Das Buch

Die Autoren beschreiben interessant und nachvollziehbar Einzelschicksale und tatsächliche Begebenheiten, die sowohl den Heimatgedanken als auch die Begegnung und den Umgang mit dem Fremden behandeln.

Elke Bannach und Peter Hoffmann haben Befragungen und Interviews durchgeführt, die dann die Grundlagen ihrer Geschichten bildeten.

Klaus W. Hoffmann geht in seiner Geschichte zurück in die Zeit der Völkerschlacht und beschreibt die Gewissensnot eines jungen Ulanen, der die Drangsale der sächsischen Bevölkerung durch das Militär nicht länger mitansehen kann und desertiert.

Impressum

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783752694222

Erstauflage 2020

Herausgeber:

Elke Bannach

Extertaler Ring 14

06792 Sandersdorf-Brehna

e-Mail: e.bannach@gmail.com

Alle Rechte vorbehalten. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jeglicher Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem und sonstigem Wege sowie die Nutzung im Internet dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren erfolgen.

Inhalt

Klaus W. Hoffmann

Fahnenflucht

Als die Soldaten nach Söllichau kamen, wurden sie von Kindern begrüßt. Die Jungen wussten, dass sie sächsische Ulanen waren. Sie bestaunten ihre prachtvollen, roten Uniformjacken, die ärmellosen, weißen Mäntel, die grauen Überhosen mit den roten Streifen, die schwarzen Mützen und ihre Säbel und Karabiner. Einige ältere Jungen schauten sich neugierig ihre Rangabzeichen an. Sie wussten genau, dass Offiziere lange Rockschöße mit einer goldenen Granate trugen und dass man Unteroffiziere an der Anzahl der goldenen Tressen am oberen Rand der Mütze, die Tschako genannt wurde, unterscheiden kann. Die Mädchen interessierten sich mehr für die Pferde der Soldaten und streichelten sie. Manchmal sahen sie sich auch die weißen Handschuhe und die Husarenstiefel der Reiter näher an.

Der sächsischen Reiter-Schwadron folgte ein Regiment französischer Infanteristen. Aus ihren Reihen ertönte der vielstimmige Ruf: „Vive l'empereur – Heil dem Kaiser!“ Seit Wochen begleiteten die sächsischen Ulanen diese französischen Soldaten. Auch sie wurden von den Dorfkindern umschwärmt und bestaunt.

Die französischen Offiziere befahlen den sächsischen Ulanen, auf dem Kirchplatz anzuhalten. Sie stellten sich auf und warteten auf weitere Befehle. Die gab ihnen Major Kaas, dem die französischen Infanteristen und die sächsische Ulanen unterstanden. Die Infanteristen wurden zum Dorfrand abkommandiert, wo sie ein Biwak aufbauen sollten. Die Ulanen erhielten den Befehl, sich in einem der Häuser einzuquartieren. Das gefiel ihnen besser, als im Biwak der französischen Infanteristen zu übernachten.

Rittmeister Lindau, ihr Kommandant, führte die Reiter-Schwadron über die Dorfstraße. Er hielt nach einem geeigneten Haus Ausschau. Vor einem Fachwerkhaus ließ er die Ulanen anhalten. Er stieg vom Pferd und versuchte die Eingangstür des Hauses zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Er betrat das Haus. Nach kurzer Zeit kam er wieder heraus und machte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Dann umrundete er das Haus. Nachdem er seinen Gang beendet hatte befahl er: „Ulanen, wir quartieren uns hier ein. Das Haus ist verlassen und als Schlaflager für uns groß genug. Auch leere Ställe gibt es. Die befinden sich hinter dem Haus. Da können wir unsere Pferde unterbringen und versorgen. Also, Männer, absitzen und Quartier beziehen! Morgen früh ziehen wir weiter.“

Das ließen sich die Ulanen nicht zweimal sagen. Sie führten ihre Pferde in die Ställe, nahmen ihnen das Zaumzeug, den Sattel und die Pferdedecke ab und hingen alles an die Stallwände. Dann versorgten sie die Tiere mit Wasser und Hafer und rieben sie mit Stroh trocken. Danach gingen sie ins Haus, um sich eine Schlafstatt für die kommende Nacht einzurichten. Rittmeister Lindau verließ die Reiter-Schwadron wieder. Er musste seinem Vorgesetzten, dem französischen Major Kaas, Vollzug melden und weitere Befehle empfangen.

Der Rittmeister war bald zurück und ließ die Ulanen vor dem Haus antreten. Nachdem die letzten Männer draußen waren und sich in Reih und Glied aufgestellt hatten, berichtete er: „Ulanen, Major Kaas hat uns befohlen, alle Rinder aus den Ställen der Gehöfte zu holen und auf dem Dorfplatz zusammenzutreiben. Feldwebel Albers, Sie übernehmen das Kommando. Ich kann nicht mitkommen – weitere Lagebesprechung mit den französischen Offizieren. Ulanen, tut eure Pflicht. Eure Waffen und Tornister könnt ihr im Haus lassen. Sattelt eure Pferde und legt ihnen das Zaumzeug an. Korporal Finke, Obergefreiter Röhnitzsch, Sie beide halten vor der Tür Wache. Sorgen Sie dafür, dass kein Unbefugter unsere Unterkunft betritt.“

„Alle Rinder sollen wir zusammentreiben?“, fragte der Reiter Christian Burger. „Herr Rittmeister, ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Es ist doch klar, dass die Franzosen die Tiere aus dem Dorf führen und schlachten werden. Wenn wir diesem Befehl gehorchen, bedeutet das, dass wir unsere sächsischen Landsleute bestehlen.“

Zunächst sah ihn sein Vorgesetzter erstaunt an, dann zuckte er mit den Schultern und erwiderte: „Mir gefällt das auch nicht, Reiter Burger, aber Befehl ist nun mal Befehl. Wie Sie wissen, sind wir Major Kaas unterstellt. Seinen Befehlen müssen wir gehorchen und sie ausführen. Auch diesen. Und wenn Sie ihn verweigern, muss ich Sie bestrafen.“ Sprach's und ritt zu seinen französischen Befehlsgebern zurück.

Die Ulanen gehorchten widerwillig. Sie sattelten ihre Pferde und dann gab Feldwebel Albers den Befehl zum Abmarsch.

Auf zwei Gehöften hatten die Ulanen kein Glück. Als sie die Ställe durchsuchten, fanden sie kein einziges Rind. Die Bauern erklärten ihnen, dass sie keine Tiere mehr besäßen. Soldaten, die vor einigen Tagen hier durchgezogen seien, hätten sie gestohlen. Das mussten die Ulanen ihnen glauben, auch wenn es sein konnte, dass sie die Tiere nur in einem nahe gelegenen Waldgebiet versteckt hielten. Auf die Idee, ihre Tiere eine Zeit lang auszuquartieren, kamen immer mehr Bauern. Sie wohnten weiter auf ihrem Hof, ließen aber von ihren Knechten das Vieh ins Dickicht der Heide treiben.

Die sächsischen Soldaten erreichten den dritten Bauernhof. Feldwebel Albers stieg vom Pferd und klopfte an die Tür des Wohnhauses, um den Bauer zu informieren, dass er seine Rinder abgeben müsse. Niemand öffnete. Es schien keiner im Haus zu sein. Auch auf dem Hof war keine Menschenseele zu sehen.

„Burger, Bause, Schlosser, Sie holen die Rindviecher aus dem Stall“, befahl der Feldwebel.

Widerwillig gehorchten die drei Ulanen, kamen sich aber furchtbar schäbig vor, weil sie ihre sächsischen Landsleute bestehlen mussten. Sie stiegen von ihren Pferden, öffneten die Tür des Kuhstalls und gingen hinein. Sie zählten die Rinder, die dort untergebracht waren. Fünfzehn! Zehn trieben die Männer auf den Hof hinaus. Sie waren sich einig, dass sie dem Bauern fünf Rinder im Stall lassen wollten.

Christian Burger machte Meldung: „Herr Feldwebel, Befehl ausgeführt! Alle zehn Rinder des Bauern haben wir aus dem Stall geholt.“

Der Feldwebel sah ihn skeptisch an.

„Burger, Bause, Schlosser, ich traue Ihnen nicht“, sagte er. „Ich vermute, dass das nicht alle Rinder sind.“

Anscheinend hatte er aber keine Lust, das selbst zu überprüfen.

„Gefreiter Schmolz“, befahl er. „Sitzen Sie ab und schauen Sie nach, ob noch Rinder im Stall sind.“

„Jawohl, Herr Feldwebel!“, antwortete der Gefreite Ferdinand Schmolz, saß ab und ging in den Stall. Er kam zurück, stand stramm und meldete: „Herr Feldwebel, melde gehorsamst: Kein Rind mehr im Stall.“

„Gut, Gefreiter Schmolz“, sagte der Feldwebel, „dann haben wir unsere Pflicht erfüllt. Bause, Schlosser, Burger – Sie treiben die zehn Rinder zum Kirchplatz. Sorgen Sie dafür, dass die Tiere auf dem Weg bleiben. Die anderen sichern nach hinten ab. Ich reite vorweg. Auf geht's!“

Die Ulanen verließen den Bauernhof und erreichten in dieser Formation den Kirchplatz. Dort waren inzwischen auch die französischen Infanteristen wieder eingetroffen. Anscheinend hatten sie ihr Biwak bereits eingerichtet.

Auf dem Kirchplatz hatten sich auch zahlreiche festlich gekleidete Dorfbewohner versammelt. Sie waren zur Zeit der Ankunft der Soldaten in der Kirche gewesen. Als sie sahen, dass die Rinder von den sächsischen Soldaten auf dem Kirchplatz zusammengetrieben wurden, beschimpften sie sie und stießen wüste Drohungen aus. „Diebe“, „Schande unserer sächsischen Heimat“, „Franzosenknechte“ und „Volksverräter“ waren noch die harmlosesten Ausdrücke. Sicher wussten sie, was mit den Rindern geschehen sollte. Im Lager der französischen Infanteristen warteten die Schlächter auf sie.

Die Dorfbewohner hielten zu den französischen Infanteristen einen respektvollen Abstand. Zwischen diese beiden Gruppen trieben die Ulanen die Rinder und ließen sie anhalten. Major Kaas und Rittmeister Lindau kamen und erwarteten von Feldwebel Albers Meldung.

Der stand stramm und sagte: „Herr Major, Herr Rittmeister, melde gehorsamst: Wir haben alle Rinder aus den Ställen der Gehöfte geholt und zum Kirchplatz getrieben. Befehl ausgeführt!“

„Feldwebel Albers“, schrie der Major wütend, „Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, dass das alle Söllichauer Rindviecher sind? Zehn Tiere! Dass ich nicht lache!“

Er sprach deutsch, aber mit einem französischen Akzent, der nicht zu überhören war. Feldwebel Albers versuchte sich zu rechtfertigen.

„Herr Major, mehr Tiere haben wir in den Ställen der Gehöfte nicht gefunden.“

Ein kleiner, hagerer Dorfbewohner schaltete sich ein.

„Ich bin der Dorfschulze und bitte euch, Monsieur: Habt Erbarmen!“, flehte er den Major an. „Diese zehn Rinder sind die einzigen, die wir noch in Söllichau haben. Sie gehören dem Bauern Korte. Ihr könnt sie ihm doch nicht alle nehmen.“

„Können wir, das siehst du ja!“, antwortete der Major.

„Lasst uns wenigstens einen Teil der Tiere, bitte!“, flehte der Dorfschulze mit weinerlicher Stimme.

„Nein!“, entgegnete der Major scharf. „Das habt ihr nicht verdient. Strafe muss sein! Ihr habt heute Morgen die Kirchturmglocken läuten lassen. Ein Signal für die feindlichen Truppen. War es nicht so?“

„Nein, Monsieur!“, antwortete der Dorfschulze.

„Unsere Kirchturmglocken haben geläutet, weil ein Kind getauft wurde.“

Der Offizier warf ihm einen zweifelnden Blick zu und sagte: „Du kannst mir viel erzählen ...“

Ein großgewachsener, breitschultriger Mann trat aus der Menge hervor und baute sich drohend vor dem französischen Major auf.

„Ich bin der Bauer Korte“, rief er. „Warum stellen Sie unseren Dorfschulzen als Lügner hin? Das Kind meiner Tochter ist heute Morgen getauft worden. Deshalb waren wir in der Kirche. Vorher haben die Glocken geläutet, wie das vor Tauffeiern so üblich ist. Wir sind ehrliche Bürger. Aber wie ich sehe, haben die Ihnen unterstellten Soldaten in unserer Abwesenheit meine Rinder gestohlen. Verfluchtes Franzosenpack! Und ihr sächsischen Verräter seid auch nicht besser!“

„Du wagst es, Soldaten der französischen Armee als Diebe und Franzosenpack zu beschimpfen?“, rief der Major mit einem drohenden Unterton in der Stimme. „Du redest dich um Kopf und Kragen. Verschwinde, sonst lasse ich dich festnehmen!“

„Wann ich von hier verschwinde, das bestimme ich immer noch selbst“, entgegnete der Bauer zornig.

Eine junge Frau, die ein in eine Decke gehülltes Baby auf dem Arm trug, und ein junger Mann traten an seine Seite und versuchten ihn zu beruhigen.

„Vater, sei vernünftig“, sagte die junge Frau. „Provoziere den Offizier nicht noch mehr ...“

„Ich lasse mir doch nicht von diesen Dieben die Rinder stehlen“, schrie der Bauer wütend und spuckte dem Offizier vor die Füße.

Der Major zog seinen Säbel und ging langsam auf ihn zu.

„Du Dreckskerl wagst es, vor mir auszuspucken?“, fragte er zornig. „Leck deine Spucke auf, sonst bekommst du meine Klinge zu spüren!“