahr bewusst. Ich ging mit Freunden zum Schwimmen an den Main. Am Ufer fanden wir ein großes Brett, mit dem wir uns wie auf einem Floß den Fluss hinuntertreiben ließen. Doch das war uns von den Patres ausdrücklich verboten worden. Plötzlich sah ich am Ufer meinen Lieblingslehrer stehen. Auch er hatte uns entdeckt. Obwohl wir sofort unsere Floßfahrt beendeten, wurden wir zu ihm gerufen und zur Rede gestellt. Er erklärte, dass unser Verhalten ihn in größte Schwierigkeiten hätte bringen können, falls uns etwas passiert wäre. Denn das Internat wäre für unser Wohlergehen und unsere Sicherheit verantwortlich. In den nächsten fünf Tagen wollte er sich überlegen, ob er unsere Eltern über den Vorfall unterrichten würde. Das hätte den Verweis vom Internat bedeutet.
Wie auch in meinem Elternhaus bewegte ich mich im Internat in einem vor der NS-Ideologie geschützten, sicheren Feld. Das unterschied uns, die wir dort lebten, von anderen Jugendlichen. Keiner von uns ging zum Jungvolk oder zur Hitlerjugend. Wir hatten dadurch kaum Berührungspunkte mit dem System.
Doch einige Patres des Internats sowie einige Schwestern, die in der Küche tätig waren, hielten sich nicht daran und stimmten mit Nein. Das wurde bemerkt. Noch am selben Abend versammelten sich nach einem Fackelzug mehrere SA-Männer vor dem Aloysianum und schmierten in großen Lettern auf die Hauswand »Hier wohnen Verräter« und »Wir wählten mit Nein«. Dann warfen sie rund 200 Fensterscheiben ein. Auch in meinen Schlafsaal flogen Steine. Am nächsten Tag wurden der Direktor und der Präfekt des Internats in Schutzhaft genommen. Dieses Verfahren unterlag keiner richterlichen Kontrolle und wurde bevorzugt gegen Regimegegner eingesetzt. Auf sie wartete danach meist eine lange Leidenszeit, häufig auch Ermordung im KZ.
Auch in den folgenden Jahren wurde ich im Aloysianum Zeitzeuge des Wahnsinns des NS-Regimes. Es begann mit dem berühmten 1. September 1939, als Hitler im Reichstag verkündete: »Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen.« Mit dem Überfall auf Polen war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, der knapp sechzig Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Nach einer Politik des Abwartens erklärten zwei Tage später Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Doch schon 1938 hatte die Parteiführung mit geheimen Planungen für eine Evakuierung der Bevölkerung in den Grenzgebieten begonnen. Das sollte gravierende Auswirkungen auf das Aloysianum haben.
Die Rückgeführten wurden im Inneren des Deutschen Reiches untergebracht. So auch bei uns im Aloysianum. Dafür wurde der gesamte untere Teil als Massenquartier beschlagnahmt. Erst knapp ein Jahr später, nach Beendigung des Frankreichfeldzugs und nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne, konnten die Evakuierten in ihre Heimat zurückkehren.
Voraussetzung für diese Völkerwanderung war der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Er legte fest, welche Gebiete Osteuropas an die Sowjetunion fallen sollten. Die Umgesiedelten erhielten als Entschädigung enteignetes Land im von Deutschland besetzten Polen, im Protektorat Böhmen und Mähren sowie in der Untersteiermark. Dafür wurden bereits vor dem Angriff auf die Sowjetunion Polen und Juden aus den für die »Volksdeutschen« reservierten Gebieten vertrieben oder in Ghettos gesperrt.
Zehntausende Umsiedler wurden aber auch ins Reichsgebiet selbst gebracht, wo sie im Gegensatz zu den vollmundigen Versprechungen größtenteils in Lagern hausten. Für die Unterbringung beschlagnahmten die Behörden vorzugsweise Einrichtungen der katholischen Kirche. So fanden auch rund vierhundert Personen unterschiedlichster Herkunft, Kultur und Weltanschauung im Aloysianum eine Bleibe.
Meine Familie war mittlerweile nach Kassel umgezogen, wo mein Vater in einem Rüstungsbetrieb beschäftigt war. Ich besuchte das traditionsreiche und älteste Gymnasium der Stadt, das 1779 gegründete Friedrichsgymnasium. Hier hatten schon die Brüder Grimm ab 1798 die Schulbank gedrückt. Prominentester Schüler war ab 1874 Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm II., der hier 1877 sein Abitur bestand. So wie am Franz-Ludwig-von-Erthal-Gymnasium in Lohr am Main wurde auch am Friedrichsgymnasium besonderer Wert auf das Fach Latein gelegt. Das war vor allem wichtig in Hinblick auf meinen Wunsch, Priester zu werden. Bis heute ist Latein eine Amtssprache des Vatikan, auch wenn sie sich immer mehr im Rückzug befindet und durch Italienisch ersetzt wird. Und erst innerhalb des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 wurde beschlossen, Latein als offizielle Gottesdienstsprache abzuschaffen.
Im Hause Wuermeling verkehrten viele Jesuiten. Ihre Art zu reden und zu diskutieren, ihre Weltoffenheit und geistige Brillanz, ihre profunde theologische und philosophische Ausbildung, aber auch ihre Disziplin beeindruckten mich tief. Im Unterschied zu anderen Orden verzichten sie auf eine Ordenstracht und leben nicht zurückgezogen in Klöstern. Sie sind nicht im herkömmlichen Sinne gehorsam, jeder von ihnen ist selbstständig. Mit großem Respekt stand ich vor ihrer geistigen Freiheit. Nicht ohne Grund gelten die Jesuiten bis heute als die intellektuelle Speerspitze der katholischen Kirche. Ihre Ausstrahlung tat mir damals gut, denn sie waren das Gegenteil der Nationalsozialisten. Während der NS-Zeit galten sie als »Volksschädlinge«. Viele wurden mit Predigtverboten belegt, in Konzentrationslagern interniert und ermordet.
Ich hatte mich damals auch einer kleinen verbotenen katholischen Jugendgruppe angeschlossen, die offenbar von der Gestapo beobachtet wurde. Die regelmäßigen Treffen fanden heimlich statt. Immer wieder kamen aber HJ-Mitglieder bei uns zu Hause vorbei, um mich zum Dienst abzuholen. Meine Mutter behauptete dann jedes Mal, dass ich nicht da wäre. Doch irgendwann wurde mein Fernbleiben zu einer nahenden Bedrohung für meine Familie. Auf Wunsch meiner Eltern spielte ich dann alle vierzehn Tage in einem HJ-Orchester Geige.