Stephan Naumann
Die Messias-Verschwörung
Action, Thriller, Mystery 10
Stephan Naumann
DIE MESSIAS-VERSCHWÖRUNG
Action, Thriller, Mystery 10
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© dieser Ausgabe: August 2017
p.machinery Michael Haitel
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Lektorat: Michael Haitel
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ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 097 9
Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn. Jesus sagte zu ihm: Was du tun willst, das tu bald!
Johannes 13, 26–30
Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde.
5. Mose 18, 18
Stammesgebiet der Ketchenekwa, heutiges Messfort, Ohio,
13. August 1456
Vier Kinder des Stammes waren seit Tagen verschwunden. Ihre Spur verlor sich in den endlosen Wäldern nordwestlich des Lagers der Ketchenekwa. Auf Drängen der Squaws baten die Krieger ihren Häuptling, die Götter in der Hoffnung auf Gnade für die unschuldigen Kinderseelen anzurufen.
Chasnejkio war ein weiser Mann. Er wusste, dass die Götter der Natur, die sie seit Jahrhunderten anbeteten, Leid auf sein Volk erlegt haben mussten. Als er sich in seinem Wigwam in seinen Beschwörungen verlor, glaubte er Warnungen seiner Vorväter aus den ewigen Jagdgründen zu vernehmen. Warnungen, die ihn innerlich erstarren ließen, voll Bestialität, Gewalt und Grausamkeit. Seinem Stamm sollte großes Unheil widerfahren. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er sie nicht alle retten können würde. Denn der Schrecken stand unmittelbar bevor.
Noch unter Einfluss seiner Visionen stürzte Chasnejkio aus seinem Zelt und wurde Zeuge des Kampfes, der über das Schicksal seines Volkes entscheiden sollte. Wahn und Wirklichkeit verschmolzen vor seinen Augen in einem unfassbaren Schlachtgetümmel. Er sah die Krieger um Kasjaja, den mutigsten und kräftigsten unten ihnen, gegen einen übermächtigen Gegner ins Feld ziehen. Mensch und Tier wurden mit unbändiger Kraft niedergeschlagen, reihenweise begruben Pferde ihre Reiter unter sich.
Der alte Häuptling stand regungslos da und sah, was sonst keiner zu erkennen imstande war: Ein pechschwarzes Wesen schwang sich mit seinen Fängen am sternenklaren Nachthimmel atemberaubend schnell zwischen den Überlebenden hin und her, zerriss, zerquetschte und zermalmte Köpfe, Glieder und Torsos. Das gesamte Lager stand lichterloh in Flammen, die Überreste der Wigwams fielen in sich zusammen und ließen verzweifelte Schreie und Gebete von Schutz suchenden Frauen und Kindern gnadenlos unter sich verstummen.
In Todesangst hielten zwei Geschwister einander auf dem Boden kniend in fester Umklammerung, eine Mutter drückte ihr neugeborenes Kind fest an ihre Brust. Ein junger Krieger, Kasjaja, half seinem wehklagenden Weib aufs Pferd.
Chasnejkio beobachtete den bösen Geist, der sie heimsuchte, immer wieder auf sie zustürmen. Im letzten Moment jedoch prallte er wiederholt wie von Geisterhand ab, richtete sich wieder auf und holte mit ganzer Macht zum nächsten Schlag aus.
Der Häuptling sah die Zeit gekommen. Er würde so handeln, wie es ihm seine Vorväter gewiesen hatten.
»Kasjaja«, rief er seinen Krieger, der sofort zum Häuptling schaute.
Chasnejkio warf voll Ehrfurcht einen letzten Blick auf das Gefäß, das er aus seinem Wigwam mit sich geführt hatte und mit seinen sehnigen Händen umklammerte. Wie einen Tomahawk schleuderte er es zu Kasjaja. Dabei formten seine Lippen Worte einer ihm unbekannten Sprache, die ihm jedoch auf wundersame Weise geläufig war. Die fremden Worte verstand Kasjaja augenblicklich, wie der Häuptling wusste. Sein Krieger wusste, was zu tun war.
Tollkühn warf sich Kasjaja im Licht des Vollmonds dem Gegenstand entgegen. Kurz vor dem Aufprall auf dem Boden fing er ihn auf und hievte sich wieder zu seiner Squaw aufs Pferd.
Dann sah Chasnejkio Kasjaja das Gefäß in die Luft recken und das heranstürmende Monster daran zurückschnellen und schwer getroffen dahintaumeln. Die Nacht sollte für die Überlebenden noch lange nicht vorüber sein. Erst im Morgengrauen des siebten Tages war ihr Werk vollbracht.
Chasnejkio stand inmitten dichter Rauchschwaden, die wirbelnd Kreise um den Totempfahl der Ketchenekwa zogen. Feuer flackerte, rund um die Flammen begingen die Überlebenden einen Tanz für die Toten. Im Schimmer der brandheißen Glut schien es, als wurden sie ein allerletztes Mal lebendig.
Zu Ehren der durch den bösen Geist getöteten Stammesmitglieder brannten um den Pfahl vier Lagerfeuer. Sie standen für die Herkunft des Stammes aus allen Winden des Himmels und entsprachen zugleich dem Schicksal der dreizehn Überlebenden. Es war wieder an die Himmelsrichtungen geknüpft, aus denen die Urväter des Stammes stammten.
Die verbliebenen Indianer, unter ihnen eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, zwei Geschwister sowie Kasjaja und sein Weib, begruben die Toten vor Stunden kreisförmig um den Pfahl. Ihre Seelen sollten ewig zwischen den ewigen Jagdgründen und ihrem erdigen Grab wechseln, um über der Erde zu wachen, die in sich das Böse barg.
Die überlebenden Mitglieder des Stammes der Ketchenekwa trugen in sieben Tagen und Nächten Erdschicht um Erdschicht ab und erschufen zwei durch einen Tunnel getrennte, unterirdische Kammern in der Tiefe. Die erste versahen sie mit einer Treppe zur Oberfläche und hinterließen dort eine tönerne Tafel.
Häuptling Chasnejkio näherte sich dem Feuerkreis vor dem Totempfahl. In seinem Geist verbanden sich Vergangenheit und Zukunft. Er reckte mehrmals den Tomahawk, den er in seiner Hand hatte, in die Höhe. Die anderen Indianer hielten einander mit gesenkten Häuptern fest. Als der Häuptling der Ketchenekwa zu Boden sank, sahen die Anderen zu ihm. Sein Blick war dunkel und leer. In seinen Händen befand sich nun der Gegenstand, mit dem Kasjaja den bösen Geist kampfunfähig gemacht hat. Ein goldenes Abbild der lodernden Flammen rings um den Häuptling schimmerte auf seiner Oberfläche.
Mit der ersten Berührung des Gefäßes spürte Chasnejkio neue Kraft in sich. Er erhob sich und wandte sich seinem niederknienden Volk zu.
Wenig später, das Licht des Tages strahlte ihm inzwischen ins Gesicht, war Chasnejkio allein am versiegenden Feuer.
Sein Atem versagte, sein Herz hörte auf zu schlagen. Der Häuptling fiel leblos auf die Erde, die er stets geehrt hatte.
Seattle, Washington, 29. März 2015
Allie Sullivan wälzte sich im Bett ihres Appartements schweißgebadet hin und her. Sie sah einen Mann in der Finsternis am Galgen hängen, leblos baumelte er am Strick. Plötzlich wand sich ein pechschwarzer Schatten aus seinem Leib. Allies Körper erzitterte, als das Wesen ihr direkt in die Augen blickte. Seine teuflische Fratze wurde erkennbar. Atemlos versuchte sie zu flüchten, doch er gewann immer mehr an Nähe. Fieberhaft wand sich Allie von einer Seite zur anderen.
»Allie!«, rief das Wesen ihren Namen und schnaubte heißen Dampf aus den Nüstern.
Der Aufschrei ließ sie vor Grauen erschaudern. Sie schreckte hoch. Angsterfüllt schaute sie sich nach ihrem Verfolger um, während ihre Sinne sich wieder aufeinander einspielten. Der unheimliche Schatten, erinnerte sie sich. Es war der gleiche Albtraum, den sie bereits etliche Male zuvor geträumt hatte. Der sie immer wieder mit einem mulmigen Gefühl zu Bett gehen ließ.
Das Läuten des Telefons ließ sie abermals zusammenzucken. Mit müden Augen sah sie auf ihren Wecker. Es war Viertel vor sechs Uhr morgens. Das Klingeln nahm kein Ende. Sie hob den Hörer ab.
»Ja«, brummte sie in die Leitung.
Die Ausstellungseröffnung am Institute of Colonial Arts fiel ihr ein. Am Vortag war sie bis kurz vor Mitternacht auf dieser öden Veranstaltung festgehalten worden. Und auf dem Rückweg in einen Stau geraten, der sich über zwölf Meilen hinzog. Viel Smalltalk, wenig neue Erkenntnisse, resümierte sie. Gegen halb drei kam sie in ihrer Wohnung an und vergeudete, todmüde, wie sie war, keine Zeit mehr damit, sich für die Nacht umzuziehen.
Allie verpasste den Anfang des Telefonats völlig. Erst als sie in der Stimme des Anrufers die ihres Vorgesetzten erkannte, lauschte sie aufmerksam. »Miss Sullivan, es ist sehr kurzfristig, aber sehr wichtig. Ich bitte Sie inständig, heute ins Büro zu kommen, auch wenn es Ihr freier Tag ist.«
Allie fragte sich, was so dringend sein mochte, dass Doktor Graham Altidore sie zu so früher Stunde aus dem Bett klingelte. Er war ein Mann mit Anstand und Taktgefühl, wenn auch gelegentlich übermäßigem Ehrgeiz. Jedenfalls hielt er große Stücke auf sie, nicht selten bezeichnete er sie als seine rechte Hand. Er protegierte sie zudem, wann immer sich die Möglichkeit bot. Das war Allie allerdings nicht wirklich recht. In ihrer Erziehung hatte sie von Kind auf gelernt, Ziele und Karriere aus eigener Kraft zu meistern. So war sie auch allein wegen ihres hervorragenden Harvard-Abschlusses und ihrer zahllosen lausig bezahlten Praktika in Europa und Südamerika zu der Anstellung am Institute of Native American History gekommen.
Der in Altidores Stimme mitschwingende Enthusiasmus ließ ihr keine Gelegenheit, weiter nachzudenken. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie fast hellwach.
»Entschuldigen Sie meine Neugier, Sir, aber hat Melinda El Dorado gefunden?«, fragte Allie spaßhaft, um elegant Doktor Altidores mögliche Bedenken zu zerstreuen, sie könnte insgeheim erbost sein ob des nächtlichen Anrufs.
Bereits im nächsten Atemzug war ihr die kleine Floskel peinlich. Doktor Altidore verstand in Bezug auf Geschichte keinen Spaß. »Nein. Entschuldigen Sie nochmals die Störung, dennoch muss ich Sie bitten, sich bis morgen zu gedulden. Ich möchte am Telefon nur ungern über derart heikle Themen reden. Wir sehen uns um neun Uhr dreißig in Ihrem Büro.«
Doktor Altidore ließ für seine Verhältnisse viel Raum für Spekulationen, dachte sich Allie, ehe beide sich verabschiedeten. Für gewöhnlich war ihr Vorgesetzter ein Freund klarer Worte.
Im Anschluss an das Gespräch geisterten Allie noch einige Zeit Gedanken über Sensationsschlagzeilen in den einschlägig bekannten amerikanischen Massenblättern durch den Kopf. El Dorado, was für ein Unsinn! Auf welche Flausen man kommt, wenn man nicht schlafen kann, dachte sie sich. Für Momente sinnierte sie auch über ihren hartnäckigen Albtraum und versuchte zu deuten, was unterbewusst ihre Ängste schürte. Aber sie scheiterte, wie immer, in der Suche nach einem plausiblen Erklärungsansatz auf ganzer Linie. Allie sollte in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden.
Institute of Native American History, Seattle, Washington
Allie Sullivan eilte durchs Institute of Native American History in ihr Büro. Sie war spät dran. Vielleicht, vermutete sie, hatte der Termin mit Altidore ja doch mit den Grabungen zu tun, die ihre Kollegin Melinda Parabo leitete.
Gerne erinnerte Allie sich an die Projekte, die die beiden Frauen in Angriff genommen hatten. Mit der Zeit hatte sich großes Vertrauen zwischen ihnen entwickelt. Mit Fug und Recht konnte Allie heute sagen, dass ihr der Wirbelwind mit der wilden Lockenmähne sehr ans Herz gewachsen war. Ihre Kollegin mit puerto-ricanischer Abstammung kämpfte mit Allergien gegen alle erdenklichen Hausstaubarten und hatte dadurch eine nicht allzu gute Konstitution. Daraus folgte, dass sie eigentlich nie im Büro anzutreffen war. Sie übernahm Sichtungen neu entdeckter Artefakte im Gebiet der gesamten Vereinigten Staaten und darüber hinaus. Ihre Leiden waren, wie sie immer meinte, auch von Vorteil, denn sie hasste die trockene Büroarbeit.
Sie war ein wandelndes Lexikon, amüsierte sich Allie, als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete. Für das Institut war Melinda ein Glücksfall. Fachlich konnte ihr niemand etwas vormachen. Als Koryphäe auf ihrem Gebiet war sie maßgeblich für das Renommee des Instituts mitverantwortlich. In den letzten beiden Dekaden entwickelte es sich zu einer bedeutenden Institution für die Geschichte der Ureinwohner des amerikanischen Kontinents und unterhielt und pflegte Kontakte zu allen größeren Museen und Universitäten in der neuen, wie auch der alten Welt.
Allie betrat das Zimmer und schaltete die Kaffeemaschine ein. Der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar, im Spiegel links neben der Tür erkannte Allie große Ringe unter ihren Augen. Das Klicken der Kaffeemaschine vernahm sie daher mit Wohlwollen. Mit dem frischen Kaffee würde sie ihre Lebensgeister anregen können. Angesichts der fünf Löffel kolumbianischen Bohnenkaffees edelster Röstung würde das Koffein den gewünschten Effekt wohl nicht verfehlen, hoffte sie.
Im Begriff sich einzuschenken, hörte sie Schritte auf dem Flur. Doktor Altidore nahte, wie sie sofort erkannte. Nach einem arthroskopischen Eingriff vor einigen Monaten zog er stets sein linkes Bein nach.
Quietschend öffnete sich die Tür. Der spindeldürre vierundsechzigjährige gebürtige Waliser trat ein. Allie amüsierte sich kurz über seine Erscheinung. Seine Lesebrille trug er stets auf der breiten Nasenspitze. Gewollt oder nicht, ihm gelang es so spielerisch, mit seiner Sehhilfe intellektuell und weltmännisch, zugleich aber auch egozentrisch zu wirken. Die Menschen um ihn herum stellte er mit diesem Auftritt jedenfalls in den Schatten, was er, zumindest gelegentlich, auch auskostete.
»Guten Morgen, Allie. Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie hier sind. Auch wenn ich es etwas spannend gemacht habe. Wofür ich nochmals um Ihr Verständnis bitten möchte. Ich werde Sie umgehend über alles unterrichten.«
Ohne nur einen Schluck getrunken zu haben, stellte Allie die Tasse mit frisch gebrühtem Kaffee auf ihrem Schreibtisch ab.
»Hallo, Doktor Altidore, wie Sie sicher beabsichtigten, haben Sie mich neugierig gemacht«, antwortete Allie, die es sich strengstens verbot, den frühen Anruf auch nur zu erwähnen.
»Liebe Allie, Melinda ist in Ohio auf etwas Seltsames gestoßen. Etwas, das für uns einem ungeahnten Sensationsfund auf amerikanischem Boden gleichkommen könnte.«
Allie konnte ihre Ungeduld kaum verbergen, ihre Augen wurden immer größer. »Worum handelt es sich?«
»Wir haben eine Kammer mit indianischen Malereien gefunden, die für uns in keine wissenschaftliche Theorie zu passen scheint«, erklärte Doktor Altidore, dem sein Unbehagen über diese Tatsache deutlich anzusehen war. »Um es kurz zu machen, ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich dort hinfahren und sich die Sache ansehen.«
Allie grübelte. Neue Funde auf nordamerikanischem Festland waren in den letzten Jahren fast eine Seltenheit und nahmen weiter rapide in ihrer Häufigkeit ab. Grund hierfür waren vor allem wenige Funde präkolumbianischen Datums. Und jetzt ein Sensationsfund in Ohio? Allie war verunsichert. Außerdem war ihre eigentliche Domäne Lateinamerika.
»Ich, Sir? Wie Sie wissen, bin ich eher auf die mittel- und südamerikanischen Stämme spezialisiert. Und dabei auch vielmehr auf die Grundlagenarbeit.«
Doktor Altidore blieb ihre Überraschung nicht verborgen, sodass ein kleines Lächeln über sein Gesicht huschte. »Das weiß ich durchaus, liebe Miss Sullivan. Dennoch sehe ich genau darin die Begründung für meine Bitte. Wir haben es mit einem Fund zu tun, der keine Handschrift eines uns bekannten Stammes erkennen lässt. Nicht im Geringsten. Wir tappen sozusagen völlig im Dunkeln. Der geschichtliche Zusammenhang stellt uns momentan vor ein Rätsel.« Sein Zeigefinger wies auf sie. »Genau hier kommen Sie ins Spiel.«
Allie wirkte überrumpelt. »Aber ich …«
Altidore schüttelte grinsend den Kopf. Sein Gesichtsausdruck ließ für sie keinen Zweifel: Alles war gesagt. Sie würde also nach Ohio fliegen. »Melinda hält vor Ort die Stellung, sie wird Ihnen assistieren.«
In etwa dreizehn Kilometern Höhe flog eine Boeing 407 Richtung Cleveland International Airport in Ohio durch die stark bewölkte Stratosphäre. Von ihrem Fensterplatz in der Businessclass aus schweifte Allie Sullivans Blick vom bedeckten Himmel auf die grün schimmernden Landstriche unter ihr. Sie hasste es zu fliegen, doch im Rahmen ihrer Tätigkeit am Institut musste sie es in Kauf nehmen. Analyse, Dokumentation und Katalogisierung der Funde begannen nun einmal vor Ort.
Als Gegenleistung für dieses Unbehagen ergaben sich bei den Ausgrabungen meist unvergessliche Einblicke in die Lebensarten alter Kulturen. Ein Geschenk, das Normalsterblichen verwehrt blieb. Das war der Reichtum in ihrem Leben, auf den sie nicht verzichten konnte und auch nicht wollte. In der Geschichte und im Glauben finden wir Hoffnung, Rat und den Antrieb, alles besser machen zu wollen, hatte ihr Vater immer gepredigt. Er hatte recht, dachte sie sich. Nicht umsonst hatte sie den Beruf des Archäologen ergriffen.
Im Anschluss an das Gespräch mit Altidore war sie nach Hause gefahren, allerdings nicht ohne sich in der Institutsbücherei noch mit Fachliteratur eingedeckt zu haben. Seine Bitte, schon den nächsten Flieger nach Cleveland zu nehmen, bedeutete für sie rasches Kofferpacken und den direkten Weg zum Flughafen.
Sie würde sich in viele Hintergründe neu einlesen, Querverweisen nachgehen und möglicherweise weitere gut ausgestattete Bibliotheken aufsuchen müssen. In den nächsten Wochen, vielleicht sogar Monaten bliebe wenig Freizeit.
Unterwegs rief sie ihren Vater an. Er hätte sich unnötig Sorgen gemacht, wenn sie ihm alles bis ins Detail berichtet hätte, erinnerte sie sich. So, wie er sich immer in die wildesten Gedankenspielereien stürzte, wenn er von ihren Projekten hörte. Bei der Ausgrabung in Ohio plagte Allie selbst ein ungutes Gefühl. Ihr unerklärlich, warum. Aber es handelte es sich ja nur um eine Entdeckung in Ohio, und nicht Peru, Bolivien oder Mexiko, beschwichtigte sie sich.
»Sullivan«, meldete sich ihr Vater.
»Hi, Dad.«
»Hallo, Kleines.«
»Dad, es geht um Folgendes …«
»Lass mich raten, du bist wieder einmal auf dem Sprung zum Flieger nach Teotihuacán.«
Allies kurzfristige Abreise würde ihrem Dad nicht gefallen, dachte sie sich schon beim Wählen seiner Nummer. »Dad, bitte lass dir erklären …«
»Ja, ja, und da wolltest du deinem alten Daddy noch Bescheid geben, dass er sich die nächsten Monate aus Sorge um seine einzige Tochter nicht ständig bei euch im Büro zu melden braucht. Es ist wahrhaft ein Kelch, den ich mit Kindern wie euch zu tragen habe. Dein lieber Bruder Greg ist schon seit Monaten in Ägypten und gräbt nach den Gebeinen von irgendwelchen Pharaonen. Diese Ausdauer hätte er früher bei seinen Gottesdienstbesuchen an den Tag legen sollen. Glaubst du, er hätte sich in der Zwischenzeit mehr als zwei-, dreimal dazu durchgerungen, mich anzurufen? Ich sterbe vor Sorge um ihn. Man hört doch immer von Malaria und ganz heimtückischen Fiebern da unten.«
Allie lachte über die Worte ihres Vaters. Alte Mythen und Geheimnisse waren immer schon sein Steckenpferd gewesen. Unglücklicherweise schürten sie stets sein Misstrauen bei ihren Forschungsaufträgen. Sie kannte den Humor des alten Reverends bestens. Nicht nur aufgrund seiner Unverwüstlichkeit war es ihm gelungen, ihren zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder und sie nach dem frühen Tod der Mutter alleine groß zu ziehen. Was zugegeben keineswegs ein leichtes Unterfangen gewesen war. Lange war Allie damals verstört gewesen. Erst als sie verstanden hatte, dass es leichter war, die Trauer zu teilen, war sie allmählich über den Verlust hinweggekommen. Ihr Vater hatte seinen Kindern damals eindrucksvoll bewiesen, wie wichtig sie ihm waren. Rund um die Uhr war er für Allie und Greg da, hatte sich lange beurlauben lassen. Zu dieser Zeit begriff Allie, dass der Platz, den ein geliebter Mensch im Herzen innehat, für die Ewigkeit ist. Dass dann beide Kinder ausgerechnet Archäologie studierten und ständig in der Weltgeschichte umherreisten, war ihrem Vater von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen. Da er zugleich Mutter- und Vaterrolle übernahm, war seine Fürsorge auch doppelt so stark ausgeprägt. Was sich bis heute nicht wesentlich änderte. Ihr Dad musste alles über die Ausgrabungen seiner Kinder wissen. Bei Familientreffen zu Weihnachten und Thanksgiving ließ er sich über neueste Forschungsergebnisse auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bringen. Und im Keller seines Hauses stapelten sich Fachzeitschriften.
»Diesmal ist es nicht Teotihuacán, Dad. Ich fliege nach Ohio und weiß noch nicht, wie lange ich dort gebraucht werde. Aber ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich jede Woche anrufen werde. Großes Tochterehrenwort. Und soweit ich weiß, verfügen die dort auch über ein flächendeckendes Handynetz. Wenn du also Sehnsucht hast …«
»Okay, Kleines, ich wünsche dir viel Glück dort und jetzt mach, dass du deinen Flug nicht verpasst, ich kenne dich doch. Das nächste Mal hast du hoffentlich mehr Zeit für deinen alten Vater. Pass auf dich auf.«
Ja, er kennt mich wirklich, wurde Allie bewusst. Für sie war ihr Vater immer noch der wichtigste Mann in ihrem Leben. Sie war tatsächlich spät dran.
»Bye, Daddy. Ich liebe dich«, verabschiedete sie sich.
Eine Durchsage riss Allie aus ihren Gedanken. Sie blickte nach vorne zu den den Passagieren die Plätze weisenden Flugbegleiterinnen.
»Verehrte Fluggäste, wir befinden uns im Landeanflug, bitte begeben Sie sich zu Ihren Plätzen und legen Sie die Haltegurte an«, verkündete eine Stewardess über den Bordlautsprecher.