Buch
Nachdem ihre Kolumne über Aberglauben bei den Lesern des Wiener Boten ein voller Erfolg ist, plant die junge Journalistin Sarah Pauli eine neue Serie über das mystische Wien. Spannende Informationen dazu erhofft sie sich von der Fremdenführerin Erika Holzmann, die Führungen zu den geheimnisvollen Orten der Stadt veranstaltet. Doch kurz vor ihrem Treffen verschwindet Erika spurlos. Besorgt angesichts der Ungereimtheiten, macht Sarah sich auf die Suche nach ihr. Ist Erika das Opfer einer Entführung? Was weiß ihr Ehemann Roman, ein bekannter Unternehmer? Und von welcher rätselhaften Entdeckung wollte Erika ihr berichten? Bei ihren Recherchen stößt Sarah auf einen aufsehenerregenden Fall: Vor Kurzem wurde der Sarg eines verstorbenen Millionärs vom Wiener Zentralfriedhof gestohlen – ein Ort, an dem noch so manches dunkle Geheimnis begraben liegt ...
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Er hat den 71er genommen.
Der letzte Weg eines Wieners.
Die Straßenbahnlinie 71 fährt von der Innenstadt
bis zum Zentralfriedhof.
Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht;
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
In weißen und schleppenden Hemden.
Johann Wolfgang von Goethe
Montag, 13. Mai
1 ZENTRALFRIEDHOF
Ignoriere mich, und du bist tot!«
Sechs Worte. Das Flüstern einer inneren Stimme. Warnend. Bösartig. Teuflisch.
Die Stimme eines Gefühls, das er schon längst verloren geglaubt hatte: Angst. Angst saß ihm im Nacken, fuhr mit ihren Spinnenfingern seinen Hals entlang, über seine Brust bis hin zu seinem Herz und wartete darauf, zuzudrücken. Ihm den Atem zu rauben. Zugleich war sie wie eine instinktive Alarmanlage, die Sinne schärfend, schrill: »Ignoriere mich, und du bist tot!«
Sie war das rot blinkende Warnsignal an seinem persönlichen Bahnübergang.
Er ignorierte sie. Obwohl Zweifel und Misstrauen seit Wochen an seiner Selbstsicherheit nagten. Schon als er den Auftrag angenommen hatte, beschlich ihn diese merkwürdige Beklommenheit, die seitdem zu seiner treuen Begleiterin geworden war.
Dennoch war er nach Wien geflogen.
Als sein Verbindungsmann ihm die Karte für das Schließfach am Westbahnhof im Vorbeigehen in die Hand drückte, wuchs die Angst zu einem großen dunklen Wesen an, das ihm auf den Fersen folgte und sich nicht abschütteln ließ. Doch ab diesem Moment gab es kein Zurück mehr.
»Schätze in einem Grab zu suchen ist gefährlich.«
Der Zeitungsartikel, der diesen Satz beinhaltete, steckte in der Innentasche seiner Jacke, direkt neben dem gepolsterten Kuvert, das in dem Schließfach gelegen hatte.
Es ist kein Problem. Kein Problem.
Er suchte keine Schätze, sondern holte nur einen Toten ab. Er war ein Abholer.
Es war ein Scheißproblem. Er ignorierte es.
Um zehn Uhr war er von der U-Bahn-Station Simmering aus in die Straßenbahnlinie 71 umgestiegen und bis zum Zentralfriedhof gefahren. Als er bei der Haltestelle vor dem Haupteingang ankam, wäre er am liebsten einfach sitzen geblieben, weil die Angst ihn umklammerte und befahl, wieder zurückzufahren. Er war es gewohnt, Befehlen zu gehorchen. Doch diesmal verweigerte er. Alles andere hätte noch heute seinen sicheren Tod bedeutet.
»Nicht über den Friedhof gehen.«
Auch dieser Satz stand in dem Zeitungsartikel. Das war doch absurd, lächerlich, abergläubischer Unfug. Inzwischen war er schon einige Male über einen Friedhof gegangen, und nichts war ihm passiert. Auch den Zentralfriedhof hatte er schon besucht. Er wollte sich mit seinem Arbeitsplatz vertraut machen, die Menschen beobachten, die sich hier herumtrieben. Er wollte ein Bewegungsprofil erstellen. Das minimierte das Risiko, erwischt zu werden. Dennoch, egal was er unternahm und versuchte sich einzureden – das unbehagliche Gefühl blieb.
Er hieß Josip. Josip Kovac. Zumindest heute.
Nur für den Fall, dass jemand Fragen stellte und seinen Ausweis sehen wollte. Und er war Kroate. Heute war er Kroate.
Sein Aussehen erinnerte entfernt an einen Hinterhofgangster in amerikanischen Filmen. Sein Gesicht war kantig geschnitten, die Kieferpartie eckig, sein Teint dunkel. Eine tiefe Narbe auf der linken Wange verschaffte ihm Respekt. Man ging ihm aus dem Weg.
Josip nahm den intensiven Geruch des Frühlings wahr, ein Gemisch aus Blütenduft und feuchter Erde. In der Nacht hatte es geregnet. Auch jetzt hingen dunkle Wolken über der Stadt, aber zumindest blieb es trocken. Bis jetzt. Er lauschte dem Zwitschern der Vögel aus den Sträuchern und Bäumen rundum. Der Gesang des Frühlings, er klang nach Leben. Ein Spatz setzte sich vor ihm auf den Boden und pickte etwas Unsichtbares auf. Er mochte diese Vögel mit ihrem im Verhältnis zum Körper zu großen Kopf und dem kurzen, kräftigen Schnabel. Spatzen waren frech, mutig, abenteuerlustig und zeigten keine Scheu vor Menschen. Sie waren keine Angsthasen.
So wie auch er selbst kein Angsthase war, das hatte er schon einige Male bewiesen.
Und jetzt genug der überflüssigen Gedanken.
Josip hatte darauf bestanden, dass sein Kollege und er sich direkt am Grab trafen. Er musste vorher noch etwas erledigen. Langsam ging er die Allee entlang, vorbei an den alten Arkaden, die Karl-Borromäus-Kirche im Blick. Er glaubte an Gott. Und er glaubte daran, dass Gott sein Handeln verstehen und ihm verzeihen würde.
Die weiße Kirche mit der grünen Kuppel glich einem mächtigen Aufseher, der den gesamten Friedhof mitsamt der Präsidentengruft bewachte, die der größten Jugendstilkirche Wiens zu Füßen lag. Unverwechselbar. Hier wollte er um Vergebung bitten. In Gedanken zählte er die Stufen bis zum Portal und vergaß die Anzahl sofort wieder, weil es unwichtig war. Er stieß die Kirchentür auf und durchschritt den Vorraum.
Der Innenraum war bis auf zwei Frauen menschenleer. Er blieb vor dem überbreiten Mittelgang stehen. Kein Sarg. Keine Kränze. Keine Trauergäste. Eine der Frauen stand vor dem großen Hauptaltar und zielte mit ihrem Fotoapparat darauf. Vasen mit rosaroten Rosen wechselten sich auf dem Altar mit Kerzenständern ab. Josip wusste, dass sich unter diesem Altar die Gruft des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger befand. Der hatte den Grundstein dieser Kirche gelegt, weshalb man sie auch Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche nannte. Ebenso wusste er über die propagandistische antisemitische Haltung des Politikers Bescheid. Er war nicht ungebildet.
Josip hätte gerne Geschichte studiert. Aber das Leben ließ das nicht zu, es gab ihm eine andere Richtung vor. Er kam aus einem kleinen Dorf und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, was die Berufswahl erheblich einschränkte. Bauer zu werden wie seine Eltern kam für ihn nicht in Frage. Deshalb ging er fort.
In den 1990er Jahren verbrachte er eine längere Zeit in Afrika. Dort gab es einen österreichischen Kollegen, der ihm Deutsch beibrachte. Josip war ein guter Schüler gewesen. Die Sprache zu lernen war ihm nicht schwergefallen, und nachdem er wieder nach Hause zurückgekehrt war, hatte er seine Kenntnisse mithilfe von Kassetten, die er auf einem alten Rekorder abspielte, intensiviert.
Die andere Frau blickte hinauf und betrachtete die Kirchenkuppel mit dem imposanten Sternenhimmel. So leise wie möglich ging er bis zur ersten Bankreihe vor. Er wartete einen kurzen Moment, presste Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand fest zusammen – das Symbol der Dreieinigkeit – und schlug dann das Kreuz mit den ausgestreckten Fingern, er berührte seine Stirn, die Brust, die linke und dann die rechte Schulter. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Sein Blick fiel auf das Fresko über dem Hochaltar. Es zeigte das Jüngste Gericht. Stumm beschwor er den Himmel, ihm beizustehen und die Dämonen zu vertreiben, die ihn ab dieser verfluchten Stunde verfolgen würden.
Er verließ die Kirche wieder und verschwand in der Toilette unterhalb des Treppenaufgangs. Dort sperrte er sich in einer Kabine ein und zog die Waffe aus dem Kuvert. Er hielt eine Glock 17 des Kalibers neun mal 19 Millimeter in den Händen. Das gebräuchlichste Modell in Österreich. Polizisten, Bundesheer und Verbrecher verwendeten sie gleichermaßen, und weltweit war sie die meistgenutzte Behördenpistole. Eine gute Wahl. Gebräuchliche Kaliber ließen sich schwer zuordnen. Er nahm das Foto seiner Zielperson aus dem Kuvert, betrachtete es eine Weile und steckte dann die halb automatische Pistole in die Innenseite seiner Jacke.
Vorsichtig öffnete er die Tür der Kabine und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt.
Der Zentralfriedhof, die Totenstadt der Wiener, war eines der größten Gräberfelder Europas. Ein Labyrinth von Wegen und Gängen, ein zweieinhalb Quadratkilometer großes Leichenfeld.
Josip hatte sich den Grundriss gut eingeprägt. Das Mausoleum befand sich unweit der Kirche, dennoch ein wenig abseits, verborgen hinter einer Hecke. Als er darauf zuging, entdeckte er den Lieferwagen. Er stand am Wegesrand. Sein Kollege saß darin und starrte durch die Windschutzscheibe. Er hieß Bohumil und war Slowake. Josip zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann ging er auf den Wagen zu. Bohumil stieg behäbig aus. So wie Josip trug auch er eine grüne Latzhose und Gummistiefel. Sie waren heute Gärtner und mussten sich um die Hecke und die Pflanzen der Anlage kümmern. Das Mausoleum war quadratisch. Es erinnerte an einen griechischen Tempel, verziert mit Kreuzblumen und Zinnenkränzen. Vor dem Eingang wachten Erzengel auf schweren Sockeln, Flieder in Tontöpfen zierten das Portal. Rund um die Grabstätte blühten Pflanzen, die ihm fremd waren.
Josip fischte ein Päckchen Marlboro aus seiner Jackentasche, steckte sich eine Zigarette in den Mund und reichte Bohumil die Schachtel. Der Slowake griff danach und bedankte sich auf Deutsch. Josip gab ihnen beiden Feuer. Schweigend zogen sie einige Male gierig am Filter und bliesen Rauch in die Luft.
Ob der Slowake genauso viele Bedenken ob ihrer Aufgabe hatte wie er, vermochte Josip nicht zu sagen. Es war auch belanglos. Sie sahen sich heute zum ersten und zum letzten Mal. Es gab keinen Grund, sich zu unterhalten oder gar näher kennenzulernen. Bohumils Identität war genauso falsch wie seine eigene. Es gab auch keinen Grund, ihn zu fragen, wer er wirklich war.
Der Slowake warf die Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Schuh aus. Dann ging er hinter den Kleintransporter und öffnete die Ladefläche. Auch Josip drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. Der Slowake reichte ihm einen Werkzeugkasten. »Wie lange?«, fragte er, wieder auf Deutsch. Den Blick unverwandt auf den Eingang des Grabmals gerichtet, antwortete Josip ebenfalls auf Deutsch: »Eine Minute.«
Bohumil führte ihn zu einem der Engel und zeigte auf einen bestimmten Fleck am Sockel. »Dann zeig, was du kannst.«
2 SARAH PAULI
Let the sunshine … in«, trällerte es laut aus irgendeinem Redaktionsbüro des Wiener Boten an Sarahs Ohr.
Die junge Journalistin schlenderte den Flur entlang Richtung Konferenzraum und summte die Melodie mit. »Let the sunshine …«
Der Winter war dieses Jahr hart und endlos gewesen. Bis Mitte April hatte in ganz Österreich Schnee gelegen. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Sarah sich vorstellen, was es hieß, unter einer Winterdepression zu leiden. Zusätzlich hatte diese lang anhaltende Dunkelheit verhindert, dass Sarah ihr inneres Gleichgewicht wiederfand. Wenn man wie sie einen Selbstmord mit ansehen musste, so brauchte man viel Sonnenlicht und vor allem auch möglichst fröhliche Menschen um sich herum, sonst blieb das schreckliche Erlebnis für immer im Kopf. Doch über Wien hing eine Glocke der Übellaunigkeit wie eine lästige Zecke im Fell eines Hundes. Davids Geschenk zu ihrem 30. Geburtstag, ein Kurzurlaub in Neapel, hatte nur kurzfristig Linderung gebracht. Sie waren über Silvester in der Geburtsstadt ihrer Großmutter gewesen, und Sarah hatte sich augenblicklich in die Region und die Menschen dort verliebt.
Leider hatte die Reise nach Neapel den immer wiederkehrenden Albtraum nicht endgültig vertrieben. Der hatte es sich während ihrer Abwesenheit gemütlich gemacht und zu Hause auf sie gewartet.
Eine sternenklare Nacht auf dem Cobenzl in Wien, der Parkplatz menschenleer. Nur eine dunkle Gestalt steht vor der kniehohen Mauer und sieht auf das funkelnde Lichtermeer der Stadt hinunter. Sarah geht auf die Gestalt zu. Noch zehn Schritte, neun, acht, sieben … sie kommt nicht vom Fleck. Die Dienstbotenmadonna aus dem Stephansdom legt ihr die Hand auf die Schulter und hält sie zurück. Da dreht die Gestalt sich um …
Und in diesem Moment erwachte Sarah jedes Mal aufs Neue – schweißgebadet und mit panisch rasendem Herzen. Die Szene, in der Doris Heinlein sich vor ihren Augen in den Mund geschossen hatte, blieb ihr im Traum erspart, doch immer erwachte sie mit einem Gefühl, als würde ihr jemand eine Pistole hart gegen die Stirn drücken.
Im März brachten Schlagzeilen über brodelnde phlegräische Felder unter Neapel Sarah zeitweise auf andere Gedanken. Sie hatte sich ernsthaft Sorgen um die Stadt ihrer Großmutter gemacht. Immerhin hatten diese unterirdischen Supervulkane einen Explosivitätsindex der höchsten Stufe. Sie las täglich Meldungen über den aktuellen Stand der Bedrohung.
Und dann inspirierte sie ausgerechnet diese Gefahr zu einer ihrer Kolumnen. Sie schrieb über die Mythen und Legenden, die sich um Vulkane rankten, und hörte währenddessen die Musik des neapolitanischen Liedermachers Pino Daniele, »Napule è«. Ausführlich widmete sie sich Vulcanus, dem römischen Gott des Feuers, der laut römischer Überlieferung im Tyrrhenischen Meer, zwischen Sizilien und Neapel, lebte.
Sie ließ sich zu einer neuen Serie ihrer Kolumnen anregen, die den Titel »Mystisches Wien« bekommen sollte. Das ließ ihr viel Spielraum. Die erste Kolumne dazu beschäftigte sich mit der einzigen Hexenverbrennung in Wien im Jahr 1583. Eine bescheidene Zahl angesichts der zigtausend Frauen, die Opfer der grausamen Hexenjagd wurden. Den Tod auf dem Scheiterhaufen hatte Elisabeth Plainacher ihrem Schwiegersohn und der Hetzpredigt des Jesuiten Gregor Scherer zu verdanken. Den Prediger traf später in der Kirche auf der Kanzel bei einer ähnlichen Ansprache der Schlag. Manchmal sorgte der Himmel also doch für ausgleichende Gerechtigkeit. Heute erinnerte die Elsa-Plainacher-Gasse im 22. Bezirk an die Unglückliche. Die Hinrichtungsstätte lag dort, wo die Kegelgasse in die Weißgerberlände mündete. Ein würdiger Auftakt für ihre neue Serie, fand Sarah.
Hexenverbrennungen gab es nicht mehr, doch Neid, Hass und Denunziantentum waren geblieben.
Wie zur Bestätigung fing Conny, die Society-Löwin des Wiener Boten, Sarah vor der Tür zum Konferenzzimmer ab. »Gratuliere«, raunte sie. »Die Sache mit der Hexe hat was Lebendiges.«
Sarah staunte. Ein Lob aus Connys Mund glich einer Krönung. Die Gesellschaftsreporterin ging so sparsam damit um, dass man meinen konnte, sie hielt es mit dem alten Volksglauben, dass Lob Unheil anrichte.
Das ging Sarah durch den Kopf, während Conny längst dabei war, ihr Lob wieder abzuschwächen: »Das heißt aber nicht, dass ich den Humbug gut finde, den du da jedes Wochenende in der Beilage verzapfst«, sagte sie und schüttelte ihre prachtvolle rote Lockenmähne. »Ich mein’, wir leben immerhin im 21. Jahrhundert. Wer ist da noch ernsthaft abergläubisch?«
Conny fand die Artikel anderer generell unzureichend recherchiert, inakzeptabel formuliert oder thematisch langweilig. Dass sie nun ausgerechnet die Geschichte über eine tote Hexe aus dem 16. Jahrhundert lebendig fand, amüsierte Sarah. Diese Aussage konnte sie sich durchaus ans Revers ihrer Jacke heften, ohne Schaden zu nehmen.
»Sag, hörst du mir überhaupt zu?« Connys Stimme drängte sich in ihre Gedanken.
»Natürlich.«
Während Sarah angestrengt nachdachte, was sie ihrer Kollegin antworten sollte, drückte diese ihr eine Visitenkarte in die Hand.
»Erika Holzmann bietet Stadtspaziergänge zu deinem Thema an. Vielleicht interessiert dich das.«
Sissi, Connys schwarzer Mops, kam um die Ecke und blieb neben ihnen stehen, nur das Hinterteil bewegte sich voller Freude hin und her. Dazu keuchte der Hund, als erleide er soeben einen schweren Asthmaanfall.
»Du kennst eine, die Stadtspaziergänge zu diesem Thema anbietet? Das überrascht mich jetzt, ehrlich gesagt.« Sarah musste mit ihren 1,67 ein wenig zu Conny aufsehen. Die Society-Löwin konnte schon ohne High Heels auf die beachtliche Körpergröße von 1,78 verweisen, und mit den hohen Hacken, die sie täglich trug, wuchs sie auf 1,85.
»Das war reiner Zufall. Ich hab’ sie im Februar am Kaffeesiederball kennengelernt. Wir haben beide zur selben Zeit auf ein Glas Wein an der Bar gewartet und sind dabei ins Plaudern gekommen.«
»Du unterhältst dich mit Leuten, die Stadtspaziergänge anbieten?«
»Ich unterhalte mich mit vielen Leuten. Ihrem Mann gehören übrigens Toprestaurants in Frankfurt und Berlin. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, dann soll bald auch in Wien …«
»Ah, jetzt verstehe ich, so jemanden zu kennen ist für eine Gesellschaftsreporterin …«
»Willst du jetzt hören, was sie mir erzählt hat, oder nicht?«, schnitt Conny ihr das Wort ab. Sie strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Na sicher.«
»Dann hör auf, so deppert rumzureden! Nur weilst’ mit dem Chef ins Bett steigst …«
Conny brauchte ihren Satz nicht zu beenden, er trieb Sarah auch unvollendet augenblicklich ein Messer ins Herz. Verflucht noch einmal! Sie stieg nicht mit David ins Bett. Sie führten eine Beziehung wie x andere Paare auch.
Zwei Kollegen aus der Wirtschaftsredaktion tauchten auf, grüßten leise und drängten sich an ihnen vorbei. Kurz blieben ihre Blicke an Sarah hängen, und ihr Lächeln schien zu sagen: »Guten Morgen, Freundin vom Chef.«
Zum Teufel! Sie war doch immer noch die alte Sarah Pauli!
Conny packte Sarah am Unterarm und zog sie vom Eingang weg. Sissi blieb vor der Tür des Konferenzraumes stehen. Irgendjemand bückte sich immer, um den Mops zu streicheln. Er war das Maskottchen der Redaktion.
»Ich hab’ zwar nur mit einem Ohr hingehört, aber sie hat erzählt, dass sie, was mir bitte schön absolut unverständlich ist, deine Kolumnen liest, und dann hat sie irgendwas von unterirdischen Gängen gefaselt, wo sie auch Führungen anbietet.«
»Das unterirdische Wien«, bemerkte Sarah versonnen. »Wäre auch einmal eine Geschichte wert. Unter der Erde gedeiht die Lust am geheimnisvollsten. Im Zwölf-Apostelkeller gibt es doch die alte Holztafel mit den Namen aller Apostel. Ob da auch Maria Magdalenas Name stand…«
Conny sah sie streng an. »Du redest vielleicht einen Stuss z’amm, wenn der Tag lang ist.« Wieder schüttelte sie ihre Locken. »Also, horch endlich zu!«
»Ich hör’ eh zu.«
»Die Holzmann wollte sich eh schon mit dir in Verbindung setzen. Jedenfalls hat sie mich gebeten, dir ihre Visitenkarte zu geben.«
»Aber du hast drauf vergessen, weil Februar? Ich mein’, das ist ja schon eine Weile her, wir haben jetzt Mai.« Sarah schmunzelte.
»Ja, ich hab’s vergessen«, gab Conny genervt zu. »Es ging in dem Gespräch aber nur nebenbei um unterirdische Gänge. Vielmehr ging es um irgendein mystisches Rätsel. Oder war es ein Zeichen?« Sie schien kurz nachzudenken. »Ach, keine Ahnung mehr, was sie mir alles erzählt hat. Interessiert mich persönlich auch absolut nicht, aber wenn man ein bisserl geistermäßig ang’haucht ist so wie du, mag’s interessant sein. Und weil doch die Überschrift deiner neuen Serie ›Mystisches Wien‹ heißt, dachte ich …«
»Rätsel? Zeichen?«
Ab dem Moment hatte Conny Sarahs volle Aufmerksamkeit. »Meinst du Zeichen in Form von Symbolen oder Rätsel als Code und Informationsübermittlung? Oder eine geheime Botschaft, die man erst entschlüsseln muss?«
»Wie gesagt, ich hab’ nur mit einem Ohr hingehört, aber durch deinen Artikel über die Plainacher ist es mir wieder eingefallen.«
»Du liest also meine Seite? Das ehrt mich. Danke schön.«
»Lesen wär’ übertrieben, sagen wir, ich überfliege sie.«
»Hast du gewusst, dass viele Promis abergläubisch angehaucht sind und einen Talisman bei sich tragen? Das wäre doch einmal ein schönes Thema für dich, vielleicht auf dem nächsten Sportler- oder Opernball.«
Conny hob die Augenbrauen. Ihre Geduld war am Ende. »Ruf die Holzmann an, wenn’s dir wichtig ist, oder lass es bleiben. Mir ist’s wurscht.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand mit Sissi im Konferenzraum. Sarah folgte den beiden. Conny hatte ihren Artikel gelobt! Sie musste sich dieses denkwürdige Ereignis unbedingt in ihrem Kalender notieren. Gut gelaunt setzte sie sich neben Doris Graf aus der Kulturredaktion an den großen ovalen Tisch.
»Morgen.« David betrat den Raum und nahm am Kopfende Platz. Er lächelte in ihre Richtung, und sie lächelte zurück.
Sie liebten sich, und seit einigen Monaten versteckten sie ihre Beziehung nicht mehr vor den anderen. Ein gutes Gefühl. Wenngleich ihr diese Aufrichtigkeit auch Gehässigkeit, falsche Freundlichkeit und Neid einbrachte. Doch Neid musste man sich bekanntlich erarbeiten, Mitleid hingegen bekam man mitunter geschenkt. Und die falschen Freunde würde sie hoffentlich sofort erkennen. Unterm Strich war Sarah froh, endlich den Schritt gewagt zu haben, statt einer heimlichen Affäre nun eine offene Beziehung mit dem Herausgeber des Wiener Boten zu führen. Sarah Pauli war jetzt nicht mehr nur die Hokuspokustante des Wiener Boten, sondern auch die Freundin vom Chef. Deshalb wurden die Witze über ihre Kolumnen in der Wochenendbeilage zwar nicht weniger, doch ihr Lesepublikum und die Zahl ihrer Fans hatten sich verdoppelt, seit sie regelmäßig in der »Lesezeit« veröffentlichte. Die Informationen über Mystizismus und Gebrauchsgegenstände aus der Welt des Übernatürlichen, die ihr im Laufe der Zeit geschickt wurden, hatten längst keinen Platz mehr im Büro, und inzwischen war auch ihre Wohnung voll mit Runen, Heilsteinen, Tarot-Karten und anderen Objekten, die sie laut Meinung ihrer Leser unbedingt besitzen musste. Manchmal verschenkte Sarah etwas aus ihrem Fundus. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, irgendetwas davon wegzuwerfen. Aus diesem Grund kaufte sie regelmäßig Körbe und Aufbewahrungsboxen, um die vielen Talismane, Glücksbringer oder Amulette verstauen zu können.
Nach der Redaktionssitzung ging Sarah direkt zurück in ihr Büro. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Stapel Bücher, die sie am Vorabend dort liegen gelassen hatte. Ihr Blick fiel auf eine gerahmte Postkarte an der Wand.
»Ich bin nicht abergläubisch. Das bringt Unglück.«
Eine kleine Aufmerksamkeit von David, nachdem sie in einer Situation, in der sie unsicher gewesen war, wieder einmal instinktiv nach dem Corno an ihrer Halskette gegriffen hatte. Sarah gestand sich ein, daran zu glauben, dass dieses Schmuckstück sie vor Schaden bewahrte. »Der Böse Blick«, wie Schadenzauber landläufig genannt wurde, wurde durch das Corno gebannt. Außerdem gefiel ihr das kleine rote hornförmige Amulett, und auch im Wien des 21. Jahrhunderts hatte sie das Recht, einen Glücksbringer zu tragen. Immerhin waren Talismane bereits im Altertum in Gebrauch. Warum also sollten sie in einer modernen Welt keinen Platz mehr haben?
Während ihr Computer hochfuhr, richtete Sarah sich eine Tasse Kräutertee her und schob eine CD ein. Dann zog sie die Visitenkarte der Fremdenführerin aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und überlegte, ob sie sich gleich damit beschäftigen sollte. Sie rief Erika Holzmanns Homepage auf. Die Frau auf dem Foto wirkte sympathisch, ein offenes freundliches Gesicht, halblange rotblonde Locken und strahlende grüne Augen. Sarah klickte sich durch die Seiten, fand einen Hinweis auf den Themenspaziergang »Mystisches Wien«, aber keine genauere Beschreibung. Dass Wien eine Stadt voller Geheimnisse sei, stand in der Kurzbeschreibung. Aber wohin die Route führte, stand nicht da. Wenn sie mehr wissen wollte, musste sie mit der Frau sprechen. »Was ich sowieso getan hätte«, erklärte Sarah dem Bildschirm. Aberglaube, Mystik, Geheimzeichen und Symbole waren ihre Welt, und sie freute sich, wenn sie Menschen kennenlernte, mit denen sie sich darüber austauschen konnte. Und wenn sie ihr obendrein etwas Neues erzählen konnten, war die Sache umso spannender.
Sie sah aus dem Fenster. Dunkle Wolken hingen vom Himmel herunter. Die Eisheiligen machten ihrem Namen dieses Jahr alle Ehre, sie hatten das vergangene Wochenende in Kälte und Regen getaucht. Heute stand Servatius im Kalender, im Volksglauben zuständig für die Linderung bei Fußleiden, Frostschäden, Rheumatismus und Rattenplagen. Ob diese Eisheiligen immer wussten, welchen Job sie gerade wann und wo zu erledigen hatten?
Dass Erika Holzmann bei solch ungastlichem Wetter ihre Führungen durch Wien abhalten würde, bezweifelte Sarah. Aber sie hatte auch nicht vor, einen Spaziergang mitzumachen, sondern sie wollte erst mal mit der Frau sprechen. Nach einem Moment des Zögerns hob Sarah den Hörer ab und wählte die Nummer, die auf der Visitenkarte stand. Es läutete fünf Mal, bevor jemand abhob.
»Holzmann.«
»Grüß Gott, Frau Holzmann. Hier spricht Sarah Pauli vom Wiener Boten. Meine Kollegin Conny …«
»Oooh!«, tönte es in Sarahs Ohr. »Das freut mich aber, dass Sie mich anrufen.«
»Conny Soe, meine Kollegin von der Gesellschaftsredaktion, hat mir Ihre Visitenkarte gegeben«, beendete Sarah den Satz nach der Unterbrechung überflüssigerweise, denn offensichtlich wusste die Frau bereits, wer sie anrief.
»Ja ja, ich weiß, aber das ist schon eine Weile her.« Die Frau hatte eine feste, freundliche und ruhige Stimme.
»Februar. Tut mir leid, dass ich mich noch nicht gemeldet habe. Aber es war ein bisschen stressig in letzter Zeit«, bemühte Sarah die üblichen Floskeln. »Meine Kollegin meinte, Sie hätten ihr etwas von mystischen Zeichen erzählt, und da meine neue Serie sich mit der mystischen Seite Wiens auseinandersetzt, interessiert mich das natürlich.«
»Das dachte ich mir doch, dass Sie das interessiert.« Die Stimme klang nun triumphierend. »Ich wollte Sie deshalb schon einmal anrufen, bin aber bis jetzt selber nicht dazu gekommen, und so dringend war’s ja dann auch nicht. Ich wollte mir vorher selbst ein Bild von der ganzen Geschichte machen. War auch nicht ganz einfach, das alles zu entschlüsseln.«
»Was sind das denn für Zeichen? Und wo haben Sie die gefunden?«
»Es geht nicht direkt um Zeichen, sondern mehr um ein Rätsel, das ich lösen musste. Wobei, ein Rätsel in dem Sinne ist es auch nicht … Ach, wie erkläre ich das am besten am Telefon? Ich müsste ein bisserl ausholen.« Sie machte eine kurze Pause.
»Wenn Sie wollen, können wir uns auch gerne treffen, Frau Holzmann.«
»Wenn Sie Zeit hätten, sich mit mir zu treffen, wäre das wunderbar.«
Sarah konnte Erika Holzmanns Freude spüren, als sie den Vorschlag hörte.
»Die ganze Sache ist am Telefon nämlich wirklich kompliziert zu erklären. Man muss es sehen«, endete Erika Holzmann.
Sie verabredeten sich für den folgenden Mittwoch im Daniel Moser. Das Café war ganz in der Nähe des Ortes, von wo aus Erika Holzmann den nächsten Stadtspaziergang starten würde.
Nachdem Sarah aufgelegt hatte, rief David an und lud sie zum Abendessen ein. Eigentlich sagte er nur »Motto am Fluss«, und Sarah wusste Bescheid. Sie lächelte.
»Wenn du mich weiterhin so verwöhnst, wiege ich bald hundert Kilo.«
David lachte warmherzig. »Dann genieß halt nur das Ambiente.«
Und das war, zugegeben, am Donaukanal einmalig.
»Aber ich hab’ sicher Hunger.«
In Gedanken zog Sarah bereits die rote, mit Spitzen besetzte Unterwäsche an, die David ihr für eine rauschende Silvesternacht in Neapel geschenkt hatte. Rote Unterwäsche zum Jahreswechsel brachte Glück und ein leidenschaftliches Jahr, vorausgesetzt, man ließ sie sich schenken. Davids Geschenk kam aus dem Haus »La Perla«, und es machte ihm mindestens so viel Spaß, sie Sarah auszuziehen, wie es ihr Spaß machte, sie zu tragen und sich ausziehen zu lassen. Am 31. Dezember hatte David sie in ein kleines romantisches Restaurant geführt. Eine Stunde vor Mitternacht waren sie ins Hotel zurückgekehrt. Dort wartete eine gekühlte Flasche Sekt auf sie. Während sich die Menschen auf den Straßen »Prosit Neujahr« wünschten und Neapel im Krach von Raketen, Böllerschüssen und Feuerwerkskörpern unterging, liebten sie sich leidenschaftlich ins neue Jahr. Das war die Ouvertüre zu ihrer Beziehung ohne Heimlichkeiten und Versteckspiel.
»Du glaubst wirklich, dass ich dir beim Essen zuschaue? Ausgerechnet im ›Motto am Fluss‹?«, fragte sie lachend, während sie sich in ihren Kalender notierte, am Ende dieses Jahres die rote Unterwäsche zum Thema der Wochenendbeilage zu machen. »Das wäre, als würdest du einem Kind in einem Spielwarenladen sagen, dass es auf gar keinen Fall etwas anfassen darf.«
»Gut. Dann hole ich dich um viertel sieben ab und reserviere uns einen Tisch für sieben Uhr.« Sie legten beide auf.
Gabi steckte den Kopf zur Tür herein.
»Mittagessen?«
3 ZENTRALFRIEDHOF
Kein Mensch hielt sie von ihrem Vorhaben ab. Auch als sie den Sarg auf die Ladefläche schoben, beachtete sie niemand. Lediglich eine Frau mit einer Gießkanne in der Hand passierte den Weg. Sie warf einen kurzen Blick auf sie. Sie, die Arbeiter. Instinktiv drehte Josip sich um und zeigte der Alten die schöne, nicht vernarbte Seite seines Gesichts. Die Narbe wäre nämlich ein Wiedererkennungsmerkmal. Später, wenn die Polizei Augenzeugen vernahm, würde die Frau sich vermutlich an die Narbe erinnern.
Die Frau ging ohne auf ihn zu reagieren weiter. Er und Bohumil waren eben Gärtner, sie trugen Gärtnerkleidung, auf dem kleinen Lastwagen stand »Gärtnerei«, und sie hatten einen Auftrag in der Tasche. Dass zwei Gärtner allerdings einen Sarg aus dem Mausoleum trugen und auf die Ladefläche eines Lastwagens schoben, schien die Frau nicht zu wundern. Das wiederum wunderte Josip doch ein wenig.
»Gefährlich ist es, etwas vom Friedhof zu holen oder mitzunehmen.«
Eine weitere Warnung aus dem Zeitungsartikel. Doch Josip hatte heimlich eine Gegenmaßnahme getroffen.
Sie warfen das Werkzeug neben den Sarg und schlossen die Ladeluke. Bohumil nahm hinter dem Lenkrad Platz, Josip auf dem Beifahrersitz. Er zog den Stadtplan mit dem gekennzeichneten Treffpunkt für die Übergabe aus der Tasche seiner Arbeitsjacke und faltete ihn auf dem Armaturenbrett auseinander. Sie warfen beide einen Blick darauf. Josip nahm den Plan wieder in die Hand. Der Slowake startete den Lieferwagen. Kurz danach lenkte er ihn unbehelligt durchs Hauptportal des Zentralfriedhofs und bog nach links auf die Simmeringer Hauptstraße ab.
Josip suchte schon seit ihrer ersten gemeinsamen Zigarette im Gesicht seines Kollegen nach einer Regung. Doch der Slowake hätte selbst in dem Sarg auf der Ladefläche liegen können, so ausdruckslos war seine Miene. Darüber hinaus hatte er keine zehn Sätze gesprochen, was Josip nicht weiter störte. Er hing viel lieber seinen Gedanken nach. Alte Geschichten seiner Großmutter kamen ihm in den Sinn. Sie hatte ihm von den Strigoi erzählt, den Toten, die zurückkehrten. Es gab zwei Sorten. Die Strigoi morti, die Untoten. Und die Strigoi vii, die lebenden Vampire. Letztere waren Menschen, die man zu Lebzeiten verfluchte. Diese Vampire saugten den Menschen das Blut direkt aus dem Herzen. Oft lebten Menschen lange als Strigoi, ohne dass es ihnen bewusst war. Politiker, schoss es Josip augenblicklich durch den Kopf, und er musste lächeln. Diesen Blutsaugern war im Gegensatz zu den Vampiren durchaus bewusst, dass sie vom Blut ihrer Opfer lebten.
»Was lachst du?«, fragte Bohumil tonlos.
Josip antwortete nicht.
Die Strigoi trafen sich um Mitternacht in der Nacht zum Feiertag des heiligen Andreas an Straßenkreuzungen mit anderen Strigoi, um sich bis zum Sonnenaufgang zu bekämpfen. Was, wenn so ein Strigoi in dem Sarg lag? In dem Moment lief es ihm eiskalt über den Rücken. Verdammt. Der Kerl musste ein Strigoi sein. Die vielen Kreuze in der Grabstätte bewiesen das. Warum sonst hätte man sie dort angebracht? Bei so vielen religiösen Symbolen stieg kein Strigoi aus seinem Loch. Warum nur hatten sie ihn befreit? Das gefiel ihm gar nicht. Er war kein Kroate. Er war Rumäne und hatte eine Scheißangst.
Auch wenn die Strigoi lediglich eine Legende waren, fürchtete er sie. Der Aberglaube über Strigoi war in Rumänien bis heute verbreitet. Anfang dieses Jahrhunderts wurde in dem Dorf, aus dem er stammte, ein vermeintlicher Strigoi exhumiert. Man schnitt das Herz aus der Leiche und verbrannte es. Danach tranken die Dorfbewohner die in Wasser aufgelöste Asche. Bei dem Gedanken bekam er einen Brechreiz. Der Satz aus dem Zeitungsartikel fiel ihm wieder ein.
»Schätze in einem Grab zu suchen ist gefährlich.«
War ein Strigoi ein Schatz? Er versuchte die beunruhigenden Bilder zurückzudrängen, wandte sich nach rechts und starrte durchs Seitenfenster. Was sollte schon passieren? Das hier war nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Diebstahl. Und es war nicht sein erster Raub. Josip hatte schon viele Dinge gestohlen. Schmuckstücke, Autos, Geld. Man beauftragte ihn, weil er gut Schlösser knacken konnte. Das war sein Spezialgebiet. Es gab kein Schloss, das vor ihm sicher war. Aber noch niemals hatte man ihm aufgetragen, einen Sarg mit einer Leiche darin zu stehlen. Und für das Schloss des Mausoleums hätte man keinen Spezialisten gebraucht, das hätte auch ein Anfänger problemlos öffnen können. Aber man wollte ihn, weil er der Spezialist war. Nicht nur im Schlösserknacken. Er konnte auch töten. Es war ihm egal. Abdrücken. Er empfand nichts mehr dabei. Seit seiner Zeit in Afrika. Dort hatte man ihn das Morden gelehrt. Josip schluckte trocken.
Das Geld, das man ihm für diesen Job geboten hatte, konnte er gut gebrauchen. Damit würde er sich, seine alten Eltern und seinen Freund mit den zerfetzten Beinen daheim in Rumänien längere Zeit über Wasser halten können. Der Gedanke daran, so viel Geld zu haben, dass er nach diesem Job hier eine Weile keine Arbeit annehmen musste, versöhnte ihn.
Wenn du’s überlebst, drängte sich die Angst erneut auf.
»Sind wir hier noch richtig?«, riss ihn Bohumil aus seinen Gedanken. Josip sah auf den Plan, wieder auf die Straße, wieder auf den Plan. Er musste sich konzentrieren. Der Treffpunkt war kurzfristig geändert worden.
»Ich glaub’, wir müssen hier irgendwo rechts abbiegen.«
Bohumils Blick traf ihn wie ein Hammerschlag. »Ich glaub’«, äffte er ihn nach, »bist bled oder was? Du sollst nicht glauben, sondern mir Weg ansagen.«
Josip schwieg und reichte ihm die Karte. Sollte er doch selbst nachsehen.
Bohumil stoppte den Wagen am rechten Straßenrand und nahm Josip den Plan aus der Hand. Kurz danach fuhr er weiter, und wenig später erreichten sie ihr Ziel. Sie hielten vor einer endlos erscheinenden hohen Mauer, unterbrochen von einem ebenso hohen undurchsichtigen Stahltor, auf dem verblasste Plakate längst vergangener Veranstaltungen klebten. Bohumil deutete auf das Handschuhfach. Josip griff hinein, holte einen Schlüssel heraus, stieg aus und öffnete das Tor. Vor ihm lag das Ende der Welt. Er kannte solche Orte. Sie waren häufig hinter hohen Mauern versteckt, von Gott und den Menschen verlassen und ihm, Josip, so vertraut wie die eigene Westentasche. Ein aufgelassenes Gelände mit zerborstenem Glas, Betonruinen und vor sich hin rostenden Stahlträgern. Dazwischen der verzweifelte Versuch der Natur, den verlorengegangenen Boden in Form von Gestrüpp zurückzuerobern, wild wuchernd zwischen längst vergessenem Gerümpel. Dass es das Ende der Welt auch in Wien gab, überraschte ihn.
Bohumil lenkte den Wagen durch das offene Tor. Josip schloss es sofort hinter ihm wieder ab und stieg zurück ins Auto. Bohumil fuhr ein paar Meter weiter und parkte vor einem verfallenen Gebäude, von dem man nicht hätte sagen können, was es einmal gewesen war.
Josip griff zur Türschnalle.
»Nein!«, sagte Bohumil streng. »Wir sollen im Auto warten.«
Josip sah auf die Uhr. Es dauerte noch zwei Stunden bis zur Übergabe. Die wollte er auf gar keinen Fall in diesem verdammten Wagen absitzen, in Gesellschaft einer Leiche und eines mundfaulen Slowaken.
»Ich warte ungern mit einem Toten im Auto«, widersprach er und deutete mit dem Daumen Richtung Ladefläche. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Außerdem hatte er Hunger. Dennoch nahm er die Hand vom Griff. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, wann es besser war, Diskussionen zu vermeiden. Er dachte an das Geld, das er bald bekommen würde. Eine ansehnliche Summe, immerhin. Zum ersten Mal war es ihm nicht gelungen, mehr über seine Auftraggeber herauszufinden als das, was sie bereit waren preiszugeben. Das machte ihn nervös.
Der Slowake griff vor, öffnete das Handschuhfach und holte eine Plastikdose und eine Thermoskanne heraus. Er bot Josip ein Wurstbrot und Tee an. Sie aßen und tranken schweigend. Danach rauchten sie Josips Zigaretten. Eine nach der anderen. Ebenfalls schweigend. Irgendwann war Josip doch ausgestiegen. Er musste pinkeln.
Schließlich waren die zwei Stunden um. Das Tor öffnete sich. Ein dunkler Volvo fuhr auf sie zu und parkte. Eine etwas rundliche, aber attraktive Frau mit rotblonden Locken und einem sympathischen Gesicht stieg aus.
»Ursula«, murmelte Bohumil und grinste anzüglich.
Da ging die Beifahrertür des Volvos auf. Ein Mann stieg aus und blieb neben der offenen Wagentür stehen.
Josip schob reflexartig seine Hand in die Jackentasche und zog mit einer raschen Bewegung die Pistole hervor.
Der Slowake sah ihn irritiert an. »Was soll die Waffe?«
»Zur Sicherheit.«
»Lass den Quatsch, Mann, steck das Ding weg! Wir übergeben Ursula und dem Kerl den Sarg, kassieren unser Geld und haben vielleicht sogar noch ein bisschen Spaß.« Wieder grinste er anzüglich.
»Woher kennst du ihren Namen?«
Bohumil antwortete nicht. Die Frau kam näher. Josip schob die Pistole widerwillig zurück in seine Jacke. Der Mann bewegte sich keinen Millimeter vom Auto weg. Gemeinsam hievten Bohumil und er den Sarg von der Ladefläche herunter und schleppten ihn in die Ruine. Dort wuchteten sie ihn auf einen Tisch, der offenbar eigens zu diesem Zweck dort aufgestellt worden war. Niemand sprach ein Wort. Dann folgten sie Ursula zurück zum Auto. Auf ihr Kopfnicken hin überreichte Ursulas Begleiter Josip ein Kuvert.
»Geld und Ticket. Du fliegst morgen früh zurück.«
Wieder ein Kopfnicken von Ursula, und beide stiegen gleichzeitig in den Volvo ein. Ein eingespieltes Team.
»Und ich?«, fragte Bohumil. »Was ist mit mir?«
Die Rotblonde sah Josip an und sagte: »Du lässt ihn liegen. Ich kümmere mich darum.«
Dann zog sie die Autotür zu.
Bohumils Augen verengten sich zu einem Spalt. Er begann laut zu schimpfen in einer Sprache, die Josip nicht verstand. Doch Ursula ignorierte den aufgebrachten Slowaken, startete den Motor, wendete und fuhr davon. In dem Moment setzte Josip ihm die Glock in den Nacken und drückte ab.
Der Angriff kam so plötzlich, dass Bohumil nicht mehr reagieren konnte. Das Projektil stanzte ein Loch in den hinteren Teil seines Halses und färbte den Hemdkragen augenblicklich rot. Sein Körper kippte nach vorne.
Dienstag, 14. Mai
4 JOSIP KOVAC
Wien verlassen. In ein Flugzeug steigen. Auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Dieser Wunsch war stärker als alles andere. Unmittelbar nachdem er abgedrückt hatte, stellte Josip sich die Frage, ob Bohumils Tod etwas mit dem Strigoi zu tun hatte. Holte sich der Tote vom Zentralfriedhof sein erstes Opfer? Unwahrscheinlich. Er selbst war Bohumils Mörder, nicht der Tote im Sarg. Niemand hatte seine Hand geführt und Druck auf seinen Finger ausgeübt. Weder der Strigoi noch ein anderes übernatürliches Wesen. Warum der Slowake sterben musste, hatte Josip nicht zu interessieren. Er hatte auch nicht gefragt.
Gleich nach seiner Rückkehr ins Hotel hatte er seine Rechnung bar beglichen, war in sein Zimmer gegangen und dort geblieben. Heute Morgen hatte er bereits um sechs Uhr das Hotel verlassen, hatte den Schlüssel auf den verwaisten Rezeptionstresen gelegt und war über den Gürtel zum Westbahnhof gegangen, um von dort den Bus zum Flughafen zu nehmen. Trotz der frühen Morgenstunde war er nicht alleine. Der Bus war beinahe bis auf den letzten Platz besetzt. Neben ihm saß eine blonde Frau mittleren Alters im Business-Outfit. Wenn sein Blick sie streifte, lächelte sie ihn höflich, aber distanziert an. Ob sie sich sein Gesicht merken würde? Er schaute den Rest der Fahrt zum Fenster hinaus. Die Landschaft zog an ihm vorbei. Er schloss die Augen, genoss das gleichmäßige Brummen des Motors. Froh, die ganze Sache hinter sich gebracht zu haben. Lebendig. Frei. Vor ihm lag sein eigenes neues altes Leben, mit viel Geld und wieder mit seinem richtigen Namen: Dorin Radu. Wieder Rumäne sein. Wie gut sich das anfühlte. Er lächelte. Die Angst war in Wien geblieben. Er hörte ihre Stimme nicht mehr, die ihn davor gewarnt hatte, den Auftrag anzunehmen. Stumm schimpfte er sich einen Narren, weil er sich von der Angst hatte verunsichern lassen: Angst, das war etwas für kleine Mädchen. Sein Kopf und sein Können waren seine Ratgeber. Darauf konnte er sich verlassen.
»Flughafen. Endstation.«
Die Stimme aus dem Lautsprecher ließ ihn zusammenzucken. Er war eingeschlafen. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich mit einem Zischen, und die Fahrgäste drängten ins Freie.
Josip stieg als Letzter aus, stellte seine Reisetasche auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an. Sein Flug ging erst in drei Stunden. Während er rauchte, dachte er nach. Dass er keine Zeit mehr hatte herauszufinden, wer ihn für seine Arbeit bezahlt hatte, frustrierte ihn. Normalerweise waren ihm die Details egal. Hauptsache er bekam sein Geld. Nur dieser Einsatz war eben anders, und das machte ihn neugierig. Er ging davon aus, dass Ursula mehr als nur eine Mittelsfrau gewesen war. Die Art, wie sie dem Kerl stumme Befehle erteilte, ihn dirigierte wie einen gut abgerichteten Hund.
Die Order für Wien hatte er noch in seiner Heimat bekommen. Ion, sein Landsmann, der ihm immer die Aufträge vermittelte, war auch diesmal wieder zu ihm nach Hause gekommen. Ion war ein alter Freund, der Josip vor Jahren das Leben gerettet hatte. Seine Beine wurden von einer Granate zerfetzt, die in Josips Richtung geworfen wurde. Beim Versuch sie abzuwehren war Ion selber getroffen worden. Seitdem saß er im Rollstuhl und fungierte als Josips Verbindungsmann zu den Auftraggebern. Als er von dem Plan erzählte, einen Sarg von einem Friedhof zu stehlen, hatte Josip zuerst geglaubt, er mache einen Scherz, und hatte gelacht. Welcher normale Mensch holte einen Toten aus seinem Grab? Wusste in ihrem Land doch jedes Kind, dass so etwas frevelhaft war. Aber sein Freund hatte nicht in das Lachen eingestimmt, und Josip hatte ihn daraufhin gefragt, ob er denn nicht wisse, dass ein Friedhof sich immer zurückhole, was man ihm stehle. Er hatte den Auftrag abgelehnt, doch Ion hatte seine Absage ignoriert. »Wir brauchen das Geld.« Das »Wir« hatte er betont und auf seine Beine gezeigt, die nicht mehr zu gebrauchen waren. Die kaputten Beine waren zum Symbol seiner Schuld geworden. Er musste den Auftrag annehmen. Widerstand zwecklos.
Ion hatte ihm erklärt, dass er ab sofort Josip Kovac, der Kroate, sei, ihm einen Reisepass und ein Ticket überreicht, ihm eine hohe Summe genannt, die er bekommen sollte, sowie den Namen eines Hotels am Westbahnhof, in dem ein Zimmer für ihn reserviert worden war. Auf Josips Frage nach den Hintermännern und Auftraggebern hatte der Freund nur unwirsch geantwortet: »Keine Fragen! Mach es einfach. Sie brauchen einen, der kommt, die Sache erledigt und wieder abhaut. Einen wie dich. Ich habe dich empfohlen, weil du gut bist, und zuverlässig.« Er klopfte auf die Decke, die über seinen Beinen lag. »Es ist ein Sarg. Ein verdammter Sarg mit einem verdammten Toten darin. Nicht mehr und nicht weniger.«
Nun lag das alles hinter ihm, und er belächelte seine Bedenken.
Er drückte die Zigarette aus und betrat die Abflughalle. Bis zum Check-in vertrieb er sich die Zeit mit Zeitunglesen und Kaffeetrinken.
Als er im Mülleimer einer Flughafentoilette Josip Kovacs Reisepass entsorgen wollte, läutete sein Handy.
»Hast du schon eingecheckt?«
Es war ihre Stimme.
»Wer spricht?«
»Hast du?«
Verdammt. Woher wusste diese Frau, dass er sich bereits am Flughafen befand? Er hätte genauso gut noch im Hotel sein können.
»Nein.«
»Wir haben ein Problem. Es gibt eine kleine Planänderung. Du musst zurück, deine Arbeit ist noch nicht beendet.« In diesem Augenblick wurde aus Dorin Radu, dem Rumänen, wieder Josip Kovac, der Kroate. Mit dem Namen kam das Unbehagen zurück. Ein Problem. Was für ein verfluchtes Problem konnte das sein? Er hatte den Sarg mit Inhalt ordnungsgemäß abgeliefert und Bohumil getötet. So wie man es ihm aufgetragen hatte. Kurz überlegte er aufzulegen, einfach alles zu ignorieren, ins Flugzeug zu steigen und nach Hause zu fliegen. Doch sie wussten, wo er wohnte und wie sie ihn erreichen konnten. Sie.
Er kannte seine Auftraggeber nicht, aber sie kannten ihn und wussten offensichtlich immer genau, wo er sich aufhielt. Er sah sich um und wähnte ein Netzwerk an Spionen um sich herum. Er hatte also keine Wahl, steckte den falschen Reisepass wieder ein, verließ die Toilette, schulterte sein Gepäck und stieg in den nächsten Bus, der ihn zurück nach Wien brachte.
Am Westbahnhof stieg er als Letzter aus. Ein Unbekannter stand vor dem Bahnhofseingang und starrte ihn an. Er war klein, kleiner als Josip, und hatte stechend blaue Augen. Der Typ setzte sich in Bewegung, kam direkt auf Josip zu, drückte ihm etwas in die Hand und ging schnell weiter.
Josip umschloss dieses Etwas mit der Faust und betrat durch die Glasschiebetür den Bahnhof. Vor der Rolltreppe blieb er stehen und öffnete seine Hand. Es war wieder die Karte zu einem Schließfach. Nicht mehr und nicht weniger. Er nahm die Treppe hinauf zu den Schließfächern und entnahm dem Fach mit der Nummer 2511 eine Reisetasche.