Zwei Paare auf einem Kreuzfahrtschiff im Pazifik: Sylva, eine junge, attraktive Psychologin, wird von ihrem Schwiegervater Martin Burian begleitet, der sich vergeblich bemüht, sie von ihrer Ehekrise abzulenken. Die verwitwete Fabrikantin Margarete hat ihren Neffen Siegfried zu dieser Fahrt eingeladen, der den Tod seines besten Freundes betrauert. Alle versuchen Abstand zu gewinnen und zur Ruhe zu kommen.
Doch die zufällige Begegnung dieser vier Menschen hat ungeahnte Folgen. Während sich Sylva und Siegfried ineinander verlieben, werden ihre Begleiter von der Vergangenheit eingeholt. Margarete und Burian lebten einst Tür an Tür im Sudetenland, waren Freunde, bis sie durch die politischen Ereignisse im Zweiten Weltkrieg zu Todfeinden wurden …
Pavel Kohout verknüpft mit Charme und Ironie Liebesgeschichte und Historie, fragt nach Schuld und Sühne, nach Versöhnung und Vergebung. Und eines wird bei der Lektüre dieses Romans ganz klar: Die Wahrheit hat viele Gesichter …
Pavel Kohout, 1928 in Prag geboren, ist als Dramatiker und Schriftsteller international bekannt geworden. Er war einer der Wortführer des »Prager Frühlings« und verfaßte 1977 gemeinsam mit Václav Havel das Gründungsdokument der »Charta 77«. 1979 wurde er ausgebürgert. Kohout lebt heute in Wien und Prag.
PAVEL KOHOUT
Die lange Welle hinterm Kiel
Roman
Aus dem Tschechischen von Karl-Heinz Jähn
Insel Verlag
Titel der tschechischen Originalausgabe Ta dlouhá vlna za kýlem
Copyright © Pavel Kohout 2000
Die deutschsprachige Ausgabe erschien erstmals im Jahr 2000 im Albrecht
Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eBook Insel Verlag Berlin 2011
© Insel Verlag Berlin 2011
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Umschlag: Anke Rosenlöcher
Umschlagabbildung: Mona Film; Reinhard Eisele/project photos
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-77020-6
www.insel-verlag.de
Für Petra Sommer
Die zwei Paare langten mit ihren zerbeulten Flughafentaxis so dicht hintereinander am Liegeplatz des wohlbekannten Kreuzfahrtschiffes MS Harmonia an, daß es aussah, als würden sie zusammengehören. Dieser Eindruck entstand jedoch nur, wie Oberzahlmeister Carlo Zeppelini sich allerdings erst nach jenem furchtbaren Ereignis erinnerte, weil ihnen beiden etwas Ungleiches anhaftete.
Die »Mylady«, wie er Greisinnen ihres Schlages nannte, die in den teuersten Appartements der besten Schiffe die Erdkugel umrunden, wo sie mit den Geldern ihrer endlich dahingeschiedenen Gatten nach einem halben Jahrhundert ohnmächtiger Langeweile zu einer Vita nuova erwachen, ließ schon von weitem eine geradezu mörderische Aktivität erwarten. Die Kämmerer! schoß es ihm durch den Kopf, ja, das mußte die Kämmerer sein!
Es kam selten vor, daß die Reederei von den üblichen Daten zur Aufenthaltsdauer und Buchungsklasse der Passagiere einmal abgesehen zusätzlich noch eine »Gebrauchsanweisung« mitfaxte. Diesmal enthielt sie die vertrauliche Mitteilung, Frau Margarete Kämmerer, Witwe des Inhabers der Österreichisch-bayerischen Kalk- und Betonwerke, habe in den letzten drei Jahren auf beinahe allen deutschen Schiffen, mit denen sie die warmen Gewässer durchkreuzte, einen Eklat heraufbeschworen. Ungeachtet des zähen Gerangels um die Marktanteile auf dem Meer tauschten selbst hartnäckigste Konkurrenten solche Warnungen vertraulich untereinander aus.
Dieser »Mylady« hing der Ruf einer beispiellosen Krawallmacherin an, deren Passagen früher oder später im grimmigen Konflikt mit der Schiffsführung oder der Besatzung gipfelten. Die Branche unterteilte sich in jene Schiffe, die das bereits hinter sich hatten, und andere, denen es noch bevorstand. Daß man die ewige Nörglerin nicht unisono zur Persona ingrata erklärte, hatte einen einfachen Grund: Mindestens drei Monate pro Jahr verbrachte sie auf Schiffen, wobei sie, wie die meisten der auf Sparsamkeit versessenen »Altreichen«, gerade den weniger begehrten Zeiten den Vorzug gab. Um so beträchtlicher besserte sie so den außerhalb der Saison sinkenden Umsatz der Linien auf; eine Absage schlüge jedesmal mit wenigstens fünfzigtausend D-Mark Verlust zu Buche. Die Verkaufsabteilungen nährten bei ihren Kapitänen die Hoffnung, die »Schreckschraube«, wie irgend jemand die alte Dame einmal getauft hatte, werde vom letzten der deutschen Schiffe an Bord des ersten zurückkehren, wo sie den Anlaß ihres Zornausbruchs schon vergessen hatte, und nicht mit all ihren goldenen Kreditkarten zu den Skandinaviern, Italienern oder gar zu den Amis überlaufen.
Carlo, der für den Service wie für die Küche bevorzugt Landsleute aus dem heimatlichen Sizilien anheuerte, betrachtete sich längst schon als Deutschen.
Er hatte das Frontappartement unter dem Promenadendeck, das wochenlang von niemand mehr gebucht worden war, auf Hochglanz bringen lassen, desgleichen die ansonsten eher nachlässig behandelte Ein-Personen-Außenkabine, die an vorletzter Stelle der Preisliste stand und von der Kämmerer im letzten Augenblick zusätzlich geordert worden war. Diese Person entpuppte sich als ein gutgebauter, breitschultriger junger Mann knapp über zwanzig, der vom Beifahrersitz des Taxis sprang, um der alten Dame beflissen die Tür aufzureißen und ihr den Arm zum Passieren der Gangway zu bieten. Ein Gigolo! – das stand für Carlo fest, als er auf sie zustürzte. Ob sich die Alte wegen dieses Beaus wohl beherrschen wird oder sich erst recht vor ihm aufspielt? Noch ehe er darüber befinden konnte, sah er dem nachfolgenden Taxi das andere ungleiche Paar entsteigen.
Der Ältere war in diesem Fall ein Mann, der ebensogut siebzig wie achtzig sein konnte. Auch er war groß, zugleich aber asketisch schlank, soweit dies nicht die Folge seiner in die Augen springenden Behinderung war: Er stützte sich schwer auf Stöcke. Sie wurden ihm aus dem Auto von einer betörend schönen jungen Frau gereicht, die der Oberzahlmeister auf höchstens dreißig schätzte.
Wieder einmal stieg Neid in ihm hoch: Obwohl die MS Harmonia mehr von ihm abhängig war als von der ganzen Kommandobrücke, würde er seiner Rosa niemals solchen Luxus bieten können. Wie alle Reeder so verbot auch seiner die Beschäftigung von Familienangehörigen und gestand ihnen ebensowenig zu, als Begleitperson mitzureisen, damit sein Personal nicht vom Dienst abgelenkt würde.
Nur Geld, ausschließlich eine prallvolle Brieftasche konnte doch dieser jungen Schönheit die runzlige Haut eines betagten Invaliden aufwiegen! Während Carlo sich ihr näherte, warf er routiniert einen Blick auf die Liste der Neuankömmlinge, die zumeist schon an Bord gegangen waren. Auf die Kämmerer mit Begleiter folgte als letztes Paar Professor Martin Burian mit Frau Silvia Burian, beide Schweizer. Wer war dieser Typ, und welche Bank hatte er einmal ausgeraubt, daß eine solche donna fatale sogar bereit war, ihn zu ehelichen? Doch da stand er auch schon vor der avisierten Schreckschraube numero uno und legte eine tiefe Verbeugung hin, wobei er sich vorschriftsmäßig der englischen Begrüßungsformel bediente.
»Good morning, Madam, you are welcome on behalf of Captain Heinrich von Wiederbornen. My name is Carlo Zeppelini. Here I'm the chief cashier and wish you a pleasant journey …«
»Ich hoffe, sie wird auch für Sie angenehm«, fertigte sie ihn knapp auf deutsch ab, als würde sie ihn zum Duell bei freier Waffenwahl fordern.
»Dio mio!« stöhnte er. »E tu, carissima Rosa!« fügte der harmoniebedürftige Ehegatte dazu, »steh mir in den kommenden achtundzwanzig Tagen bei!«
Er ahnte nicht, daß sein Passionsweg schon am sechsten Tag zu Ende sein sollte, und zwar unter Umständen, die ihn sein Leben lang belasten würden.
Was ihm in den nächsten vier Wochen bevorstand, hatte Siegfried Gross schon in Frankfurt zu spüren bekommen, wo er den Instruktionen gemäß in einer als Meeting Point gekennzeichneten Ecke der Abflughalle ausharrte. Nach einer Stunde war ihm klar, daß er ruhig hätte ausschlafen und mit einer späteren Maschine herfliegen können. Während der nächsten halben Stunde überlegte er bereits, ob er nicht doch lieber auf dieses ganze Unternehmen, das ihm trotz aller Vorteile von Anfang an wenig zugesagt hatte, pfeifen und nach Berlin zurückkehren sollte.
Da stürzte auch schon schweißgebadet ein Mann auf ihn zu. Er habe ihn seit neunzig Minuten schon mehrmals vergeblich über die Flughafendurchsage ausrufen lassen, er sei der Direktor einer der Holding-Gesellschaften der Frankfurter Kämmerer Beton AG, den die gnädige Frau angewiesen habe, ihre durch eine unerwartete Verhandlung verzögerte Abreise aus München zu entschuldigen.
Er überreichte Siegfried das Flugticket sowie einen Voucher für unbegrenzten Verzehr im besten Restaurant des Flughafens, unternahm immer neue erfolglose Anstrengungen, Siegfrieds gewaltiges Gepäck zu tragen, und ließ sich nicht eher abschütteln, bis er der simplen Check-in-Prozedur beigewohnt hatte. Als ihm Siegfrieds wachsender Mißmut nicht entging, setzte er mit einer devoten Entschuldigung hinzu: »Frau Kämmerer hat mir präzise Anweisungen erteilt. Sie ist gewohnt, daß sie ebenso präzise ausgeführt werden. Meine Verspätung, falls sie davon erfährt, wird sie sowieso verärgern …«
Zum Essen blieb keine Zeit mehr. Er gab den Gutschein einer Lumpengestalt, die wohl aus dem Balkan kam. Er hatte sie in einem Abfallkorb wühlen sehen, und stellte sich nun belustigt vor, wie der Penner den relativ edlen Freßtempel betrat. Dabei kam ihm der Gedanke, dieser ausgemergelte Mensch sei vielleicht ein Fixer, und ihn fröstelte, als ihm mit einem Schlag Harry einfiel.
Im Warteraum vor dem Einstiegsschlauch bekam er seine künftige Befehlshaberin nicht zu Gesicht; eine dichte Menge harrte hier, den Flieger betreten zu dürfen. Drinnen wurde er dann fast bis ans Ende des Rumpfes getrieben und fand seinen unbequemen Platz zu allem Überfluß auf dem zweiten der vier mittleren Sitze. Als beide Nachbarsitze besetzt waren und er sich vergebens um etwas Ellbogenfreiheit mühte, ging ihm auf, daß seine Mäzenin sicherlich vorn in der Businessclass reiste; logisch. Und so brachte sie ihn mit dieser Deklassierung zum zweiten Mal gegen sich auf.
Er mußte sich korrigieren: Er war doch durch seine Achtlosigkeit selber schuld, daß ihm ein Eins-a-Mittagessen entgangen war, ein T-Bone-Steak von einem halben Kilo vermutlich, wie er es über alles liebte. Aber auch der scheinbar zweite Fauxpas sollte sich alsbald als ein Irrtum erweisen. Kurz vor dem Start forderte eine Stewardeß ihn auf, seine Bundjacke vom Gepäckbord zu nehmen und ihr zu folgen. In ihrem Schlepptau ging er unzählige vollgepferchte Sitzreihen entlang, passierte den Einstieg und dann eine Tür mit der Aufschrift Senator Club. In der Luxuskabine mit ihren zwei Dutzend breiten Fauteuils war es halb leer.
»Hierher!« befahl eine klare Stimme.
Die Sprecherin blickte sich nicht zu ihm um, hielt aber immerhin die Hand über die hohe Rücklehne, um ihm so die Richtung zu weisen. Nach fünfundsiebzig sah sie nun keinesfalls aus. Auch schien ihre Haut an der Hand und im Gesicht ihre natürliche Straffheit bewahrt zu haben, kein Lifting. Und ihre scharf blickenden Augen hatten bestimmt keine Brille nötig. »So siehst du also aus!« blaffte sie ihn an, als habe er sich erst einmal auszuweisen.
»Ja …« antwortete er wachsam. Doch da bedachte sie ihn schon mit einem festen Druck ihrer rundlichen Hand und einem unerwartet herzlichen Lächeln. »Bist groß nicht nur dem Namen nach! Setz dich!«
Sie deutete auf den Platz neben sich, er aber warf einen Blick in Richtung Stewardeß, die darauf zu warten schien, ihn wieder zurückzubringen, aber warum, zum Teufel, hatte er dann seine Jacke mitnehmen sollen? Damit sie ihm dort inzwischen nicht geklaut würde?
»Was möchtest du trinken?« fragte die Sitzende.
Er sah, daß sie in der Haltevorrichtung ihrer Armlehne einen Drink abgestellt hatte. Ihm fiel kein Getränk ein. »Was trinken Sie …?«
»Also auch einen Manhattan!« entschied sie für ihn und wiederholte, »nun setz dich schon, du wirst hier doch wohl nicht bis morgen wie in der Straßenbahn stehen wollen!«
Die Stewardeß war bereits davongeeilt.
»Ich habe ein paar Aktien dieser Fluglinie«, erklärte ihm die alte Dame, »da schmeiß ich nicht auch noch für meine Begleitung einen Haufen Geld raus, wo ich weiß, daß hier immer was frei ist!«
Dann war er schon dabei, Dutzende von Fragen über sein Leben und über seine Familie in Berlin zu beantworten, Fragen, die sie salvenweise abfeuerte, wobei sie auf vollständiger Information bestand. Nach vier Stunden und fünf Manhattans hatte die Nacht sie schließlich eingeholt, doch ihre Aufmerksamkeit erlahmte nicht, bis er irgendwann plötzlich einschlief.
Als er die Augen aufmachte und ihm der Duft von starkem Kaffee in die Nase schlug, war wieder Tag, und er erfuhr, daß er das Frühstück verschlafen hatte und seine Nachbarin gerade mit dem Lunch fertig war.
»Du bist mir mitten im Satz weggepennt«, eröffnete sie ihm, »aber bevor du jetzt dein Essen kriegst, erzähl mir wenigstens diese schreckliche Geschichte zu Ende.«
Sie mußte ihn daran erinnern, daß er zuletzt von dem armen Harry berichtete, obwohl er es sich eigentlich untersagt hatte, an die Zeit mit ihm auch nur zu denken. Ja, sie zwang ihn, Schubladen in seinem Innern zu öffnen, die er ein für allemal geschlossen zu haben glaubte. Doch zu seinem Erstaunen empfand er deswegen keine Wut auf sie, eher sogar Erleichterung, als würde dieses scheußliche Erlebnis erst jetzt von ihm abfallen und sich in dem Kondensstreifen auflösen, den die Maschine hinter sich herzog.
Dabei hatte er ihr nur das gesagt, was sie seiner Meinung nach auch ertragen konnte.
Auf Tapeete landeten sie erst gegen Abend, doch die alte Dame war noch genauso frisch wie gestern mittag in Frankfurt; er hoffte, sie habe sich ausgeschlafen, während er schlief, denn sonst müßte er es mit der Angst zu tun kriegen. Zumal er mittlerweile erlebte, wie sie den Toast zurückgehen ließ, weil er ihr zu blaß erschien, den Tee, weil er nicht heiß genug war, und dann auch den letzten Manhattan, angeblich war er viel zu schwach. Obwohl sie nie die Stimme erhob, genügte allein ihr Ton, daß die Stewardeß im Laufschritt für Abhilfe sorgte.
Auf dem Airport lehnte sie das erste Taxi als zu dreckig ab, das zweite, weil das nicht schließbare Fenster die Klimaanlage außer Gefecht setzte, und das dritte, weil der Fahrer ihr zu schmutzig war. Mit dem vierten verhandelte sie erst einmal vergebens in einer Sprache, die Siegfried erst nach einer Weile als Deutsch mit versuchtem englischen Akzent erkannte. Er bot sich als Dolmetscher an und erlebte, wie diese Multimillionärin um den Fahrpreis feilschte, als könne sie sich dann kein Stück Brot mehr leisten.
Selbst mit dem ausgehandelten Preis war sie noch unzufrieden und tat, als wäre ihr ein Unrecht geschehen. Sie warnte Siegfried während der Fahrt, im ganzen Pazifik vor jedem dieser lächelnden Gnome auf der Hut zu sein, die nichts anderes als eine üble Diebesbrut seien.
»Wenn ich dich so vor mir sehe«, schloß sie mit hörbarer Verachtung, »gehörst du wohl zu denen, die an die Gleichheit der Rassen glauben. Ich denke, davon wirst du hier geheilt werden.«
Danach verschwieg er ihr lieber, daß sie vorher den Bus übersehen hatte, der die Schiffsreisenden zweifellos gratis zum Hafen beförderte.
Die Litanei ging in einem tropischen Regenguß unter, der Anlauf zu einer Weltsintflut nahm, hinter dessen Wasservorhang aber schon wenig später die strahlende Szenerie einer farbenprächtigen Natur wieder auftauchte.
Da faßte diese harte Frau unversehens weich nach Siegfrieds Hand. »Ich bin froh, daß du um mich sein wirst. Eine Kreuzfahrt ist ein herrliches Erlebnis, doch fehlte mir schon ein männliches Wesen dabei.«
Er spürte, wie seine Hand in der ihren erschlaffte, getraute sich aber nicht, sie während der verbliebenen Minuten zu befreien, in denen sein Nebenan ungewöhnlich schweigsam wurde und auch die Landschaft nicht zu beachten schien; als sei sie in sich selbst zurückgekehrt und habe der Welt eben nur noch diese Hand dagelassen, welche die seine festhielt.
Er war froh, als er sich aus ihrem Griff befreien durfte, um ihr beim Aussteigen zu helfen, und weidete sich an der offenkundigen Nervosität des Schiffsoffiziers mit dem griechisch-römischen Profil, der sich beflissen um ihre Gunst bemühte. Er weiß Bescheid! Das begriff Siegfried sofort. Obwohl sie, wie sie ihm sagte, noch nie mit diesem Schiff eine Kreuzfahrt unternommen hatte, waren die Warnsignale offensichtlich bis hierher gedrungen.
Er begleitete seine Gebieterin auf Zeit bis zu ihrem Appartement – es mußte ein Heidengeld kosten –, wo sie ihn gnädig entließ.
»Richte dich häuslich ein, Siegfried! Sobald ich damit fertig bin, schau ich mir deine Kabine an. Ich hoffe, man hat sie so gewienert, als wäre sie für mich gedacht!«
Das war auf den Steward gemünzt, der sie begleitete und sich ebenfalls vor lauter Höflichkeit in Stücke zu reißen schien.
»Si, Signora!« entfuhr es ihm.
Von soviel Aufmerksamkeit überrascht, wartete Siegfried nur noch auf seinen gewaltigen Seesack. Dabei begegnete er ihrem fragenden Blick und hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, was er bisher hatte umgehen können: sie endlich zu duzen.
»Ich danke dir …«, sagte er.
»Keine Ursache.«
Schon wandte sie sich wieder kühl, als sei er gar nicht vorhanden, dem Steward zu, der den Matrosen mit dem Wägelchen voller Koffer dirigierte.
»Gibt es hier einen Safe?«
»Yes, Madam«, verfiel der Steward in die an Bord übliche Sprache, »im Schrank, man braucht nur den sechsstelligen Code einzutippen.«
Was erwartet mich hier? sinnierte Siegfried. Haushohe Peinlichkeit? Endlose Langeweile? Oder hat diese Eisenbetoniererin mir eine vierwöchige Sklaverei zugedacht?
Er konnte nicht ahnen, daß er schon eine Woche später wieder nach Berlin zurückfliegen würde, um die gravierendste Erfahrung reicher, die ihm sein eigentlich durchaus bewegtes Leben bislang eingebracht hatte.
Als sie die klimatisierte Kabine der Maschine verließ, wo sie sich stundenlang unter einer dünnen Decke zusammengekauert hatte, und ihr jene feuchte Hitze entgegenschlug, nach der sie sich ihr Leben lang sehnte, setzte ihr noch schlimmer als zuvor in Europa die Verzweiflung zu.
Als sie sich jedoch daran erinnerte, weshalb sie eigentlich hergeflogen war, machte sich im Nu wieder jene seltsam stumpfe Ruhe in ihr breit, die sie als Lokalanästhesie der Seele bezeichnete. Sie umklammerte mit beiden Händen fest die Geländer der steilen Gangway, damit ihr Begleiter, der auch hier den zusammenklappbaren Rollstuhl verweigerte, schlimmstenfalls an ihrem Rücken Halt fand.
Professor Burian meisterte den Abstieg jedoch mit jener mutigen Bravour, mit der er schon seit Jahren seine fortschreitende Osteoporose ertrug. Unten lachte er ihr dann so stolz entgegen, daß sie einfach zurücklächeln mußte.
Den halbstündigen Transfer zum Hafen absolvierten sie dennoch nicht mit dem modernen Autocar, den die Reederei bereitstellte, sondern mit einer lädierten Droschke, in der sich Martin in aller Ruhe niederlassen konnte, ohne von mitleidigen oder auch ungeduldigen Blicken traktiert zu werden. Die Fahrt verwandelte sich in eine hinreißende Schau tropischer Flora, als würden sie durch ein gewaltiges Paul-Gauguin-Freilichtmuseum kutschieren; auch im Nacken und im Haar der eingeborenen Frauen fanden sich Blüten. Wie außerhalb ihrer selbst nahm Sylva wahr, daß sich unwillkürlich erneut die Begeisterung in ihr regte, mit der sie ein halbes Jahr zuvor diesen Ausflug ins Paradies begrüßt hatte; sogleich aber wurde dieses Gefühl von einer Welle der Erbitterung fortgespült, die der Erkenntnis entsprang, daß alles von Anfang an nur Trug und Täuschung gewesen war.
Der Professor war sichtlich hingerissen, zum Glück kleidete er seine Gefühle jedoch nicht in Worte. Auch während der langen Flugstunden hatte er so gut wie nichts gesagt, und sie war ihm dankbar, daß er die gemeinsame Wunde mit banaler Konversation weder aufriß noch verharmloste.
Als sie seinerzeit zu der unumstößlichen Gewißheit gelangt war, daß ihre bisherige Welt zu existieren aufhörte, wollte sie diese Reise zuerst absagen, die sich wie in einem Horrorfilm vom Märchen zum Alptraum verwandelt hatte. Die exklusive dreiwöchige Schiffspassage quer durch eine Wasserfläche größer als das gesamte Festland der Erde, in deren Mitte die Insel ihrer Träume lag, hatte sie von ihrem Mann zu ihrem Christusjahr bekommen, wie man in ihrer alten Heimat den dreiunddreißigsten Geburtstag nannte. Weder in der Schweiz noch in Spanien kannte man diese Bezeichnung, bewunderte dann aber gerade ihretwegen die tschechische Sprache.
In diese Vorfreude war ein privater Hurrikan eingefegt, der den unschuldigen Namen Angelique trug.
Heute wußte Sylva bereits, daß er sich längst zusammengebraut und womöglich nur sie nichts davon geahnt hatte. Sie verübelte es keinem, daß man sie nicht gewarnt hatte; ja, sie fühlte sich nachträglich in die anderen ein: Keiner hatte damit gerechnet, keiner konnte sich hinterher erklären, daß gerade Sylva die Wunderschöne, wie viele sie nannten, Sylva, die obendrein noch so klug und beliebt war, je eine Konkurrentin bekommen konnte – und dazu noch so eine!
Aber sie hatte sie bekommen und dann auch noch das Spiel verloren, als sie ihr Entweder-Oder! sprach.
Diese totale, schändliche und zudem völlig unerwartete Niederlage lähmte sie so sehr, daß sie vierzehn Tage vor der geplanten Seefahrt über Nacht im Spital freinahm und in ihrem Schock an die Costa del Sol flog, in das kleine Hotel, in dem sie seinerzeit ihre Flitterwochen und später ein Dutzend herrlicher Sommerurlaube verbracht hatte. Nachträglich gestand sie sich ein, daß dies ein Akt der Erpressung war. Gänzlich von Sinnen hoffte sie, ihr Mann würde ihr aus Furcht, sie könnte gerade dort eine Kurzschlußreaktion begehen, die bei einem so harmonischen Wesen gefährlicher wäre als bei eingefleischten Hysterikerinnen, nachreisen; und dann würde das Echo des zurückliegenden Glücks ihnen die verlorene Sprache wiedergeben.
Nach einer Woche, in der sie eigentlich nur von Zigaretten lebte, begriff sie endlich, daß sie vergeblich wartete. Im Liegestuhl auf der einst wohlvertrauten, doch jetzt so fremden Terrasse beobachtete sie halb liegend, halb sitzend Ebbe und Flut, die am Horizont in eine reglose Masse Meer überging. Langsam, aber unausweichlich, machte sich in ihr die beinahe animalische Sehnsucht breit, in dieses Element einzutauchen, das sie als Festländerin von klein auf fasziniert hatte, und zu schwimmen, schwimmen, schwimmen … bis die Kräfte sie verließen und sie gnädig von ihm aufgenommen würde …
Sie kannte sich jedoch gut genug, um zu wissen, daß sie dafür nicht den Mut besaß. Schon deshalb nicht, wie sie es vor sich ebenso einfach wie wahrheitsgemäß begründete, weil sie bald ins Leben zurückgejagt würde – vor Kälte. O ja, sie war ein frösteliges, die Wärme liebendes Geschöpf; bereits der Blick auf die menschenleeren Strände brachte sie von diesem Vorhaben ab. Die berühmte Küste sollte ihrem Namen erst in einigen Wochen gerecht werden, jetzt ergoß sich noch immer vom Atlantik her ein fast eisiger Strom ins Mittelmeer.
Und dann setzte sich ein Gedanke in ihr fest, so logisch und dabei so faszinierend, daß er sie nicht mehr losließ: Sie wollte diese Traumreise, die ohnehin schon bezahlt war, antreten und ihre Verschmelzung mit dem Element durch einen unwiderruflichen Akt in der wahren Mitte dieses gewaltigen, blauen und bestimmt warmen Gewässers vollziehen!
Als dann plötzlich Professor Burian sie anrief, er wolle – der Situation zum Trotz – mit ihr zusammen reisen, erschrak sie, denn schließlich konnte er, wenn sie ihn zurückwies, Verdacht schöpfen und sie irgendwie von der Fahrt abhalten. Also sagte sie ja in der Hoffnung, sie würde dadurch seine Aufmerksamkeit ablenken und gerade dank seiner Anwesenheit selbst in jenem irdischen Paradies nicht ihre Motivation verlieren …
Das Schiff rückte schon vor dem Gipfel der letzten Anhöhe in ihr Blickfeld, und beide staunten, wie das Oberdeck unter einem erneut aufziehenden schwarzen Segel aus Wolken schwamm, die in Kürze auf sie herabzustürzen drohten. Während dieser kurzen Überfahrt hatten sie schon einmal eine alttestamentarisch anmutende Sturzflut erlebt, die an die flüssigen Ladungen der Löschflugzeuge über den ewig brennenden Wäldern Südspaniens erinnerte; und nur Sekunden später strahlte die Mittagssonne vom azurblauen Himmel herab. Als sich dieses Spektakel jetzt von neuem vollzog, befanden sie sich gerade am höchsten Punkt der Hügelstraße, und die MS Harmonia lag fest verankert in der Lagune des Hafens; ihre sechs Decks ragten weit über die höchsten Häuser und Palmen hinaus.
Vor Sylva ankerte ihr uralter Wunsch, der sich inzwischen in ihr letztes irdisches Heim verwandelt hatte. Daran dachte sie inständig, während sie mit dem Professor warten mußte, daß das Taxi, das seit dem Airport dicht vor ihnen herfuhr, den Platz an der Gangway räumte. Als sie dann aussteigen konnten, beraubte die Sonnenglut, mit der verglichen die größte südspanische Hitze ein milder Hauch war, sie wiederum aller Gedanken. Eine zweite Möglichkeit! schoß es ihr durch den Kopf, sie läßt sich hier einfach von der Welt ausbrennen …
Der Schiffsoffizier, der sie beide auf englisch begrüßte, obwohl er trotz seiner schneeweißen Uniform mit goldenen Aufschlägen eher wie ein korsischer Pirat aussah, übergab sie einem italienischen Matrosen, der sie zu ihrer Kabine führte.
Dort entstand ein Problem.
Als der Professor die Schwelle gemeistert hatte und von seinen Stöcken aufschaute, gewahrte sie in seinem Gesicht Betretenheit.
»Wir hatten nachträglich getrennte Betten bestellt!« wandte er sich an den Steward in gutem Italienisch, das natürlich zu seiner Sammlung an Sprachen zählte.
Die Kabine wurde von einem Doppelbett beherrscht, das man, wie sie sich noch erinnerte, im Tschechischen als »Flugplatz« bezeichnete.
»Permesso!« Augenblicklich entschuldigte sich der schwarzhaarige Jüngling, sichtbar erfahren in der Erfüllung aller möglichen und unmöglichen Gelüste reicher Leute, denen man nicht widersprechen durfte. »Machen Sie es sich inzwischen bequem, ich hole sofort jemanden aus der Rezeption, die Passage ist nicht völlig ausgebucht.«
In ihr regte sich die Angst, sie könnte auf diese unaufdringliche Hilfsbereitschaft auf eine Weise reagieren, die Martin treffen würde. Zu Hilfe kam ihr das malerische Bild des Hafens, das sich im Fenster der Kabine darbot, als solle es nicht schon am Abend durch die endlose Weite des Meeres abgelöst werden.
»Mir macht es nicht das geringste aus!« erklärte sie mit vielleicht etwas übertriebenem Nachdruck. »Wir zwei werden auch nach der Scheidung eine Familie bleiben!«
Der Boy konnte das nicht verstehen.
Ihn wies sie an: »Okay, our luggage, please!«
Als sie allein waren, befiel sie trotzdem Bangigkeit. Schweigend sah sie zu, wie Martin sich niederließ, um endlich die Stöcke wegstellen zu können.
»Ich danke dir, Sylvinka«, sagte er dann. »Ich mag dich so gern.«
»Ich dich auch«, antwortete sie schon mit dem Rücken zu ihm. Sie inspizierte zum Schein die Ablagefächer des Schrankes, um ihm nicht den Ansturm von Verzweiflung zu zeigen, die sie abermals überrollte wie die Flutwellen das Korallenriff vor dem Fenster. Zugleich übermannte sie das schlechte Gewissen, als ihr bewußt wurde, was ihm mit ihr bevorstand.
Seine Kabine bestand eigentlich nur aus dem Bett, aber das war der geringste Schönheitsmangel. Daß er dieses Angebot überhaupt angenommen hatte, betrachtete Siegfried als einen der raren Siege der Vernunft in den einundzwanzig Jahren seines bisherigen Lebens. Ehrlich gestanden, zog es ihm gleich mehrere Dornen auf einmal aus der Sohle: Er verdiente sich etwas. Er löste sich endgültig von jener Generalpleite, aus der er mit nur abgeschürften Ohren glücklich davongekommen war. Er wollte – dazu war er fest entschlossen – Zeit finden, um zumindest damit zu beginnen, seine dummen Versäumnisse beim Studium aufzuholen. Und er würde mit eigenen Augen sehen und erleben, was nur wenigen Altersgenossen vergönnt war.
Dagegen stand eigentlich nur eine einzige Verpflichtung, doch deren bis dato nichtige Spezifizierung jagte ihm bei näherer Vorstellung nun eine Gänsehaut über den Rücken: Er sollte den »Kavalier« – wie sie es am Telefon nannte – für eine Alte spielen, die er nie richtig kennengelernt hatte, doch was er über sie von seinem Vater zu hören bekam, genügte ihm eigentlich. Auf jeden Fall hatte sie beschlossen, sich für diese Reise einen Knappen zuzulegen, aber allein schon der Scheck, den sie ihm im voraus zukommen ließ, hatte ausgereicht, um seine Zweifel zu zerstreuen. Desto lauter meldeten sie sich jetzt.
Margarete Kämmerer begründete ihr Interesse an seiner Begleitung in einem einzigen Telefongespräch mit dem Argument, daß sie es nicht mehr erleben wolle, wenn irgend jemand sich ihr gegenüber zu viel erlaube; deshalb brauche sie einen Beschützer, der von sich aus schon Respekt erwecke. Alles, was Siegfried jedoch über seine künftige Schutzbefohlene je erfuhr – und vor allem, was er auf der Reise von Frankfurt bis hierher selbst hatte erleben können –, bewies, daß jeder, der ihr in den Weg trat, eher selbst des Schutzes bedurfte.
Sie mußte also eine andere Absicht haben. Ohne sich an eine Definition heranzuwagen, hoffte er nur, sie würde gewisse Grenzen nicht überschreiten. Selbst in seiner labilen Position wollte er sein Gesicht nicht verlieren. Mit Türen knallen konnte er hier jedoch nicht; wenn sie heute ablegten, wartete das erste richtige Festland erst nach sechs Tagen Seefahrt auf sie.
Er rief sich wieder zur Vernunft. Warum kam er auf diese dummen Gedanken? In ihrer gesellschaftlichen Stellung mochte sie ja extravagant sein, doch ihre Grenzen kannte sie sicher. Nein! Ihn erwartete einfach das, was man sich unter Kavalierspflichten gemeinhin so vorstellte, selbst wenn sie unter seinen Altersgenossen wenig gepflegt wurden. Allerdings hatte er eine Erziehung genossen, die in seiner Familie als Standard galt: Er half Älteren in den Mantel, öffnete ihnen die Tür und stand auf, wenn eine Dame an den Tisch trat.
Zusammen mit dem Scheck hatte Margarete ihm auch nach Berlin einen Voucher geschickt, diesmal für ein Herrenmodegeschäft, dessen Anzüge, wie seine Mutter behauptete, am Schnitt wie am Stoff erkennbar waren. Sowohl das sportliche Twinset wie die Kombination zum Tee als auch der schwarze Abendanzug und der weiße Smoking standen ihm ausgezeichnet – alles aus besonders feinem, speziell für tropische Verhältnisse bestimmtem Tuch. Neben einem Halbdutzend Hemden, drei Paar Schuhen und seinen Sportklamotten füllte die Ausstattung bis oben hin den festen langen Seesack, den er sich, entgegen der Anweisung, statt eines teuren Metallkoffers zulegte. Die Auftraggeberin hatte ihn auf dem Flughafen in Tapeete zwar mit einem scharfen Blick gestreift, aber ausnahmsweise keinen Einwand erhoben.
Er verstaute alles im Wandschrank und suchte nach einem Platz, wo in dem kleinen Raum er den Packen Skripte und Lehrbücher ablegen konnte, zumal das Nachttischchen kaum für das Telefon reichte. Zuletzt entschied er sich, vorläufig alles im Sack zu lassen, vier Wochen waren eine ausreichend lange Zeit, so daß er sich fürs Eingewöhnen ruhig zwei Tage zum Akklimatisieren am Bordpool gönnen konnte.
Was jetzt? überlegte er dann. Sollte er zu ihr gehen, falls sie etwas braucht? Über das Deck schlendern? Ausschau halten, wo und welches Bier hier ausgeschenkt wird? Das Problem erledigte sich, als sie anklopfte und ohne zu zögern in seine Kajüte trat.
Wieder erlebte er, wie sie sich mit einem einzigen kurzen Blick, mit dem sie offenbar alles auf einmal erfaßte, ein Urteil bildete, sogar, da war er sich jetzt sicher, über die Zahlenkolonnen in den Büchern ihrer Buchhalter. Zu ihnen wollte er auf keinen Fall gehören.
»Ein jämmerliches Loch!« sagte sie zu ihm, als sei er dafür verantwortlich.
Er wußte nicht recht, wie reagieren. Ihr sagen, daß sie es ja schließlich für ihn gebucht hatte? Er sah ihr irgendwie an, daß sie genau das gleiche dachte.
»Ich lass' dir ein Bett in meinen kleinen Salon stellen …«, schlug sie ihm vor, und das klang zum erstenmal erstaunlich verlegen.
Wieder blitzte jener unangenehme Gedanke in ihm auf. Als habe sie ihn gelesen, nahm sie den Vorschlag sofort zurück. »Aber du legst wohl auf deine Bewegungsfreiheit Wert, stimmt's?«
»Ich möchte ungern stören …« Wieder versuchte er dem Du auszuweichen. »Und will auch ein bißchen lernen …«
Sie war sichtlich erheitert.
»Ich seh' dich schon hier in der Nacht über deinen Skripten brüten!«
Er machte den Sack auf, um mit seinen Büchern die Ernsthaftigkeit seiner Absicht zu demonstrieren, und kam sich dabei wie ein Primaner vor, der sich vor seiner Mama verteidigt. Sie hatte wahrscheinlich ein ähnliches Gefühl.
»Ich werde dich nicht examinieren. Nur gehe ich davon aus, daß du dich neben deiner Studiererei vor allem um mich kümmerst!«
Da es wie ein Befehl klang, warf er sich in die Brust und meldete im Stil amerikanischer Seekadetten: »Aye, aye, Ma'am!«
Dieses Spiel gefiel ihr, wie er sah.
»Ich bin nämlich furchtbar eifersüchtig, weißt du? Deshalb habe ich im Safe ein Schießeisen liegen, du verstehst mich?«
»Aye, aye, Ma'am!« wiederholte er, doch er war sich plötzlich nicht mehr so ganz sicher, ob das wirklich nur ein Spiel sein sollte. Er war froh, als sie damit Schluß machte und ihn aufforderte, sie auf das Aussichtsdeck zu begleiten.
Das Schiff war soeben im Auslaufen begrifffen, ein Ritual, das ihm nicht unbekannt war – als Junge war er einmal mit den Eltern rund um England gekreuzt. Die MS Harmonia war jedoch, verglichen mit dem damaligen Kahn, eine Riesin und bildete obendrein neuerdings die Kulisse für eine endlose Fernsehserie. Beim Ablegen wurde deshalb die schnulzige Titelmelodie abgespielt. Dieser Kitsch, das mußte Siegfried sich zu seiner Überraschung gestehen, paßte vorzüglich zu dieser grellbunten Szenerie, ja hatte sogar eine gewisse Wirkung auf ihn.
Die Zeremonie des Ankerlichtens, des Leinenlosbindens vom Ufer, das von Bambusveranden unter schlanken Kokospalmen gesäumt wurde, wie auch die langsame Drehung des weißen Kolosses zum Durchlaß zwischen den Korallenfeldern, an denen kleine Wellen schäumend aufspritzten, dem feurigroten Meer entgegen, das in einen gleichermaßen lodernden Horizont überging, da gerade die Sonne am Sinken war, all dies drückte sich plötzlich in dieser Musik aus, die Siegfried als einen Gassenhauer kannte.
Wie vorhin im Taxi griff Margarete Kämmerer jetzt nach seiner Hand. Es kostete ihn Mühe, sie ihr nicht zu entreißen, denn eine Sekunde vorher hatte er den Blick einer jungen Frau aufgefangen, die nur ein paar Meter entfernt an der Reling stand, neben einem Greis an zwei Stöcken. Was mag die von mir denken? schoß es ihm in seiner Verwirrung durch den Kopf, entzückt von der Anmut ihres Gesichts, das von einer Kurzhaarfrisur im Stil der zwanziger Jahre braun umrahmt wurde. Sogleich wurde er ärgerlich, auf sich selbst, aber auch auf sie. Und was sollte er von ihr denken? Daß sie einen ähnlichen, wahrscheinlich noch opulenteren Scheck in der Tasche hatte, der ihr sogar diese Stöcke besser zu ertragen half?
Von der Haltung des alten Mannes, von seiner hohen, schlanken Statur, ging freilich etwas Würdevolles aus; das mußte Siegfried anerkennen. Leise sprach er zu der Brünetten, und auch ohne die Worte verstehen zu können, ließ sich ihnen Dringlichkeit entnehmen. Auf die Angesprochene schienen sie allerdings nicht zu wirken, und Siegfried glaubte ein paar Sekunden, daß ihr unverwandter Blick ihm galt, bis er begriff, daß er ganz im Gegenteil nur Luft für sie war; sie war gänzlich mit sich selbst beschäftigt.
Alles war noch immer vom Klang der Geigen gesättigt, ihr Glissando glich zu Kopfe steigendem Sekt. Ich werde sie ihm wegnehmen, beschloß Siegfried, ich werde mich bei erster Gelegenheit an sie heranmachen. Zwar übersah er nicht, daß sie um vieles älter war, aber auch so anschmiegsam zart, und solche Frauen, das wußte er, fühlen sich auch von viel jüngerer Männlichkeit angesprochen …
Er verspürte einen festen Druck an seiner Hand. Es war Margarete, die ihn jetzt fragte: »Gefällt sie dir?«
Bevor er sich verplapperte, fiel ihm blitzartig ein, daß sie die Musik meinte.
»Na ja …«, sagte er, froh, daß sie seinen Seitensprung nicht bemerkt hatte.
»Der reinste Kitsch!« meinte sie, »aber Menschen, bei denen das erste Signalsystem nicht funktioniert, sind eigentlich Gefühlskrüppel, findest du nicht auch?«
»Ja …«, konnte er ihr nur zustimmen, eine solche Überlegung hätte er nicht von ihr erwartet.
»Dann ist das genau der richtige Augenblick, da du erfahren sollst, warum ich dich eigentlich engagiert habe.«
Er wußte nicht, was er dazu sagen sollte.
»Gewiß hat dir schon irgendeine der Tanten verraten, und inzwischen hast du's ja wohl selbst bemerkt, daß ich nicht viel Hilfe brauche, stimmt's?«
Vorsichtig räumte er das ein. Noch immer hielt sie seine Hand fest, und er gab acht, daß er diesen Druck weder erwiderte, noch seine Hand erschlaffen ließ, was er aus ganzer Seele haßte, wenn ihm jemand die Hand reichte.
»Nur«, fuhr sie fort, »inzwischen mußte ich mir eingestehen, daß ich nicht unsterblich bin, weißt du?«
Das wußte er, verstand aber nach wie vor nicht, worauf sie hinauswollte.
»Ich bin auf dich gekommen … wie nennt man dich eigentlich in deiner Clique?«
»Sigi …«
»Gut. Und ich bin auf gut niederösterreichisch die Gretl! Also: Ich habe dich ausgesucht, um dich um einen großen Gefallen zu bitten, Sigi. Und wie ich dich inzwischen einschätze, denke ich, daß du ihn mir nicht verweigern wirst.«
Wollte sie etwa doch …? Was sollte er darauf sagen? Noch konnte er vom untersten Deck ins Wasser springen und ans Ufer zurückkraulen. Aber irgendwie glaubte er noch immer – das würde sie sich wohl doch nicht erlauben!
»Ich stelle dir gerade die größte Liebe meines Lebens vor, Sigi. Ist sie nicht herrlich?«
Sie blickte zum Horizont, der jetzt ganz dunkel blutete. Wen mag sie dort wohl sehen …?
»Der Ozean, Sigi. Es ist der Ozean!«
Diese Wendung erleichterte ihn. Schnell beruhigte er sich. Was hatte er Idiot sich da nur gedacht? Er wurde wieder ganz schlicht neugierig und beobachtete von neuem, wenn auch nur ganz vorsichtig aus den Augenwinkeln, das Paar nebenan, bei dem sich nichts getan hatte.
»Bekannt gemacht mit ihm hat mich erst mein zweiter Mann, den kennenzulernen ich kaum mehr gehofft hatte. Er beließ es nicht dabei, einer verstoßenen Sippe seinen guten Namen zu geben, sondern heilte mit dem Ozean völlig meine Wunde, die ich für ewig offen gehalten hatte. Der Ozean gab mir die Demut wieder, als er meinem Unglück seine Maßstäbe anlegte.«
Sie sah ihn an, und, obwohl er blitzschnell seinen Blick auf sie richtete, schaute sie sich um. Da der Mann die Brünette gerade fast völlig verdeckte, konnte Margarete keinen Verdacht schöpfen. Sie wandte sich ihm wieder zu.
»Ahnst du schon, was ich von dir will?«
Er mußte gestehen, daß er keine Ahnung habe.
»Nach Kämmerers Tod gab mir der Kapitän, der seine Asche gemeinsam mit mir im Meer bestattete, ein Versprechen. Doch vor drei Jahren starb auch er, und danach habe ich unsere Yacht verkauft; ich fühle mich besser auf Schiffen, wo mich nichts an irgendwen erinnert, wenn es ihnen auch an Niveau fehlt. Kurz und gut, Sigi, in meinem Testament steht, daß auch meine Asche dem Geliebten und Freund Ozean übergeben werden soll. Und einer meiner Erben soll sie auf das geeignete Schiff schmuggeln, das ich bestimme, und sie bei Nacht hinterm Heck verstreuen … dort entsteht nämlich diese Wunderwelle, die mich zu allen Ufern tragen wird. Auch die erforderlichen Mittel sind im Testament festgelegt, bleibt nur noch, den Namen des Vollstreckers einzusetzen. Willst du das sein?«
Diese Eröffnung verblüffte ihn derart, daß er zu einem banalen Einwand Zuflucht nahm. »Du strotzt aber doch nur so vor Gesundheit …«
»Der Schein trügt vollkommen, Junge, meine Batterien sind fast leer. Eigentlich lebe ich nur noch vom Trotz, mit dem ich alle um mich herum schikaniere; und das macht mir nicht mehr viel Spaß, Sigi.«
Der Druck ihrer Hand verstärkte sich. Und er entdeckte in Margaretes Augen einen ganz ungewöhnlichen Ausdruck. Er las darin eine Bitte.
»Sei so lieb, versprich es mir!«
Er stellte die Frage, die ihm schon eine Weile auf der Zunge lag. »Und wie bist du gerade auf mich gekommen?«
»Vielleicht hat mich gerade dein Problem darauf gebracht. Ich dachte, hilfst du mir, helf ich dir. Du wirst eine Aufgabe haben, verstehst du? Es ist eine Vertrauenssache, begreifst du? Versprichst du's mir fest?«
»Ja«, sagte er.
Er konnte schwerlich etwas anderes antworten.
Das Paar nebenan entfernte sich, soweit dem alten Mann die Kräfte reichten. Siegfried schielte wohl unübersehbar in die Richtung der Frau. Margarete lächelte. »Ich dank' dir. Jetzt darf ich dich nicht mehr erschießen. Apropos! Mein Safe ist auf dein Geburtsdatum codiert. Und hier hast du …«, sie reichte ihm eine Plastikkarte, »den zweiten Schlüssel von meiner Kabine. Gib ihn mir, falls ich den meinen verliere.«