NIMUE ALBAN
DER
VERGESSENE
ORDEN
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Dr. Ulf Ritgen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by David Weber
Published by arrangement with Tom Doherty Associates LLC.
All rights reserved.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Hell’s Foundations Quiver« Teil 1
Originalverlag: Tor Books, New York
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press, LLC
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen, vermittelt.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Beke Ritgen, Bonn
Titelillustration: Arndt Drechsler, Regensburg
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3043-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Sharon, Megan, Morgan und Michael,
die vier Gründe für mich, morgens aufzustehen.
Ich liebe Euch.
Der Schneesturm, der draußen tobte und heftig an den Dachschindeln des Hauses rüttelte, betonte die plötzlich eingetretene Stille im Raum. Selbst das Knistern der glühenden Kohlen im kleinen Kamin des bescheidenen Schlafgemachs war mit einem Mal unerträglich laut. Stocksteif stand Merlin Athrawes da, die Schultern gegen die Tür gelehnt, die er gerade eben erst hinter sich geschlossen hatte. Seine Augen, blau wie Saphire, blitzten, als sein Blick auf der schlanken Frau ruhte, die in dem kleinen Sessel neben dem Kamin saß, ihm gegenüber. Im zuckenden Lichtschein der Flammen war sie selbst im Halbdunkel des Zimmers gut zu erkennen.
Diese Frau hatte ihn soeben Ahbraim genannt.
Einen Lidschlag davor hatte ihn nichts weiter beschäftigt als die Frage, wie es ihr gelungen war, unbemerkt an den Wachen vorbeizukommen, die hier im Herzen von Siddar-Stadt die charisianische Botschaft sicherten. Doch nun war diese Frage nur noch von nachrangiger Bedeutung.
Der schwere, schlichte Mantel, der am Kleiderständer in Merlin Athrawes’ Gemach hing, ebenso die Stiefel und die dicken Wollstrümpfe, die seine Besucherin sich von den schlanken, pedikürten Füßen gestreift hatte, waren vom schmelzenden Schnee völlig durchweicht. Hellwach war der Blick aus ausdrucksstarken Augen, mit denen sie Merlins Blick begegnete. Das Feuer im Kamin ließ Licht und Schatten auf ihrem Gesicht tanzen und den goldgefassten Topasschmuck an ihrem schlanken Hals funkeln.
Merlin bemerkte zweierlei, als wenn nichts wichtiger wäre: Der Lichtschein betonte einzelne hellere Strähnen in ihrem Haar, das ansonsten beinahe ebenso dunkel war wie das von Sharleyan Ahrmahk, und das elegante, maßgeschneiderte Kleid, das Merlins Besucherin unter ihrem einfachen, zweckmäßigen Mantel trug, verriet, dass es kostspielig gewesen war. Was Merlin sah, war, so war er sich ziemlich sicher, die schönste Frau, der er jemals begegnet war, eine Frau, die ihre Vorzüge einzusetzen wusste, bis hin zur Wahl des dezenten Parfüms, ein lieblich-blumiger Duft. Aber nichts von dem, was Merlin in diesen Sekundenbruchteilen registrierte, war der Grund für seine Erstarrung.
»Warum«, ergriff er schließlich das Wort und klang dabei deutlich ruhiger und gelassener, als es dem Anlass angemessen war, »haben Sie mich Ahbraim genannt, Madam Pahrsahn?« Fragend neigte er den Kopf zur Seite, und seine Miene verriet tiefes Erstaunen. »Sie beziehen sich doch wohl auf Meister Zhevons?«
»Oh, was für ein hervorragender Schauspieler Ihr doch seid!«, lobte ihn Aivah Pahrsahn, die einst den Namen Ahnzhelyk Phonda getragen hatte … und noch viele andere. »Ich muss sagen, beinahe hättet Ihr mich überzeugt – aber eben nur beinahe. Denn dafür beobachtete ich Euch nun schon zu lange, und ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für kleinste Details.«
»Sie beobachten mich?«, wiederholte er. »Ach, ja? Wobei denn? Ich habe doch keineswegs versucht, einen Hehl aus meinem Kommen und Gehen hier in Siddar-Stadt zu machen. Weder vor Ihnen noch vor dem Reichsverweser habe ich etwas geheim zu halten versucht – und vor Ihren Agenten auch nicht, wo ich jetzt so darüber nachdenke.«
»Nun ja«, erwiderte sie nachdenklich, lehnte sich in dem Sessel zurück und schlug in einer elegant-fließenden Bewegung die langen Beine übereinander. Einen Ellenbogen auf der Armlehne, stützte sie ihr Kinn in die Hand, und Merlin konnte nicht umhin, zu bemerken, wie gepflegt und perfekt manikürt die Fingernägel waren. Sein Gegenüber blickte ihn an, als wollte sie ein Thema zur Sprache bringen, über das sie bereits weidlich nachgedacht hatte. »Ich gebe zu, dass mir zumindest ein Teil dessen, was Ihr letztendlich verraten habt, während meiner Zusammenarbeit mit Seiner Majestät und Euch hier in der Hauptstadt aufgefallen ist. Aber das allein war nicht maßgebend. Nein, endgültig davon überzeugt, dass meine Vermutungen, die absolut absurd erscheinen, alles andere als unbegründet sind, hat mich nicht sosehr all das Interessante, das Ihr hier getrieben habt. Es war vielmehr Eure Wahl der jeweiligen Zeiträume, die Ihr Euch … eben nicht hier aufgehalten habt, könnte man wohl sagen.«
»In welcher Hinsicht?« Der hochgewachsene, breitschultrige Kaiserliche Gardist verschränkte die Arme vor der Brust und wölbte fragend eine Augenbraue. »Und wenn ich schon damit anfange, Fragen zu stellen, hätte ich gleich noch eine: Von welchen Vermutungen – ob nun absurd oder alles andere als unbegründet, sei dahingestellt – reden wir?«
»Fast eintausend Jahre lang gab es hier bei uns keine einzige beurkundete Sichtung eines Seijin«, antwortete Madame Pahrsahn. »Dann, plötzlich, taucht Ihr auf … und das ausgerechnet in Charis, einem unbedeutenden Hinterwäldlerkönigreich. Während des ganzen Krieges gegen die Gefallenen wurde von keinem einzigen Seijin dort berichtet – von nicht einem, Merlin! So war das, bis sich Charis deutlich veränderte: Kaum, dass es nicht mehr klein und unbedeutend war, taucht Ihr auf – als wäret Ihr in Tellesberg vom Himmel gefallen.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das die Grübchen in ihrem Gesicht entzückend betonte. Merlins Gesicht hingegen blieb unbewegt.
»Nun ist mir durchaus aufgefallen, wie viel Wert Ihr stets darauf legt, zu betonen, Ihr seiet in Wahrheit kein Seijin – auch wenn Ihr es nicht ausdrücklich ausgesprochen habt, habt Ihr daran nie einen Zweifel gelassen. Als mich die ersten Berichte über Euch erreicht haben und darüber, wie Ihr vorgeht, erschien mir das vernünftig. Doch was auch immer Ihr sagtet oder andeutetet: Die Leistungen, die Ihr vollbrachtet, sprachen eine ganz eigene Sprache und führten der Welt unmissverständlich vor Augen, was Ihr in Wahrheit seid. Doch nicht genug, dass plötzlich, nach all den Jahren, ein Seijin auftaucht: Noch bemerkenswerter war, dass Ihr der Kirche von Charis Gefolgschaft leistet, wo doch allgemein bekannt ist, dass die Seijins Vorkämpfer und Verfechter von Mutter Kirche waren. Schon als mir die ersten Berichte über Eure … erstaunlichen Fähigkeiten zu Ohren gekommen sind, habe ich mich gefragt, wie es wohl kommt, dass ein Seijin in den Dienst einer ganz offenkundig ketzerischen Kirche und des Kaiserreichs tritt, in dem sie ihren Ursprung hat.«
»Darf ich davon ausgehen, dass Sie letztendlich zu einer Antwort auf diese Frage gelangt sind?«, erkundigte sich Merlin höflich.
»Nun ja, angesichts des gewaltigen Unterschieds zwischen besagter ketzerischer Kirche einerseits und andererseits all dem, was dieses Schwein Clyntahn und dessen achsoverehrte ›Vierer-Gruppe‹ Mutter Kirche angetan haben, war ich rasch davon überzeugt, dass Ihr ein deutlicher Beleg für göttliches Missfallen ob des Verhaltens der Entscheidungsträger seid.« Ihr Lächeln verschwand. »Und wenn ich ganz ehrlich sein darf: Kaum dass mir das bewusst geworden war, habe ich mich gefragt, warum Gott so lange damit gewartet hat.«
Merlin senkte den Kopf: ein Nicken, mit dem er ihre letzte Bemerkung zur Kenntnis nahm, ohne anderweitig darauf zu reagieren.
»Also habe ich Euch und alles, was Ihr unternommen habt, so gut wie möglich im Auge behalten«, fuhr Aivah Pahrsahn nach kurzem Schweigen fort. »Dass Ihr teilweise in großer Entfernung tätig wart, hat mir natürlich gewisse Schwierigkeiten bereitet, aber eines habt Ihr gewiss schon bemerkt: Wenn ich mir in den Kopf gesetzt habe, etwas – oder jemanden – im Auge zu behalten, dann bin ich dabei besser als die meisten anderen. So war ich schon lange, bevor ein gewisser Seijin Ahbraim meine Räumlichkeiten in Zion betreten hatte, fest davon überzeugt, niemals zuvor habe es auf dieser Welt jemanden gegeben, der eher ein Seijin ist als Ihr – sosehr Ihr das auch stets bestreitet. Und ob Ihr nun für Euch selbst eine Art Halbgöttlichkeit in Anspruch nehmt oder nicht: Es war offenkundig, dass Ihr auf der Seite Gottes steht.«
Beim letzten Satz hatte sie die Stimme gesenkt, und das Tosen des Sturms draußen wurde just in diesem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, noch heftiger. Einen Moment lang lag Schweigen über der Kammer, dann zuckte Madame Pahrsahn die Achseln.
»Das war einer der Gründe, weswegen ich bereit war, auf Seijin Ahbraim zu hören und die Umsetzung meiner Pläne zu beschleunigen. Viel Überzeugungsarbeit seinerseits war allerdings nicht nötig. Zufälligerweise nämlich habe ich mich früher recht ausgiebig mit den Sagen und Legenden befasst, die sich um die Seijins ranken, und so hatte ich weidlich Zeit, mir meine Gedanken über Euch zu machen. Die Schlussfolgerungen, die ich dabei gezogen habe, gelten damit natürlich auch für ihn. Schließlich ist er ja ebenfalls ein Seijin und außerdem auch einer Eurer … Mitarbeiter. Sein Ratschlag erwies sich im Nachhinein als bemerkenswert nützlich, denn er führte mich letztendlich hierher«, sagte sie und vollführte mit ihrer freien Hand eine Geste, die neben dem Schlafgemach selbst die ganze umliegende Stadt einzuschließen schien. »Hier erst war es mir in vollem Umfang möglich, meine bescheidenen Möglichkeiten dem Ringen um den Niedergang Clyntahns und seiner Spießgesellen hinzuzufügen.« Ruhig blickte sie Merlin in die tiefblauen Augen. »Für dieses Privileg, für diese Gelegenheit, schulde ich … Seijin Ahbraim ewigen Dank.«
Dieses Mal fiel Merlins Nicken deutlicher aus, eine angedeutete Verneigung beinahe. Er trat an den Kamin heran, öffnete das Feuergitter, legte mit einer schmiedeeisernen Zange zwei weitere große Kohlebrocken in die Flammen und schürte das Feuer. Flammen stoben auf, und dann lauschte Merlin dem Prasseln, mit dem die Flammen über die Oberfläche der Kohle leckten. Schließlich schloss er das Feuergitter wieder und wandte sich erneut Madame Pahrsahn zu. Den linken Arm auf den Kaminsims gestützt, hob er beide Augenbrauen: eine wortlose Aufforderung weiterzusprechen.
»Ich gebe wohl zu«, sagte sie leise, »dass ich einige Zeit gebraucht habe, um die Wahrheit auch nur zu vermuten – oder besser gesagt: eine der Wahrheiten, die sich hinter Eurer Maskerade verbergen, Merlin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich selbst jetzt noch nicht alles davon durchschaut habe. Aber irgendetwas an Euch kam mir einfach sehr vertraut vor, als wir einander hier in Siddar-Stadt zum ersten Mal begegneten. Wie gesagt, ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und eine Frau meines Berufsstandes – oder zumindest Ahnzhelyk Phondas Berufsstandes – lernt sehr schnell, auch winzige Details an anderen zu bemerken. Das gilt, wenn wir ganz ehrlich sind, erst recht bei Männern. Vor allem, wenn es um gut aussehende Männer geht, die nicht nur höflich sind, sondern die auch behutsam, ja sogar rücksichtsvoll mit den Frauen umgehen, deren Dienste sie bei jemandem wie Ahnzhelyk in Anspruch nehmen. Ahbraim und ich – oder eher Ahbraim und Frahncyn Tahlbaht – haben im Lagerhaus von Frachttransporte Bruhstair und auf der Reise von Zion viel Zeit miteinander verbracht.
Nachdem ich dann hier in Siddar-Stadt Euch begegnete, ging mir allmählich auf, wie sehr Ihr mich doch an ihn erinnert. Ach«, sie winkte mit der freien Hand ab, »natürlich hat Euer Haar eine andere Farbe, Eure Augen, Eure Stimmen unterscheiden sich: Selbst der Akzent, mit dem Ihr sprecht, ist anders. Ahbraim ist glattrasiert, richtig, während Ihr diesen verwegenen, kleinen Bart tragt. Ach ja, und Ihr habt ja auch noch diese Narbe auf der Wange. Aber Ihr beide seid gleich groß, Eure Schultern gleich breit, und als ich mir vorgestellt habe, bei Euch wären Schnurr- und Kinnbart fort, sah ich schnell, dass Euer beider Kinn fast die gleiche Form hat. Darauf hättet Ihr vielleicht ein bisschen mehr achten müssen – und auf Eure Hände.«
»Soso.« Merlin betrachtete erst den Rücken seiner rechten Hand, dann drehte er sie herum und begutachtete die langen, kräftigen Finger mit den charakteristischen Schwielen eines Schwertkämpfers.
»Ich glaube nicht, dass jemand sonst etwas bemerkt hat«, versicherte ihm seine Besucherin nachdenklich. »Ich meine, die Vorstellung ist doch völlig absurd, oder nicht? Selbst jemand, der sich so lange mit Seijins befasst hat wie ich, bräuchte eine ganze Weile, um überhaupt derart absurde Vermutungen als wahr in Erwägung zu ziehen – selbst, wenn diese einem nicht mehr aus dem Kopf wollen. Aber als es bei mir schließlich so weit war, habe ich genau nachverfolgt, wann und wo Ahbraim oder einer der anderen Seijins jeweils persönlich in Erscheinung trat, statt sich nur auf einen schriftlichen Bericht zu beschränken. Ich habe auch alles im Blick behalten, was mir etwas über deren jeweiliges Erscheinungsbild verraten hat … und dabei habe ich zwei faszinierende Dinge festgestellt: Erstens war jeder der genannten Seijins auffallend groß … genau wie Ihr, und zweitens: Wann immer ich einen eindeutigen Beleg dafür hatte, dass in einer anderen Stadt ein Seijin auftauchte, stellte sich jedes Mal aufs Neue heraus, dass Ihr Siddar-Stadt gerade verlassen hattet. Immer erfülltet Ihr genau zu diesem Zeitpunkt für Cayleb die eine oder andere Mission – und zwar meistens eine, die nicht weiter erläutert und weitestgehend im Verborgenen durchgeführt wurde. Sind das nicht interessante Zufälle?«
»Ganz offenkundig sind das«, entgegnete Merlin nach kurzem Schweigen, »in Wahrheit mitnichten Zufälle.« Nachdenklich blickte er seine Besucherin an, dann war es an ihm, mit den Schultern zu zucken. »Sie werden gewiss Verständnis haben, dass ich davon Abstand nehme, Ihnen in einem Anfall überbordender Begeisterung noch weitere Informationen zu geben.«
Das Lachen, in das Madame Pahrsahn unvermittelt ausbrach, war tief, kehlig und kam aus tiefstem Herzen. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Merlin, aus irgendeinem Grund kann ich mir kaum vorstellen, dass Ihr zu Anfällen gleich welcher Art neigt, ob nun zu überbordender Begeisterung oder etwas anderem!«
»Man bemüht sich«, bestätigte er höflich.
»Und man ist dabei offenkundig auch durchaus erfolgreich«, pflichtete sie ihm bei. »Mir wurde klar, dass wir selbst jetzt nur eine sehr eingeschränkte Anzahl an Seijins zu Gesicht bekommen. Dann habe ich mich davon überzeugt, dass jede andere offiziell bestätigte Sichtung eines Seijin unweigerlich mit Eurer Abwesenheit hier zusammenfiel. Also ist die offensichtliche Schlussfolgerung, dass hinter alledem immer die gleiche Person steckt. Jemand, der nicht nur seine äußere Erscheinung verändern, sondern sich wirklich in andere Personen verwandeln kann – und das mit der Leichtigkeit, mit der eine Maskenechse in einem Blumenbeet die Farbe wechselt. Außerdem musste dieser geheimnisvolle Jemand in der Lage sein, schlichtweg unmögliche Entfernungen mit schlichtweg unmöglicher Geschwindigkeit zu überwinden. Das, mein Freund, war der endgültige Beweis dafür, dass Ihr wirklich ein Seijin seid – genau wie Seijin Kohdy.«
Ob dieses Vergleichs blinzelte Merlin sein Gegenüber unwillkürlich erstaunt an. Seijin Kohdy war tief mit dem Volkstum von Safehold verbunden, doch es hatte seine Besonderheit mit ihm: Die Adams und Evas, die es geschafft hatten, Shan-weis Rebellion und den Krieg gegen die Gefallenen zu überleben, hatten die bestätigten Sichtungen eines Seijin in den Offenbarungen verzeichnet. Derlei Sichtungen gab es nur wenige: Man konnte sie an zwei Händen abzählen. Doch über Seijin Kohdy gab es keinerlei historische Aufzeichnungen, und nicht nur das: Während die Seijins der Offenbarungen ernste, sachliche und geradezu übermenschlich disziplinierte Krieger waren, die für Gott, Erzengel und Kirche eintraten, wirkte Seijin Kohdy in den Geschichten, die von ihm berichteten, eher wie ein fahrender Zauberkünstler oder ein lachender Vagabund. Vielleicht auch wie ein Odysseus – auch wenn außer Merlin niemand auf Safehold mit diesem Namen etwas hätte anfangen können. Die Zeiten, in denen Seijin Kohdy vorgeblich gelebt hatte, waren alles andere als lustig gewesen. Doch in den meisten Berichten über ihn wurden seine Schläue gepriesen, sein Talent dafür, seine Ziele ebenso mit List und Tücke zu erzielen wie mit der tödlichen Klinge seines Zauberschwerts Helmspalter … und auch von seinem Humor, seiner Schwäche für schöne Frauen und seiner Vorliebe für guten Whisky wurde berichtet. Seijin Kohdys Premium Blend, einer der beliebtesten Blended Whiskys aus Chisholm, war nach ihm benannt, und das Etikett zeigte nicht nur das Zauberschwert, das für alle Zeiten mit dem Namen jenes Seijin verbunden war, sondern auch eine Zeichnung von Kohdy selbst – auf dessen Schoß nicht nur eine, sondern gleich zwei sehr freizügig gekleidete Schankmaiden saßen.
Alle Geschichten, die sich um ihn rankten, waren voller Humor und Herzenswärme … und damit unterschieden sie sich drastisch von jenen über die historisch belegten Seijins. Genau deswegen war Merlin auch zu dem Schluss gekommen, Seijin Kohdy müsse eine Kunstfigur sein – eine Idealvorstellung, für die spätere Generationen als die ursprünglichen Adams und Evas die Legenden der ›echten‹ Seijins aufgegriffen und mit mehr als nur einer Prise jener Schelme und unbekümmerten Luftikusse angereichert hatten, die sich auch in den Mythen und Legenden von Terra so großer Beliebtheit erfreut hatten.
Doch nun schien es, als meinte Aivah ihre Worte ganz und gar ernst, und so schien Merlin äußerste Vorsicht geboten.
»Interessant, dass Sie Seijin Kohdy ansprechen«, sagte er nach kurzem Schweigen, »vor allem, da ich mich nicht entsinnen kann, seinen Namen in den offiziellen Listen der Seijins gefunden zu haben, die im Dienst von Kirche und Erzengeln standen.«
»Nein, da werdet Ihr ihn auch nicht finden«, bestätigte sie, und auf einmal verfinsterte sich ihr Gesicht, ihr Tonfall wurde grimmiger. »All diese offiziellen Seijins hat Mutter Kirche heiliggesprochen, und in der Liste der Heiligen ist er nicht verzeichnet … nicht mehr.«
»Nicht mehr?«, fragte Merlin nach, und seine tiefe Stimme klang nun deutlich sanfter als noch Augenblicke zuvor.
»Nicht mehr«, wiederholte sie. Sie entwirrte ihre langen, schlanken Beine und setzte sich auf, und ihre Nasenflügel bebten, so tief holte sie Luft. Dann blickte sie Merlin geradewegs in die Augen.
»Wer seid Ihr wirklich, Merlin?«, fragte sie. »Woher kommt Ihr in Wahrheit? Und sagt bitte nicht nur: aus den Bergen des Lichts.«
»Woher sollte ich denn sonst kommen, Aivah?«, stellte er eine Gegenfrage und vollführte mit dem rechten Arm eine ausladende, alles einschließende Geste.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie sehr leise, und im feuerdurchwirkten Halbdunkel wirkten ihre Augen umso dunkler und unergründlicher. »Aber allmählich glaube ich, dass Ihr in Wahrheit von genau jenem Ort stammt, von dem auch die Adams und Evas ursprünglich gekommen sind, bevor sie auf Safehold am Tag der Schöpfung erwacht sind.«
»Sie hat was gesagt?!«
In Corisande ging gerade die Sonne auf und erwärmte bereits die Nachtluft. Eben noch nachtschwarz, war der Himmel im Osten, durch das Fenster von Sharleyan Ahrmahks Gästesuite im Palast von Manchyr deutlich zu sehen, bereits ein helles Band. Die Kaiserin von Charis lehnte sich in ihrem Nachtgewand aus Stahldistelseide in die aufgetürmten Kissen zurück, eingehüllt in das dünne Laken, das ihr im Sommer als Decke diente. Sie hatte zwar erst ein paar Stunden geruht, als der dringende Com-Anruf ihres Mannes sie geweckt hatte, aber ihre großen, braunen Augen wirkten alles andere als verschlafen.
»Anscheinend war Jeremiah Knowles nicht der Einzige, der einen schriftlichen Bericht hinterlassen hat«, erklärte ihr Merlin belustigt. »Der Blickwinkel fällt natürlich ganz anders aus, zumindest laut dem, was Aivah …« Er stockte, und Sharleyan sah ihn, über Owls Datenübertragungseinrichtung auf die Kontaktlinsen geschickt, den Kopf schütteln und lautstark schnauben. »Ach, was soll’s, verdammt! Ab jetzt nenne ich sie nur noch Nynian! Also wirklich, diese Frau dürfte die einzige Person auf ganz Safehold sein, die sich mit noch mehr verschiedenen Identitäten herumschlagen muss als ich!«
Trotz des Ernsts der Lage lachte einer der anderen, die sich in dieses Com-Netzwerk eingeklinkt hatten, laut auf. Für Sharleyan klang es ganz nach Domynyk Staynair, aber genauso gut hatte es auch Ehdwyrd Howsmyn gewesen sein können.
»Geschieht Euch ganz recht, Merlin«, meinte Cayleb, der neben ihm bei Lampenschein im Wohnzimmer seiner persönlichen Suite in Siddar-Stadt saß. Der Kaiser von Charis trug einen wollenen Hausmantel über seinem Schlafanzug – der Winter in Siddar-Stadt verbot ihm schlichtweg, seinen natürlichen Neigungen nachzugehen und nackt zu schlafen. Doch im Gegensatz zu seiner Ehefrau war er gerade erst eingedöst gewesen, als Merlin bei ihm angeklopft und ihn aus dem Bett geholt hatte. »Was hattet Ihr noch für ein Sprichwort benutzt, als diese unerträgliche Nervensäge Zhwaigair die Mahndrayns noch weiter verbessert hat?«, fuhr er fort. »Gefangen in der eigenen Schlinge, war es nicht so?«
»Seid nicht unfair, Cayleb«, protestierte Merlin, »ich mache das hier erst seit sieben Jahren, sie aber, wenn ich’s mir recht zusammenreime, seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr!«
»Und das auch noch verdammt erfolgreich«, setzte Nimue Chwaeriau nüchtern hinzu, die in einem Sessel in Sharleyans Schlafgemach saß. »Zudem, wie ich hinzufügen möchte, ohne all die Vorteile, die du hast – na ja, ich sollte wohl besser sagen: die wir haben.«
»Dass sie eine wirklich bemerkenswerte Frau ist, habe ich schon immer gewusst«, meinte nun Erzbischof Maikel Staynair von seinem Schlafgemach in Erzbischof Klairmant Gairlyngs Palast aus, dem Manchyr Palast an diesem großen Platz genau gegenüber. »Aber dergleichen wäre mir nicht in den Sinn gekommen.«
»Das geht uns allen so, Maikel«, gab Cayleb zu bedenken. »Genau deswegen halten wir ja jetzt auch diese kleine Konferenz ab. Was sollen wir unternehmen?«
»Wir brauchen eine rasche Entscheidung«, ergriff nun Rahzhyr Mahklyn von seinem Studierzimmer in Tellesberg aus das Wort. Dort war es später am Tag als in Siddar-Stadt, aber noch längst nicht so spät – oder so früh, je nach Sichtweise – wie in Manchyr. Mit beiden Händen umschloss der Rektor der Königlichen Hochschule eine Tasse heißer Schokolade und schaute mit besorgter Miene zu, wie kräuselnd Dampf davon aufstieg. »Gleichzeitig jedoch müssen wir auch sehr gründlich abwägen, wie viel von der Wahrheit wir mit ihr teilen.«
»Es ist meiner Meinung nach nicht der rechte Zeitpunkt, um sie herumzuschleichen wie die Katzenechse um den sprichwörtlichen heißen Brei, Rahzhyr«, erwiderte High Admiral Rock Point.
Der Bruder des Erzbischofs saß auf der Heckgalerie seines Flaggschiffs und spähte über die schwarzen Wasser des Hafens von Tellesberg hinweg, die wie ein dunkler Spiegel vor ihm lagen. Die Kais der kaiserlichen Hauptstadt waren im Schein der Gaslaternen gut auszumachen. Ebenso wie Mahklyn hielt er ein Getränk in der Hand, doch im Gegensatz zu dem Rektor hatte er sich für Whisky entschieden. Nun nahm er einen großen Schluck, ließ ihn genießerisch über die Zunge rollen, schluckte dann und schüttelte seinerseits den Kopf.
»Wir wissen doch bereits, wie außerordentlich, ja: wie gefährlich tüchtig diese Frau ist«, fuhr er schließlich fort. »Oder zumindest hatten wir bereits geglaubt, das zu wissen. Neu ist jetzt, dass es tatsächlich eine noch ältere Organisation gibt als die Bruderschaft – eine, die ebenso gut darin ist, ihre Existenz die ganze Zeit über geheim zu halten. Nachdem Aivah Pahrsahn nun diese kleine Bombe hat platzen lassen, sind wir uns doch wohl alle einig: Wir wollen gewiss nicht, dass sie zu dem Schluss kommt, wir wären nicht vertrauenswürdig, weil wir ihr Informationen vorenthalten, die sie dringend braucht … oder meinetwegen auch nur zu brauchen meint.«
»Dem kann ich nicht widersprechen«, war es nun wieder an Merlin, das Wort zu ergreifen. »Sowohl, was ihre Fähigkeiten betrifft, als auch, wie gefährlich es wäre, sie gegen uns aufzubringen. Wer daran noch Zweifel haben sollte, möge bitte hier und jetzt an die toten Vikare in Zion denken – wir reden hier immerhin von mindestens einem Dutzend. Die mehreren tausend aufständischen Tempelgetreuen und mindestens ein weiteres Dutzend toter Attentäter hier in Siddar-Stadt sollten auch nicht vergessen werden.«
»Ganz zu schweigen davon, dass die Prinzipien dieser Frau nur ein ganz klein bisschen weniger fest sind als Ehdwyrds beste Panzerplatte«, warf Nimue ein. »Ich kenne sie natürlich längst nicht so gut wie du, Merlin – oder auch Ihr, Cayleb –, aber zu dem Schluss war ich auch schon gekommen, bevor sie diese prächtige Westentaschen-Atombombe zur Detonation gebracht hat.« Die schlanke, rothaarige Frau, die ebenso wie Merlin über sämtliche Erinnerungen einer gewissen längst im Kampf gefallenen Nimue Alban verfügte, schüttelte den Kopf, und in ihren tiefblauen Augen stand Verwunderung zu lesen. »Und jetzt? Diese Frau wird sich ganz gewiss nicht einfach so auf eine Selbstmordmission begeben … aber sie wird auch nicht davor zurückschrecken, jeden Preis zu zahlen, der ihr erforderlich erscheint, um ihre Ziele zu erreichen. Ich möchte mir wirklich nicht vorstellen, welchen Schaden sie und ihre ganze Organisation uns zufügen könnten, wenn sie es ernstlich darauf anlegt. Wir wollen ganz bestimmt nicht, dass sie zu dem Schluss kommt, wir wären ebenfalls der Feind!«
Merlin nickte Zustimmung, und einige der anderen taten es ihm gleich.
»Wissen Sie«, warf schließlich Maikel Staynair ein, »ich habe mich schon immer gefragt, wie ein Kind mit einer solchen Lebensgeschichte – ein Mädchen, dessen Adoptiveltern gezwungen wurden, die Kleine ins Kloster zu schicken, nachdem ihr Vater Großvikar wurde – nicht nur aus dem Kloster entkommen, sondern auch noch die erfolgreichste Kurtisane der ganzen Tempel-Lande werden konnte. Ich wüsste gern, wo sie das dafür notwendige Geld aufgetrieben hat.«
»Ich vermute, dass da unter der Hand ein bisschen Geld den Besitzer gewechselt hat, um sich ihr Schweigen zu erkaufen«, meldete sich nun zum ersten Mal Nahrmahn Baytz aus seiner virtuellen Realität im Computer von Nimues Höhle zu Wort. »Ach, sicher, der Hauptgrund für ihre … Berufswahl war gewiss, dass sie ihrem Vater eins auswischen wollte. Aber ich gehe davon aus, dass sie ihm auch gern die Daumenschrauben angelegt hat, um an das Geld zu kommen, das sie brauchte, um sich überhaupt erst einmal richtig auf dem Markt zu etablieren.« Ein schelmisches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »So zumindest hätte ich das gemacht.«
»Zu diesem Schluss bin ich ebenfalls gekommen, Nahrmahn«, bestätigte Staynair.
»Das geht uns wohl allen so«, unterstrich Rock Point nun, »und wahrscheinlich hätten wir alle ihr insgeheim viel Erfolg gewünscht!«
»Das wohl«, räumte der Erzbischof ein, »aber ich versuche immer noch zu begreifen, wie sehr wir alle uns getäuscht haben – und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, sie könnte es genau darauf angelegt haben, dass jeder, der ihre wahre Herkunft herausgefunden hat, exakt diese Schlüsse zieht. Eines ist auf jeden Fall ganz offensichtlich: Wir reden hier von einer Frau, die nicht nur Jahrzehnte weit im Voraus plant – vielleicht sogar ein ganzes Leben weit! –, sondern die ihr ganzes Leben lang wie eine harchongesische Schachtelpuppe ein Geheimnis in einem weiteren Geheimnis verborgen gehalten hat. Wie penibel man auch das Leben all der Personen, die sie schon gewesen ist, untersucht und auseinandernimmt: Tief in dessen Inneren versteckt findet sich gleich wieder ein neues Leben.«
Gelegentlich, so ging es Merlin durch den Kopf, neigt Staynair zu echtem Understatement.
Aivah – Nynian! – hatte Stunden gebraucht, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und Merlin war nicht töricht genug, zu glauben, sie habe ihm auch nur ansatzweise alles berichtet. Er an ihrer Stelle hätte es ebenso gehalten. Nynian würde gewiss so lange noch Informationen zurückhalten, bis sie sich ganz sicher sein könnte, dass Merlin wirklich und wahrhaftig derjenige war, den sie in ihm so offenkundig zu finden hoffte.
»Owl hat das gesamte Gespräch aufgezeichnet«, sagte er nun. »Jeder von uns kann sich jederzeit noch einmal ganz nach Gutdünken damit befassen. Denn Nynian rechnet sicher nicht damit, innerhalb kürzester Zeit eine Antwort zu erhalten. Ganz offenkundig wusste sie schon im Vorfeld, dass sie uns mit ihrem Bericht völlig aus dem Konzept bringen würde. Sie weiß nichts von SNARCs oder Coms, also wird sie zumindest Cayleb und mir ein bisschen Zeit zugestehen, die Sache in Ruhe zu besprechen und dann eine Entscheidung zu treffen, wie weiter vorzugehen ist. Aber Domynyk hat völlig recht: Es könnte immens gefährlich werden, ihr auch nur den geringsten Grund zu liefern, uns zu misstrauen.«
Seine Gedanken kehrten zu dem besagten Gespräch zurück, und wieder durchlebte er die grenzenlose Überraschung, die ihn bei Nynians Bericht erfasst hatte.
»… und während ich dort im Kloster war, hat mich Schwester Klairah angeworben«, berichtete Aivah leise, den Blick fest auf das Feuer in Merlins Kamin gerichtet, während der Sturmwind tosend und heulend um die Botschaft fuhr. »Ich weiß nicht, wie viel Ihr über das Kloster von Sankt Ahnzhelyk wisst, aber genau dorthin schicken Eltern oder andere Verwandte gern junge Damen, die zur Aufsässigkeit neigen. Das Haus steht in dem Ruf, solche Aufrührerinnen wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen, und bemerkenswert viele dieser jungen Damen treten später selbst in den Orden ein. In meinem Falle gab es natürlich gleich mehrere gute Gründe, mich dort unterzubringen, aber die Sittenstrenge und die Enthaltsamkeit des Ordens hat mir überhaupt nichts ausgemacht. Ich war jung und leicht zu beeinflussen – ich war gerade erst fünfzehn geworden, um Himmels willen! –, aber ich war fest davon überzeugt, ich wäre zur Dienerin Gottes berufen, und für Schwester Klairah galt genau das Gleiche.
Erst hat sie mich ausgiebig ausgefragt – nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedenkt, wer mein Vater war und wer mich aufgezogen hat. Aber gerade weil die Mädchen, die dem Kloster Sankt Ahnzhelyk anvertraut wurden, nun einmal zur Aufsässigkeit neigen, hat dieses Kloster viele Jahre lang ein wirklich gutes Jagdrevier für die Schwestern von Sankt Kohdy abgegeben. Natürlich wussten die meisten Schwestern von Sankt Ahnzhelyk nichts davon … und die Schwestern von Sankt Kohdy durften auch nicht das Risiko eingehen, entdeckt zu werden oder gar die Aufmerksamkeit der Inquisition auf sich zu lenken. Ihr Orden war zwar niemals offiziell verboten, aber eigentlich hätte genau das geschehen müssen, nachdem Sankt Kohdy aus den Offenbarungen getilgt worden war. Ja, mir will nur ein einziger Grund dafür einfallen, dass der Orden nicht schon vor langer Zeit verboten wurde: Die Erzengel, die all die Gefechte überstanden haben, wollten den Tod der letzten Adams und Evas abwarten, bevor sie eingriffen. Natürlich hätten sie keinerlei Schwierigkeiten gehabt, entsprechende Änderungen in den Offenbarungen vorzunehmen, schließlich befanden sich ja sämtliche Originale in der Großen Bibliothek des Tempels. Aber laut den Aufzeichnungen der Schwesternschaft haben die Erzengel damit warten wollen, die offiziellen Erinnerungen an Sankt Kohdy zu verändern, bis niemand mehr lebte, der sich noch persönlich an ihn erinnerte und deswegen die offizielle Geschichtsschreibung von Mutter Kirche infrage stellen würde.«
Atem holen musste Merlin Athrawes eigentlich nicht, doch jetzt sog er scharf die Luft ein – ein echter Reflex seines Körpergedächtnisses. Nynian Rychtair blickte auf und schaute ihm geradewegs ins Gesicht. Die Sachlichkeit, mit der sie angedeutet – nein, nicht angedeutet: unmissverständlich ausgesagt! – hatte, die wichtigsten heiligen Schriften der Kirche des Verheißenen, von der Heiligen Schrift selbst einmal abgesehen, seien verfälscht oder zumindest ernstlich nachbearbeitet worden, war zutiefst erstaunlich. Nicht wegen der Tatsache an sich, sondern weil Nynian offenkundig fest davon überzeugt war, genau das wäre der Fall. In mancherlei Hinsicht war das sogar noch überraschender als damals, als Maikel Staynair vom Tagebuch von Sankt Zherneau in Tellesberg berichtet hatte.
Doch ganz offenkundig hatte Merlins Besucherin ihren Bericht noch nicht beendet, und als er sie mit einer Handbewegung aufforderte, weiterzusprechen, verzog sie die Lippen zu einem verschlagenen Grinsen.
»Auch Sankt Kohdy war ein Seijin«, fuhr sie dann fort. »Ich glaube zwar nicht, dass er all das zu vollbringen vermochte, wozu Ihr in der Lage seid, Merlin, aber er hatte eindeutig einige … übermenschliche Fähigkeiten. Die Berichte über Helmspalter sind wahr. Das weiß ich, weil ich es selbst schon in der Hand hatte – ich habe damit einzelne Splitter von einem massiven Granitblock abtrennen können.« Erneut lächelte sie, ein sanftes, bittersüßes Lächeln, um dann gedankenverloren den Kopf zu schütteln. »Damals, als mich Schwester Klairah angeworben hat, war ich noch unschuldig und naiv. Ich habe überhaupt nicht begriffen, dass mir ein sehr bedauerlicher Unfall bevorgestanden hätte, falls es ihr nicht gelungen wäre, mich davon zu überzeugen, dass sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit vor mir ausgebreitet hatte.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Bei einigen anderen Kandidatinnen ist es wirklich zu einem solchen ›Unfall‹ gekommen, und hätte mich Schwester Klairah nicht überzeugt, hätte ich niemals mit eigenen Augen Helmspalter oder Sankt Kohdys Tagebuch schauen dürfen.«
Merlin erstarrte, und Aivah – Nynian – nickte, als wäre sie befriedigt ob dieser Reaktion.
»Einen Teil davon konnten wir nicht lesen«, räumte sie ein. »Der ist in einer Sprache geschrieben, die niemand von uns beherrscht. Später im Text berichtet Seijin Kohdy, ein Teil sei in einer Sprache abgefasst, die er als Español bezeichnet. Warum er das getan hat, erklärt er nicht, aber ich habe den Rest des Tagebuchs wirklich oft gelesen, und ich glaube, er hat schon sehr früh mit seinen Aufzeichnungen begonnen – lange, bevor sich bei ihm erste Zweifel einschlichen, auf welcher Seite er eigentlich steht. So zumindest liest sich die erste Hälfte. Die Abschnitte in Español sind anfänglich noch sehr kurz, nur hier und dort sind Passagen eingestreut. Aber die letzten acht Monate sind vollständig auf Español abgefasst. Ich vermute, dass er in dieser Sprache niedergeschrieben hat, was Chihiro und Schueler geschadet hätte, fiele das Tagebuch in falsche Hände. Oder worüber er sich zumindest zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht ganz im Klaren war. Die Hand voll eingestreuter Español-Einträge in den übrigen Abschnitten lässt jedenfalls genau darauf schließen: Er hatte Zweifel, und sollten sich diese als unbegründet herausstellen, wollte er nicht, dass sein Tagebuch, läsen es andere, unbefugte Augen, diese anderen auf den falschen Weg lockten, die ihm vertrauten, weil er nun einmal war, wer er war.
Nun, gewiss, warum er ins Español wechselt, begründet er nirgendwo. Meine Vermutungen bleiben also Spekulation. Für mich war es dennoch gewissermaßen eine Offenbarung, denn ehe ich Español zum ersten Mal sah, wäre mir nie auch nur der Gedanke gekommen, es könnte noch andere Sprachen auf der Welt geben. Ihm erschien der Sprachwechsel damals vernünftig, auch das ist gewiss. Aber es führt dazu, dass innerhalb der Schwesternschaft sein Tagebuch unterschiedlich interpretiert wird.«
»Inwiefern?« Fragend neigte Merlin den Kopf. Nynians Lächeln war jetzt unverkennbar angespannt.
»Einige von uns – mich selbst eingeschlossen – sind der Ansicht, der Abschnitt, in dem er erklärt, dass er beizeiten auch Español benutzen werde, lasse vermuten, er stamme von einem Ort oder aus einer Zeit, der oder die noch vor der Schöpfung lag. Zusammen mit einigen anderen äußerst verwirrenden Andeutungen und Querverweisen, könnte man daher annehmen, sämtliche Adams und Evas hätten sich … an einem anderen Ort befunden, bevor Safehold erschaffen wurde.«
Ihre dunklen Augen glühten mit einem Mal vor Wissensdurst; wie zwei Klingen durchbohrten sie ihren Gesprächspartner, doch ihr Tonfall verriet davon nichts: Sie klang ruhig, vollkommen gelassen.
»Die Anhängerinnen dieser Interpretation sind wiederum uneins darüber, wo sich dieser andere Ort befunden haben könnte. Die meisten sehen die Passage als den Beleg dafür, dass nicht einmal ein Erzengel eine Seele erschaffen kann – zumindest in dieser Hinsicht ist und bleibt Gott allein der einzige Schöpfer. All jene Adams und Evas waren bei Ihm, während die Erzengel die Welt, in der sie letztendlich leben sollten, für sie vorbereiteten. Aber eine große Fraktion der Schwestern hält es für möglich, dass all jene Adams und Evas zuvor auf einer völlig anderen Welt lebten und Gott und die Erzengel sie von dort hierher versetzten, statt ihnen erst am Tag der Schöpfung das Leben zu schenken. Das ist, nicht wahr, ein grundlegender Unterschied! Wir könnten, so meine ich, vielleicht endlich die Wahrheit erfahren, wenn wir Mittel und Wege fänden, die Español-Passagen zu entschlüsseln. Oder …«, setzte sie dann hinzu und hob beide Augenbrauen, »… wenn wenigstens die Schwesternschaft Mittel und Wege fände, sie zu entschlüsseln.«
»Vielleicht könnte ich in dieser Hinsicht behilflich sein«, meinte Merlin bedächtig. »Versprechen kann ich nichts, und Sie müssten mir das Tagebuch anvertrauen – oder zumindest eine wortgetreue Abschrift davon.«
»Entweder wir schenken einander sehr viel Vertrauen, Merlin«, gab Nynian zurück, »oder das alles hier wird zumindest für so manchen Beteiligten ein böses Ende nehmen.«
Sie klang außergewöhnlich ruhig, wenn man bedachte, dass sie bereits zugegeben hatte, die Schwestern von Sankt Kohdy – wer auch immer diese Frauen nun sein mochten! – hätten bereits eine unbekannte Anzahl junger Frauen umgebracht, um ihr Geheimnis zu bewahren. Andererseits: Wenn Nynian im Alter von gerade einmal fünfzehn Jahren angeworben worden war, dann gehörte sie dieser Schwesternschaft mittlerweile schon mehr als fünfunddreißig Safehold-Jahre lang an – das waren zweiunddreißig Standard-Jahre.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie dann fort, »als der Krieg gegen die Gefallenen allmählich ein Ende zu finden schien, hatte Sankt Kohdy vieles von dem, was ihn die Erzengel gelehrt hatten, infrage gestellt. Aus den für uns lesbaren Passagen wissen wir, dass er jemandem begegnete, der bis zum bitteren Ende auf der Gegenseite kämpfen sollte, ihn aber dennoch in einem langen Gespräch von einem zu überzeugen wusste: Das Geschehen am Armageddon-Riff war nicht zwangsweise ein Beweis dafür, dass Shan-wei dem Bösen anheimgefallen war. Von da an fragte Kohdy sich, ob wirklich und wahrhaftig Langhorne selbst den Rakurai auf das Armageddon-Riff entfesselt hatte. Die Gefallenen, die nach der Zerstörung des Riffs Shan-weis Kampf wiederaufnahmen, schworen Stein und Bein, es seien Chihiro und Schueler gewesen, die vom rechten Weg abgekommen seien, nicht Shan-wei. Bislang hatte Kohdy diesen Behauptungen keinerlei Bedeutung beigemessen, schließlich war Shan-wei ja die Mutter der Lügen, nicht wahr?
Laut Kohdys Tagebuch haben mitnichten alle Seijins unter dem Banner von Chihiro und Schueler gekämpft … was auch immer uns die Offenbarungen heutzutage lehren mögen. Einige standen auf Seiten der Gefallenen. Die Erzengel und Mutter Kirche brandmarkten sie als Dämonen, doch Kohdy war ihnen schon persönlich entgegengetreten und hatte mit ihnen die Klingen gekreuzt. Zweifel an ihrer dämonischen Natur hatte er schon, bevor er vom ersten jener Seijins im Kampf besiegt wurde, und seine Zweifel wuchsen, als besagter ›Dämon‹ nicht nur sein Leben verschonte, sondern ihm auch noch eine völlig andere Sicht auf die Geschehnisse und damit die Wahrheit eröffnete. Genaueres darüber wissen wir nicht, nur eines: Kurz darauf nimmt Sankt Kohdy die ersten Tagebucheintragungen auf Español vor. Damit ist eines unbestreitbar: Er denkt ernsthaft darüber nach, ob er überhaupt auf der richtigen Seite steht. Was er erfahren hat, genau zu durchdenken, dauerte seine Zeit – es dauerte, bis der Krieg gegen die Gefallenen praktisch schon vorbei war. Die aufständischen niederen Engel hatte man fast allesamt aufgestöbert und vernichtet, und die Gefolgsleute der Erzengel hatten sich weitestgehend zur Dawn Star zurückgezogen. Die letzten der ›Dämonen‹, die nach wie vor für die Gefallenen kämpften, waren bis zu ihrem Schlupfwinkel in den Bergen der Einsamkeit zurückgetrieben worden, und die Erzengel mussten einen letzten Angriff vorbereiten.
Und damit endet das Tagebuch.«
Überrascht suchte Merlin ihren Blick. »Damit endet es?«
»Ja«, seufzte sie, »Kohdy hat nicht niedergeschrieben, was er beabsichtigte – es sei denn, er hätte es auf Español getan. Aber den tradierten Auffassungen der Schwesternschaft nach beschloss er, sich mit seinen Fragen unmittelbar an den Erzengel Schueler zu wenden. Ihm traute er mehr als jedem anderen zu, eine ehrliche, umfassende Antwort zu geben. Ob das nun stimmte oder nicht, er ist zu einer letzten Reise nach Zion aufgebrochen … und dort ist er gestorben.«
»Und wie ist er gestorben?«, erkundigte sich Merlin leise.
Nynian schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Der Orden von Sankt Kohdy – der Stammorden, dem die Schwesternschaft unterstellt ist – wurde gegründet, als sein Leichnam seiner Familie zurückgebracht wurde. Ursprüngliche Aufgabe des Ordens war es, sein Grab vorzubereiten und dann zu pflegen – ganz genauso, wie eben auch andere Orden gegründet wurden, um all den anderen gefallenen Seijins diesen letzten Dienst zu erweisen. Zu diesem Zweck wurde dem Orden von Sankt Kohdy auch ein großzügiges Legat zuerkannt. Ich vermute ja, dass, hätte Seijin Kohdy nicht so unermüdlich gekämpft und nicht derart lange im Krieg gegen die Gefallenen an vorderster Front gestritten, die Schwesternschaft vermutlich niemals ins Leben gerufen worden wäre. Die Schwestern aber wurden rasch zu Randfiguren, in der Hierarchie von Mutter Kirche weitestgehend ignoriert. Wir reden hier von der Periode unmittelbar nach der letzten Niederlage der Gefallenen: Die siegreichen Schueler und Chihiro hatten sich zurückgezogen. Meiner Vermutung nach warteten die noch verbliebenen Engel darauf, dass auch die letzten Adams und Evas starben, um die Offenbarungen in ihrem Sinne zu bereinigen.
Während dieser Periode gingen die Mittel zur Neige, kein Legat hält ewig. Aber die Schwesternschaft war von Zuwendungen abhängig. Ersuche um weitere Finanzierung wurden wahlweise ignoriert oder aber bei Eingang falsch abgelegt – und das dann ganz bestimmt mit voller Absicht. Auf sich allein gestellt suchte die Schwesternschaft nach Wohltätern – vor allem in den Reihen der Familienangehörigen ihrer eigenen Mitglieder, und auf diese Weise zusammengetragene Mittel wurden gewinnbringend investiert. Als die Offenbarungen schließlich umgeschrieben wurden, erwirtschafteten die angelegten Gelder recht komfortable Gewinne … deutlich mehr, als für den Erhalt des Ordens selbst und auch des Grabes von Sankt Kohdy erforderlich gewesen wären.
Aber schon lange, bevor es tatsächlich dazu kommen sollte, war der damaligen Äbtissin des Ordens klar, dass Kohdy früher oder später aus der Liste der kanonisierten Heiligen von Mutter Kirche getilgt würde. Den Aufzeichnungen der Schwesternschaft gemäß war ihr Bruder Vikar ebenso wie zuvor schon ihr Vater. Es sieht ganz danach aus – auch wenn offenkundig viel Wert darauf gelegt wurde, das nirgends ausdrücklich niederzulegen –, als wäre sie dank ihrer familiären Beziehungen schon lange vorgewarnt gewesen.
Damals war sie schon sehr alt, beinahe einhundert Jahre – und sie war keine Eva. Gesundheitlich war sie angeschlagen, aber das war nicht der Grund dafür, dass sie starb, als der Orden offiziell … aufgelöst wurde.«
Nynians Stimme sank zu einem Flüstern herab. Die Worte drangen so leise über ihre Lippen, dass ein normales menschliches Gehör ernstlich Schwierigkeiten gehabt hätte, sie angesichts des Schneesturms, der immer noch um die Mauern der Botschaft heulte, überhaupt zu verstehen. Doch Merlin Athrawes hatte das Gehör eines PICAs. Allzu deutlich hörte er in den Worten seiner Besucherin nicht nur lang gehegte Trauer, sondern auch lang gehegten Zorn.
Mehrere schier endlose Sekunden lang saß Nynian Rychtair reglos in ihrem Sessel und starrte wortlos in die Glut, dann gab sie sich sichtlich einen Ruck und blickte wieder zu Merlin auf.
»Nicht alle Schwestern waren bereit, Sankt Kohdy den Rücken zu kehren, selbst wenn Mutter Kirche das ausdrücklich befahl. Vielleicht hätten sie diese Verfügung tatsächlich respektiert, wäre sie von den Erzengeln selbst ergangen. Aber mittlerweile war nur noch der letzte der niederen Engel verblieben –Seijin