Für meine Eltern
In Erinnerung an Günter Schabowski
»Wer die Vergangenheit nicht kennt,
ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.«
George Santayana
Mittwoch, 19. Oktober 2011
1
Wegener öffnete den Reißverschluss der Cordhose, zog mit zwei Fingern seinen Penis heraus und entspannte sich. Ein paar Sekunden war es vollkommen still, dann prasselte der heiße Urin auf das trockene Laub, immer schubweise, ein Schwall versiegte, dann kam der neue, wuchs zu einem dampfenden Bogen und verkümmerte wieder, wurde vom nächsten abgelöst. Wegener stellte sich breitbeiniger hin, zählte mit, zum zehnten, zum elften, zum zwölften Mal baute sich der dünne Strahl auf, krümmte sich und ging ein, plötzlich unterbrochen, dann tröpfelte es nur noch.
Wer sich vom Tatort entfernt, sollte wenigstens nicht mit bepissten Schuhen zurückkommen, hatte Früchtl immer gesagt und es selbst nie geschafft, und wenn er vorher nichts gesagt hätte, wären seine Schuhe hinterher niemandem aufgefallen.
Wegener legte den Kopf in den Nacken. Starrte in die Nacht. Die Metallverkleidung der Pipeline glänzte im Mondlicht, ein silbriger Streifen, der sich rechts und links zwischen den Bäumen verlor. Dieser Streifen würde weiterglänzen, wenn man ihm folgte, wenn man im immer gleichen Abstand zur Leitung bliebe und das Mondlicht im richtigen Winkel auf das Blech treffen ließ, durch ein verschwommenes Labyrinth aus Eichenstämmen und den Betonpfeilern des Pipeline-Viadukts, kilometerweit über den knisternden Laubboden bis zur Sektorengrenze.
Diese Röhre leuchtet einem immer noch den Weg in den Westen, dachte Wegener, diese Röhre ist der fette Ariadnefaden des Sozialismus. Und musste lächeln. Oben würden sie sich das anhören und die Köpfe wiegen und sagen: Oberflächlich betrachtet, bitte, aber wer genau hinsehe, dem falle doch wohl auf, dass diese Röhre vielmehr den Weg in den Osten leuchte, tief hinein in die Sozialistische Union, bis in den Ural, sogar bis nach Sibirien, das sei doch ein entscheidender Unterschied, nur das Gas wandere schließlich westwärts, sonst nichts.
Wegener schüttelte seinen Penis, schob ihn zurück in die Hose, zog den Reißverschluss hoch. In der Tiefe des Waldes flammten die Scheinwerfer der Spurensicherung auf, gleißende, durch Baumstämme zerteilte Flecken, die immer mehr wurden, die schnell zu einem großen Fleck zusammenwuchsen, auf den er jetzt halbblind zusteuerte wie auf das Licht am Ende eines lichtlosen Tunnels, über Äste und Gesträuch stolpernd, bis es hell genug war für einen Blick auf seine Schuhe: Zwei Flecken auf dem rechten, einer auf dem linken.
Acht Strahler hatten Lienecke und seine Leute aufgestellt, je vier auf jeder Seite der Pipeline, die jetzt nicht mehr silbrig glänzte, sondern fleckig und vermoost aussah, der größte unter den vielen, schäbigen Versorgungskanälen, die Ostdeutschland in immer dünnere Streifen schnitten. Hinter dem flatternden Absperrband waren der Vertreter des Energieministeriums und seine Sicherheitsbeamten längst zu gelangweilten Gaffern erstarrt. Neben ihnen brummte der Generator auf seinem Hänger, rote Kabel schlängelten sich wie ausgehärtete Blutspuren den Hügel hinauf durchs Laub. Lienecke verteilte kartonweise Müllbeutel. Seine Assistenten begannen so ameisenartig Laub zu harken und in die Säcke rieseln zu lassen, als hätte das Politbüro gerade mit sofortiger Wirkung trockene Blätter verboten. Wie immer, wenn er Lienecke und seine Leute bei der Arbeit sah, tauchend, kletternd, grabend, abklebend, schabend, eintütend, sortierend, fegend, kratzend, war Wegener froh, mit solchen Puzzlespielen nichts zu tun zu haben, sich auf diese Typen verlassen zu können, die früh genug erkannt hatten, dass Glück und Unglück von einem Tropfen Schweiß, Sperma oder Urin auf dem Schuh abhingen und dass unerschöpfliche Geduld eine seltene Gabe war, mit der man es weit bringen konnte, vor allem in der Deutschen Demokratischen Republik.
Keiner der Assistenten redete während der Arbeit. Auch Lienecke sagte nichts. Nur der Generator brummte und das Laub raschelte. Ab und zu knackte ein Ast. Die sechs gleichmäßig wühlenden Männer in den weißen Ganzkörperanzügen kamen Wegener vor wie seltsam beherrschte Tiere auf einer ebenso mühseligen wie vergeblichen Nahrungssuche. Diese Spurensucher-Spezies verständigte sich mit unsichtbaren Zeichen, steckte telepathisch ihr Revier ab, besaß eine geheime Choreografie, stakste wie eine lethargische Population Albino-Storche über den Waldboden, synchrone Zeitlupe, alle in Reihe, ein Schritt pro Minute. Wegener drehte sich zu den beiden Uniformierten um, die an ihrem Phobos lehnten und rauchten, ohne jeden Sinn für Lieneckes betuliches Ballett. Die Volkspolizisten starrten in die Dunkelheit, beneideten vermutlich ihre Kollegen, die schon vor mehr als einer Stunde mit dem Jäger und seinen beiden sabbernden Kötern zum Revier gefahren waren, zogen an krummen Kippen, ihre Nasen umgedrehte Schornsteine, die den Rauch nach unten bliesen, aber der ließ sich nicht täuschen und trieb unbeirrt nach oben.
Wegener hockte sich hin. Griff in trockene Blätter. Hier hatte es seit Tagen nicht geregnet. Vielleicht sogar seit Wochen nicht. Auf Reifenspuren durften die Laubsammler kaum hoffen. Fußspuren noch unwahrscheinlicher. Blieb die ewige Hoffnung auf unbewusst ausgespuckte Kaugummis, Lackspuren an Eichenrinde, Notizzettel, die durch Hosentaschenlöcher gerutscht waren. Wegener stand wieder auf und lehnte sich an einen Baumstamm. Seine Armbanduhr zeigte Viertel nach neun. Mit Glück würde hier um elf abgebaut. Mit Pech irgendwann zwischen eins und zwei.
Der Kommissar ist vierundzwanzig Stunden am Tag misstrauisch, hatte Früchtl gesagt, und der misstrauische Kommissar bleibt bis zum Schluss. Der misstrauische Kommissar misstraut den Kollegen, der Spurensicherung und dem Mordopfer, weil er der Misstrauer Nr. 1 ist. Der misstrauische Kommissar misstraut an erster Stelle sich selbst. Vertrauen kannst du auf Gott, hatte Früchtl gesagt, und bei uns noch nicht mal auf den.
Lieneckes Truppe rückte jetzt langsam zur Pipeline vor. Neben dem Generator stapelten sich prall gefüllte Säcke. Der nackte Waldboden war eine schrumpelige, braune Haut voller Wurzeladern und Löcher, aber ohne Kaugummis und Notizzettel. Lienecke hob die rechte Hand. Seine Männer nickten. Das sind die Bilder, die mir im Kopf herumlaufen, wie in einem Hamsterrad, wenn ich neunzig bin, dachte Wegener, als Endlosschleife, im Altenheimbett, wenn auch die letzten Synapsen zusitzen und der Speichel in Fäden auf die Bettwäsche tropft. Wenn andere im Delirium von ihren Ginsterbüschen und Kasselerbraten und FDJ-Hanseln gequält werden, dann sehe ich zwei quarzende Vopos vor einer erleuchteten Blätterinsel, auf der die Ku-Klux-Klan-Ortsgruppe Köpenick in Zeitlupe tanzt, stakst, raschelt, während im Hintergrund ein Toter baumelt. Und die Schwester sagt: Aber Herr Wegener!, und geht mir mit der behandschuhten Hand über die letzten grauen Haare, fast zärtlich, so, als hätte die Hand gar keinen Handschuh an, das ist doch alles schon lange vorbei, Herr Wegener, das war einmal, Ihr Wald, Ihre Blätterinsel, Ihr Ballett, Ihr Toter, die dicken Vopos, der Energieministeriumsvertreter. Das haben Sie hinter sich, das spielte mal sieben oder zehn Tage lang eine Rolle in Ihrem Leben, eine Hauptrolle vielleicht sogar, aber danach nicht mehr, niemals, nie. Wegener merkte, wie die Müdigkeit ihn plötzlich packte. Wie die sich dumpf um seinen Kopf wickelte, eine bordsteinkantendicke Schaumstoffmatte, alles dämmend, alles verschluckend. Am liebsten wäre er sofort an dem rauen Stamm nach unten gerutscht, ins trockene Laub, hätte sich knisternd zusammengerollt und Lienecke gebeten, die Lampen auszumachen, ganz schnell, alle acht.
Einer der Vopos grunzte.
Wegener drehte sich um.
Zwei helle Punkte flimmerten weit entfernt über den Forstweg und kamen langsam näher.
Lienecke hob den Kopf, nickte, sah wieder nach unten.
Seine Assistenten brachen ihre Buddelei ab und verstellten den Winkel der vorderen Strahler. Die Lichtkegel ruckten nacheinander in Richtung Pipeline, illuminierten eine triste Naturbühne, die Show konnte beginnen. Der glänzende, lang gezogene Phobos Prius wurde sichtbar. Sein ovaler Kühlergrill funkelte. Über dem Wagen leuchtete plötzlich auch die Leiche. Aus dem Schatten der Gasleitung herausgeschnitten, erschien sie jetzt grell vor dem Waldschwarz, eine schlaffe, schwebende Marionette an einem einzigen Faden. Dieser Tote dreht uns allen den Rücken zu, dachte Wegener, der hängt zwar am Strick, aber mit der Polizei will er deshalb noch lang nichts zu tun haben. Sein Geheimnis gehört ihm. Keine Lust auf nikotinsüchtige Vopos, Lieneckes Laubsammelroboter, einen hundemüden Ermittler. Hier interessiert sich keiner für den anderen. Hier hat jeder seinen exakt abgegrenzten Job: Hängen, Rauchen, Starren, Suchen. Für eine Sekunde wurde Wegener das Bizarre, das jeder Tatort mit sich brachte, wieder bewusst, die unwirkliche Verbindung von angehaltener Zeit und automatisierter Betriebsamkeit, die Gegenstandswerdung eines Menschen, die erzwungene, willkürliche Gemeinschaft, an der keiner der Anwesenden jemals ein Interesse gehabt hatte. Der Zufall, der den einen hängen und die anderen buddeln ließ und der auch das Gegenteil hätte veranstalten können. In der aktuellen Konstellation bin ich Volkspolizeihauptmann, dachte Wegener, und der aufgeknüpfte dürre Alte mit dem teuren Mantel, der Seidenkrawatte, der goldenen Uhr und den zusammengebundenen Schnürsenkeln ist das Opfer. Fünfundsiebzig, achtzig Jahre Leben enden unter der Nordmagistrale am Müggelsee, warum auch immer, und schon geht das ewige Theater von vorne los, die Ermittlungsfabrik, die Fragen, die Lügen, die Ahnungen, immer gibt es nur fünf mögliche Antworten, natürliches Ableben, Unfall, Suizid, Totschlag, Mord, ein Ergebnis so wenig hilfreich wie das andere, jedes Resultat kommt immer zu spät, befriedigt höchstens Beamtenehrgeiz und Verwandtenschmerz, bleibt belanglos.
Die hüpfenden Lichtkegel auf dem Forstweg waren inzwischen zu zwei Scheinwerfern geworden, die jetzt die leichte Steigung herunterkamen, durch die Senke rollten, einen Bogen drehten, blendeten. Der Auspuff röchelte, Wartburg Aktivist, dachte Wegener, alt, aber gepflegt. Der Wagen stoppte neben dem Generator. Das Röcheln verstummte. Die Ministeriumsdelegation glotzte. Zwei Aluminium-Heckflossen schimmerten, eine Rapsol-Wolke wehte herüber, der ewige, überhitzte Frittierfettgestank, dann gingen die Scheinwerferaugen aus, die Innenbeleuchtung an, ein blonder Mann kramte in einer Tasche, packte etwas hinein, öffnete die Wagentür, kletterte heraus, grüßte die Gaffer, warf die Tür ins Schloss, kam auf Wegener zu.
»Doktor Sascha Jocicz«, sagte der Blonde mit etwas atemloser Stimme, »Gerichtsmedizin Mitte, Bereitschaft.«
»Martin Wegener, Kripo Köpenick«, sagte Wegener und musste einen langen, schmerzhaften Händedruck über sich ergehen lassen.
»Oberstleutnant Wegener?«
»Hauptmann, Herr Doktor.«
Der Doktor lächelte nicht, wenn er bei der Arbeit fremde Hände quetschte, also lächelte Wegener auch nicht. Jocicz gab ihn frei und betrachtete die Pipeline, den Toten, den glänzenden Prius, die Laubsäcke. Sein Blick wanderte von rechts nach links über die Szenerie, von links nach rechts wieder zurück. Eingescannt, dachte Wegener. Jocicz drehte sich um, stiefelte zu seinem Wartburg, öffnete zackig die Kofferraumklappe, hob zackig einen großen Metallkoffer heraus, schlug zackig die Kofferraum-Klappe zu, überprüfte seine Frisur in der spiegelnden Heckscheibe, ging sich zärtlich mit der Hand über den Scheitel. Besteht fast nur aus Kanten, dachte Wegener, eckiger Schädel mit eckigem Kinn. Darunter eckige Schultern. In der Hose vermutlich Beine wie Stahlträger. Muskulöse Balken, um extra zackig zu marschieren.
»Wer knattert so spät durch Nacht und Wind?« Lienecke duckte sich unter dem Absperrband durch.
»Belesen ist er auch noch, der Kollege.« Jocicz gab Lienecke die Hand, beide griffen zu, ohne eine Miene zu verziehen.
»Na, Ulf.«
»Na, Sascha.«
Wegener überlegte, wer fester drückte, Ulf oder Sascha.
»Der Anlasser?« Lienecke befreite seine Hand, um sich damit am Kopf zu kratzen. Der Gerichtsmediziner hatte gewonnen.
»Kriegen sie nicht hin. Zumindest nicht bei der Winterbaureihe. Und das ist ja schon der zweite dieses Jahr. Zuverlässig bricht das Ritzel.«
»Was kostet ein Anlasser bei den Wartburgs?«
»Zu viel. Aber beim neuen Agitator ist ja angeblich alles anders.« Jocicz ließ seinen Metallkoffer aufschnappen und zog einen weißen Schutzanzug heraus.
»Sie kennen jemanden, der einen Agitator fährt?«, fragte Wegener und sah in den Himmel. Kräftiger Wind hatte die Baumkronen gepackt. Der ganze Wald fing an zu rauschen.
»Ich kenne sogar jemanden, der einen Phobos Datscha fährt.«
»Ich auch«, sagte Lienecke, »Achtung Krenz.«
Jocicz grinste ein eckiges Grinsen und kletterte in seinen Anzug.
»Was erwarten Sie von den Gas-Konsultationen mit Westdeutschland, Herr Hauptmann? Meine Mutter sagt immer, alle Politiker sind Verbrecher. Da müsste ein Kriminalbeamter doch längst was im Urin haben.«
»Wahrscheinlich liegt Ihre Frau Mutter richtig«, sagte Wegener. »Eins ist sicher, am Ende wird niemand verhaftet.«
»Da haben Sie Recht. Verhaftet wird von denen keiner.«
»Lafontaine schlägt sich in Weimar den Bauch mit Thüringern voll«, sagte Lienecke, »währenddessen streiten sie zwölf Stunden über den Gaspreis, dann fährt er wieder. In seinem VW Phaeton samt Sitzheizung und funktionierendem Anlasser.«
»Mit zwölf Stunden kommst du nicht aus.« Wegener betrachtete den Toten, der sich jetzt leicht im Wind bewegte. Das Rauschen in den Baumkronen war stärker geworden. Ein fliegendes Ozeangetöse. Blätter schwebten durchs Strahlerlicht wie große goldene Schneeflocken. »Wer schafft mehr Würste? Lafontaine oder Achtung Krenz?«
»Guck dir Achtung an, das Beuteltier. Im Wurstwettfressen zieht der jeden ab.«
»Das gibt sechs Monate, Sascha.«
»Beuteltier hab ich gesagt, nicht Sack voll Speck. Beuteltier gibt nur drei.«
Wegener drehte sich um und starrte in die Dunkelheit, spürte plötzlich, dass da noch jemand war, irgendwer, der ihn im Blick hatte, der alles beobachtete. Der an einem Eichenstamm lehnte, mit Nachtsichtgerät und Richtmikrofon. Der viel erzählen konnte über das Wenige, was hier in den letzten Stunden passiert war, und der sich nur noch wünschte, dass dieser Suchtrupp endlich fertig würde mit seiner sinnlosen Jagd nach Spuren, die es nicht gab, weil sie längst entfernt worden waren. Damit auch der Beobachter der Beobachter endlich nach Hause gehen durfte.
Ich kann euch riechen, dachte Wegener, ihr Spitzel, hinter euren Büschen und Mauern und Maskeraden, wenn ich mich auf irgendwas verlassen kann, dann auf meine Nase, ihr stinkt mir, Brüder, von den Dachböden, aus den Kellerverschlägen, hinter Müllcontainern, ich wittere eure Zigarettenstummel, eure Wanzen, eure Teleobjektive, eure Selbstgewissheit, die vor allem.
Wegener starrte immer noch.
Lienecke und der eckige Gerichtsmediziner sahen ihn an.
Niemand sagte was.
Blätterrauschen und Generatorbrummen, sonst nichts. Wer immer da gestanden hatte, jetzt zog er sich zurück, geräuschlos, unsichtbar. Das wäre der Moment, den Vopos in die Ärsche zu treten, dachte Wegener, mit Taschenlampen in den Stadtforst zu rennen, bis sich vielleicht von irgendeinem Baumstamm der flüchtende Schatten lösen würde, den man ohnehin nie erwischte, aber von dem man dann wenigstens wüsste, dass es ihn wirklich gab. Einer von Lieneckes Männern rief etwas, bückte sich, kniete im Laub. Lienecke setzte seine Brille auf und stieg über das flatternde Band.
»Der deutsche Wald«, sagte Jocicz, »ist genau so lang ein Quell der Freude, bis man ihn nach Fingerabdrücken durchsuchen muss.«
Wegener trat an das Absperrband. »Was dagegen, wenn ich mir Ihre Arbeit aus der Nähe angucke?«
»Bei Josef Früchtl gelernt?«
»Zum Glück.«
»Dann kann ich wohl nicht nein sagen.«
»Nein«, sagte Wegener, »können Sie nicht.«
Jocicz zupfte an seinem Schutzanzug. »Im Koffer ist noch einer.«
Jetzt wurden auch die vier Strahler auf der anderen Seite der Pipeline neu ausgerichtet. Der Tote hing plötzlich im Gegenlicht, die Röhre war ein schmutziger Wulst aus gebogenem Blech, Schweißnähten und dicken Schraubenmuttern. Aufgeschreckte Falter kreiselten durch die Tageshelligkeit, noch einmal lebendig, morgen holt euch der kalte Herbst im Schlaf von euren Ästen, dachte Wegener und stieg in den viel zu großen Kunststoffanzug. Die Vopos drehten sich weg, rauchten weiter in die Dunkelheit.
Jocicz wartete am Absperrband. Der Anblick eines Hauptmanns in Frischhaltefolie machte das Kantengesicht ein wenig runder. Jocicz stiefelte los, Wegener folgte ihm über den gesäuberten Boden, im Halbkreis um den rechten Betonpfeiler der Pipeline. Mit jedem Schritt wurde ein bisschen mehr von dem Erhängten sichtbar, der sich seinen Besuchern nun zögerlich zuwandte, bis er schließlich ein faltiges Wachsgesicht zeigte, krumme Schnabelnase, buschige Brauen, weißer Kinnbart. Jocicz blieb vor dem Toten stehen und leuchtete ihn Zentimeter für Zentimeter mit der Taschenlampe ab. Schob die Hosenbeine hoch und untersuchte die blassen, haarigen Waden. Drückte seinen Handschuhdaumen in das fahle Fleisch. Fotografierte die leicht gekrümmten Hände, die verfärbten Nägel, die Gelenke. Betrachtete die ausgelatschten Schuhe mit den zusammengebundenen Schnürsenkeln, fotografierte sie und sagte nichts. Seine Bewegungen hatten alles Zackige verloren. Wie eine Katze schlich er um den schlaffen Körper, machte sich Notizen, stieg auf eine Leiter, befingerte den Leichenhinterkopf, die grauen Haare, das erstaunte Gesicht, leuchtete mit seiner Taschenlampe in die toten Augen, kam wieder herunter.
Wegener sah zu. Als Jocicz fertig war, saßen die Silhouetten der beiden Vopos reglos im Wagen, Köpfe auf der Brust. Die Ministeriumsgruppe diskutierte. Lieneckes Männer hatten den kompletten inneren Ring der Absperrung vom Laub befreit. Einer verlud die Säcke auf zwei abgedeckte Hänger, die anderen liefen hinter der Flatterbandgrenze mit Handstrahlern durch den Wald. Betrunkene Riesenglühwürmchen, die nichts finden würden, solange sie nichts finden sollten.
»Wenn ich bitten darf.« Jocicz hatte seine freundlichste Stimme ausgepackt.
Wegener versuchte trotz der Müdigkeit ein interessiertes Gesicht hinzukriegen.
»Sie wollten doch gern dabei sein.« Jocicz schob die Klappleiter etwas näher an die Pipeline, stieg auf der rechten Stufenreihe hoch und machte eine einladende Handbewegung, ihm auf der linken zu folgen. Wegener zog Handschuhe aus der Schutzanzugtasche, streifte sie über, prüfte den Stand der Leiter.
»Alles sicher«, rief Jocicz von oben.
»Der misstrauische Kommissar überprüft die Leiter«, sagte Wegener mehr zu sich selbst und kletterte, bis Rücken und Nacken des Toten vierzig Zentimeter vor seinem Gesicht waren. Jetzt konnte er den dunklen Ring sehen, den die Schlinge in den langen Hals fraß. Unten der Phobos Prius wie ein zu früh bestellter Leichenwagen. Zwei Dellen im schwarzen Dach.
Jocicz guckte dem Hängenden über die Schulter, seine Hände tasteten, die Gummifinger kletterten am strammen Seil hoch, wurden zur Faust, zogen kurz und kräftig daran.
Wegener sah Jocicz direkt in die Augen. Jocicz hielt dem Blick stand.
»Eine Hinrichtung«, sagte Wegener.
»So sieht es aus«, sagte Jocicz.
»Oder die Inszenierung einer Hinrichtung.«
»Auch das ist möglich.«
»Wann?«
»Vor rund 48 Stunden«, sagte Jocicz. »Eher etwas weniger. Tod nicht durch Strangulation, sondern durch Genickbruch. Man hat ihn aufs Wagendach gestellt und Gas gegeben, anderthalb Meter Fall, Exitus.«
»Ok.«
»Zusammengebundene Schnürsenkel und ein Henkersknoten mit acht Rundtörns, Herr Wegener. Gute Chancen, um schultertief in die Scheiße zu greifen.«
»Ist mir nicht entgangen.«
»Und die Klamotten sehen nach Bonze aus.«
»Definitiv.«
Jocicz strich sich mit der Hand durch die Haare. Ein kleines, gelbes Blatt, das sich in seinem Scheitel verfangen hatte, schwebte herunter. Wegener merkte, dass die Leiche roch. Nach Schweiß, nach dumpfem Moder und langsam einsetzender Verwesung.
»Was tun Sie jetzt?«
Wegener klammerte sich mit beiden Händen an die kalten Leiterholme. »Ermitteln. Ich bin ja der Ermittler.«
»Ein Ermittler, der niemanden verhaften kann.«
»Das macht nichts, verhaftet wird ja sowieso nie jemand«, sagte Wegener und stieg die Leiter langsam wieder herunter.
Donnerstag, 20. Oktober 2011
2
Wegener öffnete die Augen, schloss sie wieder, öffnete sie. Der Ventilator klebte über ihm an der Decke wie ein rundliches Insekt mit drei fetten, platten Beinen. Dieses faule Vieh bewegte sich nie, hatte sich nie bewegt, würde sich vermutlich nie bewegen. Vielleicht war es gar nicht angeschlossen. Wegener versuchte sich zu erinnern, ob Karolina jemals den Ventilator zum Surren gebracht hatte, in irgendeinem heißen Sommer, um ein bisschen Spielfilmstimmung herzustellen. Ihm fiel nichts ein. Das Ding hatte immer nur tot herumgehangen und einen langsam wandernden Schatten an die Decke geworfen. Einen verzerrten Spinnenschatten mit drei fetten, platten Beinen.
Er tastete auf dem Nachttisch nach seinem Minsk, drückte auf die Menütaste, hielt sich das leuchtende Display direkt vor die Nase: 10:49h. Ein Anruf in Abwesenheit, 09:53h, W.B. Büro. Borgs wartete jetzt schon seit einer Stunde auf Rückruf, zweihundert Fotos vom Tatort vor sich ausgebreitet, die Zeugenaussage des Jägers Soundso im Kopf, den Wanst prall gefüllt mit der hartnäckigen Entschlossenheit, die ihn seit achtzehn Jahren Vorgänge von den Schreibtischen seiner Abteilung schieben ließ, wenn politische Windhosen am Horizont auftauchten. Wegener merkte, wie recht ihm die Borgs’sche Abschiebepraxis in diesem Fall war. Er drehte sich auf den Bauch, drückte das Gesicht ins Kissen, zog sich die Decke über den Kopf und rechnete nach, wie lange ihn diese Pipelinegeschichte noch beschäftigen würde: realistisch betrachtet, acht Stunden. Dann hatte das K5 übernommen, eine Geheimhaltungsstufe draufgeklatscht, Verschlusssache, fertig. Oder es ging gleich in die Normannenstraße, Staatsschutz, Interne Abteilung. Jocicz durfte die Obduktion abgeben, Lienecke die Spurenauswertung, er selbst das wochenlange Ratespiel, die Vernehmung von Spaziergängern, Reitern, Pilzsammlern, Pipeline-Wachschutzheinis, die Streitereien mit dem Energieministerium über Ermittlungen im Sperrgebiet und den ganzen anderen Dreck. Stattdessen Verschwiegenheitsverpflichtungserklärung aufgrund Sonderermittlungsstatus III, ein dünnes, gelbes Blatt Papier mit einer Menge kleingedruckter Drohungen, die von Herabstufung über Kündigung bis Bautzen reichten. Dann konnten alle, die gestern Abend dabei waren, unterschreiben, dass sie weder ihre Arbeit verlieren noch zu einer Haftstrafe wegen Geheimnisverrats verurteilt werden wollten und deshalb zukünftig mit niemandem – respektive mit verwandten / angeheirateten Personen und / oder den an der betreffenden Ermittlung beteiligten Kollegen – über die entsprechenden dienstlichen Vorgänge und sämtliche begleitende Umstände reden oder anderweitig kommunizieren würden. Bei dem Passus anderweitig kommunizieren musste Wegener immer an Rauchzeichen denken. Vielleicht wegen der Indianer-Zeltlager, die Tobias Kirchhoff früher jeden Sommer für die FDJ angeleiert hatte, irgendwo in Mecklenburg. Wegener stellte sich Jocicz, Lienecke und die Spurensammler vor, im Kreis um ein qualmendes Lagerfeuer in Neustrelitz, jeder mit einer Decke in der Hand, beim Versuch, über den Toten an der Pipeline anderweitig zu kommunizieren. Jocicz schrieb mit Rauchwolken in den Abendhimmel: Glaubt mir, Männer, Schnürsenkel zusammengebunden, der Galgenknoten achtmal gewickelt, das waren SIE, einwandfrei, verdammte Scheiße. Und Lienecke, wedelnd: Kein Zweifel, nichts gefunden im Laub, nicht den kleinsten Hinweis, und genau das ist der Hinweis, so sauber arbeiten nur DIE! Und sämtliche Spurensammler mit synchronen Fächelbewegungen wie ein tragischer Chor: Nicht den kleinsten Hinweis, das ist der Hinweis!
Wegener warf die Bettdecke zur Seite, stand ächzend auf, stellte das Fenster auf Kippe, schlurfte ins Bad. Der letzte funktionierende Deckenstrahler schickte sein spärliches Licht in Richtung Waschbecken. Toilette und Wanne blieben in grünlich gefliester Dunkelheit zurück. Auf dem Spiegelschrank leuchtete Karolinas alte Deospray-Dose, ein lachsfarben glitzernder Phallus mit der Aufschrift Action. Die letzte Action in unserer Beziehung, hatte Karolina irgendwann mal gesagt, und Wegener darauf: Erstens war das ein echt mieser Kalauer und zweitens geht diese Action wenigstens nie zu Ende, sondern wartet dein Leben lang auf dich, palettenweise, im Konsum, mit viel Solidarität produziert vom Kombinat Körperpflege. Darauf Karolina: Von dem du noch nie was gehört hast. Darauf Wegener: Ich rieche nach Mann. Karolina: Das riecht man. Und jetzt war er seit einem Jahr unfähig, eine hässliche Dose wegzuwerfen, die in seinem Badezimmer lachsfarben lauerte. Die jeden Morgen im Spot der halbinvaliden Lampe erstrahlte wie ein abgetakelter Schlager-Star auf der Parkbühne von Eisenhüttenstadt und das alte Lied vom Verlustschmerz anstimmte, vor dem alle Menschen gleich sind.
Wegener stützte sich mit beiden Händen aufs Waschbecken und betrachtete im Spiegelschrank ein Gesicht, das seit sechsundfünfzig Jahren seins war. Trotz schnabeliger Nase, nach hinten flüchtender, blassblonder Haare und etwas zu runder Wangen kam ihm dieses Ichgesicht manchmal gutaussehend vor. Heute nicht. Heute erschien ihm die hunderttausendfach überprüfte Visage konturlos, beliebig, unproportional, von roten Striemen lächerlich gemacht, die der Faltenwurf des Bettlakens hinterlassen hatte, eine zerknitterte Landkarte, auf der wenig gewonnene und viele verlorene Schlachten eingezeichnet waren. Hauptmann Hängebacke. Nichts, was Karolina vermissen müsste, dachte Wegener und wusste, dass er schon genau so oft das Gegenteil gedacht hatte, vor dem gleichen Spiegel, mit den gleichen Lakenfalten auf der Stirn. Er drehte die Dose so, dass man Action nicht mehr lesen konnte, und schaltete das Radio ein. Jan »Schmuso« Hermann, verkündete die dauerglückliche Moderatorenstimme, der König der DDR-Kuschelbarden und sein neuer Song Fraglos, die Zeit hasst die Liebe. Belanglose Akkorde setzen ein.
Denk dran, sagte die Früchtl-Stimme in seinem Kopf, Männer sind wie Holzdielen, sie werden im Alter immer schöner. Frauen sind wie Holzdielen unter einem undichten Dach, sie gammeln beharrlich in Richtung Finale.
Wie sie mir fehlen, deine verbalen Geisterfahrten, dachte Wegener.
Unter der dampfend heißen Dusche versuchte er, Jan »Schmuso« Hermanns Geplärr zu ignorieren, und stellte sich das Gespräch vor, das die K5-ler demnächst mit ihm führen würden, Eiertanz inklusive. Der Verdacht, dass es sich bei der Ermordung des Pipeline-Toten nicht um ein Privatvergnügen gehandelt hatte, hing so unübersehbar in der Luft wie die GOLDKRONE-Leuchtreklame am Alex, die ungeheuerliche Befürchtung, die nie gedacht werden durfte, jetzt war sie in meterhohen Neon-Versalien buchstabiert, blinkte abwechselnd rot und grün, wegsehen unmöglich. Also würden die Herren mit wohldosierten Beerdigungsgesichtern auf Borgs’ blau gepolsterten Büroschemeln hocken und auswendig gelernte Dienstanweisungen herunterleiern, von der nagenden Angst getrieben, bloß keinen verständlichen Satz zu sagen. Die Sprache der Sprachlosigkeit, Kommunikationskompetenz Ost. Und alle würden sie immer wieder auf Borgs schielen. Und Borgs würde in seiner Fensternische thronen wie ein satter Mönch, die Hände vor dem Kugelbauch gefaltet, scheinbar schlafend, zumindest dauerhaft verstummt.
Wegener hatte Borgs zwei Mal in so einer Zuständigkeits-Bredouille erlebt, beide Male Fälle von Vorbereitungshandlungen versuchter Republikflucht. Beide Male durch Unfälle mit Todesfolge vor Tatausführung beendet. Beide Male war Borgs in den Besprechungen mit den Sonderabteilungen zum schweigenden Klosterbruder geworden, hatte die Männer in den grauen Anzügen reden lassen, hatte den hilflosen Bandwurmsätzen und den verklausulierten Andeutungen gelauscht und nichts gesagt. Namenlose Oberste lieferten den K5-lern Ermittlungsergebnisse, überreichten Befunde, klappten Aktendeckel zu. Uralte Spiele nach nie geänderten Regeln. Am Ende hatte Borgs die ganze Bagage mit nichts als seinem freundlichen Doggengesicht hinauskomplimentiert. Ohne einen einzigen Satz gebellt zu haben.
Walter, du hast dich ordentlich hochgeschwiegen, dachte Wegener und stellte das heiße Wasser ab. Den Mund halten zu können ist die wahre Kunst eines Dezernatsleiters. Dann sah er die Zecke an seiner rechten Wade. Eine kleine, schwarze Kugel, die gerade die erste und letzte Dusche ihres Parasitenlebens genommen hatte.
*
Der abgewetzte Schachbrettboden der Präsidiumsflure verführte Wegener immer noch dazu, seine Schrittlänge dem Muster anzupassen. Er versuchte, die Fußspitzen exakt an der Kante eines Quadrats aufzusetzen, was zu einem altbekannten Problem führte – Schritte von der Länge eines Quadrats waren zu kurz, Schritte über zwei Quadrate zu lang. Trippeln oder Schreiten, hießen die Alternativen. Wegener war nach Schreiten. Wann hatte man schon mal eine Ermittlung, die man gleich am ersten Tag auf die Spezialisten abwälzen konnte. Mit übergroßen Schritten ging er auf Borgs’ Vorzimmer zu und feierte den ersten Sieg des Tages: Die Spitze des linken Schuhs setzte an der Linie des letzten Quadrats auf und berührte gleichzeitig die Tür. Touché.
Christa Gerdes machte sich nicht die Mühe, vom Monitor aufzusehen, hackte stattdessen lieber Zahlen in ihren alten Robotron Kappa, dass der pelzmützenartige Frisurturm wippte, klappte nur kurz einen hageren Arm aus, der faltige Wegweiser in Richtung geradedurch. Frauen sind Holzdielen unter einem undichten Dach, hörte Wegener Früchtl raunen, klopfte an die offene Tür und sah sofort, dass er richtig getippt hatte: Der Schreibtisch in der Fensternische war bedeckt mit Fotos der Pipeline, des Waldbodens, des Seils, des verbeulten Wagendachs und eines Gesichts, das im gelblichen Licht der Leselampe irgendwie lebendiger aussah als vor ein paar Stunden im Stadtforst.
Wegener holte tief Luft und betrat die Chefhöhle, die Dunkelkammer, den Räucherofen, wie auch immer dieses vergilbte Zimmer genannt wurde, alles traf zu, hier dauerte keine Besprechung länger als fünfzehn Minuten.
»Martin.« Borgs zerquetschte seinen Zigarillostumpen in einer kleinen Pappschale. Der Ärger über den Pipeline-Mord hing ihm aus dem runden Gesicht, eine IFA-Ladung Unannehmlichkeiten rollte gerade auf seine Abteilung zu, dabei hätte alles so schön sein können, ein ruhiger Oktobermorgen, ganz ohne alte, nach bizarren Ritualen erhängte Männer. »Noch vier Wochen bis zu den Konsultationen, Martin. Und dann so was.«
»Wir scheinen die Gas-Devisen dringend nötig zu haben.« Wegener drückte die Tür ins Schloss und deutete auf die dampfende Pappschale, »wenn uns jetzt schon die Aschenbecher ausgehen.«
»Meine Christa«, sagte Borgs stolz und sank in den Stuhl zurück. »Wenn sie zerstört, dann etwas Existenzielles.«
»Es gibt noch konsequente Frauen.«
»Was denkst du?« Borgs faltete die Hände vor der Bauchkugel.
»In Bezug auf Gas-Devisen oder auf unseren Mann hier?«
»Wie wär’s mit einer Verbindung zwischen beidem?«
Wegener zog sich einen der blau gepolsterten Stühle zum Schreibtisch und setzte sich. »Sieht alles danach aus, als ob wir ein Problem haben.«
»Wir hoffentlich nicht.« Borgs ließ seinen Blick über die Fotos wandern. »Aber am Werderschen Markt kriegen sie Zuckungen, wenn sie von der Geschichte hören, das kannst du mir glauben.«
»Das K5 schon informiert?«
»Ganz ruhig. Hab das ja erst zwei Stunden auf dem Tisch, nicht wahr? Außerdem wollte ich vorher mit dir sprechen.«
»Offen?«
»Unter vier Augen. Wie du siehst.« Borgs zündete sich einen neuen Zigarillo an, paffte und wuchtete seine kurzen, dicken Beine auf die linke Schreibtischkante. In beiden Sohlen ein kreisrundes Loch.
Wegener zog den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne.
»Schauen wir mal, was wir haben«, sagte Borgs, schmatzte und blies einen Mund voll Rauch zur Zimmerdecke. »Eine männliche Leiche um die achtzig. Todesursache Genickbruch, erhängt an der Nordmagistrale Nähe Sektorengrenze. Suizid ausgeschlossen. Der Tatort so sauber wie die Rosette einer Meerjungfrau.«
»Sauberer geht’s nicht«, sagte Wegener.
»Sauberer ist völlig unmöglich«, bestätigte Borgs. »Und in diese allumfassende Sauberkeit legt jemand Spuren, die eindeutig sagen, hier haben Stasialtkader einen vermeintlichen Verräter um die Ecke gebracht. Zusammengebundene Schnürsenkel, achtfacher Galgenknoten. So hat die Sicherheit ihre eigenen Leute erledigt. Zuletzt passiert vor rund zwei Jahrzehnten, im Zuge der Wiederbelebung unserer geliebten DDR. Angeblich. Weiß ja keiner. Erzählt ja immer nur jeder, wenn’s gerade passt, hinter vorgehaltener Hand. So. Und in einem Monat kommt Lafontaine, um unseren bankrotten Saftladen zu retten. Vorausgesetzt, der Saftladen ist schön brav. Nur, momentan sieht es aus, als ob der Saftladen ziemlich unartig war. Was soll das bitteschön für ein Kasperletheater sein, Martin? Wer will uns da verarschen?«
Wegener fächelte sich Zigarillorauch aus dem Gesicht. »Diese Verräter-Morde, sind das Gerüchte oder hat es die wirklich gegeben?«
»Frag mich nicht.« Borgs zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich hab nie jemanden getroffen, der das weiß. Kann uns aber auch egal sein. Die Zeichen sprechen ja so oder so ihre Sprache.«
»Zusammenbinden der Schnürsenkel: Vor uns kannst du nicht weglaufen. Das versteh ich noch. Und der Galgenknoten?«
»Acht mal gewickelt.« Borgs hielt acht kleine, dicke Finger in die verräucherte Luft. »8. Februar 1950. Gründung des MfS. Eine Erinnerung an die alten Ideale, wenn du so willst. An die Tradition der Bruderschaft.«
»Kranke Spinner waren das.«
»Gefährliche kranke Spinner.«
Wegener hustete. »Zwei Möglichkeiten. Unser Mann war bei der Sicherheit, hat Mist gebaut, sie wollen ihn loswerden. Und gleichzeitig ein Zeichen setzen. Als Signal nach innen, sozusagen. Also beleben sie die alte Methode wieder, damit jeder bei der Truppe weiß: Das passiert, wenn du uns hintergehst.«
»Totaler Schwachsinn.« Borgs schüttelte den Kopf. »Der Mann ist um die achtzig! Und selbst wenn der Geheimdienst immer noch Leute beseitigt, was er sich im Rahmen der internationalen Verträge gar nicht leisten kann, dann doch bitte nicht auf diese Weise. Und auch noch vier Wochen vor den Konsultationen. Ein einziger nachweislicher Bruch der Rechtsstaatlichkeitskriterien, und hier gehen die Lichter aus. Zweite Möglichkeit?«
»Jemand versucht, der Sicherheit was in die Schuhe zu schieben, indem er ihre alten Methoden aufwärmt.«
Borgs schmatzte, paffte, schmatzte. »Wenn ich der Stasi was anhängen will, dann muss das öffentlich werden, dann braucht es einen Skandal. Wie soll das gehen? Wer soll das machen? Heute Abend übernimmt das K5. Sonderermittlungsstatus. Da dringt nichts nach außen. Und es ist schwer vorstellbar, dass Schily morgen mit der Geschichte zur Aktuellen Kamera rennt.«
»Das wäre in der Tat eine Überraschung.« Wegener stand auf, zog den schweren Vorhang ein Stück zur Seite und öffnete die alten Doppelfenster. Kalte Luft wehte ins Zimmer und tauschte Rauchgestank gegen Fettgestank. Auf der Lechner-Allee kämpfte ein weißer Phobos II Universal mit einer Parklücke, der kahle Kopf des Fahrers ragte aus dem Seitenfenster, drehte sich nach rechts, nach links, eine unentschlossene, hautfarbene Beule. Mitten auf der Beule ein Pflaster. Der Universal stand schräg, gab auf, preschte davon.
»Vielleicht waren es ja auch die Typen von damals«, sagte Wegener.
»Was soll das heißen, die Typen von damals?«
»Altkader. Die angeblich 89/90 so vorgegangen sind. Typen, die zu Honeckers Zeiten gut im Geschäft waren. Dann kommt die Wiederbelebung, ihr Erich geht in Rente, Krenz wird die Nummer 1, Schily löst Mielke ab, im Zuge von Reformen und Neuausrichtung fliegen sie raus. Aber irgendeine Rechnung ist noch offen.«
»Theoretisch möglich«, brummte Borgs. »Aber einundzwanzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Warum erst jetzt?«
»Vielleicht hatte sich unser Schnürsenkelmann besonders gut versteckt.«
Borgs sah unzufrieden aus. »Und dann trotzdem noch diese Inszenierung? Wen soll das denn heute noch erschrecken?«
»Andere Verräter von damals. Keine Ahnung. Vielleicht haben sie es auch nur aus Prinzip gemacht. Aber das ist alles witzlos, so lange wir nicht wissen, ob der Alte überhaupt bei der Sicherheit war.«
»Wir müssten erst mal wissen, wer der Mann überhaupt ist.«
Wegener setzte sich wieder. »Und wenn’s nur um die Pipeline geht? Um die Konsultationen?«
»Hab ich auch schon dran gedacht. Russenmafia. Ein alter Spinner, der seine Schmiergelder nicht abgeführt hat. Aber die Russen machen das anders.«
»Russisch.«
»Zum Beispiel. Was sagt dir das mit dem zerbeulten Autodach?«
»Improvisation. Oder noch ein Symbol, eins, das nur Insider verstehen. Aber warum nehmen sie die Kennzeichen mit?«
»Keine Ahnung.« Borgs ließ seine Beine von der Schreibtischkante rutschen. »Mir ist vor allem eins wichtig: Man wird sich die ganze Chose am Werderschen Markt sehr bald sehr genau angucken. Und das ZK hält seinen Rüssel höchstpersönlich rein. Was für uns heißt, wir machen exakt das, was wir machen sollen. Keinen Handgriff mehr und keinen weniger. Ich muss Kallweit nicht noch Angriffsfläche bieten, nur weil der den Diensten mehr Befugnisse zuschustern will.«
»Dann bin ich wohl raus.«
»Fast.« Die mürrische Dogge Borgs wurde zur listigen Dogge Borgs. »Heute Nacht haben sie einen Briefumschlag im Mantel des Toten gefunden. Suche nach Abdrücken läuft noch.« Die listige Dogge schob sämtliche Fotos zur Seite, fuhr mit dem Zeigefinger über die Schreibtischunterlage, blieb an einer Notiz hängen. »Der Umschlag ist handschriftlich adressiert an einen Emil Fischer, nur der Name, keine Anschrift, keine Briefmarke, nichts. Im Umschlag ein Zettel, Computerausdruck. Text: Liebe Nachbarn, liebe Genossen, am Samstag den 22.10.2011 feiern wir unseren Geburtstag. Falls es etwas lauter werden sollte bitten wir um Verständniß. Verständnis hier mit ß geschrieben. Mit freundlichen Grüssen, Grüße mit Doppel-S, M. Radecker, I. Dedelow, 16. OG.«
»Dann könnte Fischer der Tote sein«, sagte Wegener.
»Oder einer von den Absendern, der es nicht mehr geschafft hat, den Umschlag bei Fischer einzuwerfen.«
»Oder so.«
»Vielleicht hat auch nur jemand Fischers Briefkasten aufgebrochen, man weiß es nicht. Christa hat schon nachgeschaut, Redecker, Dedelow und Fischer gibt es in dieser Kombination nur einmal. In der Ludwig-Renn-Straße 32.« Borgs wuchtete sich aus seinem Stuhl, watschelte zum Fenster, klappte die Doppelflügel wieder zu und zog den Vorhang gerade. »Du kümmerst dich heute noch um die Sache, vielleicht kriegst du die Identität geklärt, ein paar Nachbarschaftskommentare, dann stehen wir nicht mit leeren Händen da. Bitte einen ausführlichen Bericht, formvollendet.«
»Morgen Abend?«
»Spätestens morgen Vormittag. Dann machen wir Dienst nach Vorschrift, bis die uns das Ding abnehmen. Ich setz mich gleich mit den Herren auseinander. Und wenn man dich noch sehen will, Martin, was ich stark annehme, dann geb ich dir einen guten Tipp.«
»Schnauze halten«, sagte Wegener.
»Von Borgs lernen, heißt siegen lernen.« Die Dogge ließ sich zufrieden in ihren Stuhl plumpsen.