Einleitung

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Wie einst das politische Deutschland in zehn Kreise, so hat man nun das malerische und romantische Deutschland in ebenso viele Sektionen geteilt. Von allen Teilungen, welche Deutschland erlitten hat, lasse ich mir diese am liebsten gefallen, weil sie für mich den wesentlichen Vorzug vor den früheren hat, daß ich bei ihr nicht totgeteilt worden bin wie bei jenen, die mich weder mit einem Herzogtum noch mit einem Kreis bedacht hatten. Bei dieser neuen Teilung bin ich aber keineswegs zu kurz gekommen: der größte und edelste deutsche Strom ist mir anheimgefallen und an seinen Ufern Länder, die einst als die köstlichsten Edelsteine in der deutschen Kaiserkrone glänzten und noch jetzt der Stolz, das Entzücken Europas sind.

Ich muß mächtige Freunde bei dem Leipziger Kongreß gehabt haben, daß man mir, dem Geringsten unter allen Teilnehmern, wenn ich überhaupt ein Recht hatte, mitzuteilen, gerade das allerkostbarste Stück des weiland Heiligen Römischen Reiches auf den Teller gelegt hat. Denn jetzt, wo die Verträge abgeschlossen und verbürgt sind und der Handel nicht mehr zurückgehen kann, jetzt darf ich es wohl sagen, daß sich die Übrigen fast nur in die Schalen geteilt und mir den schmackhaften Kern allein überlassen haben.

Hatten sie wohl bedacht, daß das Deutsche Reich ursprünglich auf die fränkischen Länder gegründet war, die zu beiden Seiten des Rheins liegen, daß ihr Besitz den nächsten Anspruch auf die Kaiserkrone gab? Aus dem Frankenreich, das sich am Rhein gebildet hatte, war ja Deutschland erst als ein einiges Ganzes hervorgegangen. Auch späterhin, als es schon sächsische und schwäbische Kaiser geben konnte, blieb doch der Vorzug der rheinfränkischen Länder ungeschmälert, denn erstlich wurde der deutsche König durch die Wahl seinem Recht nach ein Franke, das heißt ein Rheinländer, und dann mußte sowohl die Wahl selbst als auch die Krönung in den bevorzugten rheinischen Ländern, in Frankfurt und Aachen, geschehen, wenn sie gültig sein sollte.

Das sind freilich jetzt veraltete Dinge; auch will ich unter dem Vorgeben, daß die deutschen Kaiserstädte in meine Sektion fallen, nicht etwa eine papierene Krone in Anspruch nehmen. Nicht für mich, für das Rheinland behaupte ich einen Vorzug, und diesen verdient es durch Eigenschaften, die nicht in Gefahr sind, zu veralten. Natur und Geschichte haben es durch Gaben ausgezeichnet, die der Himmel selbst nicht zurücknehmen kann. Das schönste deutsche Land ist zugleich das reichste an historischen und mythischen Erinnerungen. In beiden Beziehungen ist hier Deutschlands klassischer Boden. Einst besaß ihn ein Volk des klassischen Altertums, dessen Denkmale noch täglich aus seinem Schoß hervorgewühlt werden. Seitdem hat er durch das ganze Mittelalter den vornehmsten Schauplatz der deutschen Geschichte hergegeben, alle Schicksale unseres Volks sind auf ihm entschieden worden, die edelsten Blüten deutscher Kultur hat er hervorgetrieben. Und wäre seine Vergangenheit nicht so reich und groß, könnten wir alles auslöschen, was auf den Blättern der Geschichte von den Rheinlanden geschrieben steht, so würde die Gegenwart den rheinischen Boden von neuem zum klassischen stempeln. Seine Naturschönheiten allein sichern ihm diesen Ehrentitel, noch mehr die üppige Kultur, die den Reiz jener erhöht, dann seine vielen blühenden Städte, die mit allen Schätzen der Kunst und des Gewerbefleißes prangen, am meisten aber seine biederen, wahrhaft gebildeten, noch nicht durch die überall einreißende Überfeinerung um Kopf und Herz betrogenen Bewohner.

Deutschland, dem die Donau nur in ihren Anfängen gehört, hat einen zweiten Strom wie den Rhein nicht aufzuweisen. Wir gehen weiter und sagen: Europa, das heißt hier die Welt, besitze seinesgleichen nicht. Man hat Deutschland das Herz Europas genannt; weil aber das Herz der Sitz der Leidenschaften ist, so wollten einige dem immer heftig aufgeregten Frankreich die Ehre vindizieren, für das Herz Europas zu gelten. Gesteht man Deutschland und Frankreich gleiche Ansprüche darauf zu, so muß das im Herzen beider gelegene Rheinland den Sieg über beide davontragen. Entscheidet man sich für das tiefer fühlende Deutschland, so lehrt die richtige Ansicht von dessen natürlichen Grenzen, daß der Rhein mitten durch das Herz dieses Weltherzens fließt. Die Welt ist zwar rund, mithin ihre Mitte wie ihr Ende überall; aber als eine Wohnstätte der Völker hat die Erde ihre Mitte da, wo sich die mächtigsten und gebildetsten Nationen begegnen. Und auch dies entscheidet für den Rhein, denn an seine Ufer, die England alljährlich mit zahllosen Abgesandten überschwemmt, grenzen außer Frankreich die wichtigsten deutschen Staaten: Österreich, Preußen, Bayern und Württemberg, anderer zweiten und dritten Ranges nicht zu gedenken; die Schweiz und Holland liegen in seinen Quellen und Mündungen, und Belgien wird durch eine Eisenbahn mit ihm in Verbindung gesetzt. Durch diese und ähnliche großartige Unternehmungen, die teils schon im Bau begriffen, teils beschlossen und genehmigt sind, wohin auch der Donau-Main-Kanal gehört; wird das Rheintal immer mehr das werden, was es jetzt schon ist: die Hauptstraße der gebildeten Welt, der Markt und Sammelplatz aller Nationen, der große Korso für die Faschingsfreuden der schönen Jahreszeit, zu welchen einzuladen sich dieses irdische Paradies mit immer neuen Reizen schmückt. Nirgends ist der Völkerverkehr lebendiger, die stündlich abgehenden Schnellposten mit ihren Beiwagen, die goldglänzenden Dampfschiffe, vor deren umgeschwungenen Rädern der Strom nicht zur Ruhe kommt, die geräumigen, mit der verschwenderischen Pracht der Paläste eingerichteten Gasthöfe wissen die Menge der Reisenden nicht fortzuschaffen, die Zahl der Fremden nicht unterzubringen. Man ist nicht mehr in Deutschland, man fühlt sich in der großen Welt. Für die Bedürfnisse der Reisenden, für alle erdenklichen Bequemlichkeiten wird mit einem Raffinement gesorgt, das man ohne Lächeln nicht wahrnehmen kann. Reisebücher, Karten, Panoramen, malerische und plastische Darstellungen einzelner Gegenden wie größerer Strecken, Sagensammlungen in Versen und Prosa und tausend andere Reisebehelfe sind in allen Kunst-und Buchläden in solcher Fülle zu kaufen, daß zwischen Mainz und Köln kaum ein Haus, kaum ein Baum gefunden wird, der nicht schon eine Feder oder einen Grabstichel in Bewegung gesetzt hätte. Diese Gegend ist so vielfältig beschrieben, abgebildet und dargestellt worden, daß man zuletzt das Postgeld schonen und sie mit gleichem Genuß in seinen vier Wänden bereisen kann. Auf eine solche malerische Reise im Zimmer ist es auch hier wieder abgesehen.

Den Namen Rhein (hrên, Rhenus) führte der Strom schon, ehe deutsche Völker seine Ufer in Besitz nahmen. Es hat so wenig gelingen wollen, ihn aus dem gleichlautenden deutschen Wort (rein) als aus einem griechischen, welches fließen bedeutet, abzuleiten. Mag aber sein Name in seiner ältesten Form keltisch sein, der Strom selbst ist seit fast zwei Jahrtausenden deutsch wie seine Anwohner, die mit den Kelten selbst auch jenes keltische »hren« verdrängten und durch eine ähnlich klingende appellative Flußbenennung ersetzten. Uns hieß also der Rhein der Fluß überhaupt, gleichsam der Fluß aller Flüsse. Und von jeher war dieser Name ein süßer Klang in einem deutschen Ohr. Wie oft und gern flochten die Minnesänger ihr sehnsüchtiges »alumbe den rîn« ihren schönsten Liedern ein, zuweilen ohne weiteren Grund, nur des lieben Namens willen. Heute noch, wenn es in unserem Nationalgesang, in dem Rheinweinlied des trefflichen Claudius, an die Stelle kommt, wo es heißt: »Am Rhein, am Rhein!«, wie stimmen alle Kehlen vollkräftig mit ein, wie klingen alle Römergläser an, wie schüttelt der Deutsche dem Deutschen die Hand, wie fühlen sich alle Teilnehmer des Festes, so zufällig sie zusammengekommen seien, in dem Gedanken an den geliebtesten unserer Ströme befreundet und verbrüdert!

Was ist es, das diese magische Wirkung auf die Gemüter ausübt? Ist es der Duft der Rebenblüte, der sich im Becher verjüngt, oder der edle Geist des Weins, der von dem Zauberwort erlöst in uns überströmt? Oder weht uns der frische Hauch des Rheintals an, die gesunde Alpenluft, die der Strom von den Gletschern seiner Heimat bei sich führt? Ist es der königliche, tiefgehende Fluß selbst, der seine klaren, grünen Wogen mit deutscher Ruhe von der Schweiz bis Holland wälzt? Sind es seine gepriesenen, vielbesungenen Ufer, das jährliche Ziel einer neuen Völkerwanderung? Sind es die sanft geschwungenen Rebenhügel, denen der geistreichste Most entströmt, oder die starren Felsen, von denen Schlösser und Burgen als Zeugen einer großen Vergangenheit niederblicken? Ist es der kräftige Genius des Mittelalters, an den jene Ruinen mahnen, oder der Geist der neueren Zeit, der nirgends vernehmlicher als am Rhein zu uns spricht? Sind es die geschichtlichen Erinnerungen oder die alten vertrauten Sagen? Ist es die schöne Gegenwart oder die lachende Zukunft, was uns vor die Seele tritt, wenn der Name Rhein uns ergreift? Dies alles erschöpft den Zauber des Wortes nicht, und wenn sich noch tausend andere Vorstellungen unbewußt mit jenen verbänden, so würde doch die Magie des Namens unenträtselt bleiben. Wer sich aber auf die Anatomie der Gefühle verstände, wer seine leisesten Empfindungen zergliedern könnte, der würde vermutlich finden, daß in dem Namen des Rheins etwas Heiliges, etwas Heimatliches liegt, das seine Wirkung nicht verfehlt, obgleich wir sie uns nicht zu erklären wissen.

Ja, der Rhein ist uns ein heiliger Strom, und seine Ufer sind die wahre Heimat der Deutschen, der ehrwürdige Herd aller deutschen Kultur. Was dem Inder der Ganges, das ist dem Deutschen der Rhein. Religion, Recht, Kunst und Sitte haben sich von ihm aus über die Gaue unseres Vaterlandes verbreitet. Dies allein gibt uns ein Licht über die geheimnisvolle Wirkung seines Namens.

Wir behaupten nicht gerade, daß die Deutschen dem Rhein jemals göttliche Ehre erwiesen hätten. Daß aber die alten Franken und Alemannen, die um den Rhein wohnten, Flüsse und Quellen verehrten, ist bekannt. »Das Volk betete«, sagt Grimm, »am Ufer des Flusses, am Rande der Quelle, zündete Lichter an, stellte Opfergaben hin.« Obgleich es kein ausdrückliches Zeugnis meldet, so ist es doch glaubhaft, daß diese Verehrung ihrem Hauptfluß, dem Rhein, vorzugsweise gegolten habe. Die bekannte Wasserprobe zur Ermittlung der Echtheit oder Unechtheit neugeborener Kinder würde dahin deuten, wenn es gewiß wäre, ob sie Kelten oder Germanen zugeschrieben werden müsse. Die ältesten Anwohner hielten nämlich den Rhein mit einer solch wunderbaren Natur und Eigenschaft begabt, daß sie ihre Kinder gleich nach der Geburt zur Prüfung ihrer ehelichen Erzeugung dem Strom übergaben, der die rechtmäßigen Abkömmlinge sanft wieder an das Ufer spülte, die unechten aber »mit ungestümen Wellen und reißenden Wirbeln als ein zorniger Rächer und Richter des Unreinen« unter sich zog und ersäufte. Ein deutsches Volkslied, auf das auch eine Handwerksgewohnheit anspielt, erwähnt eine ganz ähnliche Prüfung noch ungeborener Kinder, bei denen der Rhein ebenfalls über echt oder unecht entscheidet. Als herrschende Sitte des Volkes, bei dem der Ehebruch so selten war, ist dies freilich nicht zu denken; was aber in einer solchen Überführungsweise Widersinniges liegt, wird noch mehr Bedenken erregen, sie dem besonnenen Germanen zuzuschreiben. Indessen darf man religiöse Bräuche nicht vor den Richterstuhl des alles verzehrenden Verstandes ziehen, und dieser namentlich hat doch auch seine poetische Seite.

Nach der indischen Legende, die wir durch Goethe kennen, schöpft die reine, schöne Frau des Brahmanen täglich aus dem heiligen Ganges ohne Krug und Eimer, weil sich dem seligen Herzen, den frommen Händen die bewegte Welle zu kristallener Kugel gestaltet. Aber nur solange sie rein bleibt: sobald der leichteste Schatten auf sie fällt, nur ein verwirrendes Gefühl die heilige Ruhe ihres Busens trübt, rinnt ihr das Wasser durch die Finger nieder. Auf ganz übereinstimmenden Begriffen beruht die schöne Sage von der heiligen Ritza zu Koblenz, die trockenen Fußes über den Strom ging, der sie aber gleich zu tragen weigerte, als ein Zweifel die Heiterkeit ihres gläubigen Bewußtseins störte. Beide Überlieferungen setzen die Heiligkeit des Flusses voraus. Auch hier, wie bei jener Wasserprobe, trägt der Strom das Schuldlose, Reine, während das Versinken ein Verdammungsurteil enthält.

Alles eigentümliche Leben, Religion und Sitte der Inder haben sich im mittleren Tal des Ganges geschichtlich entwickelt. Nicht viel geringer war der Einfluß des Rheintals auf die Bildung der germanischen Völker und zunächst des deutschen. Der Unterschied ist freilich der, welcher überhaupt zwischen der Entwicklung des indischen Volkes und des deutschen stattfindet. Dem Inder wurde die Bildung nicht von außen gebracht, ihm war es gegeben, in der Heimat, am eigenen Herd allmählich zum Bewußtsein zu erwachen und wie die Pflanze aus dem Keim die Reihe seiner geistigen Metamorphosen aus sich selbst hervorzutreiben. So gut hatte es der Deutsche nicht, oder vielleicht, er hatte es besser. Gleich bei seinem ersten Auftreten auf der Bühne der Weltgeschichte stieß er am Rhein auf die Römer, ein Volk, das eben auf der Höhe seiner Macht und Bildung stand. Wenn die deutschen Völkerschaften, die damals das Rheintal bezogen, unter der dreihundertjährigen Herrschaft der Römer von ihrer Bildung und Sitte sich vieles aneigneten, so dürfen sie doch stolz darauf sein, daß sie anders als die benachbarten Gallier sich die eigene Sprache bewahrten. Und solange ein Volk seines Siegers Sprache nicht annimmt, ist es nicht wahrhaft besiegt. Und so waren es auch rheinische Völker, Franken, Burgunder und Alemannen, welche die römische Macht am Rhein und in Gallien vernichteten und dann doch des Römers Sitte und Bildung, ja sogar seine Religion über das ganze Land ihrer Stammgenossen verbreiteten, ja weiter bis in die slawischen und awarischen Länder, welche unsere östlichen Marken deckten. Aus einem am Rhein entstandenen Staat, dem fränkischen, ging dann das Deutsche Reich hervor, und durch das ganze Mittelalter blieb das Rheinland der Mittelpunkt seines politischen wie seines geistigen Lebens. Als sich diese Epoche zu Ende neigte, begünstigten die am Rhein erfundene Buchdruckerkunst und die Reformation, an der das Rheinland durch Zwingli und Melanchthon beteiligt ist (um von Reuchlin, Bucer, Ulrich von Hutten, Erasmus von Rotterdam usw. zu schweigen), die aber ohne Gutenbergs Erfindung unmöglich geblieben wäre, die Bildung anderer Herde für das wissenschaftliche und literarische Streben, während die Kunst noch immer ihren alten Wohnsitzen getreu blieb.

Schon früher war im Schoß des Rheinlands ein Fürstengeschlecht erblüht, das im Südosten einen mächtigen Staat gründete und die Kaiserkrone gleichsam erblich trug, wodurch die politische Bedeutung der Rheinlande und die Macht der vier rheinischen Kurfürsten sank. Der Deutsche Orden, dessen erste Großmeister Rheinländer waren, erwarb gleichzeitig ein Land im Nordosten. Dessen Namen führt jetzt der Staat, dem die rheinischen Länder gehören, aus welchen einst das fränkische Reich hervorgegangen war, denen also Frankreich und Deutschland ihren Ursprung als Staatenkörper verdankten. Durch einen so seltsamen Umschwung der Dinge geschah es, daß jetzt beträchtliche Teile des einst gebietenden Rheinlands von jenen slawischen und awarischen Ländern aus beherrscht werden, die ihm Gesittung und Bildung schuldig sind.

Der Rhein ist nicht Deutschlands Grenze; wenn auch einem geliebten deutschen Dichter die unbedachte Äußerung entschlüpfte, daß er Germaniens Grenze bewache, so genügt doch zum Beweis des Gegenteils die einfache Wahrnehmung, daß seine beiden Ufer von deutsch redenden Völkern bewohnt werden. Daß er sich zur Grenze sowenig schicke als irgendein Fluß, bewies der Gallier selbst, eben indem er ihn überhüpfte, sobald er ihn erreicht hatte. Weit entfernt, Deutschlands Grenze zu bilden, fließt der Rhein vielmehr mitten durch das alte Deutschland. Unsere natürliche Grenze gegen Westen bildet nämlich ein Gebirgszug, der sich jenseits der Maas und der Schelde hinzieht; obgleich auch noch diesseits dieser deutschen Pyrenäen welsch redende Stämme unzusammenhängende Wohnsitze haben. Als unser Volk das ihm von der Natur vorgezeichnete Gebiet einnahm, scheinen sie sich auf diese Höhen geflüchtet zu haben, deren Besitz ihnen streitig zu machen sich nicht lohnte. Gegen Osten haben wir seit dem zwölften Jahrhundert bedeutende Erwerbungen gemacht; aber was wir dort gewannen, büßten wir im Westen ein. Das alte Deutschland reichte kaum bis zur Elbe, da bis an die Saale sorbische Völker saßen und noch jetzt in Böhmen, selbst diesseits der Elbe, unsere Sprache nicht herrscht, obgleich sie nördlich und südlich von diesem Land mehr als hundert Meilen weiter vorgedrungen ist. Man könnte mittels der Redensart »dort im Reich«, womit man in den später erworbenen Provinzen das alte Deutschland zu bezeichnen pflegt, dessen Grenzen ziemlich genau feststellen. Wer aber sein Gebiet auf der Karte überblickt, dem kann nicht entgehen, daß es gerade in seiner Mitte vom Rhein durchflossen wird. Dies zur Rechtfertigung unserer obigen Andeutung, daß der Rhein durch das Herz Deutschlands fließe. An das politische Deutschland, dessen Grenzen wandelbar sind, dachten wir dabei nicht; auch kümmert uns hier nur das malerische und romantische.

Der Rhein ist also die Mitte Deutschlands. Die entgegengesetzte Ansicht konnte sich nur bilden, als die in jenen awarischen und slawischen Ländern entstandenen Staaten große Teile des alten Deutschlands zu beherrschen anfingen. Von dort aus gesehen mag sich freilich das geräumige überrheinische Deutschland so verkürzen, daß es als eine mathematische Linie dem Blick verschwindet. Erinnere ich mich doch, daß ein Königsberger gesprächsweise äußerte, Frankfurt a. M. liege hart an der italienischen Grenze. Solchen optischen Täuschungen, welchen sich akustische zugesellen mögen, ist es ähnlich, wenn in jenen östlichen Provinzen die Meinung verbreitet ist, als ob in den Rheinlanden französische Sprache, Sitte und Gesinnung vorherrschen würden, ja als ob ihre Bevölkerung aus deutschen und gallischen Elementen gemischt sei. Nichts kann irriger sein als diese Ansicht. Zwar ist Gallien von den Rheinlanden aus germanisiert worden, aber daraus folgt nur, daß in den Franzosen rheinländisches Blut fließt, nicht in den Rheinländern französisches. Wenn es auf die Reinheit der deutschen Abstammung ankäme, so wäre diese bei den Rheinländern geringerem Zweifel unterworfen als bei den östlich wohnenden Deutschen, die der Vermischung mit Wenden, Sorben, Tschechen und Awaren weit verdächtiger sind. Deutsche Art, Sprache und Sitte kann sich nirgends in so lebendiger Eigentümlichkeit ausgeprägt finden als in dem Land, das als ihre ursprüngliche Heimat zu betrachten ist, von der aus sie erst durch Kolonisation in die östlichen Marken verpflanzt wurde, wo sie sich, in einigen wenigstens, sogar noch heutzutage nur dünn aufgetragen findet. Seltsam wäre es, wenn die Anschuldigung wegen französischer Gesinnung auf besseren Gründen beruhte. Es scheint aber hier freie Gesinnung mit französischer verwechselt zu werden. Freigesinnt ist der Rheinländer durchaus, aber eben das bürgt dafür, daß er die Fremdherrschaft wie jede andere Knechtschaft verabscheut. Was er an seinen westlichen Nachbarn ehrt und schätzt, sind vor allem ihre Freiheitsliebe und ihre Nationalität. Wie sollte er vor Bewunderung jener Tugenden an dem Fremden sie an sich selber verleugnen? Die Anhänglichkeit an das französische Recht, das der Rheinländer als sein Palladium betrachtet und sich ungern entreißen und verderben läßt, gilt nicht seinem Namen, sondern der Sache, die dem Wesen nach deutscher ist, als sich irgendeine andere Gesetzgebung rühmen darf. In der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, in dem Geschworenengericht erkennt der Rheinländer ursprünglich deutsche Institute, die, durch fremdes Recht aus der Heimat verdrängt, jetzt unter fremdem Namen wieder dahin zurückgekehrt sind. Heil ihm, wenn es ihm diesmal gelingt, sie zu bewahren!

Der nachstehende Versuch über das malerische und romantische Rheinland hat zunächst die Strecke zwischen Mainz und Köln, mit Einschluß von Frankfurt und Aachen, zum Gegenstand, welche als die malerischste, das heißt reichste an Naturschönheiten, zugleich in romantischer Beziehung, durch historische und mythische Erinnerungen, die sich überall aufdrängen, das meiste Interesse bietet. Weil wir aber nicht gern etwas Unvollständiges liefern und auch wohl voraussetzen dürfen, daß dem Leser ein Ganzes willkommener ist als ein Fragment, so schicken wir eine gedrängte Übersicht des Rheinlaufs von den Quellen bis Mainz voraus und gedenken auch späterhin den Strom nicht zu entlassen, bis wir ihn seinem Vater Ozean ans Herz gelegt haben. Diese Rücksicht glauben wir ihm um so eher schuldig zu sein, als wir ja auch in jedes sich rechts oder links öffnende reizende Seitental einen Blick werfen und uns nach dem Ursprung und den Schicksalen der sie durchströmenden Flüsse oder Bäche erkundigen wollen. Dürften wir dem Rhein, dem Hauptgegenstand unserer Darstellung, gleiche Aufmerksamkeit versagen? Bei der zunächst folgenden Übersicht bitten wir aber den Leser, der vielleicht bemerken wird, daß wir an manchem absichtlich vorübergehen, zu bedenken, daß es unsere Pflicht war, Kollisionen sowohl mit der Sektion Schwaben als auch mit einem eigenen Buch (»Rheinsagen«, Bonn bei Weber) zu vermeiden.

Eingang

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Ein Strom ist wie ein Baum, seine Quellen gleichen Wurzeln und Fasern, seine Mündungen Ästen und Zweigen. Aber den Zuflüssen, die der Strom empfängt, nachdem er durch das Zusammenrinnen seiner Quellbäche Namen und Dasein empfangen hat, entspricht am Baum nichts. Wie sehr lahmt also das Gleichnis! Denn die Wasser, die ihm noch späterhin zueilen, sind gerade die beträchtlichsten.

Doch hier hat Willkür geschaltet. Jene Namengebung ist nur eine Übereinkunft. Was man sich gewöhnt hat, die Quellen des Rheins zu nennen, entspringt nur in Graubünden; aber alle anderen Kantone der deutschen Schweiz senden ihm ihre Gewässer zu. Er empfängt sie meist durch den herrschenden Strom der deutschen Schweiz, die Aar, welche als die Hauptquelle des Rheins gelten würde, wenn er nicht schon vor ihrer Einmündung diesen Namen führte.

Auf seinem weiteren Lauf zollt dem Rhein der größte und älteste Teil Deutschlands. Alles ihm links liegende deutsche Land erkennt seine Herrschaft und sendet ihm durch Ill, Nahe, Mosel und Maas den schuldigen Tribut. Rechts huldigt ihm Schwaben durch Kinzig und Neckar, Ostfranken durch den Main, Hessen durch die Lahn, Altsachsen durch Ruhr und Lippe. Mittels des Mains reicht sein Flußgebiet durch das östliche Deutschland bis an die Grenze Böhmens.

Wie die Schweiz das Quellenland des Rheins ist, das den Strom bildet, so ist Holland das Land der Mündungen, das der in der Schweiz wurzelnde Baum durch seine Äste und Verzweigungen seinerseits eigentlich erst hervorgebracht hat. Aber auch hier begegnet uns die Willkür der Benennungen. Waal, Ijssel und Lek, was sind sie anderes als Äste, Arme des Rheins? Und gerade das Land, das der Rhein geschaffen hat, das aus seinen allmählichen Anschwemmungen entstanden ist, bewies sich so undankbar gegen ihn, daß es den Namen des herrlichen Stroms seinem schwächsten Zweig beilegte und ihn so in den Ruf brachte, als versiege er im Sand. Doch vielleicht ist der Holländer von dieser Anklage des Undanks freizusprechen. Gerade der achtbare Sinn des Volks, der, Neuerungen abhold, den Überlieferungen der Väter getreu bleibt, ist es vermutlich, welchem der unbedeutendste Sprößling des Stroms den stolzen Namen schuldig war. Was jetzt in jenen Niederungen wie zum Spott der Rhein, auch der Alte Rhein heißt, war einst wirklich das Bett des Stroms, durch das er, wenn nicht alle, doch die größte Masse seiner Gewässer dem Ozean zuführte. Als diese sich andere Wege suchten, blieb dem verlassenen Bett ein spärliches Wässerchen und ein anspruchsvoller Name.

St. Gallen

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Da wir uns einmal im Kanton St. Gallen befinden, so dürfen wir nach dem Plan unseres Werks die Legende des heiligen Gallus und die Anfänge der berühmten Abtei nicht übergehen, die auf die geistige Entwicklung Deutschlands von so großem Einfluß gewesen sind.

Schon unter der Römerherrschaft soll ein britischer Königssohn namens Lucius in diesen Gegenden das Evangelium verkündet haben. Noch trägt der Luziensteig da, wo er zwischen Graubünden und der Grafschaft Vaduz die Rätischen Alpen überschritt, um den Wildnissen des Hochlands zu predigen, seinen Namen. Auch in Helvetien hatte das Christentum Eingang gefunden; aber nach der Völkerwanderung mögen die ältesten christlichen Gemeinden durch das Übergewicht der heidnischen Volksmenge und die Fahrlässigkeit der Priester wieder entartet sein. Der heilige Gallus und seine Gefährten, Mangold und Siegbert, waren dazu ausersehen, dem christlichen Glauben in seiner Reinheit die Herrschaft in Alemannien zu sichern. Aus fernen Landen, von der nördlichen Küste Irlands, wo der Vater des heiligen Gallus König der damals dort wohnenden Skoten gewesen sein soll, hatte sie der Glaubenseifer im Gefolge des heiligen Columban in die Schweizer Alpen geführt. Doch nicht unmittelbar; sie hatten erst im Kloster zu Bangor in Wales verweilt, hierauf im Wasgau bei Lützel ein Kloster gebaut. Als die fränkische Königin Brunhilde sie von hier vertrieb, kamen sie nach Schaffhausen, Zürich und Bregenz am Bodensee. Überall zerstörten sie die Götzenbilder und lehrten den wahren, einigen Gott. Hierauf trennte sich Siegbert von den Gefährten und kam in die Wildnis Hohenradens. Da, wo sich Vorder-und Mittelrhein vereinigen, stiftete er das schon erwähnte Kloster Disentis (lateinisch Desertum). Placidus, ein reicher Mann dieses Landes, schenkte dazu Güter. Aber Viktor, der Präses Rätiens, gedachte durch deren Einziehung die Kammer zu bereichern. Placidus widersetzte sich und warf dem Präses außer diesem Unrecht noch manch andere Ungerechtigkeit vor. Dafür starb er den Märtyrertod. Aber die Strafe des Himmels ereilte den Wüterich: Viktor ertrank, und seine Söhne gaben zur Sühne des Unrechts nicht nur das entzogene Gut zurück, sondern noch überdies großen Reichtum.

Unterdessen hatte Gallus mit seinen Freunden unweit des Bodensees an den Flüßchen Nigrach und Steinach Hütten gebaut und als Einsiedler die Bekehrung der Umwohnenden begonnen. Die Legende berichtet, Graf Talto, Kämmerer des königlichen Hofs, habe ihnen diese Gegend geschenkt. Nach einer alten Chronik war es der alemannische Herzog Gunzo, der in Überlingen, dem alten Iburinga, wohnte, der dem heiligen Einsiedler Gallus zum Dank dafür, daß er seine einzige Tochter von einer schweren Krankheit geheilt hatte, jenen Wald zum Geschenk machte. Wie dem auch sei – aus jener ersten Niederlassung ging im Verlauf der Zeiten die reiche und mächtige Abtei St. Gallen hervor, deren Abt mehr Einkünfte hatte als der Bischof von Chur.

Das erste, was von hier aus für deutsche Sprache und Literatur gewirkt wurde, geschah von dem heiligen Gallus selbst durch Anlegung eines lateinisch-deutschen Vokabulars, das er als Irländer, bis er sich bessere Kunde des Deutschen erworben hatte, bei seinem Bekehrungsgeschäft wohl nötig hatte. In diesem Wörterverzeichnis, das in der eigenen Handschrift des alemannischen Apostels zu St. Gallen gezeigt wird, ist uns, wenn wir von dem Gotischen absehen, das älteste deutsche Sprachdenkmal erhalten, weshalb Wilhelm Wackernagels »Deutsches Lesebuch« und Heinrich Künzels drei Bücher deutscher Prosa die Reihe ihrer Sprachproben mit dem Wörterbuch des heiligen Gallus eröffnen. Es mag sein, daß die alemannische Sprache ihm nicht geläufig, daß er der lateinischen noch viel unkundiger war; dennoch bleibt ihm der Ruhm, der erste gewesen zu sein, der die wilden deutschen Laute an die Fesseln der Schrift gewöhnte. Da es interessant ist, zu sehen, welche Gestalt deutsche Worte im siebenten Jahrhundert hatten, so heben wir einige zur Probe heraus. An dem häufigen us für um in lateinischen Worten wird man bestätigt finden, was über des Verfassers Urkunde des Lateinischen gesagt wurde:

Surculus = zui (Zweig), folia = laup, folius = plat, curvus = crump, curvatus = gapogan, palatius = phalanze, templus = huus za petonna, tectus = gadacha, stabulus = stal, cupiculus = camera, lectus = petti, fenestra = augatora, saxus = stain, cimentus = calc, montes = perga, Collis = puhila, vallis = tal, plane = epani, fons = prunno, pontes = prucge, flumen = aha, naves = scef, rex = cuninc, dux = herizoho usw.

Aus so kleinem Anfang sollte die gesamte, unübersehliche, noch jährlich, ja stündlich in unendlich vielen Gliedern fortwachsende deutsche Schriftwelt hervorgehen! St. Gallen aber begnügte sich nicht mit dem Ruhm, das erste Reis in deutscher Zunge gepflanzt zu haben, es hegte und pflegte auch ferner den jungen Baum unserer Muttersprache, bis er, zum starken Stamm gediehen, Frucht und Schatten gab und dem eigenen Trieb und Wachstum fortan überlassen werden konnte.

»Zwar fuhr man«, sagt Wilhelm Wackernagel, »noch einige Zeit in derselben Weise fort, wie Gallus begonnen hatte: man verfertigte, um Anfängern das Studium der lateinischen Sprache zu erleichtern, deutsche Interlinear-Versionen und lateinisch-deutsche Glossare, dergleichen dem Mönch Gero zugeschrieben wurden; man verschmähte zuerst noch die deutsche Poesie und überließ sie, wo man sie nicht verfolgte, wenigstens mit stolzer Verachtung den ungebildeten Laien: aber bald stellte sich die Freude an einem verständigeren und würdigeren Gebrauch der deutschen Sprache ein, und es wurde schon im neunten Jahrhundert nicht mehr für unziemlich gehalten, auch in deutschen Versen zu dichten. Der Mönch Ratpert, der in den neunziger Jahren dieses Jahrhunderts starb, verfaßte ein Lied über das Leben und zu Ehren des heiligen Gallus; leider ist es nur in einer lateinischen Übersetzung auf uns gekommen. Aber vielleicht ist die Teilnahme der St. Galler an der deutschen Poesie noch um etwas älter; die älteste deutsche Messiade, Otfrieds unter Ludwig dem Deutschen gedichtete ›Evangelienharmonie‹, ist unter anderen auch zwei St. Galler Mönchen, Hartmuat und Warinbracht, zugeeignet; wir wissen von Otfried sonst nur, daß er Mönch in dem elsässischen Benediktinerkloster Weißenburg war; allein diese Zuneigung setzt eine nähere Bekanntschaft in St. Gallen voraus, und wie auch seine Sprache eher alemannisch als überrheinisch klingt, möchte die Vermutung kaum gewagt erscheinen, daß er erst später nach dem Elsaß gekommen, früher aber gleichfalls Mönch zu St. Gallen gewesen sei. Otfrieds Arbeit ist eine durchaus im Geiste seiner Zeit gelehrte, seine lateinische Bildung scheint sogar auf seinen Stil nachteilig eingewirkt zu haben, nur selten spricht er so, wie es damals volksmäßig sein mochte; dagegen ist Ratperts Lied, soviel wir aus der lateinischen Übersetzung schließen können, schon ganz in der Art des Volks gewesen: ein halbes Jahrhundert später sahen wir einen St. Galler Mönch, Eckehart I., der ohne Scheu sogar einen Gegenstand aus der nationalen Heldensage, die Abenteuer Walthers und Hildegundes, besingt; zwar in lateinischen Versen, aber die Wahl des Stoffes beweist, wie vorteilhaft sich im Laufe des Jahrhunderts die ästhetischen Ansichten der St. Galler Mönche geändert hatten. Früher würde man dergleichen fast für sündhaft gehalten haben. Für die Poesie geschah zu St. Gallen im weiteren Verlauf dieser Periode nichts mehr; desto eifriger, desto erfolgreicher wurde die Prosa geübt. Freilich nur in Übersetzungen; aber auch darin erwies sich jetzt eine so freie und selbstkräftige Kunst, und dem prosaischen Stil war im schönsten Einklang mit dem formellen Zustand der Sprache zugleich so viel Anmut und Gediegenheit eigen geworden, daß sich erst wieder aus dem dreizehnten Jahrhundert gleich und besser Gelungenes wird danebenstellen lassen. Notker III. mit dem Beinamen Labeo, der im Jahre 1022 starb, übersetzte und paraphrasierte nach Anleitung des augustinischen Kommentars den ganzen Psalter; in jeder Beziehung wertvoller sind jedoch die anderen, immer noch ungedruckten Übersetzungen und Erklärungen vom ›Organon‹ des Aristoteles, von Marcianus Capella und namentlich die vom philosophischen Tröstbuch des Boëtius: Arbeiten, die man alle zusammen gleichfalls jenem Notker beizulegen pflegt; aber es ist gewiß, daß sie von mehreren anderen Verfassern und wahrscheinlich, daß sie teilweise von Ruadpert, einem Zeitgenossen Notkers, herrühren, dessen Bemühung für angemessene Übersetzung schwieriger lateinischer Ausdrücke uns anderswoher bekannt ist. Dergleichen Tätigkeit in jenem Zeitalter läßt sich nicht genug mit Dank erkennen, es gibt für eine wenig geübte wie für eine entartete Sprache nichts Heilsameres als Übersetzungen, wenn sie nur mit Geist und Kenntnis gearbeitet werden.

Freilich erlosch das Licht, das die St. Galler Mönche der Welt angezündet hatten, als es schon überall leuchtete, ihnen selber wieder. Jener Wilhelm, Graf von Montfort, Abt von St. Gallen, der dem Kaiser Rudolf soviel zu schaffen machte, konnte mit seinem ganzen Kapitel nicht einmal schreiben, und wenn derselbe Abt »Tagelieder« gedichtet hat (damals dichteten viele, die nicht schreiben konnten), so beweist dies nur, daß neben dem Verfall der Gelehrsamkeit auch die Verderbnis der Zucht und Sitte einzureißen drohte, denn keine Art von Poesie geziemte wohl einem Abt weniger als diese, deren Wesentliches darin bestand, daß diejenigen, welche verbotene Liebe pflegten, beim Anbruch des Tages von dem Wächter auf der Zinne ermahnt wurden, sich vorzusehen, daß sie nicht entdeckt und an Ehre und Leben geschädigt würden, worauf denn eine rührende Schilderung des Abschieds zu folgen pflegte.

So wurde denn, wie einst die Weisheit Salomos, mit abnehmender Gottesfurcht auch der Ruhm St. Galler Gelehrsamkeit zuschanden. Mit Recht, obgleich es eine unverdient harte Strafe scheinen mag, daß wir jetzt, wenn von unwissenden, schmerbäuchigen Pfaffen die Rede ist, durch Bürgers bekanntes Gedicht unwillkürlich an den Abt von St. Gallen erinnert werden.

Folgender Vorfall gehört zwar noch in die bessere Periode der Abtei, gibt aber doch einen zweideutigen Begriff von der Bildung der Mönche, die sich schon an eine Kritik der heiligen Schriften wagten:

Die Vorräte im Keller zu St. Gallen waren bis auf zwei Fässer geschmolzen; denn die letzten heißen Jahre hatten mehr auf den Durst als auf die Reife des edlen Gewächses gewirkt. Bei festgesetztem starken Zuspruch mußte man fürchten, in Kürze ganz aufs Trockene zu geraten. Unter solchen Umständen konnte es nur höchst willkommen sein, als die Nachricht einlief, daß der heilige Adalrich, Bischof von Augsburg, dem Kloster ein ganzes Stückfaß verehrt habe, das schon unterwegs sei. Aber die freudige Überraschung verwandelte sich ebenso unerwartet in Schrecken, als man vernahm, daß das Faß, eben da es in den Hafen einlaufen sollte, noch gescheitert sei. Der Fuhrmann hatte nämlich an der hohen Brücke die Pferde kräftiger angetrieben, darüber begegnete ihm das Unglück, daß dem Karren Rad und Achse brachen, das schwere Faß herab-und über das Brückengeländer in den Strudel fiel. Man denke sich die Bestürzung, das Entsetzen! Aber noch war nicht alles verloren, der Wein hatte das Wasser nicht verfärbt, das Faß schien keinen Schaden gelitten zu haben, und so kam es nur darauf an, die rechten Mittel anzuwenden, beide glücklich aus der Tiefe zu heben. Der Abt versammelte sogleich den Konvent, man beratschlagte geheim und lange, endlich kam es zum Beschluß. Nun säumte man nicht länger, ans Werk zu gehen, und schritt im vollen Ornat mit Kreuz und Fahne aus der Abtei. Dreimal bewegte sich die Prozession mit lautem Kyrie eleison um den Strudel, und wenn sie über die Brücke schritten und der Abt unter dem Baldachin den Segen gab, knieten sich alle bekreuzigend nieder. Als dies vollbracht war, machten die Fuhrleute mit ausgeworfenen Seilen einen Versuch. Die Brüder standen, die Hände gefaltet, in frommer Erwartung; und siehe, so bewährte sich die Weisheit des Ratschlusses: das Faß wurde unversehrt herauf-und in den Klosterkeller geschafft. Nicht ein Tropfen des edlen Getränks war verschüttet. Auf diese Nachricht stimmten alle, des glücklichen Erfolges froh, mit dankbaren Herzen ein Tedeum an. Besser als wir nach blutigen Schlachten, sagt der Geschichtsschreiber.

Bergstraße und Odenwald

Inhaltsverzeichnis


Odenwald heißt das Gebirge zwischen Neckar, Rhein und Main, Bergstraße dessen westliche, dem Rhein zugekehrte Abdachung. Den Namen des Odenwalds von Odin, dem obersten der deutschen Götter, abzuleiten, müssen wir aufgeben, seit sich Jakob Grimm dagegen erklärt hat. Uns bleibt noch die Wahl zwischen drei Herleitungen: von dem Männernamen Odo, von ôdi (öde) und von ôd (Glückseligkeit). Öde ist heutzutage der Odenwald nicht mehr; warum sollte er es aber nicht gewesen sein, als er den Namen empfing? Das Glück wohnt, wenn irgendwo, in den Wäldern; doch weshalb vorzugsweise in diesem? Pries man ihn glücklich wegen der schönen Mischung von Laub-und Nadelholz, bei welcher jenes durchaus die Oberhand behält, oder der Milde seines Klimas wegen, die er der geringen Erhebung seiner Gebirge verdankt, die 2000 Fuß Meereshöhe selten übersteigen, während jene des föhrenreichen Schwarzwalds sich fast der Schneelinie nähern, indem das Eis mancher Schluchten nur in heißeren Sommern schmilzt? Wir ziehen die erste Ableitung vor, die mit der ältesten urkundlichen Form des Namens am besten stimmt; nur darf man dabei nicht an den viel jüngeren Kaiser Otto (Ottenwald) denken.

Wäre die Herleitung von Odin nicht grammatisch unstatthaft, die Eichen des Odenwalds flößten noch jetzt jene frommen Schauer ein, mit denen unsere Vorfahren die Götter in heiligen Wäldern und Bäumen verehrten. Heilige Eichen eignen zwar mehr dem Dienst Thors oder Donars, wie dieser Baum auch bei den Alten dem Donnergott geheiligt war; aber an den Odinsdienst erinnert im Odenwald noch manches Überbleibsel vom Glauben der Vorzeit. Wer hat nicht von des Rodensteiners Auszug aus dem Schnellerts gehört und gelesen? Zum letzten Mal haben die Zeitungen von diesem Vorzeichen des Krieges gemeldet, ehe Napoleon von der Insel Elba zurückkehrte. Denn der Rodensteiner ist einer der wenigen deutschen Patrioten; er kann es nicht ruhig mit ansehen, wie ein schönes Reichsland nach dem anderen veräußert und den verführerischen Einflüssen welscher Sprache und Sitte auf Jahrhunderte preisgegeben wird; wie einst im Leben, so findet er nun im Tod nicht Ruhe, wenn ein Krieg Deutschlands Grenzen gefährdet:

Aus Todesschlaf und Grabesnacht
Für Deutschland zieht er noch aus zur Schlacht.

Wenn er aber heimkehrt, so darf man gewiß sein, daß der Friede wirklich abgeschlossen wird. Neue Reisebücher versichern zwar unbedachterweise, seit das Deutsche Reich erloschen sei, rühre sich der Geist nicht mehr, wenigstens hätten die Bewohner des Meierhofs seit langen Jahren nichts Unheimliches vernommen; allein sie vergessen, daß seit dem Jahr 1815, wo der deutsche Reichsverband längst aufgelöst war, kein Krieg unser Vaterland bedroht hat. Die Bewohner des Meierhofs mögen aufmerken, ob sie nicht jetzt, wo es sich wieder darum handelt, ein deutsches Land aufzugeben, nächtliches Getöse vernehmen. Ich bin zwar weit entfernt, vorauszusetzen, daß die deutsche Langmut die Nachgiebigkeit so weit treiben werde, aber schon die Zumutung könnte des eifrigen Geistes Ruhe im Grab stören.

Wer ist nun der Rodensteiner, wer war er im Leben? Die Geschichte schweigt: ein Rittergeschlecht von Rodenstein hat einst auf der jetzt verfallenen Burg gehaust, Urkunden und Grabsteine des dreizehnten bis siebzehnten Jahrhunderts bezeugen es; da ist alles. Die Überlieferungen stimmen nicht überein: nach einer soll er ein unbändiger Raufbold, ja gar wie der Lindenschmied, den man oft mit ihm verwechselt, ein Schnapphahn gewesen sein, der sich aus Sattel und Stegreif nährte; nach der anderen, glaublicheren, hat er dem Reich gegen die Türken gedient und dem Kaiser gelobt, ihm auch im Tod getreu zu sein. Aber wüßten wir auch sichere Kunden von ihm, so erführen wir nur, warum gerade er im Odenwald dem Zug des wütenden Heeres als Wilder Jäger voranzieht wie in Sachsen und Westfalen Hakelbärend, in Schwaben der alte Berchtold, in der Lausitz Dietrich von Bern, in Dänemark König Waldemar, in England König Artus usw. Wir wissen, daß alle diese Helden nur Wiedergeburten der Sage, in Helden verjüngte Götter sind und daß ursprünglich Odin, zu deutsch Wuotan, unser oberster Gott es war, der das luftige Geisterheer befehligte, wie in Pommern und Holstein der Wilde Jäger noch jetzt Wode heißt. Denn er ist der Gott des Krieges, der oberste Lenker der Schlachten, und sein kriegerischer Charakter verleugnete sich nicht, als ihn die neuere Volkssage als Ritter von Rodenstein wiedergebar.

Es wäre wunderbar, wenn sich im Odenwald von den Eigentümlichkeiten der äußeren Erscheinung Odins nicht eine Erinnerung erhalten hätte. In der »Edda« und bei Saxo erscheint er als ein einäugiger bärtiger Greis, sein anderes Auge hat er in Mimis Brunnen zu Pfand gelassen; gewöhnlich trägt er einen breiten Hut, den er, um unerkannt zu bleiben, tief ins Gesicht gedrückt hat. Auch die graue Farbe ist, wenn ich nicht irre, Odin eigentümlich. Einiges hat mit dieser Schilderung ein gespenstisches Wesen gemein, das im Odenwald zu Hause ist. Im Gamelsbacher Tal, das sich gegen den Neckar öffnet, liegen die Trümmer des einst sehr festen Freiensteins. Darin geht ein Geist mit einem großen Schlapphut um. Außerdem trägt er einen grauen Rock und einen langen Bart. Als einäugig wird er nicht geschildert, und so bleibt die Deutung auf Odin gewagt.

Aber ein anderer Gamelsbacher Bericht möchte damit zu verbinden sein. Man findet ihn, gleich jenem, in »Grimms Sagen«; beide sind nach mündlicher Überlieferung aufgezeichnet. Konrad Schäfer aus Gamelsbach, heißt es dort, erzählte: »Ich habe vor einigen Jahren Frucht auf der Hirschhorner Höhe, nicht weit von Freienstein, dem alten Schloß, gehütet. Nachts um zwölf begegneten mir zwei feurige Kutschen mit gräßlichem Gerassel, jede mit vier feurigen Pferden bespannt. Der Zug kam gerade vom Freienstein. Er ist mir öfter begegnet und hat mich jedesmal gewaltig erschreckt, denn es saßen Leute darin, denen die Flammen aus Maul und Augen schlugen.«

Vielleicht sehen unsere Leser hierin nichts als einen Beweis für die Einbildungskraft der Odenwälder. Odin war in jedem Fall nicht die einzige germanische Gottheit, der sie einst geopfert haben. Der bedeutendste unter den Flüssen, die ihr Gebirge der Rheinebene zuschicken, ist die Weschnitz, einst Wisgoz genannt. Diese – oder ihr Flußgott – fand in der römischen Zeit als Visucius andächtige Verehrung. Denn die Römer, die zu herrschen verstanden und verdienten, waren viel zu klug, die ihnen untergebenen Völker an dem empfindlichsten Punkt zu verletzen:

– – – den Göttern
Aller Völker der Welt boten sie Wohnungen an:
Habe sie schwarz und streng, aus altem Basalt, der Ägypter,
Oder ein Grieche sie weiß, reizend, aus Marmor geformt.

Die christlichen Priester, die Rom später, als es seine zweite Weltherrschaft begründete, in die heidnischen Länder schickte, hatten von der Behutsamkeit der alten römischen Sieger vieles gelernt. Sie beeilten sich nicht, den Aberglauben des Volkes auf einmal mit Stumpf und Stiel auszurotten: um es nicht zu beleidigen, behielten sie davon bei soviel sie brauchen konnten. Als unter den Karolingern das Christentum den Sachsen mit Gewalt der Waffen aufgedrungen wurde, da freilich verstand man sich auf das Bekehrungsgeschäft viel schlechter, man war plump genug, die alten geliebten Volksgötter geradezu für geschwänzte Teufel zu erklären. Nicht so in der ersten Zeit, als das Christentum in den Rheinlanden Eingang fand. Da vermied man alle Gewaltsamkeit und suchte allmähliche Übergänge: da wurden die Götter in Heilige verkleidet, die heidnischen Tempel in Kirchen und Kapellen umgewandelt, ja die alten Priester für den christlichen Gottesdienst gewonnen. So war einst an der Quelle der Weschnitz der deutschen Frühlingsgöttin Ostara, von der noch heute wie zu Karls des Großen Zeit der April Ostermonat heißt, ein Tempel oder ein Hain gewidmet. Das Volk war gewohnt, hier beim Beginn des Lenzes Opfer darzubringen, und in dieser Gewohnheit wollte man es nicht stören. An die Stelle des heidnischen Ostara-Dienstes trat im April das allgemeine Osterfest, die Auferstehung des christlichen Gottes ersetzte die Feier des aufsteigenden Sonnenlichts. Aber auch den alten Tempel behielt man bei, und als das Volk anfing, zur Taufe zu gehen, da wurde auch seine altverehrte Göttin in die heilige Walpurgis umgetauft. Hatte sie bis dahin nur den Beginn einer besseren Jahreszeit angekündigt, so brachte sie nun den vollen, reichen Frühling mit. Heutzutage ist fast schon die neue Heilige, die alte Göttin längst vergessen; nur die Dörfer zu Füßen der Walpurgiskapelle, Ober-und Unterostern, haben uns ihren Namen erhalten.

Einen Teil seiner frühen Kultur verdankt der Odenwald einem in Geschichte und Sage hochberühmten Mann, Eginhard oder Einhard, dem Geheimschreiber und Biographen Karls des Großen. Hören wir erst die Geschichte. Eginhards Herkunft und Heimat meldet sie nicht, wohl aber, daß er am Hof Karls, im Schoße seiner Familie, als Gespiele seiner Kinder erzogen, zum Freund und Ratgeber des Kaisers in häuslichen und öffentlichen Angelegenheiten heranwuchs. Er teilte den Unterricht Alkuins mit ihm, fand aber mehr als dieser Muße zur Pflege der Wissenschaften. Vornehmlich ergab er sich der Mathematik und dem Studium der Alten, unter welchen Sueton den meisten Einfluß auf seine Schreibart hatte. Die Mathematik wandte er auf die Baukunst an, in der er viel Erfahrung besaß. Karl der Große, dem er sich zu vielerlei Geschäften brauchbar erwies, übertrug ihm besonders gern die Leitung großer Bauten. Sein Werk waren die Brücke zu Mainz, von der unten die Rede sein wird, die Paläste zu Ingelheim und Aachen und dessen Dom, dem wir noch heute Bewunderung zollen. Durch solche Dienste und die Vorzüge seines Geistes und Herzens hatte er sich dem Kaiser so unentbehrlich gemacht, daß er ihn ungern von seiner Seite ließ. Nur einmal, da er als Gesandter des Kaisers dessen Testament Papst Leo überbrachte, schickte er ihn in die Ferne. Auf seinen Rat soll Karl seinen Sohn Ludwig den Frommen zum Mitregenten angenommen haben. Nach Karls Tod blieb zwar Einhard am Hof Ludwigs in alten Ehren; bei dem täglich wachsenden Einfluß der Geistlichen und der Weiber konnte er sich aber nicht lange mehr an seiner Stelle fühlen. Er selbst beklagt es im Eingang zu seinem »Leben Karls des Großen«, das er mit dankbarer Seele schrieb – ein Werk, das wir nicht zu hoch schätzen können –, daß schon das Ansehen der Wissenschaften bei Hof abzunehmen beginne. Er wußte sich den Umgebungen, welchen sein großer Freund entnommen war, nicht mehr gewachsen und sehnte sich hinaus an einen Ort, wo er, wenn er sie suchte, ungestört Muße finden möchte. Auf seine Bitte schenkte Ludwig der Fromme ihm und seiner Gemahlin Imma, welche die Urkunde ausdrücklich nennt, zwei der Welt gleichsam entrückte königliche Villen im Odenwald, Michlinstat und Mühlenheim. Jedoch vergrub er sich nicht gänzlich in dieser Einsamkeit, sondern blieb auch ferner zu seinen und des Reiches Diensten dem Kaiser bereit, zu welchem er sich bei mehrfachen Anlässen nach Aachen begab. Michlinstat übertrug Einhard mit Immas Einwilligung dem Kloster Lorsch, von dem es an dessen Vasallen, die Schenke von Erbach, kam, die es noch jetzt besitzen. Einige Jahre später gelobten Einhard und Imma, fernerhin als Bruder und Schwester zusammen zu leben, nicht weil ihre Liebe sich vermindert hatte, sondern Gott zuliebe. Imma verweilte, solange sie lebte, im Haus ihres Gemahls, und ihren Tod beweinte er so zärtlich, daß er den Rest seiner Tage ganz der Trauer zu widmen beschloß. Noch zu ihren Lebzeiten hatte er die priesterlichen Weihen