5
Jazz’ Großmutter wartete auf ihn, als er nach Hause kam. Sie saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und hatte eine Decke über die Beine geworfen. Rein äußerlich sah sie aus wie jede andere alte Dame, die einen frischen Januartag im Freien genoss.
»Sie sind da«, flüsterte sie, als Jazz die Stufen zur Veranda hinaufstieg. »Sie wollen deinen Daddy holen.«
Jazz war sich nicht sicher, wen sie mit »Daddy« meinte. Gramma hielt Jazz in ihrer Verwirrtheit manchmal für Billy, und das bedeutete, sie glaubte möglicherweise, »sie« seien da, um Jazz’ längst verstorbenen Großvater zu holen. Oder aber sie war klar genug zu glauben, »sie« – in Wahrheit nur Deputy Michael Erickson, der sich freiwillig bereit erklärt hatte, während der Beerdigung auf Gramma aufzupassen – seien wegen Billy selbst hier. In diesem Fall lagen ihre Überlegungen in etwa auf einer Linie mit denen des FBI. Jazz wusste nicht, ob er das lustig oder traurig finden sollte.
Er sah, wie Erickson aus einer Fensterecke zu ihnen herausspähte. Gramma hatte Mom gehasst, deshalb war es nicht infrage gekommen, dass Jazz sie an der Bestattung teilnehmen ließ. Und selbst wenn sie Janice geliebt hätte, vor die Wahl gestellt, ob er seine schwarze Freundin oder seine rassistische, geistesgestörte Großmutter einladen sollte, hätte Jazz sich immer für Connie entschieden.
»Sie haben Spione geschickt«, fuhr Gramma im Flüsterton fort, »und sie sehen aus wie ein Mann, aber sie können sich in zwei aufteilen, dann vier und so weiter. Ich habe es früher schon gesehen. Während des Kriegs. Es ist ein Trick der Kommunisten, und sie haben ihn den Demokraten beigebracht, damit sie uns die Waffen wegnehmen können. Ich hätte sie ja verscheucht, aber meine Flinte haben sie bereits verschwinden lassen.«
Tatsächlich hatte Jazz die Flinte verschwinden lassen. Es war Großvaters altes Jagdgewehr, und Jazz hatte beide Läufe verstopft und den Schlagbolzen entfernt, sodass Gramma wirklich kein Unheil mehr damit anrichten konnte. Aber wenn er für längere Zeit weg war, so wie heute, versteckte er es dennoch vor ihr. Es freute ihn, dass sie die Politiker in Washington dafür verantwortlich machte und nicht ihn.
Da er seit Jahren mit Grammas zunehmendem geistigem Verfall beschäftigt war, konnte Jazz so leicht nichts mehr schockieren. »Im Haus ist also ein kommunistischer Spion, der nach Daddy sucht, hm?«, sagte er. Hätte nie gedacht, dass ich mich einmal so einen Satz sagen höre. »Keine Angst. Ich gehe jetzt da rein und schmeiße ihn raus. Der wird es nicht noch mal wagen hierherzukommen, wenn ich mit ihm fertig bin.« Er schwang den Spaten, den der Priester ihm am Ende der Feier überreicht hatte, wie ein Samurai-Schwert.
Gramma riss die Augen auf und klatschte in die Hände. »Schlitz ihn auf!«, brüllte sie. »Schlitz ihn auf wie diesen Waschbär, den du einmal am 4. Juli aufgeschlitzt hast!« Dazu stach und hackte sie mit einem imaginären Werkzeug auf ein imaginäres Ziel ein, während Jazz ins Haus ging.
»Und, wie lief es?«, fragte er Erickson. »Außer dem üblichen Wahnsinn?«
Erickson zuckte mit den Achseln. »Sie hat vor etwa einer Stunde angefangen herumzuspinnen. Ich habe beschlossen, sie ruhig machen zu lassen. Solange ich sie im Auge behalten konnte, fand ich es besser, sie einfach draußen sitzen zu lassen.«
»Gute Entscheidung. Sie hält Sie übrigens für eine Art kommunistischen Klon.«
Erickson lachte. »Das erklärt einiges.«
»Jedenfalls würden Sie mir einen riesigen persönlichen Gefallen tun, wenn Sie jetzt gleich wie der Teufel aus dem Haus stürzen könnten.«
»Na klar. Für dich tu ich alles.«
Jazz’ schlechtes Gewissen meldete sich. Erickson war ein guter Polizist, noch relativ neu in der kleinen Stadt Lobo’s Nod; er war genau zu dem Zeitpunkt hierher versetzt worden, als der Impressionist seine von Billy Dent inspirierte Mordserie begonnen hatte. Zu seiner ewigen Schande hatte Jazz Erickson der Verbrechen verdächtigt und sich nicht gescheut, es dem Sheriff mitzuteilen. Demnach fand er eigentlich, er sei derjenige, der Erickson etwas schuldete, aber so sah es der Deputy nicht. Für Erickson war Jazz ein Held, weil er richtig auf das nächste Opfer des Impressionisten geschlossen und es gerettet hatte.
»Danke noch mal, dass Sie auf sie aufgepasst haben.«
»Mach’s gut, Jasper.« Erickson öffnete die Tür und stürmte dann wie von Dämonen gejagt nach draußen, wobei er den ganzen Weg bis zu seinem Streifenwagen mit lachhaft hoher Stimme schrie.
Gramma trippelte ins Haus und spähte umher. »Er hat keine kleinen Babyspinnen hinterlassen, oder? Das sind winzige Gedankenüberwacher, und sie kriechen einem ins Ohr, wenn man schläft, und programmieren einem das Gehirn um, bis man nicht mehr weiß, wer man ist.«
Aha, das war Gramma also zugestoßen … Jazz seufzte. Es wurde schlimmer. Er hatte immer gewusst, dass es schlimmer wurde mit ihr, aber irgendwie hatte er sich eingeredet, ihre Verrücktheit sei beherrschbar und harmlos. Vor nicht allzu langer Zeit hatte eine Sozialarbeiterin namens Melissa Hoover Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit Jazz aus Grammas Haus in eine Pflegefamilie wechselte. Jazz hatte Widerstand geleistet, und dann hatte Billy nach seiner Flucht aus dem Gefängnis Melissa getötet, ehe sie ihren Bericht einreichen konnte, und diesem speziellen Problem damit ein Ende gesetzt.
Fürs Erste.
Tatsache war, dass der Sozialdienst demnächst einen neuen Sachbearbeiter auf Jazz’ Fall ansetzen würde. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag waren es noch sechs Monate – sie konnten ihn immer noch Gramma entreißen. Und Jazz dachte allmählich, dass Melissa vielleicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht brauchte er eine andere Umgebung. Weg von seiner Großmutter. Sogar weg von Lobo’s Nod. Weg von allen Erinnerungen an seine Kindheit und an Billy.
Ach, was machte er sich da vor? Billy war irgendwo da draußen, und solange Billy frei war, konnte Jazz seiner Vergangenheit nie entfliehen. Er wusste, sein Vater würde ihn finden und Kontakt mit ihm aufnehmen. Irgendwie, auf irgendeine Weise. Egal wie viele Polizeibeamte und FBI-Agenten nach ihm suchten und Jazz überwachten, Billy würde einen Weg finden.
Jazz setzte Gramma vor den Fernseher im Wohnzimmer. Der erste Kanal war zufällig ein Lokalnachrichtensender. Doug Weathers – der schleimige Reporter, wie er im Buch stand – sprach in die Kamera. »… Begräbnis von Janice Dent, Ehefrau des berüchtigten William Cornelius Dent, auch bekannt als der ›Künstler‹, ›Green Jack‹, ›Ein Herz und eine Seele‹ und so weiter. Die Presse war nicht eingeladen, aber wir können Ihnen mitteilen, dass die Feier kurz und spärlich besucht war.«
Jazz zappte rasch zu einem Shopping-Sender. Die fand Gramma zum Schreien komisch.
In der Küche fing er an, das Geschirr zu waschen, das Gramma während seiner Abwesenheit benutzt hatte. Erickson hatte es ordentlich in die Spüle gestapelt für ihn, ganz im Gegensatz zu Grammas neuester Angewohnheit, es in den Backofen zu räumen. Beim Spülen sah er aus dem Küchenfenster in den Garten hinaus.
Und zum Vogelbad.
Du kennst dieses alte Vogelbad, das meine Mom in ihrem Garten hat?
Billy. Im Staatsgefängnis Wammaket.
Sie hat es nach Westen ausgerichtet, verstehst du? Es bekommt keine Morgensonne, und genau das wollen die Vögel. Es muss an das entgegengesetzte Ende des Rasens verschoben werden.
Sie hatten gestritten. Jazz war sich vorgekommen wie ein Idiot, mit seinem soziopathischen Massenmörder von Vater über ein Vogelbad zu streiten …
Stell das verdammte Ding einfach um. Geh raus, wenn sie schläft, und stell es einfach um. Dorthin, wo die alte Platane steht, du weißt schon.
Und das, hatte Jazz ungläubig gefragt, ist der Preis für deine Hilfe?
Es war der Preis gewesen. Und so hatte Jazz getan, was sein Vater verlangte. Selbst jetzt, Monate später, konnte er noch nicht genau sagen, warum. Billy hatte schließlich keine Möglichkeit, den erbetenen Gefallen zu erzwingen. Aber Jazz hatte sich moralisch verpflichtet gefühlt, es zu tun. Als hätte es bewiesen, dass er ein gleichgültiger, liebloser Soziopath wie Dear Old Dad war, als hätte es sein Schicksal endgültig besiegelt, wenn er das verdammte Vogelbad nicht umstellte. Also hatte er es getan, und genau in dieser Nacht war Billy aus dem Gefängnis ausgebrochen.
Bald nach der Flucht und ihren schrecklichen Folgen hatte Jazz gegenüber Sheriff G. William Tanner gestanden, dass er Billy einen Gefallen getan hatte. »Ich sehe zwar nicht, wie es damit zusammenhängen könnte«, hatte er gesagt. »Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es nichts damit zu tun hat.«
Am nächsten Morgen war – sehr zu Grammas Bestürzung – ein Team aus einheimischen Polizisten und FBI-Spezialisten im Garten der Dents eingefallen. Sie gruben den Boden um, wo das Vogelbad jahrelang gestanden hatte. Sie gruben den Boden unter seinem neuen Standplatz um. Sie nahmen Peilungen mit Vermessungswerkzeugen aus allen möglichen Winkeln vor, um festzustellen, wer oder was einen freien Blick auf das Vogelbad haben könnte. Und sie untersuchten das Vogelbad selbst und entdeckten so schließlich die für Jazz vernichtende Wahrheit. Vier Schrauben hielten das Gehäuse des Brunnens an Ort und Stelle. Drei waren alt und rostig, aber eine war jünger und glänzte noch. Ein Bombenexperte wurde für alle Fälle hinzugezogen, und als man die Schrauben entfernt und den Mechanismus zerlegte, entdeckte man …
»Einen GPS-Sender«, erzählte Sheriff Tanner später am Abend in seinem Büro, wohin er Jazz gerufen hatte. »Und einen ziemlich guten dazu. Auf fünf Meter genau.«
»Oder auf eine Gartenbreite«, murmelte Jazz.
»Tja …« G. William wollte es erkennbar nicht bestätigen. Die leuchtend rote, missgestaltete Nase – von den erhaltenen Schlägen in einem Polizistenleben aus der normalen Form gebracht – hob sich deutlich vom bleichen Rest des Gesichts ab. »Ja.«
»Ich bewege also das Vogelbad, und irgendwo auf der Welt sieht Billys verrückter Bundesgenosse das Fledermaus-Zeichen und erkennt, dass es an der Zeit ist, seinen Herrn und Meister aus Wammaket herauszuholen. Und ehe man sich’s versieht, sind ein paar Wächter tot …«
»Vollzugsbeamte«, korrigierte G. William.
»Vollzugsbeamte, richtig, und Billy ist draußen.«
Billys Flucht nagte gewaltig an ihm. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn Dear Old Dad weiter hinter Gittern geblieben wäre und Wammaket nur in einem Leichensack verlassen hätte. Aber Melissa … und die toten Vollzugsbeamten … ach, die machten ihm richtig zu schaffen. War er für ihren Tod verantwortlich? In gewisser Weise natürlich – er hatte die Ereignisse in Gang gesetzt, die zu Billys Flucht führten, und Melissa und die Beamten waren in der Folge dieser Flucht gestorben. Aber Jazz selbst hatte sie nicht getötet. Die Vollzugsbeamten waren während eines Mini-Gefängnisaufstands gestorben, der bei Billys Ausbruch aus der Krankenstation als Ablenkungsmanöver diente, und Melissa war auf hässliche Weise von Billys eigener Hand gestorben. Selbst wenn Jazz gewusst hätte, dass das Verrücken des Vogelbads Billys Flucht ermöglichte, hätte er nicht zwangsläufig davon ausgehen müssen, dass es dabei zu Toten kam.
Er hatte es natürlich nicht gewusst. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, Schuldgefühle zu haben.
Es sei denn, es waren gar nicht wirklich Schuldgefühle.
Sie haben all diese Gefühle, hatte Billy einmal zu ihm gesagt. Dinge wie Liebe und Angst, Mitgefühl und Bedauern. Sie haben sie tief in sich, ein einziges verdrehtes, nicht entwirrbares Knäuel lebender Schlangen. Sie glauben, sie haben sich unter Kontrolle, aber in Wirklichkeit tun sie nur, was die Schlangen ihnen befehlen.
»Sie«, das waren natürlich die normalen Menschen. Schafe. Potenzielle Opfer. Kandidaten war das Wort, mit dem Billy sie für gewöhnlich bezeichnete. Und ihre Gefühle? Nun, solche Dinge waren für Menschen wie Billy sinnlos, aber es war wichtig zu wissen, wie man sie vortäuschte.
Tue ich genau das?, fragte sich Jazz. Ich weiß, ich sollte Schuldgefühle haben, weil diese Leute umgekommen sind. Und Billy hat mir mein Leben lang beigebracht, wie man so tut, als würde man Dinge empfinden, die man in Wirklichkeit gar nicht empfindet. Mache ich mir nur selbst etwas vor? Benehme ich mich nur schuldbewusst, weil man es von mir erwartet? Wie soll es sich eigentlich anfühlen?
Vielleicht würde es Connie wissen. Vielleicht konnte sie es ihm beschreiben, ihm helfen zu verstehen.
Vielleicht.
Fast gegen seinen Willen hatte er Connie mehr verraten, als er je beabsichtigt hatte. Er hatte ihr, zum Beispiel, von seinen Träumen erzählt, den Träumen, in denen er ein Messer in der Hand hielt und in … etwas schnitt. Oder in jemanden. Er wusste es nicht. Er hatte sich die längste Zeit gefragt, wen er in diesem Traum schnitt. War es seine Mutter, hatte er sich gefragt? Vielleicht hatte er sie getötet …
Doch bei ihrer letzten Begegnung hatte Billy diese Möglichkeit scheinbar geleugnet, als er Jazz als einen Killer bezeichnete, der nur noch nicht getötet hat. Es war das für Billy typische doppeldeutige Gerede, das Zeug, das Jazz sein ganzes Leben lang von ihm gehört hatte, Worte, die umdefiniert und falsch definiert wurden, um Jazz’ natürliche Hemmungen zu brechen. Die Leute da draußen sind nicht real, sagte er etwa. Sie sind nicht wirklich real, so wie du oder ich real sind. Sie sind auf ihre eigene, falsche Art real. Sie glauben, sie seien real, aber sie können es nur glauben, weil wir sie lassen, verstehst du?
Klassische Techniken der Gehirnwäsche. Sekten benutzten sie. Himmel, selbst die meisten etablierten Religionen benutzten sie. Der menschliche Geist war eine furchtbar fragile Sache – ihn zu zerbrechen und neu zusammenzusetzen war deprimierend einfach.
Menschen sind real, wiederholte Jazz sein altes Mantra. Menschen zählen.
In dem Traum jedoch zählte nichts. Nichts, als das Messer zu führen, die drängende Stimme seines Vaters, das Messer, das auf das Fleisch traf … es teilte …
Der Traum war schlimm genug. Doch der neue Traum … der Traum, der genau in der Nacht begonnen hatte, als Billy geflohen war, in der Nacht, in der Jazz dem Impressionisten begegnet war und ihn besiegt hatte …
… berühren …
… seine Hand fährt nach oben …
»Oh, ja, du weißt …«
… berühren …
»… du weißt, wie …«
Es läutete an der Haustür. Gott sei Dank.
Jazz kam vor Gramma an die Tür und beruhigte sie auf dem Weg durchs Wohnzimmer. »Es ist nur die Türglocke.«
»Luftangriff!«, schrie Gramma. »Luftangriff! Kommunistenraketen!«
»Türglocke«, versicherte ihr Jazz. »Da – Bowflex im Fernsehen!«
Gramma fuhr herum und verschluckte sich fast beim Anblick eines eingeölten Bodybuilders, der Bankdrücken machte. »Muskeln!«, rief sie und klatschte in die Hände wie ein kleines Mädchen.
Jazz lugte durch das kleine Fenster neben der Tür und seufzte erleichtert, weil Gramma es nicht vor ihm zur Tür geschafft hatte – der Mann auf der Veranda war schwarz, und Grammas Vorstellung von Rassentoleranz war auf dem Stand der späten Vierzigerjahre. Der 1840er.
Jazz kannte den Mann nicht, aber er erkannte die Haltung. Kein Reporter, zum Glück. Der Mann war irgendeine Art Polizist. Vielleicht sogar ein FBI-Agent. Jedenfalls war er niemand, mit dem Jazz reden wollte. Er würde den Kerl verscheuchen müssen – wenn alles nichts half, würde er noch einmal läuten und Gramma auf ihn loslassen.
Also öffnete er die Tür einen Spalt und sah mit seinem strengsten Blick nach draußen. »Wir haben im Büro gespendet. Ich mag keine Pfadfinderinnen-Kekse. Und nein, ich möchte kein Heft des Wachturms – wir sind Buddhisten. Danke und auf Wiedersehen.«
Ehe er die Tür jedoch schließen konnte, schob der Mann mit lässiger Geschmeidigkeit eine Fußspitze dazwischen. »Du arbeitest in keinem Büro. Du bist evangelisch erzogen worden. Und was in aller Welt hast du gegen Pfefferminzplätzchen?«
Jazz drückte gegen die Tür. Nichts geschah. Der Mann trug Stiefel mit Stahlkappen. Er konnte notfalls den ganzen Tag dort stehen. »Also gut, erwischt. Ich mag einfach keine Bullen.«
»Ich auch nicht«, sagte der Mann krampfhaft leutselig. »Komm schon, Junge.« Seine Stimme wurde plötzlich ernst, fast flehentlich. »Gib mir fünf Minuten. Danach lasse ich dich in Ruhe, versprochen.«
»Der letzte Fremde, dem ich diese Tür geöffnet habe, hat sich als jemand herausgestellt, der meinen Vater nachahmte, so gut es ging. Sie werden verstehen, warum ich zögere.«
Der Mann klappte ein kleines Lederetui auf und ließ seine Dienstmarke sehen. »Ich bin den ganzen weiten Weg von New York gekommen, um dich zu sehen. Wäre eigentlich ein Flug von rund zwei Stunden, aber unsere Verwaltung ist so was von knausrig, dass ich eine Verbindung zu nehmen hatte, bei der ich umsteigen musste … Kannst du dir das vorstellen? Hat mehr als fünf Stunden gedauert. Und ich musste einen Mietwagen nehmen. Ich hasse Autofahren, so wie du deinen Vater hasst. Fünf Minuten. Ich schwöre es bei meiner Dienstmarke.«
Jazz besah sich die Marke eingehend. Sah echt aus, soweit er das beurteilen konnte. Er hatte nie eine richtige Marke des NYPD gesehen, aber er wusste, worauf es ungefähr ankam. Der Ausweis daneben enthielt ein lausiges Foto des Mannes auf der Veranda, zusammen mit seinem Namen und Rang: LOUIS L. HUGHES, DET. 2. GRADS, NYPD. BROOKLYN SOUTH. MORDDEZERNAT.
Unwillkürlich war Jazz neugierig geworden. New York. Ein Polizist aus New York. Was konnte er …
Ach so, klar. Er hatte es.
»Es geht um Hut&Hund, hab ich recht?«
»Fünf Minuten, das ist alles.«
Diese Fußspitze würde nirgendwohin gehen, und solange sie blieb, wo sie war, blieb Hughes ebenfalls. Jazz seufzte und öffnete die Tür. Bevor Hughes eintreten konnte, stieß ihn Jazz zurück, kam zu ihm hinaus auf die Veranda und schloss die Tür hinter sich.
»Es wird kalt hier draußen«, beschwerte sich Hughes.
»Ich würde Sie ja hereinbitten, aber meine Großmutter ist eine geistesgestörte Rassistin.«
Ein höhnisches Schnauben. »Im Gegensatz zu all den netten, normalen Rassisten da draußen, oder was?«
Jazz verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihre fünf Minuten haben vor dreißig Sekunden angefangen. Wir können über die historischen Ungerechtigkeiten sprechen, die der afroamerikanischen Bevölkerung bis heute widerfahren, oder Sie reden über Hut&Hund.«
Hughes nickte. »Was weißt du bereits?«
Jazz zuckte mit den Achseln. »Nur was in den Nachrichten war. Was wahrscheinlich bedeutet, weniger als irgendetwas von Relevanz.« Sie verzogen unisono verächtlich das Gesicht über die Medien. »Der erste Mord geschah vor acht Monaten. Bisher gab es insgesamt vierzehn. Die meisten in Brooklyn. Alle zeigen Anzeichen eines gemischt organisierten Killers – er versteht es gut, seine Spuren zu verwischen, aber er wütet wie ein Berserker an den Leichen. Verstümmelungen und alles. Die Polizei hält Einzelheiten zurück, um ›mögliche falsche Spuren‹ auszumisten.« Jazz überlegte kurz. »Ich wette, er hat angefangen, die Opfer auszuweiden, hab ich recht?«
Hughes gelang es einigermaßen, seine Überraschung zu verbergen, aber Jazz bemerkte es trotzdem. »Ja. Woher weißt du das? Das ist eins der Dinge, die wir bisher nicht in die Medien gebracht haben.«
»Ich habe zwischen den Zeilen gelesen. In einem Artikel wird ein Gerichtsmediziner zitiert, der von einer ›echten Sauerei‹ spricht. Und auf einem der Bilder in der Zeitung sieht man im Hintergrund einen Spurensicherungsexperten mit einem abgedeckten Eimer. Ich habe einfach getippt.«
Hughes presste die Lippen aufeinander. »Nicht schlecht. Ja, er hat angefangen, die Gedärme zu entfernen.«
»Und er hat die Angewohnheit, sie zu markieren, wenn ich richtig gelesen habe. Oder? Manche mit einem Hut, manche mit einem Hund. Er ritzt es den Opfern ein.«
»Ja. Es gibt kein Muster dabei. Erst dachten wir, er wechselt ab oder markiert die Frauen mit Hüten und die Männer mit Hunden. Das würde zu einem bestimmten Krankheitsbild passen. Aber dann fanden wir einen Hund an einer Frau. Dann zwei Hüte hintereinander. Und einen Hut bei einem Mann. Und dann wieder zwei Hüte hintereinander. Es gibt kein Muster.«
»Es gibt ein Muster«, sagte Jazz. »Es ist nur keins, das Sie sehen.«
»Und du siehst es?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber für ihn ergibt es einen Sinn.«
»Ich weiß«, sagte Hughes unwirsch. »Ich komme auch nicht frisch von der Akademie. Im Kopf dieses Typen ist es die vernünftigste Sache der Welt, Leute zu entführen, sie zu foltern und zu töten und ihnen Hüte und Hunde einzuritzen. Ist mir schon klar.«
Jazz sah auf die Uhr. »Das waren Ihre fünf Minuten. Ich hoffe, es hat sich gelohnt.«
»Warte!« Hughes stieß einen Arm vor und hielt die Tür auf. »Hör zu, ich bin nicht hierhergekommen, um auf der Veranda mit dir zu plaudern. Ich brauche … das heißt wir … Wir brauchen deine Hilfe.«
Jazz lachte. »Meine Hilfe? Wieso, weil ich den Impressionisten gefangen habe? Das waren gewissermaßen besondere Umstände.«
»Ach so? Wie das?«
»Er hat meinen Vater imitiert. Er hat praktisch in meinem Hinterhof getötet.«
»Verstehe. Du nimmst also nur die leichten Fälle. Und die Menschen in New York zählen nicht. Als ob sie nicht real wären.«
Menschen sind real. Menschen zählen.
Worte, nach denen Jazz lebte. Er hatte keine andere Wahl. Sobald er aufhörte, das zu glauben – und er fürchtete, es würde deprimierend einfach sein, das zu tun –, würde er sich in seinen Vater verwandeln.
Gut, aber auch wenn Menschen real waren und zählten, konnte Jazz sie nicht alle retten. Unmittelbar nach seinem Erfolg mit der Ergreifung des Impressionisten war er hergegangen und hatte sich ICH JAGE KILLER in riesigen Gothic-Buchstaben auf die Brust tätowieren lassen. Ein neues Mantra, direkt in seine Haut geschrieben, damit er es nicht vergessen konnte.
Doch in den Monaten seit der Verhaftung des Impressionisten hatte Jazz nichts anderes gejagt als seine Selbstzweifel. Sicher, »Ich jage Killer« hörte sich toll an und war ein netter kleiner Slogan, aber unter dem Strich war er immer noch siebzehn. Schlug sich weiter mit seiner schwer nachlassenden Großmutter und ihrem heruntergekommenen Haus herum. Versuchte weiter, sich durch die Schule zu kämpfen und zu überlegen, was zum Teufel er tun sollte, wenn er damit fertig war. Die tausend banalen Kleinigkeiten des täglichen Lebens führten dazu, dass er sich vor der Zeit gealtert fühlte, als hätte das Versprechen dieser Tätowierung in dem Moment zu verblassen begonnen, in dem die Tinte trocken gewesen war. Vielleicht sogar, als sie noch feucht war.
Jazz seufzte und sah seinem Atem in der kalten Luft nach. »Hören Sie, Detective Hughes, ich … ich hatte Glück. Einmal. Ich bin mir sicher, Sie tun, was Sie können. Sie haben das FBI und alle Ressourcen des NYPD. Da werde ich keine große zusätzliche Hilfe sein.«
»Das sehe ich anders.« Hughes beugte sich vor, seine Augen waren groß und drängend. »Du verstehst diese Typen, oder? Du hast ein Leben lang Erfahrung mit ihnen, auf eine Weise, die auch der beste und engagierteste Profiler nicht nachvollziehen kann. Alles, was wir tun können, ist, ihnen hinterher Fragen zu stellen. Und wer weiß, ob sie uns die Wahrheit erzählen, oder inwieweit sie sich überhaupt mit der Wahrheit befassen. Du bist anders. Du bist mit ihm aufgewachsen. Als er noch auf der Jagd war. Und er hat dir alles erzählt, oder?«
»Als er noch schürfte …!«, flüsterte Jazz unwillkürlich.
»Was war das?«
»Nichts.«
»Du sagtest ›schürfen‹. Hat es dein Vater so genannt?«
Jazz schob Hughes’ Arm von der Tür fort. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin siebzehn, Mann. In ein paar Tagen fängt die Schule wieder an für mich.«
»Na und? Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Ich schreibe gute Entschuldigungen.« Hughes grinste, seine Zähne waren sehr groß und beinahe raubtierhaft. »Schau, es wäre nur für ein paar Tage. Du kommst zu uns und schaust dir ein paar von den Fallakten an. Fährst zu ein paar Tatorten und machst von deinen besonderen Talenten Gebrauch.« Er wedelte mit der Hand wie ein Zauberer. »Du bist zurück, bevor die Weihnachtsferien um sind. Oder verpasst höchstens einen Schultag. Ich meine es ernst mit der Entschuldigung, ich schreibe sie dir auf NYPD-Briefpapier und alles. Ich lasse sie vom Polizeipräsidenten unterschreiben. Vom Bürgermeister. Du kannst sie auf eBay versteigern, wenn er eines Tages als Präsident kandidiert.«
»Tut mir wirklich leid«, sagte Jazz, und auch wenn es ihm nicht so wahnsinnig leidtat, war es kein großes Kunststück, Hughes in dem Glauben zu lassen. Wenn man »Es tut mir leid« im richtigen Tonfall und mit niedergeschlagenen Augen sagte, glaubten es einem die Leute fast immer.
»Meine Karte«, sagte Hughes und glaubte es wirklich. »Für den Fall, dass du es dir anders überlegst.«
Jazz steckte die Karte in die Tasche, ohne sie anzusehen. »Das werde ich nicht«, sagte er und ging ins Haus.