Tanja Janz
Strandperlen
Roman
MIRA® TASCHENBUCH
MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2015 by Tanja Janz
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literaturagentur Scriptzz, Berlin.
Originalausgabe
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Daniela Peter
Titelabbildung: Thinkstock
Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN eBook 978-3-95649-436-9
www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder
auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Die rot-weißen Fahnen von Gosch flatterten im böigen Frühlingswind. Möwen flogen kreischend durch die klare Luft, auf der Suche nach nichts ahnenden Touristen, denen sie im Sturzflug den schmackhaften Fisch aus den Brötchen stibitzen konnten.
Kurgäste stellten ihre Räder in den Fahrradständern gegenüber des Fischrestaurants ab und schlugen die Kragen ihrer winddichten Softshell-Jacken hoch, als Lilo Ampütte vom Deichweg auf den belebten Platz an der Promenade abbog. Eine Damengruppe drehte sich neugierig nach ihr um und steckte tuschelnd die Köpfe zusammen, das verriet sie als Urlaubsgäste.
Unter den Einheimischen war Lilo bekannt wie ein bunter Hund. Von ihnen verdrehte schon lange niemand mehr den Hals, wenn sie der Alt-Hippie-Dame in einem ihrer wallenden Batikgewänder und mit dem klimpernden Perlenschmuck beim Einkauf auf dem Markt oder beim Strandgutsammeln begegneten.
Das war immerhin schon seit Ende der 60er-Jahre so. Damals hatte sie mit ihrer Hippie-Kommune einen Pfahlbau am Strand bezogen. Seitdem gehörte Lilo Ampütte zu St. Peter-Ording wie der zwei Kilometer breite und zwölf Kilometer lange Strand.
Ihre Hippie-Freunde hatte es nach einer Weile wieder aus St. Peter-Ording weg und an andere Orte der Welt gezogen, nach Ibiza oder Indien. Nur Lilo war geblieben, weil sie ihr Herz an einen einheimischen Maler verloren hatte. Das war jetzt über fünfundvierzig Jahre her.
Mit langsamen Schritten ging sie auf die Seebrücke zu, die nach etwa tausend Metern auf der großen Sandbank vor St. Peter-Ording endete. Ein letztes Mal wollte sie ihre Füße in die kalte Nordsee tauchen und den nassen Sand zwischen den Zehen und unter ihren Sohlen spüren. So, wie sie es in den zurückliegenden Jahren nahezu täglich getan hatte. Ein halbes Leben lang. Bei Wind und Wetter. Bei Regen und Sonne. Im Winter und im Sommer.
Keine Witterung hatte sie von ihrem geliebten Strandspaziergang abhalten können. Noch nicht einmal die reißenden Schmerzen, die sich anfänglich auf die Knie- und Fußgelenke beschränkt hatten und von ihr als Alterszipperlein abgetan worden waren. Deswegen wollte sie nicht gleich zum Arzt rennen und die Pferde scheu machen. Immerhin hatte sie in diesem Jahr ihren fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert und war bis dahin gut ohne Schulmedizin ausgekommen. Die war ihrer Ansicht nach Mumpitz und diente nur dazu, den Patienten Geld für teure Behandlungen und Medikamente aus der Tasche zu ziehen, die von keiner Krankenkasse bezahlt wurden.
Im Krankheitsfall vertraute sie sowieso eher auf die heilende Kraft von Kräutern und Gesundheitssteinen sowie auf positive Gedanken, als sich irgendwelche bunten Chemiebomben in Pillenform einzuwerfen.
Aber die Schmerzen wurden mit der Zeit immer schlimmer, und als Bernsteinwasser und Granatbäder, Meerpinie- und Lavendel-Essenzen ihr keine Linderung mehr verschafften und sie eines Tages gar nicht mehr aus dem Bett kam, um sich um ihre Urlaubsgäste in der Strandperle zu kümmern, ließ Lilo nach dem hausärztlichen Notdienst schicken.
Doch statt ihr erwartungsgemäß ein paar farbenfrohe Tabletten zu verschreiben, wies der Arzt sie zu ihrem Entsetzen sofort ins Krankenhaus ein.
Nach einer ausgiebigen körperlichen Untersuchung inklusive Blutbild, Röntgen- und MRT-Aufnahmen stand die Diagnose bald fest: Rheumatoide Arthritis.
„Arthritis? Sind Sie sich ganz sicher?“, hatte Lilo Dr. Petersen entgeistert gefragt, der ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß und mit ernstem Blick ihre Patientenkartei auf dem Monitor seines PCs studierte. In ihrer Vorstellung bekamen Arthritis nur alte Menschen – sehr alte Menschen, zu denen sie sich noch längst nicht zählte. Es konnte sich also nur um einen Fehler handeln, den es aufzuklären galt. Von vertauschten Patienten-Akten oder gar falschen Patienten im OP hörte man schließlich immer wieder mal.
„Ich fürchte, ja. Aus Ihren Befunden geht eindeutig eine Arthritis der Gelenke hervor“, war seine Antwort gewesen.
Ausgerechnet jetzt, hatte sie gedacht.
Auch nun, da sie sich wieder an das Gespräch erinnerte, verzog Lilo den Mund. Das schmeckte ihr gar nicht und passte noch viel weniger in ihren Zeitplan, der vorsah, dass sie die Strandperle für die kommende Saison startklar machte.
„Und was kann man dagegen tun? Krankengymnastik?“, hatte sie gefragt, nachdem sie sich schon fast mit dem Gedanken an eine schmerzhafte Bewegungstherapie angefreundet hatte.
„Tja, in Ihrem Fall reichen ein paar Einheiten Krankengymnastik allein nicht aus.“
Lilo hatte den Kopf geschüttelt. „Ja, na gut, ich hätte vielleicht etwas eher zum Arzt gehen können“, hatte sie widerwillig zugegeben, „aber bis jetzt war das nicht nötig gewesen. Ich war immer kerngesund und brauchte keine Ärzte. Außerdem bin ich keine von denen, die wegen jeder Kleinigkeit gleich sterbenskrank sind. Zumal ich keine zwanzig mehr bin. Kleine Wehwehchen gehören nun mal zum Älterwerden dazu.“
Dr. Petersen hatte genickt. „Gerade deswegen hätte ich mich gefreut, wenn Sie mit Ihren sogenannten Wehwehchen früher zu mir gekommen wären.“
Lilo erinnerte sich, dass sie geschluckt hatte. Du liebes Lieschen, hatte sie gedacht. Das hörte sich nicht gut an und hatte ihr gerade noch gefehlt. „Was soll das genau bedeuten?“, hatte sie wissen wollen.
„Wir könnten Ihre Schmerzen zum Beispiel durch eine Cortison-Therapie in den Griff bekommen.“
„Nein! Auf keinen Fall!“ Sie hatte die Arme verschränkt und energisch den Kopf geschüttelt. „Da müssen Sie sich schon etwas anderes einfallen lassen.“
Dr. Petersen hatte beschwichtigend die Hände gehoben. „Dann bleibt nur der Gedanke an einen Umzug in südliche Gefilde. Das Reizklima in St. Peter ist zwar für die meisten Kurgäste ein Segen und kann ein bedeutsamer Heilfaktor sein, doch in Ihrem Fall ist es pures Gift. Ihr Körper braucht ein trockenes und warmes Klima.“
„Hm“, hatte sie gebrummt, sich eine grau-braune Strähne ihres langen Haars aus dem Gesicht gestrichen und gefragt: „Sie meinen, ich soll St. Peter verlassen?“
„Als behandelnder Arzt kann ich natürlich bloß Empfehlungen aussprechen. Aber besser wäre es für Ihre Gesundheit in jedem Fall.“
Das war nun sechs Wochen her, und wie damals fragte Lilo sich auch jetzt, wieso das passieren musste. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, die ihr noch verbleibenden Jahre an einem anderen Ort als St. Peter zu verbringen. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr vorstellen, ohne das Rauschen der Nordsee einzuschlafen und aufzuwachen. Oder ihren Morgenkaffee zu trinken, ohne dabei in ihrem Schaukelstuhl vor der Strandperle die aufgehende Sonne zu genießen. „Was wird denn dann aus meinen Gästen und der Strandperle?“, sagte Lilo mehr zu sich selbst und runzelte die Stirn. „Ich kann das doch nicht einfach alles so aufgeben.“
Am Wärterhäuschen wurde die alte Dame von einem Elternpaar in wetterfester Kleidung überholt, das seine jauchzenden Kinder in zwei Bollerwagen hinter sich herzog. Die Räder rumpelten geräuschvoll über die Lärchenbohlenverkleidung der Seebrücke, während der Wind das Lachen der Kleinen aufnahm und davontrug. Am Geländer der rundlichen Ausbuchtung blieb Lilo stehen und spielte dabei gedankenverloren mit dem Bernsteinanhänger an ihrer Halskette.
Sie ließ den Blick über die endlosen Salzwiesen gleiten, die am Horizont mit den Wolken zu verschmelzen schienen. In der bewegten Oberfläche der gefüllten Priele spiegelte sich der mit Schäfchenwolken bedeckte Himmel wider. Hier und da entdeckte sie zwischen zartrosa Strandgrasnelken brütende Austernfischer und Rotschenkel. Diese Vögel kamen jedes Jahr im Frühling nach St. Peter-Ording. Lilos Lieblingszeit war allerdings der Spätsommer, wenn der Strandflieder blühte und die Salzwiesen in ein zartes Violett tauchte.
Doch dieses Naturschauspiel würde Lilo in der nächsten Zeit nicht sehen können. In der Strandperle warteten schon die gepackten Koffer und ein One-Way-Ticket nach Ibiza auf sie, wo ihre Hippie-Freunde Fred und Mora bereits ein Zimmer in deren Finca in Sant Carles vorbereitet hatten. Morgen um diese Zeit würde sie St. Peter-Ording längst verlassen haben und vermutlich schon den ersten Strandspaziergang auf der spanischen Insel hinter sich gebracht haben. Sie konnte es immer noch nicht glauben. In ein paar Stunden würde sie nicht mehr in ihrem geliebten St. Peter-Ording sein.
Lilo legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Frühlingssonne, deren Strahlen einen Weg zwischen den Wolken hindurchgefunden hatte. Dann schloss sie die Augen und atmete die salzige Luft tief durch die Nase ein, bis der letzte Winkel ihrer Lunge mit Sauerstoff gefüllt war. Sie erinnerte sich an die alten Zeiten zurück, die sie mit ihren Hippie-Freunden verlebt hatte, und an ihre gemeinsame Lebensphilosophie, dass alles seine Zeit hat und dass das Leben von ständigen Veränderungen geprägt ist. Für sie ging es nun auf Ibiza weiter, was nicht das Schlechteste war. Wer loslässt, hat die Hände frei, dachte Lilo. Die Fähigkeit loszulassen war immerhin eine Disziplin, die Alt-Hippies wie sie perfekt beherrschten.
„Moin, Lilo. Da bist du ja!“, ertönte plötzlich eine bekannte Stimme neben ihr und riss sie aus ihren Gedanken. „Wusste ich doch, dass ich dich hier finden würde.“
Lilo öffnete die Augen. Neben ihr stand ein schlanker Mann in ihrem Alter, bekleidet mit einem schwarzen Anzug, hellem Hemd und einer grauen Krawatte, die er ein wenig schief geknotet trug.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, entschuldigte er sich lächelnd. „Aber wir hatten vor über einer Stunde unseren Termin, und als du nicht gekommen bist, dachte ich mir, ich geh dich mal suchen.“
„Moin, Rasmus. Stimmt, das habe ich ganz verschwitzt. Ist es wirklich schon so spät?“ Lilo schaute auf die goldene Armbanduhr, die Rasmus an seinem Handgelenk trug. Eine eigene besaß sie nicht, weil sie ihrer Meinung nach gut ohne auskam. „Entschuldige bitte, da habe ich mich anscheinend völlig in der Zeit verschätzt. Dabei wollte ich doch bloß schnell noch mal an den Strand gehen.“ Lilo drehte den Kopf in die Richtung, in der man bei genauem Hinsehen das glitzernde Meer in der Ferne ausmachen konnte.
„Na komm, ich habe meinen Wagen am Maleens Knoll geparkt.“
Lilo presste die Lippen aufeinander, dann nickte sie tapfer. „Bringen wir es hinter uns.“
Rasmus wandte sich zum Gehen und bot ihr einen Arm an, den sie dankbar nahm.
Am Ende der Brücke blieb Lilo Ampütte noch einmal stehen und blickte ein letztes Mal über ihre Schulter zurück.
Ich bin schwul.“
Insa Bergmann zog die Augenbrauen zusammen und presste sich ihr Handy fester ans Ohr. Dann gluckste sie. „Jetzt hab ich doch tatsächlich verstanden, dass du schwul bist. Was hast du gerade gesagt?“
„Ich bin schwul.“
„Äh? Ich habe schon wieder schwul verstanden.“ Insa starrte irritiert durch die Windschutzscheibe ihres Autos auf ein Kind mit Pudelmütze, das sich beim Überqueren der Straße genüsslich den Finger in die Nase steckte. Nein, das konnte gar nicht sein. Und der erste April war auch längst vorbei. Das hatte sie garantiert falsch verstanden. Kein Wunder bei dem statischen Rauschen. „Du, die Handyverbindung scheint gerade etwas schlecht zu sein“, rief sie in ihr Smartphone.
„Nein, ich höre dich sehr gut. Und du hast mich schon richtig verstanden. ICH – BIN – SCHWUL!“, schallte die Stimme ihres Exfreundes laut und deutlich aus dem Mobiltelefon. Verhören ausgeschlossen.
„Aber … ich meine, wie konnte das denn passieren?“, platzte es aus Insa heraus. Im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sie redete sich um Kopf und Kragen. „Äh … so habe ich das jetzt natürlich nicht gemeint! Ich wollte damit sagen, nur weil du den Job in Köln angenommen hast, bist du doch nicht automatisch schwul.“ Und auch nicht, weil du gerne Schuhe kaufst und davon mehr als ich und alle meine Freundinnen zusammen im Schuhschrank hast, fügte sie in Gedanken hinzu. Im Nachhinein war das allerdings schon irgendwie merkwürdig. Geradezu verdächtig. Aber während ihrer Beziehung war es äußerst praktisch gewesen, einen Freund zu haben, der das allwöchentliche Samstagsshopping genauso liebte wie sie. Und statt sich darüber zu wundern, hatte Insa es vorgezogen, diese Eigenschaft ihres Freundes zu genießen.
„Das hat doch nichts mit Köln zu tun, Insa. Und ehrlich gesagt, weiß ich es schon eine ganze Weile. Ich wollte mir nur erst sicher sein, dass es mit mir und Andy auch wirklich funktioniert, bevor ich es dir sage.“
Zugegeben, Carsten war der Mann, mit dem sie sich in einer Beziehung am besten verstanden hatte. Meinungsverschiedenheiten hatte es bei ihnen nie gegeben. Und ja, es stimmte schon, er hatte immer deutlich länger im Bad gebraucht als sie und seine Duftwässerchen-Auswahl war beachtlich gewesen, aber nein, von solchen Klischees hielt sie nicht viel. Das musste noch lange nichts bedeuten. Carsten war nicht automatisch schwul, nur weil er Wert auf sein Äußeres legte. Außerdem wäre es ihr aufgefallen, wenn ihr Freund eine spezielle Vorliebe für Männer gehabt hätte.
Nein, nein! Vermutlich stimmte es gar nicht, dass er sich zusammen mit seinem Arbeitskollegen Andy ein Appartement in Köln-Deutz teilte. Bestimmt wollte er sie nur nicht verletzen und nicht zugeben, dass es sich bei Andy in Wahrheit um eine Andrea handelte. Dabei war sie längst über die Trennung hinweg und würde ihm eine neue Beziehung von Herzen gönnen. Zumal sie nicht im Streit auseinandergegangen waren, sondern sich nach wie vor liebten, aber eben auf eine platonische Art und Weise. Es war absolut unnötig, dass Carsten sie in Watte packte.
Ungeduldiges Gehupe riss Insa aus ihren Gedanken. Die Ampel stand bereits auf Grün. Sie blickte in den Rückspiegel. Der Opel-Fahrer hinter ihr gestikulierte mit wilden Armbewegungen, sie solle endlich Gas geben. „Carsten, ich muss jetzt Schluss machen. Der Blödmann hinter mir hat schon eine knallrote Birne. Wenn ich nicht sofort losfahre, holt der wahrscheinlich seine Keule vom Rücksitz.“
„Moment noch, ich wollte dich eigentlich was Wichtiges fragen.“
„Lass uns später weiterreden, ja?“ „Jetzt warte mal …“
„Bis nachher, Carsten.“ Insa beendete das Gespräch und legte das Handy auf die Brötchenkiste auf dem Beifahrersitz neben sich. Der Fahrer hinter ihr hupte schon wieder. „Ja doch! Reg dich ab!“ Sie schaltete in den ersten Gang und knatterte mit ihrem laubfroschgrünen Twingo durch Gelsenkirchens schlaglochgepflasterte Straßen.
Die Sonne brannte vom wolkenlosen Maihimmel, als sie den Wagen im Schatten zweier Bäume am Straßenrand schräg gegenüber des Glückauf Grills parkte. Ein echter Glücksfall, denn die kostenlosen Parkmöglichkeiten waren von Anwohnern und Pendlern heiß umkämpft. Insa konnte an den Fingern ihrer Hände abzählen, wie oft sie bisher ihr Auto in der Poleposition direkt vor dem Imbiss hatte parken können. Dabei war der Würstchengrill ihrer Eltern seit beinahe zwei Jahren ihre Arbeitsstätte. Ein vorübergehender Kompromiss, solange es mit dem Archäologie-Job nicht klappte.
Als überzeugte Vegetarierin hatte es sie anfänglich große Überwindung gekostet, Bratwürste, Frikadellen und Gyros zuzubereiten und den Kunden zu servieren. Doch mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, und mittlerweile registrierte sie den Geruch von gebratenem oder frittiertem Fleisch kaum mehr, wenn sie ein Wienerschnitzel in die Fritteuse warf.
Wenigstens ist mir die Parkplatzsuche und damit die Schlepperei erspart geblieben, dachte Insa, während sie die Waren aus dem Auto lud, die sie beim Großhändler für die Imbissstube eingekauft hatte. „Das ist bestimmt ein Zeichen. Heute könnte glatt mein Glückstag sein.“
Platsch!
Ein dicker Tropfen landete auf ihrem Kopf. Wahrscheinlich ein letzter Rest vom Landregen von heute früh, überlegte sie und strich reflexartig durch ihre frisch gewaschenen Locken. An ihren Fingern klebte weißliche, stinkende Schmiere. „Scheiße!“, fluchte sie und spähte nach oben in die Baumkrone, aus der ein Gurren erklang. Auf einem Ast über ihr entdeckte sie eine dicke Taube, die sie neugierig von oben herab betrachtet.
Flatsch!
Wie zur Bestätigung klatschte ihr ein weiterer Schwall Taubenscheiße direkt auf die Schulter. „Na prima, Insa! So viel zu deinem Glückstag.“ Sie kniff die Augen fest zusammen und suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch, mit dem sie den Taubenmist von der Jacke wischen konnte.
Die Wanduhr über dem Tresen zeigte zehn Uhr und dreiundzwanzig Minuten, als Insa kurz darauf, beladen wie ein Packesel, den Glückauf Grill betrat. Berlusconi, ihr Jack Russell Terrier, sprang vor Freude wild kläffend wie ein Grashüpfer an ihr hoch.
„Bist spät dran, Insa.“
„Am Schalker Markt war die Hölle los, Papa. Ich musste fast zwanzig Minuten warten, bis ich an der Kasse endlich dran war.“ Sie packte die eingeschweißten Würste in das Tiefkühlfach hinter der Theke.
„Chef, ich könnte schwören, deine Tochter hat über Nacht wieder ein Pfund abgenommen“, ertönte die täglich gleiche Begrüßung einer vertrauten Stimme vom Bistrotisch neben dem Spielautomaten.
Sie kam von Toto Toczek, der eher in der Imbissbude wohnte, als dass er bloß ein Stammgast war, und der stets eine speckige schwarze Lederweste über einem karierten Hemd trug. Seit mehreren Jahren stand Toczek als Erster morgens um Punkt zehn Uhr auf der Matte, um sein Frühstück in Form einer Bratwurst im Brötchen mit extra viel Senf und einer Tasse schwarzen Filterkaffees einzunehmen. Den lieben langen Tag hockte er dann rauchend und Zeitung lesend an einem der Tische im Glückauf Grill und nahm dort auch sämtliche weitere Tagesmahlzeiten ein, um am Ende des Tages den Imbiss als letzter Kunde um zweiundzwanzig Uhr zu verlassen.
„Ich wiege genauso viel wie gestern“, entgegnete Insa wie jeden Tag und wusste genau, was Toto darauf antworten würde.
„Du musst mal ein bisschen Fleisch essen, Mädel. Sonst fällst du irgendwann noch in den Gully“, kam es erwartungsgemäß zurück.
„Heutzutage muss man nicht unbedingt Fleisch essen, um seinen Körper ausreichend mit Nährstoffen zu versorgen. Fleisch war früher für die Höhlenmenschen ein wichtiger Energielieferant. Aber aus dieser Phase sind wir ja schon ein paar Jährchen raus.“ Insa spielte ihre übliche Platte ab, wobei sie sich fragte, ob diese Aussage auch für Toto Toczek galt, der sie manchmal an einen Höhlenbewohner erinnerte. „Frische Brötchen habe ich mitgebracht“, wechselte sie das Thema, wohl wissend, dass Toczek auf seine Frühstücksbratwurst im Brötchen wartete.
„Wie immer, Toto?“, kam es von ihrem Vater.
„Wie jeden Tag, Siggi. Und übrigens, Insa …“
„Ja?“
„Ich glaube, du hast da was in den Haaren.“ Toto deutete auf ihren Kopf.
Nachdem Insa die Einkäufe verstaut hatte und sich in der über dem Imbiss liegenden Wohnung ihrer Eltern frisch gemacht hatte, half sie ihrer Mutter Gilla, Schalen mit selbst gemachtem Salat in den Glückauf Grill zu tragen. Bereits im Hausflur neben dem Imbiss hörten sie Berlusconis freudiges Gebell.
„Elf Uhr. Pünktlich wie immer.“ Ihre Mutter zwinkerte einem schlanken Mann in gelb-schwarzer Postuniform zu, der geduldig den kleinen Hund streichelte.
Benno Pawelczik war seit Sandkastentagen Insas bester Freund.
„Guten Morgen, Frau Bergmann. Hallo Insa. Ja, Zeit fürs Mittagessen. Schichtbeginn war wieder um fünf.“
Ihr Vater Siggi Bergmann bearbeitete das knusprige Fleisch am Drehspieß mit einem großen Messer. „Mit allem, Benno?“
„Heute ohne Zwiebeln und Knoblauchsoße bitte. Ich habe nachher leider noch einen Zahnarzttermin.“ Benno rollte mit den Augen.
„Hier essen?“
„Ja, bitte.“ Benno fischte seinen Geldbeutel aus der Jackentasche und zählte passend Kleingeld ab, das er auf den Tresen legte. „Für dich sind übrigens drei Briefe dabei, Insa“, sagte er, während er sich zu Toto Toczek setzte. „Liegen an der Kasse.“
Insa stellte eine Schale Kartoffelsalat in den Kühlschrank und putzte sich hastig die Hände an einem Tuch ab. „Ist etwa der Brief dabei?“, fragte sie aufgeregt.
„Ich glaube schon.“ Benno nickte.
Insa schnappte sich die drei Kuverts und betrachtete den oberen. „Der ist vom Archäologischen Museum.“ Sie schluckte und legte die beiden anderen beiseite. „Oh Gott!“ Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie starrte den Briefumschlag an, unfähig ihn zu öffnen.
„Na los! Mach ihn auf! Oder willst du nicht wissen, was drinsteht?“, forderte ihre Mutter sie auf und schaute ihr neugierig über die Schulter.
„Und wenn es wieder eine Absage ist? Wenn ich wieder kein Glück habe und jemand anders den Job bekommen hat?“
„Um das zu erfahren, musst du zuerst mal den Umschlag aufmachen und den Brief lesen“, sagte ihr Vater. „Und wenn es wirklich eine Absage ist“, er zuckte mit den Schultern und öffnete für Toto Toczek eine Bierflasche, „dann arbeitest du eben hier weiter.“
„Papa!“
„Siggi! Unsere Tochter hat nicht studiert, um ewig mit uns im Glückauf Grill zu stehen.“
„Trau dich“, schaltete sich nun auch Benno ein und lächelte ihr, seiner Sandkastenfreundin, aufmunternd zu.
Insa atmete tief durch, dann schnappte sie sich ein Messer aus der Schublade und schlitzte den Umschlag damit auf. Hastig überflog sie das Schreiben, ließ es nach der Hälfte aber schon sinken. „Eine Absage.“
„Nein!“, rief ihr Vater.
„Gibt’s doch nicht!“, riefen Benno und Toto entrüstet im Chor.
„Zeig her!“ Ihre Mutter griff nach dem Brief, als glaubte sie, ihre Tochter könnte sich vor Aufregung verlesen haben. „Tatsächlich eine Absage“, bestätigte sie.
Benno gesellte sich nun zu ihnen. Er las ebenfalls kopfschüttelnd den Brief. „So ein Mist. Aber beim nächsten Mal klappt’s bestimmt“, versuchte er sie aufzuheitern.
„Ach, Benno, beim nächsten Mal …“ Insa winkte ab. „Das sagst du immer, wenn wieder eine Absage bei mir ankommt. Wer weiß, wann es überhaupt die nächste Chance gibt? Jobs für Archäologen sind so selten wie … wie die Male, die Schalke die Meisterschaft geholt hat.“
„Na ja, wer weiß. Warte mal ab.“ Benno lächelte ihr aufmunternd zu.
„Hier sind noch zwei Briefe für dich“, erinnerte ihr Vater sie und hielt ihr die Kuverts hin.
„Was kann das schon großartig sein“, murmelte Insa und runzelte dann die Stirn. „Ein Brief von Carsten? Komisch. Der hat mich doch vorhin erst angerufen und wollte mich irgendwas fragen“, sagte sie, während sie eine Karte aus dem Umschlag zog. „Oh! Eine Einladung zur Hochzeit. Wahrscheinlich mit seiner Andrea, die er mir bis jetzt vorenthalten hat. Da hat er mich am Telefon aber ganz schön veräppelt. Stellt euch vor, Carsten wollte mir vorhin allen Ernstes verklickern, dass er schwul ist …“ Weiter kam sie nicht. Sie blinzelte und las den Text noch einmal. „Einladung zur Hochzeit von Carsten und André-Patrick, steht da“, sagte sie.
„Das glaub ich nicht“, entgegnete ihre Mutter und schnappte sich die Karte. „Tatsächlich! Und er hat uns alle eingeladen. Aber warum ist denn keinem aufgefallen, dass Carsten Interesse an Männern hat? Wenigstens du hättest doch was merken müssen.“
„Tja, was soll ich sagen? Ist mir nicht aufgefallen. Oder besser, ich wollte es wohl einfach nicht sehen. Dafür lief das mit Carsten zu gut. Viel zu gut!“ Insa übergab ihrem Vater die Einladung.
„Und der dritte Brief?“, fragte Benno. „Möglicherweise ist der eine wirklich gute Überraschung.“
Für Benno war das Glas immer halb voll, nie halb leer. Insa bewunderte ihn für seinen ungebrochenen Optimismus, mit dem er durchs Leben ging. Wahrscheinlich war diese Lebenseinstellung für ihn als Trainer einer Kinderfußballmannschaft, die bisher nur Niederlagen kassiert hatte, überlebenswichtig.
„Danke, mein Bedarf an Überraschungen ist vorerst gedeckt.“ Insa winkte ab, blickte zu dem ungeöffneten Kuvert, das ihr Vater nun ausgiebig betrachtete, und wendete sich dem schmutzigen Geschirr in der Spüle zu. „Du kannst es gerne für mich aufmachen, Papa.“
„Ich glaube, das solltest du besser selber tun. Der Brief ist von einem Notar.“ Er hielt ihr den Umschlag hin.
„Von einem Notar? Was hast du denn mit Notaren am Hut?“, wollte ihre Mutter sofort wissen.
„Vielleicht hat sie ja ’ne Erbschaft gemacht“, mischte sich nun Toto Toczek ein.
„Quatsch, Toto!“ Gilla nahm ihrem Mann den Brief ab und studierte den Absender.
„Ich meine ja nur …“
„Von wem sollte sie denn was erben? Dazu müsste es … oh Gott! Ich glaube, mir wird schlecht.“
„Was ist los, Mama?“
Siggi schob ihr einen Hocker unter den Hintern. Gilla war kreidebleich geworden und hielt mit zitternden Händen den Brief umklammert.
„Der Notar … wohnt in … St. Peter-Ording“, stammelte sie.
„Du denkst doch nicht etwa … Lilo?“, fragte Siggi seine Frau, die den Tränen nahe war.
Ihre Mutter nickte. „Wer denn sonst?“
„Könnte mir mal bitte einer erklären, was hier überhaupt los ist?“ Insa schaute konsterniert zwischen ihren Eltern hin und her. Benno reichte ihrer Mutter ein Glas Wasser, das die in einem Zug leerte. Dann begann Gilla von ihren Schwestern Evelyn und Lilo zu erzählen, mit denen sie vor Insas Geburt im Streit auseinandergegangen war und zu denen sie seitdem keinen Kontakt mehr hatte.
„Mein letzter Stand ist, dass Lilo in St. Peter-Ording wohnt. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn sie jetzt … ohne, dass wir uns wieder vertragen haben …“
„Ist sauber.“ Toto Toczek reichte Gilla ein abgenutztes kariertes Stofftaschentuch, in das sie sich umständlich schnäuzte.
„Hm, diese Tanten habe ich zwar nie persönlich kennengelernt, aber du hast mir vor einigen Jahren mal von ihnen erzählt.“ Insa überlegte. „Abgesehen davon, wieso weiß Tante Lilo überhaupt von mir, wenn ihr schon vor meiner Geburt keinen Kontakt mehr hattet?“
„Das wird Oma ihr gesagt haben.“
„Hm. Es kann ja auch was völlig anderes sein, Mutti. Also, bevor wir hier anfangen, uns mit möglichen Todesfällen zu beschäftigen, öffne ich lieber den Brief.“ Insa riss das Kuvert auf und begann zu lesen. Dabei wurden ihre Augen immer größer. „Ich kann dich beruhigen, Tante Lilo ist nicht tot, sondern ziemlich lebendig. Trotzdem hat Toto recht. Sie möchte mir etwas schenken. Um mir mitzuteilen, was es ist, bestellt mich der Notar Rasmus Hinrich für nächste Woche Mittwoch nach St. Peter-Ording.“
Stephanie Zurhausen war spät dran. Erst hatte sie auf halbem Weg zum Supermarkt festgestellt, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hatte, woraufhin sie zurück zu der schicken Altbauwohnung in Oberkassel hatte fahren müssen, die sie zusammen mit ihrem Mann Andreas und ihrem gemeinsamen Sohn Paul-Justus bewohnte. Im Treppenhaus angekommen, hatte ihr dann der Briefträger einen Stapel Post in die Hand gedrückt, dann war sie vor der Wohnungstür von ihrer Nachbarin Frau Privatdozentin a. D. Dr. Goldstein abgefangen worden, die ihr unbedingt ihre neuesten Erkenntnisse über hochbegabte Kinder mitteilen wollte.
Und nun tauchte zu allem Überfluss auch noch so eine dämliche Baustelle vor ihr auf, die die sonst zweispurige Straße in ein schmales Nadelöhr verwandelte, in das sie sich mühsam Zentimeter für Zentimeter einfädelte. Ihr schwarzer Porsche Cayenne kroch wie eine zweihundert Jahre alte Riesenschildkröte durch den zäh fließenden Düsseldorfer Mittagsverkehr. Prüfend warf sie einen Blick auf die Uhr des Armaturenbretts. Kurz vor eins. Mist! Vor zwanzig Minuten hätte sie Paul-Justus bereits von der Schule abholen müssen.
Ihr erst achtjähriger Sohn besuchte die dritte Klasse einer Grundschule. Nachdem Paul-Justus sich schon im ersten Schuljahr tödlich bei dem „Babykram“, wie er den Unterrichtsstoff nannte, gelangweilt hatte, riet ihr seine Klassenlehrerin zu einem Besuch beim Psychologen. Der stellte einen Intelligenzquotienten von über hundertvierzig und damit eine Hochbegabung bei ihrem Sohn fest, woraufhin Paul-Justus vom ersten Schuljahr direkt ins dritte versetzt wurde. Zuerst waren sie und ihr Mann Andreas stolz, ein solch intelligentes Kind gezeugt zu haben, und erzählten jedem, ob er es hören wollte oder nicht, von seinen neuesten Höchstleistungen. „Paul-Justus kennt alle Schichten der Erdatmosphäre inklusive deren Höhen auswendig und kann sämtliche Singvögel an ihrem Gezwitscher erkennen“, wusste sie am ersten Elternabend in der dritten Klasse zu berichten. Als Ehefrau eines erfolgreichen Düsseldorfer Rechtsanwalts und als Mutter eines hochbegabten Kindes schienen all ihre Träume wahr geworden zu sein.
Doch dann bekam ihr scheinbar perfektes Leben erste Kratzer. Ihr anfänglicher Mutterstolz verwandelte sich unerwartet in Mutterleid. Nach wenigen Wochen begann sich Paul-Justus nämlich auch in der dritten Klasse zu langweilen und entwickelte sich alsbald zu einem hartnäckigen Quälgeist, der seine Lehrer im Unterricht mit Fragen löcherte und deren Antworten hinterfragte, um die Lehrkräfte gegebenenfalls vor der gesamten Klasse neunmalklug zu korrigieren.
„Wir können es pädagogisch nicht vertreten, Paul-Justus in eine noch höhere Klasse zu stecken, Frau Zurhausen. Intellektuell ist Ihr Sohn zwar wesentlich weiter als seine Klassenkameraden, aber emotional ist er eben ein achtjähriger Junge“, erklärte ihr die Klassenlehrerin bei einem der vielen Elterngespräche, zu denen sie und Andreas in der letzten Zeit eingeladen wurden, zu denen sie jedoch alleine ging, weil ihr Mann in der Kanzlei zu tun hatte. Gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie waren längst zu einer Seltenheit geworden und auch aus der einst gemeinschaftlichen Erziehung hatte Andreas sich ausgeklinkt und überließ sie ganz allein ihr.
Als ihr Handy klingelte, zuckte Stephanie vor Schreck zusammen. Auf dem Display erschien anklagend wie ein erhobener Zeigefinger die Rufnummer der Grundschule ihres Sohnes. Ganz ruhig bleiben, ermahnte sie sich und atmete tief ein und wieder aus, bevor sie sich in betont ahnungslosem Tonfall meldete: „Zurhausen?“
„Frau Schmidt-Albrecht von der Astrid-Lindgren-Grundschule. Guten Tag, Frau Zurhausen“, erklang die übereifrige Stimme der Schulsekretärin. „Ihr Sohn Paul-Justus vermisst sie. Seine Klassenlehrerin lässt Ihnen ausrichten, dass sie mit ihm am Schultor auf Sie wartet.“ Frau Schmidt-Albrecht sprach ohne Punkt und Komma.
„Hallo Frau Schmidt-Albrecht, das ist ja nett, dass Sie anrufen und mir Bescheid sagen. Ich bin unterwegs und in zwei Minuten da“, log Stephanie, die es dank der Baustelle vielleicht in zehn Minuten schaffen würde, wenn sie Glück hatte. Sie wollte sich jedoch vor der Sekretärin nicht für ihre Verspätung rechtfertigen. Das würde sie schon zur Genüge gegenüber ihrem Sohn tun müssen, der wahrscheinlich ihre Zeit mit seiner Digitaluhr exakt stoppte.
„Du bist zweiunddreißig Minuten und sechsundvierzig Sekunden zu spät, Mama“, stellte Paul-Justus dann auch fest, als Stephanie ihn vor der Schule abholte, seinen Schulranzen zwischen den Einkaufstaschen im Kofferraum verstaute und ihn im Kindersitz auf der Rückbank festgurtete.
„Frau Engelbrecht hat gedacht, du hättest mich vergessen.“
Stephanie schaute im Rückspiegel zu ihrem Sohn. „Hat sie das etwa gesagt?“
„Ja, hat sie.“
„Unglaublich“, empörte sie sich, denn sie fühlte sich wegen des indirekten Vorwurfs als Rabenmutter abgestempelt. Was bildete sich diese unverheiratete Uni-Abgängerin und Nicht-Mutter eigentlich ein, über sie zu urteilen? „Ich habe dich aber nicht vergessen, Paul-Justus. Ich stand bloß im Stau und habe mich deswegen verspätet.“
„Okay.“ Paul-Justus zuckte mit den Schultern. „Was gibt’s zum Mittagessen?“
„Im Kofferraum sind Steaks.“
„Bah, Fleisch! Das ist doch voll ungesund und total ekelig. Das ist totes Tier. Das esse ich nicht! Davon kriegt man Würmer. Ich möchte Pommes mit Fischstäbchen.“ Paul-Justus verschränkte zum Protest die Arme und zog einen Flunsch.
„Papa hat versprochen, dass er heute mit uns Mittag isst, und sich Steaks gewünscht. Du weißt, wie selten er dafür Zeit hat. Deswegen gibt es heute Steaks“, entgegnete Stephanie. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, verzichtete sie darauf, ihrem Sohn zu erklären, dass seine heiß geliebten Fischstäbchen auch aus totem Tier bestanden und Pommes frites auf der Gesundheitsskala garantiert nicht über Steaks rangierten. „Ich rufe ihn gleich mal an und sage Bescheid, dass es etwas später mit dem Essen wird.“ Stephanie wählte die Durchwahlnummer ihres Mannes in der Kanzlei.
„Dann trete ich eben in einen Hungerstreik. So!“
„Anwaltskanzlei Zurhausen und Partner, Mayhoff, guten Tag“, flötete Frau Mayhoff aus dem Vorzimmer, zu deren Aufgabe auch das Abfangen von unerwünschten Anrufen gehörte, gut gelaunt ins Telefon.
„Zurhausen, guten Tag. Ich hätte gerne meinen Mann gesprochen.“
„Einen kleinen Moment bitte. Ich stelle Sie durch, Frau Zurhausen“, erwiderte Frau Mayhoff, jetzt weitaus weniger liebenswürdig, wobei sie „Frau Zurhausen“ irgendwie eigenartig betonte, wie Stephanie fand. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein, weil sie nach Frau Engelbrechts Bemerkung einfach etwas dünnhäutig war.
„Zurhausen?“
„Andreas!“
„Stephanie, mein Schatz. Was gibt’s?“
„Ich wollte dir Bescheid sagen, dass sich das Mittagessen ungefähr um eine Dreiviertelstunde verschiebt. Ich habe dir extra Steaks besorgt.“
„Bäh!“
Paul-Justus steckte sich einen Finger in den Hals und gab betont laute Würgegeräusche von sich, die sich anhörten, als würde er demnächst das Zeitliche segnen.
„Ah, das Mittagessen … tja, du, ich fürchte, das müssen wir leider verschieben. Ist heute wirklich ganz schlecht. Mir ist ein dringender Notfall dazwischengekommen. Wahrscheinlich wird es nachher etwas später werden.“
Die Schwerkraft zog an Stephanies Mundwinkeln. „Was heißt später?“
„Ich habe abends noch einen wichtigen Termin. Komplizierter Fall, schwerer Raub mit Totschlag. Warte besser nicht auf mich, es könnte länger dauern.“
Die Schwerkraft gewann den Kampf, und Stephanies Mundwinkel hingen missmutig nach unten. „Kein Problem.“
„Tut mir leid. Ich muss hier weitermachen. Bis dann.“
„Bis dann.“ Benommen und enttäuscht hielt sie das Handy noch ein paar Sekunden länger an ihr Ohr gedrückt, als bestünde die Chance, ihr Mann hätte doch nicht aufgelegt und würde zum Mittagessen nach Hause kommen. Dann startete sie den Motor des Wagens, legte den ersten Gang ein und setzte den Blinker. „Du kannst übrigens aufhören zu würgen. Heute gibt es Fischstäbchen mit Pommes.“
Stephanie nahm sich fest vor, sauer auf ihren Mann zu sein. Richtig lange sauer. Mindestens bis zum nächsten Tag, auf jeden Fall länger als einen Nachmittag. Doch schon während sie die Fischstäbchen briet, verflog ihre Wut und machte einem schlechten Gewissen Platz.
Sorgte Andreas nicht immer gut für sie und Paul-Justus? Tat er nicht alles dafür, dass es ihnen an nichts fehlte? War nicht er es, der das Geld für die schicke Wohnung, den teuren Wagen, die exklusive Einrichtung und all ihre Extrawünsche heranschaffte?
Plötzlich kam sie sich ungerecht und vor allem undankbar vor. Nein, ihr Mann verdiente es nicht, dass sie sauer auf ihn war. Vielmehr stand ihm ihre uneingeschränkte Unterstützung zu und ein bisschen mehr Verständnis, sagte sie sich und schob sich die letzte Gabel Pommes mit Mayonnaise in den Mund.
„Das war lecker, Mama.“ Paul-Justus strich zufrieden über sein Bäuchlein. „Und mir ist eine Idee gekommen. Wir könnten die Steaks ja einfach zu Papa auf die Arbeit bringen.“