von Tomos Forrest
Bolthar wird schwer verwundet. Als ihn sein Unterführer Bent in eine Stadt bringt, kann er sich bei einem der Gefolgsleute des Königs erholen. Doch lange hält es ihn auf seinem Lager nicht, denn die Nachricht von Christen, die sich in der Nähe ansiedeln wollen, lässt ihm keine Ruhe. Bei deren Verfolgung macht er eine schreckliche Entdeckung mit zum Teil tödlichen Konsequenzen …
Dieser Band enthält die Romane 7-12 der Serie Bolthar der Wikingerfürst.
Dieser Band enthält Bolthar, der Wikingerfürst Band 7 bis 12
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author
© Cover: Christian Dörge
Lektorat/Korrektorat: Kerstin Peschel
Created by Thomas Ostwald mit Jörg Martin Munsonius
© dieser Ausgabe 2020 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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1.
Die Flotte der Langboote hatte den Limfjord erreicht. Es handelte sich um mehrere herskips, also Kriegsschiffe, verschiedener Größe. Da waren zunächst einmal drei þritugsessa , die auf jeder Seite dreißig Ruderplätze aufwiesen. Zwei von ihnen waren mit einem Kastell ausgerüstet, auf denen Wurfmaschinen befestigt waren. Zwei weitere Langboote waren halffertugt skips, die auf jeder Seite sogar fünfunddreißig Ruderplätze besaßen, sowie mehrere kleinere Skeiden, die über zwanzig Ruderplätze verfügten. Das erste Boot, das auf den Hafen von Hals zuhielt, war mit einem prächtigen Drachenkopf geschmückt, der in der späten Herbstsonne golden blinkte und die Aufmerksamkeit aller Bewohner erweckte, die beim Anblick der Flotte an den Strand gelaufen waren.
Man raunte sich die unterschiedlichsten Namen zu, aber immer häufiger fiel der Name von Harald Blåtand, der vor wenigen Monden seinen Vater Gorm abgesetzt und als Gefangenen in seine Heimat geschickt (vgl. Bolthar, der Wikingerfürst Band 5, Tod eines Feiglings) sowie sich selbst zum neuen Rig, zum König ernannt hatte. Und es gab eine Menge Gerüchte um diesen neuen König, die sich wie ein Lauffeuer im Land verbreiteten. Händler brachten neue Berichte über ihn, und ständig mehrten sich die Gerüchte über einen Freundschaftsbund Haralds mit den Mönchen, die immer mehr in das Land strömten, aber von vielen Einwohnern abgelehnt oder sogar mit ihrem Hass verfolgt wurden. Nur wenige waren bereit, dem neuen Gott zu folgen – die meisten der Nordmänner erschlugen die Mönche und verbrannten ihre errichteten Kirchen. Aber jetzt kam König Harald, und er gebot den Kriegern, mit dem Morden und Brandschatzen aufzuhören.
»Was glaubst du, Elys«, wandte sich eine dicke Matrone an die junge Frau an ihrer Seite, die ein ziemlich teures Trägerkleid angezogen hatte, als sie mit den anderen zum Strand eilte. »Wird es der neue König sein, der uns die Ehre seines Besuches gibt?«
»Und wenn das so ist, meine Liebe, wird er nicht umhin kommen, bei uns einzukehren. Meine Familie gehört schließlich schon seit den Tagen König Gorms zu denjenigen, die bereits zwei oder sogar drei húskarlars für den König stellten. Und wer sich in der langen Halle des Königs gut auskennt, weiß, was eine solche Auszeichnung zu bedeuten hat. Schließlich sind diese auserwählten Krieger zum Kreis der Leibgarde des Königs gehörig und haben im Lande hohes Ansehen.«
»Ja, aber was man so im Lande spricht, meine liebe Elys, ist ja auch nicht von der Hand zu weisen. Man sagt doch – und ich bin mir vollkommen sicher, dass du ebenfalls davon gehört haben wirst – dass Gorm den Gamle seine Getreuen belogen und betrogen haben soll!«
»Wie meinst du das? Ein König soll seine treuesten Gefolgsmänner betrogen haben? Das kannst du doch nicht im Ernst behaupten, Elys!«, empörte sich die andere und versuchte, etwas zu erkennen, als sich der lange Zug vom Strand zur großen Halle bewegte, die den Versammlungsort von Hals bildete und seit langer Zeit auch gern von den Fürsten aufgesucht wurde, bevor sie auf dem Limfjord ihre Reise ins Landesinnere fortsetzten.
Die andere ließ ein höhnisches Gelächter ertönen, denn sie wusste, dass sie jetzt die Aufmerksamkeit ihrer verhassten Nachbarin gewonnen hatte.
»Nun – ich kann nicht glauben, dass du so ahnungslos bist, meine Liebe. Aber – die Götter mögen uns beschützen – was ist denn das? Tragen sie uns den König als Leiche ans Land?«
Die beiden ehrwürdigen Frauen reckten den Hals, um mehr zu erkennen, scheiterten aber schließlich an den zahlreichen Menschen, die sich vor ihnen drängten. Offenbar trug man den König auf einer Trage an Land, und das war kein gutes Zeichen, wenn man es genauer betrachtete. So beeilte sich auch Elys mit ihrer Bemerkung: »Wenn das der neue König ist, dann ist etwas faul in unserem Lande!«
Das brachte ihr zwar einen wütenden Blick der Nachbarin ein, aber es war ihr gleichgültig.
»Wer erzählt dir denn einen solchen Unsinn?«, knurrte ein wohlbeleibter, älterer Mann, der unmittelbar vor den beiden Frauen stand und deren Geplänkel mit gerunzelter Stirn ertragen hatte. »Das ist doch nicht König Harald, der hier verwundet in unsere Stadt gebracht wird! Sein neuer húskarlar wurde in seinem Dienst schwer verwundet und soll nun bei uns gepflegt werden, bis er seine Aufgaben wieder wahrnehmen kann!«
»Die Götter mögen uns beistehen! Der húskarlar liegt im Sterben? Was für ein Unglück für unsere Stadt, für unser Land!«
»Weib, du bist schwer zu ertragen!«, sagte der Mann mit düsterer Stimme. »Wenn ich deiner flinken Zunge folgen wollte, dann wäre schon heute der Tag des Ragnarök gekommen und die Götter würden zu ihrem letzten Kampf antreten!«
»Ragnarök? Damit ist nun nicht zu spaßen, und ich muss sehen, dass ich …«
»Hast du gesehen, Elys, wohin sich der Zug vom Hafen aus gewendet hat? Sie ziehen ja direkt zu eurem Haus!«, sagte die würdige Matrone nicht ohne einen gewissen Unterton. »Na, da hast du ja eine hohe Ehre, wenn du dich um den verletzten húskarlar kümmern musst! Ich wünsche dir ein glückliches Händchen! Dabei fällt mir ein – was geschah doch noch gleich mit dem Haus, in dem ein Würdenträger des Königs verstarb? Ja, richtig, ich glaube, die Bewohner wurden getötet und in seinem Grab beigesetzt, um ihm weiter zu dienen, das Haus aber wurde niedergebrannt. Na, das wird ja zum Glück nicht geschehen, was, Elys?«
Damit rauschte die Frau davon, innerlich vor Freude auflachend, dass sie es ihrer Nachbarin noch einmal so richtig gegeben hatte. Die jedoch eilte mit einem sehr unguten Gefühl zu ihrem Heim, wo sie tatsächlich zahlreiche Fremde erblickte, die eben dabei waren, ihren Besitz mit Beschlag zu belegen.
War das nun eine Ehre, den neuen húskarlar beherbergen und pflegen zu dürfen? Und wenn er wirklich so schwer verletzt war, dass er sterben würde – traf das zu, was sie gerade gehört hatte?
Elys erschauerte, als sie den Fuß über die eigene Schwelle setzte.
Der wüste Lärm einer lauten Kriegerschar schallte ihr entgegen.
Die Boten hatten Bolthar aufgesucht und fanden ihn auf einem Stuhl vor dem Haus, in das man ihn gleich bei seiner Ankunft gebracht hatte. Er wirkte keineswegs schwach, und als man ihm berichtete, dass der König erst in ein paar Tagen eintreffen würde, zuckte er gleichgültig die Schultern und drehte sich zu Bent um, der neben ihm stand und den Bericht mit angehört hatte.
»Unser Gastgeber hat doch ein paar kräftige Pferde im Stall, Bent? Lass sie fertig machen, mir ist nach einem Ausritt. Hier ist es einfach nur langweilig, und ich sehne mich nach Bewegung!«
»Ist das nicht ein wenig zu früh, Jarle? Ich bin in Sorge, dass sich deine Wunde wieder öffnen könnte!«
Bolthar ließ sein dröhnendes Gelächter hören.
»Du hast doch ausreichend Sehne verwendet, um das kleine Loch wieder zuzunähen. Und da bist du in Sorge um die Naht? Bent, wenn du Brüste hättest, würde ich dich als meine Amme annehmen!«
Mit dieser Bemerkung musste Bent nun auch lachen, rief in das Haus ein paar Anweisungen, und wenig später waren die beiden unterwegs. Zwei Speerträger und zwei Bogenschützen begleiteten sie dabei, und Bolthar hatte bei ihrem Anblick nur gegrunzt. Als ob sie im Landesinneren einen Überfall zu befürchten hatten! Aber sein eifriger Unterführer bestand darauf, und obwohl die Luft klar und kalt war, genoss Bolthar den Sonnenschein, mit dem dieser Wintertag ein anderes Bild bot, als die grauen Tage zuvor.
Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs und Bolthar musste sich insgeheim eingestehen, dass er seine Wunde in der Brust wieder spürte. Sicher war der Ritt eine große Herausforderung, aber er hätte lieber riskiert, dass sie tatsächlich wieder aufbrach, als sich eine Blöße zu geben.
Der hünenhafte Anführer war dann doch froh über eine Rast, die Bent an einem Bach vorschlug. Hier hatten sich ein paar Kiefern und Pappeln angesiedelt und boten einen freundlichen Anblick, als sie sich an die Stämme lehnten und die Pferde zum Grasen freigaben.
Die vier Krieger übernahmen die Sicherung des Platzes, von dem aus eine gute Sicht über das flache Land möglich war. Ein paar Bauern waren auf ihren Feldern beschäftigt, in der Ferne zogen Menschen auf der kleinen Handelsstraße zur Küste hinunter. Bolthar blickte erstaunt zu dem Baumwipfel über sich, als er das Krächzen eines Raben vernahm. Er mochte diese schwarzen Gesellen, die für ihn immer eine Verbindung zum Allvater Odin darstellten, dessen Raben Munin und Hugin das Wissen der Welt in sich hatten und ihrem Herrn berichteten, was sie bei ihren Flügen sahen.
Odin! Du hast es immer gut mit mir gemeint, selbst da, wo es zuerst nicht den Anschein für mich hatte. Ich verstehe auch, dass du nicht willst, dass Fringa und ich uns noch einmal begegnen. Wenn ich dich aber trotzdem um etwas bitten darf, dann dieses: Gib mir meine Tochter noch einmal, damit ich sie der gerechten Strafe zuführen kann. Es ist in deinem Sinne, Allvater, denn sie leugnet dich und preist den Gott der Christen. Das kann nicht gut sein und nicht dein Wille!
Der Rabe über ihm stieß ein lautes Krächzen aus und flog davon, strich noch in einem eleganten Bogen über dem Bach entlang und verschwand dann hinter einer Hügelkette.
So ist es recht, Rabe. Bring dem Allvater meine Bitten und sprich für mich!
Bolthar richtete sich auf, um noch einen Blick auf den schwarzen Gesellen zu werfen, aber der war bereits verschwunden. Eben wollte er sich wieder an den Stamm zurücklehnen, als sein Blick auf eine kleine Gruppe fiel, die in die Richtung gingen, aus der sie gekommen waren.
»Bent?«
»Jarle?«
»Was siehst du dort unten?«
Bolthar deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Menschen, und sein Unterführer wunderte sich über den scharfen Ton.
»Da ist eine Gruppe Menschen unterwegs, ich sehe keine Waffen, also – warum die Frage? Ist das nicht egal, wenn ein paar Bauern oder Dorfbewohner, Handwerker oder wasweißich durch das Land gehen?«
»Nein, bei Thors Hammer! Das ist nicht egal! Siehst du denn nicht, was der vordere Mann trägt?«
Bent kniff die Augen zusammen, dann sagte er mit fragendem Tonfall:
»Vielleicht – ein Kreuz?«
»Odins Zorn! Und das sagst du so leicht dahin? Dort sind Christen unterwegs auf dem Weg nach Hals, und du sagst nichts anderes als ein Kreuz?«
Bent zog es vor, zu schweigen, zumal sich Bolthar ohne ein weiteres Wort zu den Pferden begab und die Wachen ihn erstaunt ansahen.
»Aufsitzen! Wir reiten der Gruppe dort entgegen!«, knurrte er sie an, war im Sattel und trieb sein kleines Pferd an, noch bevor einer der anderen reagieren konnte.
»Rasch, bleibt beim Jarle! Ich fürchte, der Zorn hat ihn übermannt. Dort unten sind Christen unterwegs, auf die er einen ganz besonderen Hass hat!«
»Fringa!«, antwortete einer der Speerträger grinsend, als er sich auf das Pferd schwang und ihm die Füße ihn die Weichen drückte.
»Hüte deine Zunge vor dem Jarle, Mann!«, warnte ihn Bent, als sie nebeneinander über die Ebene preschten, um ihren Anführer wieder einzuholen.
Bolthar ritt in einem Bogen direkt auf die Gruppe zu, die aus gut zehn Menschen bestand. Tatsächlich trug einer von ihnen ein schlichtes Kreuz voran, und zwei Mönche in ihrem schlichten Habit folgten ihnen. Die anderen waren alles ältere Männer und Frauen in einfachen, abgetragenen Gewändern.
Sie schauten erschrocken auf, als Bolthar plötzlich vor ihnen auf den festgefahrenen Weg sprengte, der hier die Verbindung zwischen mehreren Dörfern bildete. Als die Menschen erkannten, dass der ihnen entgegen reitende Mann sein Schwert in der Hand hielt, sanken sie an Ort und Stelle in die Knie und begannen, gemeinsam ein lautes Gebet zu sprechen.
Wütend riss Bolthar das Pferd im letzten Moment zurück, sodass es ein wenig auf dem Untergrund rutschte und Dreck und kleine Steine zu der Gruppe spritzte.
»Was treibt ihr hier, was soll das Kreuz?«
»Im Namen Gottes, des Allmächtigen, störe unsere heilige Handlung nicht!«, rief ihm der ältere der beiden Mönche zu und hob beide Hände in einer abwehrenden Geste.
»Beantworte meine Frage und stelle hier keine Forderungen! Ihr habt hier nichts zu suchen und schon gar nicht ein Zeichen durch die Gegend zu tragen, dass die Götter verspottet!«
Der Mönch richtete sich auf und sah dem Bärtigen in das wütende Gesicht.
»Nicht wir verspotten die Götter, sondern ihr beleidigt den einzig wahren Gott, Jahwe, gelobt sei sein Name!«
»In Ewigkeit, amen!«, fielen die anderen ein, und mit einem Wutschrei war Bolthar von seinem Pferd, entriss dem Mann das Kreuz und brach mit einem einzigen Tritt die Stange durch, an der es befestigt war. Anschließend schleuderte er es weit in die Landschaft und schrie die Gruppe an:
»Verschwindet von hier, ehe ich mich vergesse! Das ist das Land von König Harald, und wir dulden hier keine Christen! Zurück mit euch, oder ich erkläre euch mit meinem Schwert, was ich meine!«
Beide Mönche erhoben erneut abwehrend die Hände.
»König Harald hat uns gestattet, hierher zu kommen. Wir bauen eine Kirche, und das hat er uns ebenfalls erlaubt!«
»Lüge!«, schrie Bolthar außer sich und verpasste dem ersten Mönch einen Tritt in die Seite, sodass der mit einem Schmerzensschrei auf die Seite kippte. Bolthars Augen funkelten vor Wut, sein Mund war weit aufgerissen, die Hand zum Schlag erhoben. Seine ganze Erscheinung war so furchterregend, dass die anderen jetzt einsahen, wie ernst seine Worte gemeint waren. Sie erhoben sich schnell und liefen davon, ein Stück noch auf der Straße entlang, dann in wilder Flucht zu einem kleinen Kiefernwäldchen.
»Verfluchte Hundesöhne!«, brüllte Bolthar, noch immer mit zornrotem Gesicht, während Bent und die Krieger neben ihm Aufstellung nahmen.
»Sollen wir ihnen nach, Jarle?«
Bolthar spuckte verächtlich aus und schüttelte den Kopf.
»Lasst sie laufen, sie haben ihre Lektion gelernt!«
Damit wendete er erneut sein Pferd und ritt in Richtung der Ortschaft Hals zurück, während Bent seinen Männern mit Blicken bedeutete, lieber zu schweigen.
Doch bei dieser Begegnung ließ es Bolthar nicht bewenden.
Er sprach mit niemand darüber, gab nur Bent die Anweisung, die Männer für den nächsten Tag gerüstet zu versammeln und für sich und ihn ein Pferd bereitzuhalten.
Mit seinem Jarle trat ein einfach gekleideter Mann aus dem Haus, und verwundert erkundigte sich Bent: »Wer war dieser Mann, Jarle?«
»Ein Bote von Tyskar.«
»Tyskar? Den Namen habe ich noch nie gehört.«
»Du wirst ihn sicher bald kennenlernen, Bent. Lass die Pferde vorführen und uns aufbrechen!«
Der Unterführer nickte und rief die Krieger, die gleich darauf mit den Pferden herankamen und sich aufstellten.
Wortlos stieg Bolthar auf, nickte Bent zu, und der Marsch aus Hals begann, ohne dass auch nur einer der Krieger eine Ahnung hatte, was ihr Jarle beabsichtigte. Aber sie waren zuversichtlich, dass er sie nicht umsonst in das Landesinnere führte, sondern dass sie ihren Spaß dabei haben würden. Als sie der Marsch eine ganze Strecke auf der festgefahrenen Wegstrecke entlangführte, auf der sonst nur wenige Menschen mit Handkarren unterwegs waren, gelegentlich einmal ein Hirte Ziegen oder Schweine zur Stadt trieb, fragten sie sich allerdings irgendwann doch, was der Jarle eigentlich beabsichtigte. Sie befanden sich jetzt ein halbes Dutzend tylft (ca. zehn Kilometer) vom letzten Dorf entfernt, und es würde noch etwa genauso weit sein, bis man das nächste Dorf erreichen konnte.
Einige der Fyrd unter den Kriegern, die zwangsverpflichteten Bauern, kannten sich in der Umgebung aus und begannen, sich leise untereinander zu unterhalten. Das brachte ihnen einen bösen Blick des Unterführers ein, der sein Pferd neben ihre Reihe trieb und so lange dort blieb, bis die Männer wieder schwiegen und den Blick nach vorn richteten.
»Bauernvolk!«, knurrte Bent nur noch vernehmlich, dann trieb er das Pferd wieder an und eilte an Bolthars Seite zurück.
»Wir hätten alle nach Hause schicken und nur richtige Krieger bei uns behalten sollen. Es sind genug verlässliche Männer dabei, und die werden wir in der nächsten Zeit dringend benötigen, Bent!«
Bolthars Miene drückte deutlich genug aus, was er von den Fyrd hielt, aber Harald hatte darauf bestanden, dass zwischen den Kriegern immer eine ausreichende Anzahl von ihnen vorhanden waren – denn man schickte sie gern an die Stellen, an denen sie zwar keinen Sieg erlangen konnten, dafür aber mit ihrem Blut den Preis zahlten, bis die anderen an ihrer Seite waren.
Auf dem nächsten Hügelkamm zügelte Bolthar sein Pferd und ließ halten.
In der winterlich kalten Sonne bot sich ihm ein friedliches Bild.
Die umliegenden Äcker waren umgepflügt und zeigten die dunkle, fruchtbare Erde, auf der noch ein Hauch von Reif lag. In der Ferne waren die nächsten Hütten zu erkennen, auf die ein kleiner, aber munter fließender Bach zuführte. An seinen Ufern standen Weiden, ein Stück davon entfernt gab es einen dichten Kiefernwald. Dort, wo der Bach eine starke Krümmung machte, gab es eine freie Fläche, wie geeignet zum Bau einer Mühle. Auf den ersten Blick sah es auch so aus, als wolle man dort eine Mühle errichten. Bretter wurden zurechtgesägt, dicke Balken waren schon in den Boden gerammt und mit Brettern und Flechtwerk entstand hier ein größeres Haus. Bolthar kniff die Augen zusammen und überlegte. Der Grundriss schien ein Quadrat zu sein, und so etwas hatte er schon mehrfach im Land gesehen. Diese Art zu bauen, ließ nicht auf eine Mühle deuten oder gar ein neues Dorf, bei dem als Erstes das Langhaus errichtet wurde.
Dieser Bau konnte nur eine einzige Bedeutung haben.
Bolthar schloss den Riemen unter seinem prächtigen, mit Silber verzierten Helm, auf dem ein kunstvoll ausgeführter Miniaturrabe saß. Jetzt wurde Bent klar, warum der Jarle für einen solchen Ausritt seine kostbarste Tunica trug und darüber das mit Goldringen verzierte Brynja, das Kettenhemd. Anschließend zog er sein Sax-Schwert aus der Scheide, nickte Bent zu und trieb sein Pferd an. Rasch setzten sich die Krieger hinter ihm in Bewegung und liefen auf das Bauwerk zu. Als man dort das Nahen der wilden Schar bemerkte, wollten einige davonlaufen, aber ein Mönch in seinem braunen Habitus hob die Hände und hielt mit lauten Rufen die Menschen auf.
Bolthar parierte sein Pferd in einer Staubwolke vor dem Mönch, sprang vom Pferderücken und stellte sich mit dem Schwert in der Hand breitbeinig vor ihm auf.
»Was wird das hier, Mönch? Du bist doch nicht etwa dabei, eine Kirche zu errichten?«, sagte er drohend und deutete mit der Schwertspitze auf den begonnenen Bau.
»So ist es, wir werden hier Gottes Wort verkünden, und dieses Haus wird zu seinem Haus werden!«, antwortete der Mönch und blickte furchtlos zu dem hünenhaften Krieger auf, der ihn finster anstarrte.
»Gottes Haus? Odin wohnt nicht in einem Haus, seine Paläste stehen in Asgard. Und ich werde dafür sorgen, dass dein Gott auch hier kein Haus beziehen wird!«
»Das dürft ihr nicht, wir stehen unter dem Schutz des jungen Königs!«, rief der Mönch, und, durch seine Rede mutig geworden, scharten sich jetzt die Arbeiter mit ihren Werkzeugen um ihn. Alle blickten den großen, bärtigen Anführer mit dem sonnenverbrannten, narbigen Gesicht erwartungsvoll an.
Ohne sich zu seinen Kriegern umzudrehen, rief Bolthar seinem Unterführer zu:
»Bent, kennst du einen König, der die Christen in unser Land lässt?«
Der Unterführer lachte höhnisch auf.
»Es gab mal einen Skalden (höfischer Dichter), der von König Angantyr gesungen hat, der Christen gewähren ließ. Aber dieser König hat nicht mehr lange gelebt, als das erste Kreuz in seinem Land aufgestellt wurde.«
»Da ist es auch unsere Pflicht, König Harald zu schützen und ihn davor zu bewahren. Gib mir den Topf herüber!«
Bent trieb sein Pferd neben Bolthar und überreichte ihm das Tongefäß, das er bereits entzündet hatte. Ehe noch einer der anderen begriff, was der vornehme Krieger beabsichtigte, warf er den Topf zwischen die bereits errichteten Wände und beobachtete, wie sich das Pech ausbreitete und die Flammen gleich darauf an einer Flechtwand emporleckten.
»Das ist Frevel!«, schrie der Mönch erschrocken auf. »Das dürft ihr nicht tun! Der König hat uns erlaubt, hier ein Haus Gottes zu errichten! Er wird euch dafür zur Rechenschaft ziehen!«
Und als keine Reaktion von Bolthar kam, fuhr der Mönch laut fort:
»Wir sind von Aarhus hierhergekommen, und Bischof Adaldag hat uns den Auftrag erteilt, das Wort Gottes zu verbreiten und in König Haralds Land Gotteshäuser zu errichten!«
Bolthar war zurückgekehrt und starrte den Mönch einen Augenblick lang aus eiskalten Augen an. Dann ging sein Blick über die Handwerker, die alle den Kopf senkten und sich nicht rührten.
»Bist du ein fjölkunnigur (Zauberer)?«
Der Mönch straffte seine Figur und sah mutig in das Gesicht des Riesen.
»Ich habe mit euren heidnischen Bräuchen nichts zu schaffen. Ich bin ein Diener Gottes!«
Über Bolthars Gesicht huschte ein diabolisches Lächeln.
»Das ist gut, dann muss ich mir keine Gedanken über deinen Fluch machen, Mönch!«, antwortete er und stieß den Sax tief in die Brust des Mönches, riss ihn sofort wieder heraus und drehte sich zu den anderen um, während der Sterbende in die Knie sackte, noch etwas sagen wollte, aber nur noch ein Stöhnen herausbrachte, bevor er lang nach vorn auf sein Gesicht schlug und sich nicht mehr rührte. Bolthar spürte eine Unruhe hinter sich, drehte sich aber nicht zu seinen Kriegern um. Stattdessen zog er den nächsten Mann, der eine Säge in der Hand hielt, am Hemd zu sich heran.
»Und du? Bist du auch ein Christ?«
»Ja, Herr, das bin ich. Wir sind alle Christen und wollen hier …«
Bolthar riss so heftig am Hemd des Sprechers, dass es sich unter seinem festen Griff mit einem hässlichen Geräusch teilte.
»Ihr wollt nichts weiter, als noch ein wenig leben, habe ich recht?«
Bei diesen Worten hob er nur ganz leicht die Spitze seines Schwertes, und der kreidebleich gewordene Mann stammelte: »Ja, Herr, das will ich. Aber wir stehen unter dem Schutz des Königs!«
»Noch ein solches Wort und ich bringe dich auf der Stelle zu deinem Gott!«
Damit stieß er den Mann von sich und drehte sich langsam zu seinem Gefolge um. »Was ist los mit euch, Männer? Seid ihr auch Christen geworden?« Sein Blick ruhte dabei auf den beiden Reihen mit den Fyrd, die jedoch alle den Kopf gesenkt hatten. Der Zorn stieg in Bolthar auf, als er spürte, wie sich Widerstand bei den Bauern formierte. Er trat vor sie und tippte einem von ihnen mit der Schwertspitze gegen die Brust.
»Du da, sieh mir in die Augen und sage mir, ob du den Gott der Christen anbetest?«
Der Mann schwieg und starrte auf den Boden.
Bolthar ging zum nächsten und wiederholte die Frage.
Der Mann war noch ziemlich jung und unerfahren, seine dicken, blonden Haare trug er in zwei Zöpfen. Jetzt sah er zu seinem Jarle auf und hielt dem Blick stand.
»Ja, Jarle, wir sind alle Christen. Alle Fyrd-Krieger sind Christen. Und König Harald wusste das!«
Jetzt wagten auch die anderen, Bolthar anzusehen, aber der schien vor Wut zu schäumen. Laut schrie er heraus: »Das wagst du, deinem Jarle ins Gesicht zu sagen? Ihr dient einem falschen Gott! Auf die Knie mit euch und schwört Odin die Treue, ihr feiges Gesindel!«
Niemand von den Fyrd bewegte sich.
Also hob Bolthar seinen Sax und schlug ihn dem Blonden gegen den Hals.
Ein Aufschrei ging durch die Reihen, als das Blut aus der Wunde schoss und der junge Krieger seinen Jarle mit weit aufgerissenen, ungläubigen Augen anstarrte, bevor er nach hinten fiel und gegen die anderen stieß.
Als sein Nebenmann die Hand um den Griff seines Schwertes schloss, traf ihn als Nächsten Bolthars Schwert, durchbohrte seine Brust und war zugleich das Signal für die anderen Krieger, es ihrem Jarle gleich zu tun. Bevor Bent noch etwas sagen konnte, waren alle Fyrd-Krieger von den anderen Kriegern getötet, und im nächsten Augenblick wurden auch die verängstigt zusammenstehenden Handwerker niedergemetzelt.
Bolthar sah dem Treiben zu, wischte in aller Ruhe die Klinge seines Sax am Hemd eines der getöteten Fyrd ab und stieg wieder auf sein Pferd. Die Krieger ordneten sich ein, und ohne ein weiteres Wort kehrten sie zurück, während hinter ihnen der schwarze Qualm aus den Resten des Kirchbaus in den Himmel stieg und die ersten Krähen herbeigeflogen kamen, um ihr ekliges Mahl zu beginnen.
»Es geht also alles von Aarhus aus, wenn ich das richtig verstanden habe«, sagte Bolthar in der Halle seines Gastgebers Birtingur, der sich viel darauf einbildete, als einer der hochgestellten Familienvorstände in Hal Gäste zu haben, die mit König Harald auf vertrautem Fuß standen. Seine Frau war zwar der Meinung, dass diese Gäste keineswegs ein Besuch waren, sondern eine Last, denn sie nahmen das gesamte Haus für sich in Anspruch, und Birtingur musste mit einem kleinen Nachbarhaus vorlieb nehmen. Doch das schmälerte sein Vergnügen nicht, denn er sah die neidvollen Blicke der Nachbarn und wurde von ihnen auch öfter mit Fragen bestürmt.
Dieser Bolthar war ein ganz großer Jarle, man tuschelte schon, dass er wohl nicht nur húskarlar bei König Harald bleiben würde, sondern bald so etwas wie dessen rechte Hand. Hätte er den Wikingerfürsten selbst gefragt, hätte der vermutlich verächtlich aufgelacht und Birtingur gefragt, was er denn im Moment anderes wäre als die rechte Hand Haralds? Jetzt durfte Birtingur in seiner eigenen Halle am Tisch mit Bolthar, Bent und den anderen Unterführern Bjor und Gulkollur sitzen. Als der Name der Stadt fiel, war er voller Aufregung, denn er war vor einigen Monaten dort selbst gewesen und brannte nun darauf, sein Wissen anzubringen. Er rutschte schon eine ganze Weile auf seiner Bank unruhig hin und her, bis Bolthar ihm endlich Beachtung schenkte.
»Du kennst die Stadt?«, lautete die kurze Frage an ihn, und Birtingur bekam ein feuerrotes Gesicht, als er eifrig nickte.
»Ja, Jarle Bolthar, so ist es. Ich habe dort Handelsbeziehungen geknüpft und dabei mehrfach von Bischof Adaldag gehört. Er ist ein mächtiger Mann geworden, besitzt viel Land um die Stadt herum und wohnt in der Stadt in einem großen Haus, das aus Stein gebaut wurde!«
Bolthar musterte ihn mit einem raschen Seitenblick, dann nickte er.
»Der Bischof ist also nichts anderes als wir. Er hat seine eigene Art, auf Viking zu ziehen, erzählt den Menschen schöne Geschichten und nimmt sie damit ein. Was ist eigentlich mit deinen Gütern, wenn du Christ wirst, Birtingur?«
Der Mann erschrak und kam ins Stottern.
»Warum … warum sollte ich denn Christ werden, Jarle?«
Bolthar brachte diese dümmliche Antwort zum Grinsen.
»Weil du ein guter Mensch bist, Birtingur. Und man erzählt sich doch von diesem Christengott, dass er ein gütiger und gerechter Gott ist. Der Menschen zu sich nach Asgard aufnimmt, wenn sie ihr Leben gut führen, nicht auf Viking ziehen, keine Sklaven fangen und verkaufen, und vor allem – keine Frauen vergewaltigen!«
Die drei Unterführer lachten dröhnend, während Birtingur verlegen von einem zum anderen schaute und schließlich leise sagte:
»Ich bin kein Christ, aber ich war noch nie auf einem Viking, und Frauen … Frauen habe ich auch noch nie vergewaltigt!«
Die Krieger brüllten vor Lachen laut heraus, und Bolthar klopfte dem immer verlegener werdenden Mann auf die Schulter.
»Na, sieh mal einer an, Birtingur – dann bist du doch schon so etwas wie ein Christ, oder? Aber mal im Ernst: Wenn du Odin und Thor verrätst und diesem neuen Gott huldigst – was passiert dann mit deinem Eigentum?«
»Das verstehe ich nicht, Jarle Bolthar. Warum sollte ich denn mein Eigentum verlieren?«
Bolthar beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber und verzog seinen Mund zu einem spöttischen Lächeln, bevor er antwortete:
»Wenn dieser Bischof reich und mächtig ist – woher hat er dann sein Silber, seine Ländereien, wenn nicht durch einen Viking?«
Der Mann sah ihn so blöde an, dass die Krieger erneut in lautes Gelächter ausbrachen, und Bolthar schließlich sagte: »Lass es gut sein, Birtingur. Ich wollte dir damit nur klar machen, dass dieser Bischof schlauer ist als wir alle. Er kämpft nicht und muss sein Leben nicht verteidigen. Aber er wird immer reicher, nach deinen eigenen Worten. Können wir jetzt etwas von dem frischen Bier bekommen, das deine Frau uns schon vor einer ganzen Ewigkeit angeboten hat?«
»Oh, natürlich, ich bitte um Entschuldigung! Ich sehe mal selbst nach, wo die Magd bleibt!«
Damit eilte er aus der Halle, erneut von brüllendem Gelächter begleitet.
»Um das einmal klarzustellen: Ein Fußmarsch von hier nach Aarhus nimmt gut und gern drei Tage in Anspruch. Mit den herskip (Kriegsschiffe) sind wir in der Hälfte der Zeit vor Ort.«
»Werden aber viel früher bemerkt. Kommen wir vom Wasser, wird es wohl kaum eine unbemerkte Landung in Aarhus geben, Jarle. Was hast du vor? Willst du diesen Adaldag töten?«
Birtingur kam gerade mit den gefüllten Krügen herein und hatte die letzten Worte gehört. Er schrak sichtlich zusammen und beeilte sich, die Krüge zu verteilen, während die Magd ihm auf dem Fuße mit weiteren Krügen und einer Platte folgte, auf der sich Fleisch und Brot befanden.
»Was ist das für Fleisch, Birtingur?«, erkundigte sich Bolthar.
»Wild, Jarle, ich habe es extra für euch heute gekauft!«
Mit diesen Worten wollte sich der einfältige Mann wieder zu den Kriegern setzen, aber Bolthar wies gutmütig auf die Krüge und sagte:
»Du hast leider nur fünf Krüge mitgebracht, Birtingur. Das bedeutet, dass für dich keiner dabei ist. Wir sind vier Mann und werden aus dem fünften Krug nachschenken müssen, wenn wir den ersten Schluck genommen haben. Sei doch so gut und gehe mit deiner Magd noch einmal in den Keller. Und wenn du schlau bist, dann fickst du sie dort gleich, bevor deine Frau wieder zurück ist.«
Erneut hatte Birtingur ein knallrotes Gesicht und drehte sich erschrocken zu der Magd herum, die eben ein leises Kichern hören ließ.
»Na siehst du, sie wartet schon, also, ab mit euch, besorg es ihr und lasst uns ein wenig das Bier genießen!«
Damit waren die beiden auch schon draußen, allerdings glaubte keiner der wieder laut herauslachenden Krieger, dass sie tatsächlich in den Keller gehen würden. Es war ohnehin ein großer Luxus, dass dieses Haus über einen Lagerkeller verfügte, in dem Gemüse und Bier kühl blieben. Besonders geeignet für ein Schäferstündchen war es dort unten sicher nicht.
»Um auf den Bischof zurückzukommen«, sagte Bolthar nach einem weiteren, kräftigen Schluck, »so halte ich es für das Beste, ihn einmal aufzusuchen und mit ihm über seinen Gott zu reden.«
»Es könnte aber mehr Schwierigkeiten geben, als wir im Moment noch annehmen, Jarle!«, warf Bent ein und deutete auf den blonden Gulkollur. »Gelbkopf kennt Aarhus sehr gut!«
»Ist das so, Gulkollur? Da hast es von der Seeseite kennengelernt?«
»Ja, Jarle. Die Stadt liegt an der Mündung des Aarhus Å. Mehrere Nebenflüsse kommen dort zusammen, und es gibt auch ein Moor.«
»Zu durchqueren?«
Gulkollur zuckte die Schultern.
»Schwer zu sagen, Jarle. Aber unmöglich ist es nicht. Wir könnten weiter nördlich von der Stadt an Land gehen und auf der Seite des Sumpfes hineingelangen, ohne dass man uns zu früh bemerken würde. Sehr groß ist der Sumpf auch nicht, Jarle. Können wir ihn nicht durchqueren, umgehen wir ihn innerhalb eines halben Tages. Dann haben wir kaum noch einen Weg von einem halben Tag bis zur Stadt.«
»Gibt es Mauern oder Palisaden?«
»Ich kenne nur die am Hafen zur Seeseite, Jarle.«
»Gut. Wir werden sehen.«
Die Überfahrt verlief trotz einiger heftiger Gewitter über der Ostsee ohne besondere Zwischenfälle. Es waren fünf Kriegsschiffe Bolthars unterwegs, und sie ankerten alle einen halben Tagesmarsch oberhalb der Stadt Aarhus, wie es Gelbkopf vorgeschlagen hatte. Die Männer sprangen an Land, als die Boote auf den Strand liefen, anschließend wurden sie ins Wasser zurückgeschoben und blieben in sicherer Entfernung vom Land unter Bewachung zurück.
Bolthar teilte seine Krieger in zwei gleich große Gruppen auf, und gemeinsam marschierte man in die Gegend, in der man den Sumpf vermutete. Die Kundschafter liefen voraus, ihre Schilde auf dem Rücken, die Speere in der Hand. Auf diese Weise konnte man jederzeit rechtzeitig einen Schildwall bilden, sollten sich Feinde vor der Stadt zeigen. Aber zunächst einmal war die Gegend, durch die Bolthars Schar marschierte, menschenleer.
Als die ersten Kundschafter zurückkamen und von dem Sumpf berichteten, rückte die Gruppe bis an den Rand des unsicheren Gebietes vor und probierte den morastigen Untergrund.
»Wir hätten ein paar Thralls (Sklaven) mitnehmen sollen!«, sagte Bent und grinste seinen Jarle dabei an. »Dann wüssten wir genau, wie breit der Sumpf passierbar ist!«
»Was meinst du zu dem Gedanken, dass du den Anfang machst, Bent?«
Ein überraschter Blick in das Gesicht seines Jarle, und erleichtert grinste Bent zurück. Bolthar hatte sich gebückt und einen faustgroßen Stein aufgenommen, den er jetzt auf die trügerische Oberfläche vor ihnen warf. Der Stein rollte etwas und blieb auf dem torfig-erdigen Untergrund liegen. Schon wollte Bent den ersten Schritt wagen, als ihn Bolthar am Arm zurückhielt und einen weiteren Stein warf, der noch weiter auf den braunen Boden flog und gleich darauf versank.
»Wir umgehen den Sumpf auf beiden Seiten. Bent, du übernimmt die eine Hälfte und gehst von hier aus links um den Sumpf. Auf der anderen Seite wartet die erste Gruppe dann auf das Eintreffen der zweiten. Es gibt keine Alleingänge, verstanden?«
Bent blickte auf den Sumpf und nickte, dann trennten sich die beiden Gruppen.
Es wurde ein ziemlich beschwerlicher Weg für alle, denn schon bald sollte es sich herausstellen, dass die zahlreichen kleinen Bäche und natürlichen Wasserläufe zusätzliche Hindernisse boten. Aber es ging vorwärts, und als Bent mit seinen Leuten auf einer Lichtung eintraf und nun sicher sein konnte, nur noch festes Land vor sich zu haben, sah er Bolthar bei einer kleinen, windschiefen Hütte stehen.
»Komm zu mir herüber, Bent, aber lass die Leute dort lagern, wo ihr gerade steht. Der Untergrund ist hier überall sicher, was ich von der Gegend nicht gerade behaupten kann.«
Nachdem Bent seine Krieger instruiert hatte, stand er neben dem Jarle und blickte auf den bleichen Schädel, der unmittelbar vor der Hütte auf einem Pfahl steckte. Er war vom Wind und Regen sowie der Sonne längst ausgebleicht und vollkommen blank. Das fast kreisrunde Loch in der Schädeldecke war ein Hinweis auf die Todesart. Ein solches Loch wurde durch die Verlängerung des Axtblattes verursacht. Die beiden erfahrenen Krieger wussten sofort, dass der Täter eine Skeggöx verwendet hatte, eine sogenannte Bartaxt.
Aus der Hütte drang modriger Geruch zu ihnen heraus, und als Bent einen Blick hinein geworfen hatte, war auch ihm klar geworden, dass hier ein Zauberer wohnte. Wo sich der Mann jedoch derzeit aufhielt, war nicht zu erkennen. An den Wänden und auf dem Boden gab es zahlreiche Federbälge, kleine Tierschädel wie von Eichhörnchen oder Ratten, dazu Bündel getrockneter Kräuter und in einigen Tontöpfen und -schüsseln undefinierbare, zum Teil angetrocknete oder auch verschimmelte Breisorten.
»Wo ist er?«, erkundigte sich Bent, aber Bolthar legte einen Finger auf die Lippen und deutete anschließend auf einen nahe stehenden, mächtigen Eichenstamm. Deutlich waren Spuren an der Rinde zu erkennen, die durch ein mehrfaches Hinaufklettern verursacht wurden. Bent runzelte die Stirn, aber dann entdeckte er auf dem noch mit trockenem, braunem Laub bedeckten Wipfel einen Stoffstreifen.
»Gib mir doch mal deinen Bogen, Bent, ich möchte ein paar Schüsse auf die Eiche abgeben. Ich glaube, ich habe da ein Eichhörnchen gesehen, und das ist so richtig für ein paar Übungen geeignet.«
Noch bevor der Unterführer überhaupt reagierte, kam aus der Laubkrone ein Grunzlaut, gleich darauf wurden zwei unsagbar schmutzige Füße sichtbar, die sich sofort in Bewegung setzten. Offenbar versuchte der fjölkunnigur, Halt am Baumstamm zu finden, schlang seine mageren Beine mit der hochgerutschten Hose darum und hangelte sich anschließend sehr schnell auf den Boden, wo er jedoch in sich zusammensank, als hätte er kein Rückgrat.
»Was wollt ihr von mir?«, jammerte eine dünne, brüchige Stimme, und Bolthar hatte sofort die richtige Eingebung.
»Wir haben lange nach dir gesucht, fjölkunnigur, denn man hat uns von deinen Taten erzählt. Du bist in der Lage, den Met für die berserkir (Berserker) zu brauen.«
»Ich? Das ist eine Lüge, da helfe mir doch Hönir!«
»Ach, du sprichst also mit dem Gott Hönir? Das ist gut, denn er hat ja den ersten Menschen den Verstand gegeben. Jetzt hoffe ich nur, fjölkunnigur, dass du davon genug bekommen hast, um uns mit dem Met zu helfen!«
Der alte Zauberer wand sich auf dem Boden wie eine Schlange, und Bolthar war schon geneigt, an ein Leiden des Alten zu glauben, als Bent hinzutrat, den Mann an seinem Gewand im Nacken packte und zu sich heraufzog. Dann stellte er ihn etwas unsanft auf die Füße und verbeugte sich spöttisch vor ihm.
»Bitte um Verzeihung, fjölkunnigur, aber ich wollte dir behilflich sein!«
»Lasst mich in Ruhe, verschwindet!«, fauchte sie der Alte an, und nun wurde Bolthar grob.
»Hör mir gut zu, Zauberer, weil ich mich nicht wiederhole. Du wirst uns jetzt nach Aarhus begleiten und deine Zaubersachen mitnehmen, um jederzeit den Met bereiten zu können. Alles, was du hier nicht mehr hast, lasse ich dir besorgen. Wenn du aber weiter hier herumschreist und nicht mehr laufen kannst, bist du für mich wertlos, und ich habe überhaupt keine Probleme damit, dich hier zu töten und deinen stinkenden Kadaver den Krähen zu überlassen!«
Der Alte starrte ihn empört an.
»Ich bin ein fjölkunnigur, und ich lasse nicht so mit mir reden!«
»Und ich bin Bolthar, der Wikingerfürst, und húskarlar König Haralds. Und ich kann dir versichern, dass ich mich noch nie vor einem Zauberer gefürchtet habe. Was ist jetzt mir dir – kommst du mit uns oder ziehst du es vor, hier vor deiner Hütte zu sterben?«
Der Alte schüttelte wütend den Kopf, schließlich griff er in eine Ecke neben dem Hütteneingang und zog eine aus Birkenrinde gefertigte, flache Tasche hervor. Ohne noch ein weiteres Wort an den hünenhaften Anführer zu richten, stapfte er in die Richtung los, in der die Krieger Aarhus vermuteten.
»Hör mir zu, Jarle, ich spreche die Wahrheit!«
Man hatte an einem Flusslauf mit Sicht auf die Stadt Aarhus das Lager aufgeschlagen, Kochfeuer entzündet, Wachen aufgestellt und nun, nach einem einfachen Mahl, das aus einer Art Eintopf bestand, angerührt mit Mehl und verbessert mit einem Eichhörnchen und einem alten, zähen Hasen, sich ein wenig Ruhe gegönnt. Erst, wenn man sicher sein konnte, dass niemand in der Stadt mehr wach war, wollte Bolthar den kühnen Streich ausführen. Dabei kam es ihm weniger auf eine besondere Finesse an, sondern vielmehr auf den Erfolg. Er wollte den Bischof um jeden Preis in seine Hände bekommen, und das möglichst lebend.
Die Begegnung mit dem Zauberkundigen konnte ihm da einen weiteren Vorteil verschaffen. Wenn der Alte dazu bereit war! Bolthar hatte sich in der Nähe des Feuers einen Platz auf einem Baumstumpf geschaffen, der zugleich einen guten Überblick über das Treiben im Lager ermöglichte.
Der alte Zauberer wurde zu ihm gebracht, und Bolthar erlaubte ihm, auf dem Boden Platz zu nehmen.
»Ich habe durchaus verstanden, was du von mir verlangst. Woher du deine Kenntnisse hast, weiß ich nicht, aber du scheinst nicht alles über die Berserker zu wissen. Es stimmt, dass es einen Trank gibt, der mit Met angemischt wird und dazu beiträgt, dass die Krieger kaum einen Schmerz verspüren, wenn sie verwundet werden (vgl. Bolthar, der Wikingerfürst Band 6, Krieg der Berserker) . Aber dieses Wissen ist so geheim, dass es nur ganz wenige von uns jemals erfahren.«
Bolthar verzog sein Gesicht zu einem Grinsen.
So musste der Wolf Fenrir ausgesehen haben, kurz bevor er Tyr die Hand abgebissen hat, dachte der Alte bei seinem Anblick. Aber er blieb ruhig und schien bereits mit seinem Leben abgeschlossen zu haben. Er hob noch nicht einmal den Kopf, als Bolthar sein Schwert aus der Scheide zog und es sich quer über seine Beine legte.
»Mir ist bekannt, dass ein fjölkunnigur viel Schaden anrichten kann, wenn er das will. Aber höre mir nun auch gut zu! Ich habe keine Sorge vor deinen Flüchen, denn Thor wird mich beschützen. Du hast nicht mehr viel Zeit, um klar zu bekennen, ob du diesen Trank für meine Krieger bereiten willst oder nicht. Überleg dir die Antwort gut, alter Mann, und auch die Folgen, wenn meine Krieger zurückkehren und sie nichts weiter als einen Becher Met getrunken haben!«
Jetzt lachte der alte Zauberkundige plötzlich laut auf.
»Ja, so wird es sein, Jarle! Natürlich kann ich euch etwas zusammenbrauen, aber mehr als ein berauschender Met wird es nicht werden! Ich kann ihn mithilfe von Kräuter und Pilzen verändern, natürlich, aber ich kann dir nicht versprechen, dass dadurch deine Männer zu unbesiegbaren Kriegern werden!«
Bolthar bohrte seinen Blick in die Augen des Alten.
Wer ihm auf diese Weise standhalten konnte, stieg schnell in seiner Achtung, aber lange hielt kaum jemand einmal diesen Ausdruck aus den eiskalt wirkenden Pupillen des mächtigen Kriegers aus. So war es auch jetzt, der alte Mann senkte den Blick und zerdrückte einen leisen Fluch auf seinen Lippen.
»Gut, dann wirst du genau das jetzt für mich tun. Wir werden aus der Stadt dort unten ein Fass Met herbeischaffen, und in der Zwischenzeit bereitest du deine Kräuter vor. Solltest du etwas noch hier in der Umgebung suchen müssen, wird immer eine Wache an deiner Seite sein. Hüte dich, mich zu hintergehen, wenn du an deinem Leben hängst, mein guter fjölkunnigur!«
Die Art, wie er diese Worte sprach, verfehlte nicht ihre Wirkung.
Der alte Mann nickte bedächtig und erhob sich ein wenig steif.
»Ich benötige ein paar Kräuter und Pilze. Die gibt es hier in reichlicher Menge, und deine Krieger sollen mich begleiten. Wenn ihr den Met herbeigeschafft habt, bin ich fertig mit meinen Vorbereitungen.«
»Es wird bald dunkel, die Sonne geht schon unter. Wie lange wirst du benötigen?«
Der Alte stand jetzt hoch aufgerichtet vor Bolthar, nichts an ihm wirkte mehr hinfällig oder gar demütig. Als hätte er durch das Sitzen neue Kräfte gewonnen, blitzten jetzt auch seine Augen mit geradezu jugendlichem Glanz.
»Bringt den Met, und wir beginnen!«
Damit drehte er sich um und ging über den Lagerplatz.
Auf ein Handzeichen Bolthars folgten ihm zwei Männer mit Wurfspießen in den Händen.