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Buch

New York ist seine Heimat.

New York ist sicher.

New York sind seine Jagdgründe.

Um zu beweisen, dass er nicht die Mordlust seines Vaters geerbt hat, arbeitete der siebzehnjährige Jazz Dent bereits mit der Polizei in seiner kleinen Heimatstadt Lobo’s Nod zusammen. Es gelang ihm, eine schreckliche Mordserie aufzuklären. Und jetzt bittet ein zu allem entschlossener Detective aus New York City Jazz um Hilfe. Der Big Apple wird von einem grausamen Serienkiller heimgesucht. Die Bürger und die Polizeikräfte New Yorks sind gelähmt vor Entsetzen. Jazz folgt dem Hilferuf und macht sich auf den Weg, um den Killer zu stellen. Doch in der pulsierenden Ostküstenmetropole wird er bald vom Jäger zum Gejagten ...

Autor

Barry Lyga machte sich in den USA bereits als Autor von hochgelobten Jugendbüchern einen Namen. Seit den Recherchen zu seinen Thrillern um Jazz Dent weiß er verstörend gut darüber Bescheid, wie man eine Leiche verschwinden lässt. Barry Lyga lebt und schreibt in New York City.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.barrylyga.com

Außerdem lieferbar:

Ich soll nicht töten (38043)

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Barry Lyga

Blut von meinem Blut

Thriller

Ins Deutsche übertragen
von Fred Kinzel

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Game« bei Little, Brown and Company, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2014

bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Barry Lyga

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014

by Blanvalet Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: © Illustration Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Lektorat: Urban Hofstetter

Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-10987-5
V002

www.blanvalet.de

Für Kathy. Endlich.

TEIL EINS – Drei Spieler, zwei Seiten

1

Sie hatte geschrien, aber sie hatte nicht geweint.

Daran würde er sich bei dieser hier erinnern, dachte er. Nicht an die Farbe ihres Haars oder ihrer Augen. Nicht an die Rundung ihrer Hüften, die Wölbung ihrer Lippen. An nichts von alldem. Nicht einmal an ihren Namen.

Sie hatte geschrien. Zu einem gleichgültigen, von Sternen übersäten Himmel hinaufgeschrien. Sie schrien alle. Jede Einzelne schrie.

Aber sie hatte nicht geweint.

Nicht dass ihr Weinen etwas genützt hätte. Er hätte sie so oder so getötet, ihr Verhalten spielte keine Rolle. Und doch war es haften geblieben: keine Tränen, kein Weinen. Frauen weinten immer. Es war ihre letzte, stärkste Waffe. Es brachte Freunde und Ehemänner dazu, sich zu entschuldigen und sie in die Arme zu nehmen. Es ließ Daddy noch ein wenig mehr Geld für das Ballkleid herausrücken.

Sie hatte geschrien. Ihr Schreien war wundervoll gewesen.

Aber wenn er ehrlich war, hatte er das Weinen vermisst.

Später, als er fertig war, sah er auf sie hinab. Der frühe Morgen – so früh, dass die Sonne erst noch aufgehen musste – war warm, und ein leichter Geruch nach Motoröl lag in der Luft. Jetzt, da sie stumm und tot und reglos dalag, wusste er nicht mehr, warum er sie getötet hatte. Einen Moment lang überlegte er, ob das merkwürdig war, aber dann verwarf er den Zweifel sofort wieder. Es würden viele sein am Ende, und sie war eine davon. Es hatte andere gegeben, und es würde noch mehr geben.

Er kniete neben ihr nieder und zog ein kurzes, scharfes Messer aus der Scheide. Fuhr kurz mit den Fingerspitzen über ihre Haut.

Er entschied sich für die linke Hüfte. Und fing an zu schneiden.

2

Der Name des Sterbenden war

Nun, es spielte keine Rolle. Nicht mehr. Nicht in diesem Augenblick. Namen waren Bezeichnungen für Dinge, wie der Mörder wusste. Hauptwörter. Person, Ort, Ding, Gedanke – genau wie man es in der Schule gelernt hatte. Siehst du dieses Ding, aus dem ich trinke? Ich nenne es »Tasse«, na und? Siehst du dieses Ding, mit dem ich meinen Körper bedecke? Ich nenne es »Hemd«, na und? Siehst du dieses Ding, das ich unter dem dunklen Himmel aufgeschnitten habe, sodass das Mondlicht wunderschön in sein Inneres scheinen kann? Ich nenne es »Jerome Herrington«, na und?

Der Mörder stand auf und streckte sich. Das Ding namens Jerome Herrington fünf Stockwerke hinaufzutragen war nicht leicht gewesen; seine Muskeln schmerzten. Zum Glück würde er das Ding namens Jerome Herrington nicht wieder nach unten tragen müssen.

Der Kopf des Dings zuckte nach links und rechts, die Augen starrten geradeaus, ohne zu blinzeln. Ohne zu blinzeln, weil ihnen nichts anderes übrig blieb – der Mörder hatte als Erstes die Augenlider entfernt. Das war immer das Erste. Sehr wichtig.

Der Mörder kauerte neben dem Kopf des Dings nieder und flüsterte: »Wir sind jetzt fast am Ziel. Fast am Ziel. Ich habe deinen Bauch geöffnet, und ich muss sagen, du siehst sehr schön aus im Mondlicht, wirklich sehr schön.«

Das Ding namens Jerome Herrington sagte nichts, was der Mörder unhöflich fand. Und doch war er nicht zornig. Der Mörder wusste, was Zorn war, aber er hatte keine Erfahrung damit. Zorn war eine Verschwendung von Zeit und Energie. Zorn war sinnlos. »Zorn« war die Bezeichnung für eine Gefühlsregung, mit der man nichts erreichte.

Vielleicht wusste das Ding namens Jerome Herrington seine eigene Schönheit schlicht nicht zu würdigen. Der Mörder überlegte einen Moment, dann streckte er die Hand aus und hob eine von Blut glitschige Masse Gedärme aus der offenen Bauchhöhle des Dings. Mondlicht funkelte auf den glänzenden grau-roten Schlingen.

Das Ding namens Jerome Herrington stöhnte in tiefer und anhaltender Agonie. Es hob den Kopf und tat, als wollte es fliehen, obwohl es kaum die Kraft hatte, den Kopf oben zu halten.

Das Ding blubberte. Tränen liefen ihm über die Wange, und es versuchte zu sprechen.

Der Mörder strahlte. Das Ding klang glücklich. Das war gut.

»Fast geschafft«, versprach der Mörder und ließ die Eingeweide fallen. Im gleichen Moment gab der Hals des Dings nach, und der Kopf fiel nach unten. Dong, machte der eine, platsch die anderen.

Der Mörder ließ ein kleines, scharfes Messer aus seinem Stiefel gleiten. »Die Stirn, würde ich sagen«, murmelte er und begann zu schneiden.

3

Billy Dent sah in den Spiegel. Er erkannte sich nicht recht, aber das war nichts Neues. Billy Dent hatte in Spiegeln fast immer einen Fremden erblickt, seit seiner Kindheit. Zuerst hatte er diese Erscheinung, die ihn überallhin zu verfolgen schien, die ihm in Spiegeln und Schaufenstern auflauerte, gehasst und gefürchtet. Schließlich aber begriff Billy, dass das, was er im Spiegel sah, das war, was andere Leute sahen, wenn sie ihn anschauten.

Andere Leute sahen den echten Billy aus irgendeinem Grund nicht. Sie erblickten etwas, das so aussah wie sie selbst. Etwas, das menschlich und sterblich aussah. Etwas, das wie ein potenzielles Opfer aussah.

Draußen hörte er das mechanische Mahlen einer Müllpresse. Billy zog die Vorhänge auseinander und spähte hinaus. Drei Stockwerke tiefer zermalmte ein Müllfahrzeug Dosen und Flaschen.

Billy grinste. »Ach, New York«, flüsterte er. »Wir werden sehr viel Spaß haben.«

TEIL ZWEI – Vier Spieler, drei Seiten

4

Es war ein kalter, klarer Januartag, als sie sich versammelten, um Jazz’ Mutter zu beerdigen.

Beerdigen war wahrscheinlich das falsche Wort: Es gab keinen Leichnam. Janice Dent war vor mehr als neun Jahren verschwunden, als Jazz acht gewesen war, und seitdem nicht mehr gesehen worden. Sie galt offiziell als tot; ein Gericht hatte sie nach der erforderlichen siebenjährigen Wartezeit für tot erklärt. Jazz hatte sich bisher nur nicht dazu überwinden können, den letzten Schritt zu tun.

Eine Bestattung.

Als einziges Kind des berüchtigtsten Serienmörders der Welt war er mit einem intimen Verständnis für die Mechanismen und Ursachen von Toden aufgewachsen. Sonderbarerweise hatte er bisher jedoch nie ein Begräbnis besucht.

Das war in gewisser Weise ausgleichende Gerechtigkeit: Bei vielen der Opfer seines Vaters hatte es ebenfalls eine Bestattung ohne Leiche gegeben. Natürlich waren in der Regel mehr Trauergäste anwesend. Bei Janice Dent, der Frau von Billy, waren es weniger als ein Dutzend. Die Presse wurde glücklicherweise am Friedhofstor zurückgehalten.

Niemand würde um Janice Dent weinen. Nicht heute. Ihre Eltern waren lange tot, und sie war ein Einzelkind gewesen. Sie hatte, soviel Jazz wusste, keine Freunde in Lobo’s Nod zurückgelassen, zumindest keine, die sich bei der Ankündigung der Bestattung zu erkennen gegeben hätten. Jazz fand es passend. Sie war allein verschwunden, und jetzt würde sie allein beerdigt werden.

Jazz’ Freundin Connie, die neben ihm stand, drückte ihm fest die Hand. An seiner anderen Seite stand G. William Tanner, der Sheriff von Lobo’s Nod und der Mann, der Billy Dent vor mehr als vier Jahren der Gerechtigkeit zugeführt hatte. Er kam einer Vaterfigur für Jazz näher als irgendwer sonst, eine Ironie, über die Billy Dent wahrscheinlich gelacht hätte. Es war genau seine Art von Humor.

»Lieber Gott«, sagte der Priester, »wir bitten dich, in deinem Reich weiter über unsere geliebte Schwester Janice zu wachen. Sie ist schon vor geraumer Zeit von uns gegangen, o Herr, und wir wissen, du hast seither über sie gewacht. Halte auch weiter deine schützende Hand über uns, die wir um sie trauern.«

Jazz merkte zu seinem Befremden, dass er die Sache möglichst schnell hinter sich haben wollte, dass der Priester zum Ende kommen und sie alle gehen lassen sollte. Seit dem Angriff des Impressionisten – eines Möchtegern-Billy-Dent – auf Lobo’s Nod und Billys anschließender Flucht aus dem Gefängnis vor ein paar Monaten hatte Jazz ein brennendes Verlangen verspürt, so viel wie möglich von seiner Vergangenheit abzuschließen. Er wusste, die Zukunft hielt eine brutale Abrechnung bereit – Billy hatte bisher stillgehalten, aber das würde nicht so bleiben –, deshalb wollte er Frieden mit seiner Vergangenheit schließen. Endlich den Tod seiner Mutter einzuräumen war der größte Schritt, den er bislang unternommen hatte.

Jazz war es egal gewesen, welche Glaubensgemeinschaft seine Mutter beerdigte. Pfarrer McKane von der katholischen Kirche in der Stadt hatte höchst bereitwillig zugestimmt, die Messe abzuhalten, weshalb sich Jazz für den katholischen Ritus entschied. Da der Priester nun immer weiter schwafelte, fragte sich der Junge, ob er sich nicht doch nach einer weniger wortreichen Religion hätte umsehen sollen. Er seufzte, drückte Connies Hand und blickte geradeaus auf den Sarg. Er enthielt eine Menge brandneuer Plüschtiere, ähnlich jenen, die Jazz’ Mutter ihm als Kind gekauft hatte. Er enthielt außerdem eine Ladung Törtchen mit Zitronenglasur, die Jazz gebacken hatte. Es war die stärkste Erinnerung, die er an seine Mutter hatte – die Törtchen mit Zitronenglasur, die sie gebacken hatte. Er hätte einfach eine Messe und einen Grabstein haben können, aber er hatte die ganze Erfahrung haben wollen, eine Beerdigung mit allem Drum und Dran. Er wollte seine Vergangenheit wortwörtlich begraben.

Sentimental? Wahrscheinlich. Und wenn schon. Er wollte alles begraben – die Erinnerung und das Gefühl – und weitergehen.

Jazz wusste, dass rund um den Friedhof mehr als ein Dutzend Polizisten und FBI-Beamte postiert waren. Nachdem die Behörden Wind von Jazz’ Vorhaben einer Bestattungsfeier für seine Mutter bekommen hatten, bestanden sie darauf, diese zu überwachen, weil sie überzeugt waren – oder es vielleicht auch nur hofften –, Billy würde nicht widerstehen können, bei dieser Gelegenheit aus seinem Versteck aufzutauchen. Es war Zeitverschwendung, wie Jazz ihnen erklärt hatte, aber seine Beteuerungen verhallten ungehört.

Billy würde sich niemals für etwas so Banales und Berechenbares wie eine Beerdigung eine Blöße geben. Er hatte zwar gelegentlich dem Begräbnis eines Opfers beigewohnt, aber das war gewesen, bevor die Fernsehkanäle sein Bild in HD rund um die Welt bekannt gemacht hatten. »Butcher Billy« war zu klug, um sein berühmtes Gesicht ausgerechnet hier zu zeigen.

»Wir versuchen es trotzdem«, hatte ein FBI-Agent zu Jazz gesagt; der hatte mit den Schultern gezuckt und erwidert: »Steuergelder zu verschwenden ist nun mal ihr Vorrecht, würde ich sagen.«

Endlich kam der Priester zum Ende. Er fragte, ob jemand etwas am Grab sagen wollte, und sah Jazz dabei demonstrativ an. Aber Jazz hatte nichts zu sagen. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Er hatte sich vor Jahren mit dem Tod seiner Mutter abgefunden. Es gab jetzt nichts mehr zu sagen.

Zu seiner Überraschung nickte der Priester jedoch und zeigte an Jazz’ Schulter vorbei. Jazz drehte sich um und sah, wie Howie Gersten, sein bester Freund, vorsichtig nach vorn kam und es dabei geflissentlich vermied, Jazz’ Blick zu begegnen. In seinem schwarzen Anzug mit einer düsteren olivfarbenen Krawatte und trotz seiner siebzehn Jahre bereits zwei Meter groß, sah Howie aus wie eine weißhäutige Version von Baron Samedi, dem skelettartigen Voodoo-Gott der Toten, dessen Bilder Jazz gesehen hatte. Das Sakko war eine Spur zu kurz für Howies grotesk lange Gliedmaßen, sodass ein paar Fingerbreit der weißen Hemdmanschette und des bleichen Handgelenks zu sehen waren.

»Mein Name ist Howie Gersten«, sagte Howie, als er am Grabstein stand. Jazz wäre beinahe in Lachen ausgebrochen. Alle Anwesenden wussten, wer er war. »Ich kannte Mrs. Dent nicht. Aber ich finde einfach, wenn jemand beerdigt wird, wenn man Abschied nimmt, sollte irgendwer etwas sagen. Und ich schätze, als Jazz’ bester Freund ist das mein Job.« Howie räusperte sich und sah Jazz zum ersten Mal an. »Sei nicht sauer, Alter«, flüsterte er laut genug, dass es alle hörten.

Gelächter erhob sich unter den Anwesenden. Connie schüttelte den Kopf. »Also, dieser Typ «

»Jedenfalls«, fuhr Howie fort, »ist die Sache die: Als Kind wurde ich immer ziemlich viel schikaniert. Ich bin Bluter, deshalb muss ich ständig auf der Hut sein, und wenn man dann noch so eine Bohnenstange ist wie ich, dann ist Ärger schon fast vorprogrammiert. Und ich wünschte, ich könnte euch erzählen, dass Mrs. Dent immer nett zu mir war und freundliche, aufmunternde Worte für mich fand und alles, aber wie gesagt, ich kannte sie gar nicht. Zu der Zeit, als ich Jazz kennengelernt habe, war sie, ähm … schon nicht mehr da. – Aber die Sache ist die … Die Sache ist die … Und ich glaube, es liegt sowieso auf der Hand, aber einer muss es sagen: Wir alle wissen, dass Jazz’ Dad, äh … nicht gerade das tollste Vorbild war. Aber wie ich da eines Tages, als ich zehn oder so war, gerade von ein paar anderen Kindern gepiesackt wurde, kam Jazz daher. Er war kleiner als sie und in der Unterzahl, und es war klar, wenn man ehrlich ist, dass ich keine große Hilfe sein würde «

Erneutes Gelächter.

»Aber Jazz ist einfach auf diese Arschlöcher losgegangen – äh, Verzeihung, Hochwürden. Er ist einfach auf sie losgegangen und hat ihnen den … das Hinterteil vollgehauen, was nicht wahnsinnig christlich ist oder so, ich weiß, aber ich kann euch sagen, in meiner Lage sah es ziemlich gut aus. Und ich schätze, die Sache ist die, und es liegt wie gesagt sowieso auf der Hand: Auch wenn ich Mrs. Dent nie kennengelernt habe, weiß ich, sie muss ein guter Mensch gewesen sein, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass Billy Dent Jazz nicht dazu erzogen hat, hilflose Bluter vor üblen Schlägertypen zu retten. Und das ist alles, was ich sagen wollte. Ich vermisse Sie, Mrs. Dent, auch wenn wir uns leider nie begegnet sind.« Er machte Anstalten, wieder nach hinten zu gehen, ehe er noch einmal innehielt. »Äh … Gott segne Sie und Amen und alles«, fügte er an und eilte an seinen Platz zurück.

Und dann ließen sie den Sarg in die Erde hinunter. Auf dem Stein stand: JANICE DENT, MUTTER. Keine Daten, da Jazz nicht wusste, wann genau Billy sie getötet hatte.

Er nahm den Spaten aus der Hand des Priesters entgegen und schaufelte Erde in das Grab. Sie prasselte auf den Sarg.

G. William, Howie und Connie folgten. Dann traten sie zur Seite, damit die Friedhofsarbeiter die eigentliche Arbeit erledigen konnten.

Jazz kam erst zu Bewusstsein, dass er auf die Schaufeln starrte, mit denen sie Erde auf den Sarg häuften, der nicht die Leiche seiner Mutter enthielt, als Connie ihn in die Seite stieß. Sie hielt ihm ein Papiertaschentuch hin.

»Wofür ist das?«, fragte er und nahm es automatisch.

»Für deine Augen«, sagte sie, und Jazz merkte zu seiner eigenen Überraschung, dass er weinte.

5

Jazz’ Großmutter wartete auf ihn, als er nach Hause kam. Sie saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und hatte eine Decke über die Beine geworfen. Rein äußerlich sah sie aus wie jede andere alte Dame, die einen frischen Januartag im Freien genoss.

»Sie sind da«, flüsterte sie, als Jazz die Stufen zur Veranda hinaufstieg. »Sie wollen deinen Daddy holen.«

Jazz war sich nicht sicher, wen sie mit »Daddy« meinte. Gramma hielt Jazz in ihrer Verwirrtheit manchmal für Billy, und das bedeutete, sie glaubte möglicherweise, »sie« seien da, um Jazz’ längst verstorbenen Großvater zu holen. Oder aber sie war klar genug zu glauben, »sie« – in Wahrheit nur Deputy Michael Erickson, der sich freiwillig bereit erklärt hatte, während der Beerdigung auf Gramma aufzupassen – seien wegen Billy selbst hier. In diesem Fall lagen ihre Überlegungen in etwa auf einer Linie mit denen des FBI. Jazz wusste nicht, ob er das lustig oder traurig finden sollte.

Er sah, wie Erickson aus einer Fensterecke zu ihnen herausspähte. Gramma hatte Mom gehasst, deshalb war es nicht infrage gekommen, dass Jazz sie an der Bestattung teilnehmen ließ. Und selbst wenn sie Janice geliebt hätte, vor die Wahl gestellt, ob er seine schwarze Freundin oder seine rassistische, geistesgestörte Großmutter einladen sollte, hätte Jazz sich immer für Connie entschieden.

»Sie haben Spione geschickt«, fuhr Gramma im Flüsterton fort, »und sie sehen aus wie ein Mann, aber sie können sich in zwei aufteilen, dann vier und so weiter. Ich habe es früher schon gesehen. Während des Kriegs. Es ist ein Trick der Kommunisten, und sie haben ihn den Demokraten beigebracht, damit sie uns die Waffen wegnehmen können. Ich hätte sie ja verscheucht, aber meine Flinte haben sie bereits verschwinden lassen.«

Tatsächlich hatte Jazz die Flinte verschwinden lassen. Es war Großvaters altes Jagdgewehr, und Jazz hatte beide Läufe verstopft und den Schlagbolzen entfernt, sodass Gramma wirklich kein Unheil mehr damit anrichten konnte. Aber wenn er für längere Zeit weg war, so wie heute, versteckte er es dennoch vor ihr. Es freute ihn, dass sie die Politiker in Washington dafür verantwortlich machte und nicht ihn.

Da er seit Jahren mit Grammas zunehmendem geistigem Verfall beschäftigt war, konnte Jazz so leicht nichts mehr schockieren. »Im Haus ist also ein kommunistischer Spion, der nach Daddy sucht, hm?«, sagte er. Hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so einen Satz sagen höre. »Keine Angst. Ich gehe jetzt da rein und schmeiße ihn raus. Der wird es nicht noch mal wagen hierherzukommen, wenn ich mit ihm fertig bin.« Er schwang den Spaten, den der Priester ihm am Ende der Feier überreicht hatte, wie ein Samurai-Schwert.

Gramma riss die Augen auf und klatschte in die Hände. »Schlitz ihn auf!«, brüllte sie. »Schlitz ihn auf wie diesen Waschbär, den du einmal am 4. Juli aufgeschlitzt hast!« Dazu stach und hackte sie mit einem imaginären Werkzeug auf ein imaginäres Ziel ein, während Jazz ins Haus ging.

»Und, wie lief es?«, fragte er Erickson. »Außer dem üblichen Wahnsinn?«

Erickson zuckte mit den Achseln. »Sie hat vor etwa einer Stunde angefangen herumzuspinnen. Ich habe beschlossen, sie ruhig machen zu lassen. Solange ich sie im Auge behalten konnte, fand ich es besser, sie einfach draußen sitzen zu lassen.«

»Gute Entscheidung. Sie hält Sie übrigens für eine Art kommunistischen Klon.«

Erickson lachte. »Das erklärt einiges.«

»Jedenfalls würden Sie mir einen riesigen persönlichen Gefallen tun, wenn Sie jetzt gleich wie der Teufel aus dem Haus stürzen könnten.«

»Na klar. Für dich tu ich alles.«

Jazz’ schlechtes Gewissen meldete sich. Erickson war ein guter Polizist, noch relativ neu in der kleinen Stadt Lobo’s Nod; er war genau zu dem Zeitpunkt hierher versetzt worden, als der Impressionist seine von Billy Dent inspirierte Mordserie begonnen hatte. Zu seiner ewigen Schande hatte Jazz Erickson der Verbrechen verdächtigt und sich nicht gescheut, es dem Sheriff mitzuteilen. Demnach fand er eigentlich, er sei derjenige, der Erickson etwas schuldete, aber so sah es der Deputy nicht. Für Erickson war Jazz ein Held, weil er richtig auf das nächste Opfer des Impressionisten geschlossen und es gerettet hatte.

»Danke noch mal, dass Sie auf sie aufgepasst haben.«

»Mach’s gut, Jasper.« Erickson öffnete die Tür und stürmte dann wie von Dämonen gejagt nach draußen, wobei er den ganzen Weg bis zu seinem Streifenwagen mit lachhaft hoher Stimme schrie.

Gramma trippelte ins Haus und spähte umher. »Er hat keine kleinen Babyspinnen hinterlassen, oder? Das sind winzige Gedankenüberwacher, und sie kriechen einem ins Ohr, wenn man schläft, und programmieren einem das Gehirn um, bis man nicht mehr weiß, wer man ist.«

Aha, das war Gramma also zugestoßen … Jazz seufzte. Es wurde schlimmer. Er hatte immer gewusst, dass es schlimmer wurde mit ihr, aber irgendwie hatte er sich eingeredet, ihre Verrücktheit sei beherrschbar und harmlos. Vor nicht allzu langer Zeit hatte eine Sozialarbeiterin namens Melissa Hoover Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit Jazz aus Grammas Haus in eine Pflegefamilie wechselte. Jazz hatte Widerstand geleistet, und dann hatte Billy nach seiner Flucht aus dem Gefängnis Melissa getötet, ehe sie ihren Bericht einreichen konnte, und diesem speziellen Problem damit ein Ende gesetzt.

Fürs Erste.

Tatsache war, dass der Sozialdienst demnächst einen neuen Sachbearbeiter auf Jazz’ Fall ansetzen würde. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag waren es noch sechs Monate – sie konnten ihn immer noch Gramma entreißen. Und Jazz dachte allmählich, dass Melissa vielleicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht brauchte er eine andere Umgebung. Weg von seiner Großmutter. Sogar weg von Lobo’s Nod. Weg von allen Erinnerungen an seine Kindheit und an Billy.

Ach, was machte er sich da vor? Billy war irgendwo da draußen, und solange Billy frei war, konnte Jazz seiner Vergangenheit nie entfliehen. Er wusste, sein Vater würde ihn finden und Kontakt mit ihm aufnehmen. Irgendwie, auf irgendeine Weise. Egal wie viele Polizeibeamte und FBI-Agenten nach ihm suchten und Jazz überwachten, Billy würde einen Weg finden.

Jazz setzte Gramma vor den Fernseher im Wohnzimmer. Der erste Kanal war zufällig ein Lokalnachrichtensender. Doug Weathers – der schleimige Reporter, wie er im Buch stand – sprach in die Kamera. » Begräbnis von Janice Dent, Ehefrau des berüchtigten William Cornelius Dent, auch bekannt als der ›Künstler‹, ›Green Jack‹, ›Ein Herz und eine Seele‹ und so weiter. Die Presse war nicht eingeladen, aber wir können Ihnen mitteilen, dass die Feier kurz und spärlich besucht war.«

Jazz zappte rasch zu einem Shopping-Sender. Die fand Gramma zum Schreien komisch.

In der Küche fing er an, das Geschirr zu waschen, das Gramma während seiner Abwesenheit benutzt hatte. Erickson hatte es ordentlich in die Spüle gestapelt für ihn, ganz im Gegensatz zu Grammas neuester Angewohnheit, es in den Backofen zu räumen. Beim Spülen sah er aus dem Küchenfenster in den Garten hinaus.

Und zum Vogelbad.

Du kennst dieses alte Vogelbad, das meine Mom in ihrem Garten hat?

Billy. Im Staatsgefängnis Wammaket.

Sie hat es nach Westen ausgerichtet, verstehst du? Es bekommt keine Morgensonne, und genau das wollen die Vögel. Es muss an das entgegengesetzte Ende des Rasens verschoben werden.

Sie hatten gestritten. Jazz war sich vorgekommen wie ein Idiot, mit seinem soziopathischen Massenmörder von Vater über ein Vogelbad zu streiten

Stell das verdammte Ding einfach um. Geh raus, wenn sie schläft, und stell es einfach um. Dorthin, wo die alte Platane steht, du weißt schon.

Und das, hatte Jazz ungläubig gefragt, ist der Preis für deine Hilfe?

Es war der Preis gewesen. Und so hatte Jazz getan, was sein Vater verlangte. Selbst jetzt, Monate später, konnte er noch nicht genau sagen, warum. Billy hatte schließlich keine Möglichkeit, den erbetenen Gefallen zu erzwingen. Aber Jazz hatte sich moralisch verpflichtet gefühlt, es zu tun. Als hätte es bewiesen, dass er ein gleichgültiger, liebloser Soziopath wie Dear Old Dad war, als hätte es sein Schicksal endgültig besiegelt, wenn er das verdammte Vogelbad nicht umstellte. Also hatte er es getan, und genau in dieser Nacht war Billy aus dem Gefängnis ausgebrochen.

Bald nach der Flucht und ihren schrecklichen Folgen hatte Jazz gegenüber Sheriff G. William Tanner gestanden, dass er Billy einen Gefallen getan hatte. »Ich sehe zwar nicht, wie es damit zusammenhängen könnte«, hatte er gesagt. »Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es nichts damit zu tun hat.«

Am nächsten Morgen war – sehr zu Grammas Bestürzung – ein Team aus einheimischen Polizisten und FBI-Spezialisten im Garten der Dents eingefallen. Sie gruben den Boden um, wo das Vogelbad jahrelang gestanden hatte. Sie gruben den Boden unter seinem neuen Standplatz um. Sie nahmen Peilungen mit Vermessungswerkzeugen aus allen möglichen Winkeln vor, um festzustellen, wer oder was einen freien Blick auf das Vogelbad haben könnte. Und sie untersuchten das Vogelbad selbst und entdeckten so schließlich die für Jazz vernichtende Wahrheit. Vier Schrauben hielten das Gehäuse des Brunnens an Ort und Stelle. Drei waren alt und rostig, aber eine war jünger und glänzte noch. Ein Bombenexperte wurde für alle Fälle hinzugezogen, und als man die Schrauben entfernt und den Mechanismus zerlegte, entdeckte man

»Einen GPS-Sender«, erzählte Sheriff Tanner später am Abend in seinem Büro, wohin er Jazz gerufen hatte. »Und einen ziemlich guten dazu. Auf fünf Meter genau.«

»Oder auf eine Gartenbreite«, murmelte Jazz.

»Tja « G. William wollte es erkennbar nicht bestätigen. Die leuchtend rote, missgestaltete Nase – von den erhaltenen Schlägen in einem Polizistenleben aus der normalen Form gebracht – hob sich deutlich vom bleichen Rest des Gesichts ab. »Ja.«

»Ich bewege also das Vogelbad, und irgendwo auf der Welt sieht Billys verrückter Bundesgenosse das Fledermaus-Zeichen und erkennt, dass es an der Zeit ist, seinen Herrn und Meister aus Wammaket herauszuholen. Und ehe man sich’s versieht, sind ein paar Wächter tot «

»Vollzugsbeamte«, korrigierte G. William.

»Vollzugsbeamte, richtig, und Billy ist draußen.«

Billys Flucht nagte gewaltig an ihm. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn Dear Old Dad weiter hinter Gittern geblieben wäre und Wammaket nur in einem Leichensack verlassen hätte. Aber Melissa … und die toten Vollzugsbeamten … ach, die machten ihm richtig zu schaffen. War er für ihren Tod verantwortlich? In gewisser Weise natürlich – er hatte die Ereignisse in Gang gesetzt, die zu Billys Flucht führten, und Melissa und die Beamten waren in der Folge dieser Flucht gestorben. Aber Jazz selbst hatte sie nicht getötet. Die Vollzugsbeamten waren während eines Mini-Gefängnisaufstands gestorben, der bei Billys Ausbruch aus der Krankenstation als Ablenkungsmanöver diente, und Melissa war auf hässliche Weise von Billys eigener Hand gestorben. Selbst wenn Jazz gewusst hätte, dass das Verrücken des Vogelbads Billys Flucht ermöglichte, hätte er nicht zwangsläufig davon ausgehen müssen, dass es dabei zu Toten kam.

Er hatte es natürlich nicht gewusst. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, Schuldgefühle zu haben.

Es sei denn, es waren gar nicht wirklich Schuldgefühle.

Sie haben all diese Gefühle, hatte Billy einmal zu ihm gesagt. Dinge wie Liebe und Angst, Mitgefühl und Bedauern. Sie haben sie tief in sich, ein einziges verdrehtes, nicht entwirrbares Knäuel lebender Schlangen. Sie glauben, sie haben sich unter Kontrolle, aber in Wirklichkeit tun sie nur, was die Schlangen ihnen befehlen.

»Sie«, das waren natürlich die normalen Menschen. Schafe. Potenzielle Opfer. Kandidaten war das Wort, mit dem Billy sie für gewöhnlich bezeichnete. Und ihre Gefühle? Nun, solche Dinge waren für Menschen wie Billy sinnlos, aber es war wichtig zu wissen, wie man sie vortäuschte.

Tue ich genau das?, fragte sich Jazz. Ich weiß, ich sollte Schuldgefühle haben, weil diese Leute umgekommen sind. Und Billy hat mir mein Leben lang beigebracht, wie man so tut, als würde man Dinge empfinden, die man in Wirklichkeit gar nicht empfindet. Mache ich mir nur selbst etwas vor? Benehme ich mich nur schuldbewusst, weil man es von mir erwartet? Wie soll es sich eigentlich anfühlen?

Vielleicht würde es Connie wissen. Vielleicht konnte sie es ihm beschreiben, ihm helfen zu verstehen.

Vielleicht.

Fast gegen seinen Willen hatte er Connie mehr verraten, als er je beabsichtigt hatte. Er hatte ihr, zum Beispiel, von seinen Träumen erzählt, den Träumen, in denen er ein Messer in der Hand hielt und in … etwas schnitt. Oder in jemanden. Er wusste es nicht. Er hatte sich die längste Zeit gefragt, wen er in diesem Traum schnitt. War es seine Mutter, hatte er sich gefragt? Vielleicht hatte er sie getötet

Doch bei ihrer letzten Begegnung hatte Billy diese Möglichkeit scheinbar geleugnet, als er Jazz als einen Killer bezeichnete, der nur noch nicht getötet hat. Es war das für Billy typische doppeldeutige Gerede, das Zeug, das Jazz sein ganzes Leben lang von ihm gehört hatte, Worte, die umdefiniert und falsch definiert wurden, um Jazz’ natürliche Hemmungen zu brechen. Die Leute da draußen sind nicht real, sagte er etwa. Sie sind nicht wirklich real, so wie du oder ich real sind. Sie sind auf ihre eigene, falsche Art real. Sie glauben, sie seien real, aber sie können es nur glauben, weil wir sie lassen, verstehst du?

Klassische Techniken der Gehirnwäsche. Sekten benutzten sie. Himmel, selbst die meisten etablierten Religionen benutzten sie. Der menschliche Geist war eine furchtbar fragile Sache – ihn zu zerbrechen und neu zusammenzusetzen war deprimierend einfach.

Menschen sind real, wiederholte Jazz sein altes Mantra. Menschen zählen.

In dem Traum jedoch zählte nichts. Nichts, als das Messer zu führen, die drängende Stimme seines Vaters, das Messer, das auf das Fleisch traf … es teilte

Der Traum war schlimm genug. Doch der neue Traum … der Traum, der genau in der Nacht begonnen hatte, als Billy geflohen war, in der Nacht, in der Jazz dem Impressionisten begegnet war und ihn besiegt hatte

berühren

seine Hand fährt nach oben

»Oh, ja, du weißt «

berühren

» du weißt, wie «

Es läutete an der Haustür. Gott sei Dank.

Jazz kam vor Gramma an die Tür und beruhigte sie auf dem Weg durchs Wohnzimmer. »Es ist nur die Türglocke.«

»Luftangriff!«, schrie Gramma. »Luftangriff! Kommunistenraketen!«

»Türglocke«, versicherte ihr Jazz. »Da – Bowflex im Fernsehen!«

Gramma fuhr herum und verschluckte sich fast beim Anblick eines eingeölten Bodybuilders, der Bankdrücken machte. »Muskeln!«, rief sie und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen.

Jazz lugte durch das kleine Fenster neben der Tür und seufzte erleichtert, weil Gramma es nicht vor ihm zur Tür geschafft hatte – der Mann auf der Veranda war schwarz, und Grammas Vorstellung von Rassentoleranz war auf dem Stand der späten Vierzigerjahre. Der 1840er.

Jazz kannte den Mann nicht, aber er erkannte die Haltung. Kein Reporter, zum Glück. Der Mann war irgendeine Art Polizist. Vielleicht sogar ein FBI-Agent. Jedenfalls war er niemand, mit dem Jazz reden wollte. Er würde den Kerl verscheuchen müssen – wenn alles nichts half, würde er noch einmal läuten und Gramma auf ihn loslassen.

Also öffnete er die Tür einen Spalt und sah mit seinem strengsten Blick nach draußen. »Wir haben im Büro gespendet. Ich mag keine Pfadfinderinnen-Kekse. Und nein, ich möchte kein Heft des Wachturms – wir sind Buddhisten. Danke und auf Wiedersehen.«

Ehe er die Tür jedoch schließen konnte, schob der Mann mit lässiger Geschmeidigkeit eine Fußspitze dazwischen. »Du arbeitest in keinem Büro. Du bist evangelisch erzogen worden. Und was in aller Welt hast du gegen Pfefferminzplätzchen?«

Jazz drückte gegen die Tür. Nichts geschah. Der Mann trug Stiefel mit Stahlkappen. Er konnte notfalls den ganzen Tag dort stehen. »Also gut, erwischt. Ich mag einfach keine Bullen.«

»Ich auch nicht«, sagte der Mann krampfhaft leutselig. »Komm schon, Junge.« Seine Stimme wurde plötzlich ernst, fast flehentlich. »Gib mir fünf Minuten. Danach lasse ich dich in Ruhe, versprochen.«

»Der letzte Fremde, dem ich diese Tür geöffnet habe, hat sich als jemand herausgestellt, der meinen Vater nachahmte, so gut es ging. Sie werden verstehen, warum ich zögere.«

Der Mann klappte ein kleines Lederetui auf und ließ seine Dienstmarke sehen. »Ich bin den ganzen weiten Weg von New York gekommen, um dich zu sehen. Wäre eigentlich ein Flug von rund zwei Stunden, aber unsere Verwaltung ist so was von knausrig, dass ich eine Verbindung zu nehmen hatte, bei der ich umsteigen musste … Kannst du dir das vorstellen? Hat mehr als fünf Stunden gedauert. Und ich musste einen Mietwagen nehmen. Ich hasse Autofahren, so wie du deinen Vater hasst. Fünf Minuten. Ich schwöre es bei meiner Dienstmarke.«

Jazz besah sich die Marke eingehend. Sah echt aus, soweit er das beurteilen konnte. Er hatte nie eine richtige Marke des NYPD gesehen, aber er wusste, worauf es ungefähr ankam. Der Ausweis daneben enthielt ein lausiges Foto des Mannes auf der Veranda, zusammen mit seinem Namen und Rang: LOUIS L. HUGHES, DET. 2. GRADS, NYPD. BROOKLYN SOUTH. MORDDEZERNAT.

Unwillkürlich war Jazz neugierig geworden. New York. Ein Polizist aus New York. Was konnte er

Ach so, klar. Er hatte es.

»Es geht um Hut&Hund, hab ich recht?«

»Fünf Minuten, das ist alles.«

Diese Fußspitze würde nirgendwohin gehen, und solange sie blieb, wo sie war, blieb Hughes ebenfalls. Jazz seufzte und öffnete die Tür. Bevor Hughes eintreten konnte, stieß ihn Jazz zurück, kam zu ihm hinaus auf die Veranda und schloss die Tür hinter sich.

»Es wird kalt hier draußen«, beschwerte sich Hughes.

»Ich würde Sie ja hereinbitten, aber meine Großmutter ist eine geistesgestörte Rassistin.«

Ein höhnisches Schnauben. »Im Gegensatz zu all den netten, normalen Rassisten da draußen, oder was?«

Jazz verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihre fünf Minuten haben vor dreißig Sekunden angefangen. Wir können über die historischen Ungerechtigkeiten sprechen, die der afroamerikanischen Bevölkerung bis heute widerfahren, oder Sie reden über Hut&Hund.«

Hughes nickte. »Was weißt du bereits?«

Jazz zuckte mit den Achseln. »Nur was in den Nachrichten war. Was wahrscheinlich bedeutet, weniger als irgendetwas von Relevanz.« Sie verzogen unisono verächtlich das Gesicht über die Medien. »Der erste Mord geschah vor acht Monaten. Bisher gab es insgesamt vierzehn. Die meisten in Brooklyn. Alle zeigen Anzeichen eines gemischt organisierten Killers – er versteht es gut, seine Spuren zu verwischen, aber er wütet wie ein Berserker an den Leichen. Verstümmelungen und alles. Die Polizei hält Einzelheiten zurück, um ›mögliche falsche Spuren‹ auszumisten.« Jazz überlegte kurz. »Ich wette, er hat angefangen, die Opfer auszuweiden, hab ich recht?«

Hughes gelang es einigermaßen, seine Überraschung zu verbergen, aber Jazz bemerkte es trotzdem. »Ja. Woher weißt du das? Das ist eins der Dinge, die wir bisher nicht in die Medien gebracht haben.«

»Ich habe zwischen den Zeilen gelesen. In einem Artikel wird ein Gerichtsmediziner zitiert, der von einer ›echten Sauerei‹ spricht. Und auf einem der Bilder in der Zeitung sieht man im Hintergrund einen Spurensicherungsexperten mit einem abgedeckten Eimer. Ich habe einfach getippt.«

Hughes presste die Lippen aufeinander. »Nicht schlecht. Ja, er hat angefangen, die Gedärme zu entfernen.«

»Und er hat die Angewohnheit, sie zu markieren, wenn ich richtig gelesen habe. Oder? Manche mit einem Hut, manche mit einem Hund. Er ritzt es den Opfern ein.«

»Ja. Es gibt kein Muster dabei. Erst dachten wir, er wechselt ab oder markiert die Frauen mit Hüten und die Männer mit Hunden. Das würde zu einem bestimmten Krankheitsbild passen. Aber dann fanden wir einen Hund an einer Frau. Dann zwei Hüte hintereinander. Und einen Hut bei einem Mann. Und dann wieder zwei Hüte hintereinander. Es gibt kein Muster.«

»Es gibt ein Muster«, sagte Jazz. »Es ist nur keins, das Sie sehen.«

»Und du siehst es?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber für ihn ergibt es einen Sinn.«

»Ich weiß«, sagte Hughes unwirsch. »Ich komme auch nicht frisch von der Akademie. Im Kopf dieses Typen ist es die vernünftigste Sache der Welt, Leute zu entführen, sie zu foltern und zu töten und ihnen Hüte und Hunde einzuritzen. Ist mir schon klar.«

Jazz sah auf die Uhr. »Das waren Ihre fünf Minuten. Ich hoffe, es hat sich gelohnt.«

»Warte!« Hughes stieß einen Arm vor und hielt die Tür auf. »Hör zu, ich bin nicht hierhergekommen, um auf der Veranda mit dir zu plaudern. Ich brauche … das heißt wir … Wir brauchen deine Hilfe.«

Jazz lachte. »Meine Hilfe? Wieso, weil ich den Impressionisten gefangen habe? Das waren gewissermaßen besondere Umstände.«

»Ach so? Wie das?«

»Er hat meinen Vater imitiert. Er hat praktisch in meinem Hinterhof getötet.«

»Verstehe. Du nimmst also nur die leichten Fälle. Und die Menschen in New York zählen nicht. Als ob sie nicht real wären.«

Menschen sind real. Menschen zählen.

Worte, nach denen Jazz lebte. Er hatte keine andere Wahl. Sobald er aufhörte, das zu glauben – und er fürchtete, es würde deprimierend einfach sein, das zu tun –, würde er sich in seinen Vater verwandeln.

Gut, aber auch wenn Menschen real waren und zählten, konnte Jazz sie nicht alle retten. Unmittelbar nach seinem Erfolg mit der Ergreifung des Impressionisten war er hergegangen und hatte sich ICH JAGE KILLER in riesigen Gothic-Buchstaben auf die Brust tätowieren lassen. Ein neues Mantra, direkt in seine Haut geschrieben, damit er es nicht vergessen konnte.

Doch in den Monaten seit der Verhaftung des Impressionisten hatte Jazz nichts anderes gejagt als seine Selbstzweifel. Sicher, »Ich jage Killer« hörte sich toll an und war ein netter kleiner Slogan, aber unter dem Strich war er immer noch siebzehn. Schlug sich weiter mit seiner schwer nachlassenden Großmutter und ihrem heruntergekommenen Haus herum. Versuchte weiter, sich durch die Schule zu kämpfen und zu überlegen, was zum Teufel er tun sollte, wenn er damit fertig war. Die tausend banalen Kleinigkeiten des täglichen Lebens führten dazu, dass er sich vor der Zeit gealtert fühlte, als hätte das Versprechen dieser Tätowierung in dem Moment zu verblassen begonnen, in dem die Tinte trocken gewesen war. Vielleicht sogar, als sie noch feucht war.

Jazz seufzte und sah seinem Atem in der kalten Luft nach. »Hören Sie, Detective Hughes, ich … ich hatte Glück. Einmal. Ich bin mir sicher, Sie tun, was Sie können. Sie haben das FBI und alle Ressourcen des NYPD. Da werde ich keine große zusätzliche Hilfe sein.«

»Das sehe ich anders.« Hughes beugte sich vor, seine Augen waren groß und drängend. »Du verstehst diese Typen, oder? Du hast ein Leben lang Erfahrung mit ihnen, auf eine Weise, die auch der beste und engagierteste Profiler nicht nachvollziehen kann. Alles, was wir tun können, ist, ihnen hinterher Fragen zu stellen. Und wer weiß, ob sie uns die Wahrheit erzählen, oder inwieweit sie sich überhaupt mit der Wahrheit befassen. Du bist anders. Du bist mit ihm aufgewachsen. Als er noch auf der Jagd war. Und er hat dir alles erzählt, oder?«

»Als er noch schürfte …!«, flüsterte Jazz unwillkürlich.

»Was war das?«

»Nichts.«

»Du sagtest ›schürfen‹. Hat es dein Vater so genannt?«

Jazz schob Hughes’ Arm von der Tür fort. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin siebzehn, Mann. In ein paar Tagen fängt die Schule wieder an für mich.«

»Na und? Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Ich schreibe gute Entschuldigungen.« Hughes grinste, seine Zähne waren sehr groß und beinahe raubtierhaft. »Schau, es wäre nur für ein paar Tage. Du kommst zu uns und schaust dir ein paar von den Fallakten an. Fährst zu ein paar Tatorten und machst von deinen besonderen Talenten Gebrauch.« Er wedelte mit der Hand wie ein Zauberer. »Du bist zurück, bevor die Weihnachtsferien um sind. Oder verpasst höchstens einen Schultag. Ich meine es ernst mit der Entschuldigung, ich schreibe sie dir auf NYPD-Briefpapier und alles. Ich lasse sie vom Polizeipräsidenten unterschreiben. Vom Bürgermeister. Du kannst sie auf eBay versteigern, wenn er eines Tages als Präsident kandidiert.«

»Tut mir wirklich leid«, sagte Jazz, und auch wenn es ihm nicht so wahnsinnig leidtat, war es kein großes Kunststück, Hughes in dem Glauben zu lassen. Wenn man »Es tut mir leid« im richtigen Tonfall und mit niedergeschlagenen Augen sagte, glaubten es einem die Leute fast immer.

»Meine Karte«, sagte Hughes und glaubte es wirklich. »Für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«

Jazz steckte die Karte in die Tasche, ohne sie anzusehen. »Das werde ich nicht«, sagte er und ging ins Haus.

6

Berühr mich

ertönt die Stimme.

So

fährt sie fort.

Und er tut es.

Er berührt.

Seine Finger gleiten über warmes, geschmeidiges Fleisch.

Berühr mich so

Seine Haut auf ihrer.

Weiter

Wieder die Stimme.

So

Und seine Beine, die Reibung

Und so warm

So warm

So

Jazz wachte auf, er zitterte, aber nicht vor Kälte. Das alte Haus seiner Großmutter war zugig und undicht wie ein Schlepper nach einem Torpedotreffer, aber der Raumheizkörper neben seinem Bett hielt ihn ausreichend warm.

Er zitterte von dem Traum. Von dem, was er bedeutete. Oder nicht bedeutete. Oder bedeuten könnte.

Er wusste es nicht. An Tagen wie diesen – in Nächten wie dieser – hatte er das Gefühl, nichts zu wissen.

Der neue Traum

War Sex.

Natürlich. Was sonst?

In dem alten Traum – der jetzt zu gelegentlichen Gastauftritten heruntergestuft zu sein schien, während der neue die Hauptrolle übernahm – hatte er jemanden verletzt. Jemanden mit einem Messer geschnitten. Und die Frage war damals für ihn gewesen: Wie könnte ich wissen, wie es sich anfühlt, jemanden mit einem Messer zu schneiden, wenn ich es nicht tatsächlich schon getan habe? Wie könnte ich es in dieser Schärfe träumen?

Jazz war noch jungfräulich. Anders als Billy glauben wollte, hatte er noch nie mit jemandem geschlafen. Er hatte schreckliche Angst vor der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit.

Er sehnte sich natürlich auch danach. Er war schließlich siebzehn und kerngesund. Die Hormone rauschten durch seine Blutbahn wie bei jedem anderen Siebzehnjährigen. Manchmal sehnte er sich so sehr nach Sex, dass er glaubte, vor Verlangen ohnmächtig zu werden. Ihm war schwindlig vor Verlangen nach Sex.

Aber er fürchtete sich vor dem, wozu Sex führen könnte. Sicher, es gab Serienmörder, deren Wüten keine sexuelle Komponente enthielt, aber sie waren rar gesät, so rar, dass sie fast nicht existierten. Und keiner von ihnen war von Geburt an von William Cornelius »Billy« Dent programmiert worden.

Jazz konnte sich nicht an viel aus seiner Kindheit erinnern. Wer wusste schon, welche Zeitbomben Billy tief in seinem Unterbewusstsein deponiert hatte?

Ja, es war besser, Sex zu meiden. Egal, wie sehr er ihn wollte. Egal, wie rattenscharf seine Freundin war.

Würde das ewig anhalten? Oder nur bis die wilde Flut der Teenagerhormone in seinem Blutkreislauf abebbte? Er hatte keine Ahnung. Wollte nicht einmal spekulieren. Aber Priester brachten es schließlich auch fertig, ein Leben lang ohne Sex auszukommen, oder?

Na ja, manche von ihnen jedenfalls.

Arme Connie. Sie tat, als würde es ihr nichts ausmachen, auf Sex zu verzichten, aber besonders in den letzten Monaten war es für Jazz offensichtlich geworden, dass sie bereit für die nächste Stufe in ihrer Beziehung war – sogar begierig darauf. Und er durfte es einfach nicht.

Er musste stark sein. Für sie beide.

Er wälzte sich aus dem Bett und schlich die Treppe hinunter. Es gab zwar auch oben ein Bad, aber es grenzte an Grammas Zimmer, und die Toilettenspülung würde sie wecken.

Als er sich die Hände im Waschbecken wusch, fiel sein Blick auf seinen nackten Oberkörper im Spiegel, und da war es: ICH JAGE KILLER, als V entlang seines Schlüsselbeins in großen schwarzen Gothic-Buchstaben tätowiert. Es war verkehrt herum geschrieben, sodass er es im Spiegel lesen konnte.

Ich dachte, das sei ich. Ein Jäger der Jäger. Ein Raubtier, das Raubtiere angreift.

Klang gut, theoretisch. Aber die Wahrheit war die: Er war einfach ein verkorkster Jugendlicher, der in einer Kleinstadt namens Lobo’s Nod wohnte. Was konnte er tun? Auf der Stelle in einen Flieger nach New York steigen? Na klar. Wer würde auf Gramma aufpassen? Wer würde sich um sie kümmern und ihren sich rapide verschlechternden Geisteszustand geheim halten, wenn er sich in der großen Stadt herumtrieb, um … Um was zu tun? Irgendwo auf einem Revier sitzen und eine Gruppe Polizisten mit Geschichten einer Kindheit unter Billy Dents Kuratel unterhalten? Wäre damit wirklich etwas erreicht?

Er drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Zusätzlich zu seinem eigenen Tattoo hatte er noch vier andere: einen mächtigen Yosemite Sam auf dem Rücken, ein stilisiertes CP3 – für den Basketballer Chris Paul – auf einer Schulter, eine Kette koreanischer Schriftzeichen rund um den rechten Bizeps und seine neueste Erwerbung, einen brennenden Basketball auf der anderen Schulter. Das waren eigentlich nicht seine Tätowierungen – sie mieteten nur den Platz auf seinem Körper. Howie durfte sich wegen seiner Bluterkrankheit nicht tätowieren lassen, deshalb hatte Jazz seinen Körper als Howies persönliche Werbefläche zur Verfügung gestellt. Er hatte immer gedacht, diese Geste würde für ihn sprechen, es sei etwas, das ein echter Soziopath nicht tun würde. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Seinen Körper so anzubieten? Ihn ständig zu verunstalten, ohne auch nur ernsthaft darüber nachzudenken? War das der Gipfel der Freundschaft oder der Gipfel der Verrücktheit?

Er trocknete sich die Hände und schlich wieder nach oben, ohne Gramma zu wecken.

Er hatte Glück gehabt mit dem Impressionisten. Ganz einfach. Der Mann war von Billy besessen gewesen und hatte diese Besessenheit auf Jazz ausgedehnt. Es war fast ein Ding der Unmöglichkeit, ihn nicht zu fangen. Der Kerl hatte buchstäblich an Jazz’ Tür geklopft.

Ich jage keine Killer. Ich konnte Ginny Davis nicht retten. Ich konnte Melissa Hoover nicht retten. Beinahe hätte ich mich selbst nicht retten können. Wem mache ich hier etwas vor?

Der Impressionist hatte während seines Aufenthalts in Lobo’s Nod Fotos und Videos von Jazz gemacht. Wie er zwischen seinen Morden die Zeit dazu gefunden hatte, wusste Jazz nicht. Aber die Polizei hatte die Bilder und Videos auf dem Handy des Mörders entdeckt, als sie ihn verhaftete. Sobald Jazz davon erfuhr, hatte er darauf bestanden, sie zu sehen.

Natürlich war G. William dagegen gewesen. Aber Jazz konnte sehr überzeugend sein. Eine natürliche Gabe für den Nachkommen eines Soziopathen.

Wir sind die überzeugendsten Menschen der Welt, sagte Billy gern. Alle Leute wollen uns gefällig sein. Alle wollen uns glücklich machen. Bis sie merken, was es wirklich braucht, uns glücklich zu machen. Dann gehen sie gern zum Kampf über. Er grinste an dieser Stelle.

So fühlt sich das also an, hatte Jazz gemurmelt, als er sich durch die Bilder auf G. Williams Computer klickte.

So fühlt sich was an?, fragte der Sheriff.

»«

echte euch

Jetzt warf sich Jazz in seinem Bett herum. An seiner Wand waren Fotos der hundertdreiundzwanzig Menschen, deren Ermordung Billy Dent gestanden hatte. Und dazu ein Foto von seiner Mutter.

Er driftete dahin in diesem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf, wenn die Welt formbar und ungewiss ist.

Auf der linken Seite war ein goldenes Schild aufgeprägt, mit den Worten CITY OF NEW YORK POLICE DETECTIVE. Der Name LOUIS L. HUGHES mit DETECTIVE darunter, dazu zwei Telefonnummern, eine Faxnummer und eine E-Mail-Adresse.