GUDRUN THEURER

GETRÖSTET

Ein geistlicher Begleiter
für den Umgang mit
schwerer Krankheit
bis zum Tod

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7528-9 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Weiter wurden verwendet:

Lektorat: Mirja Wagner, www.lektorat-punktlandung.de

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

Erstes Kapitel: Der Aufbruch

Ab heute ist alles anders

Der Aufbruch Jesu

Der »Dazwischen-Ort«

Kraftquellen erschließen

Zweites Kapitel: Auszeit – um sich selbst zu finden

Geworfen auf sich selbst

»Da muss ich allein durch«

Geistliche Stille einüben

Drittes Kapitel: Aushalten – und gehalten sein

Die Wirklichkeit aus Leid und Schmerz

Das Leiden Jesu

Schmerz

Umgang mit Leid

Viertes Kapitel: Augenblicke im Vergehen und Werden

In den Tiefen, die kein Trost erreicht, nicht allein

Die letzten Momente im Leben Jesu

Die Grenze überwinden

Die letzten Augenblicke miteinander erleben

Fünftes Kapitel: Behutsam die ersten Schritte des Trauerweges gehen

Die Zeit des Abschiednehmens ist Lebenszeit

Die Trauerwege derer, die Jesus liebten

Durch die Trauer hindurch ins Leben

Die ersten Momente nach dem Abschiednehmen

Zum Schluss

Platz für persönliche Notizen

Anmerkungen

Über die Autorin

GUDRUN THEURER ( Jg. 1963) wohnt im Raum Augsburg. Sie ist Diplom-Theologin mit Masterstudium Spiritualität und Trauerbegleiterin. Seit Jahren ist sie in der Palliativ- und Altenheimseelsorge sowie als Referentin in der Ausbildung von Hospizbegleitenden tätig. Sie ist verheiratet und hat erwachsene Kinder.

Vorwort

»Das wird schon wieder.« »Kopf hoch!« »Du musst jetzt sehr tapfer sein!« So und ganz ähnlich klingen viele Standardsätze, die kranke Menschen zu hören bekommen.

Susan, eine junge Palliativpatientin, hatte sich auf diese Sätze eine Antwort zurechtgelegt: »Ich gehe meinen eigenen Weg!« Sie suchte keine Vertröstung, sondern einen Trost, der ihr half, mit dem Leid zu leben. Sie hatte ihren Weg entdeckt – jahrhundertealt und doch modern.

Ihr geistlicher Weg war modern – weil sich darin zeigte, was heute von Fachleuten der Palliative Care als entscheidend für ein Lebenkönnen mit Krankheit und Leid angesehen wird: das ehrliche Zulassen der Erschütterung des Lebens und die Suche nach dem, was Halt und Kraft gibt.

Ihr Weg war jahrhundertealt – weil seine Grundlagen bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurückreichen. Wenn man die Texte der Passion Jesu aus dem Blick des heutigen Menschen liest, dann begreift man schnell: Sie sind lebendig – aktuell – wegweisend – verstörend ehrlich – mit der Kraft einer unzerstörbaren Hoffnung.

In der Geschichte christlicher Spiritualität haben diese Texte schon sehr früh ihren Platz in der Begleitung von Krankheit und Sterben gefunden. Sie erschließen eine Möglichkeit zur ehrlichen Auseinandersetzung und Annahme der eigenen Lebenssituation und zeigen einen Weg auf, den Schmerz zu benennen und in der Dunkelheit des Leidens die Fülle des Lebens zu spüren.

Menschen, die einen religiösen Zugang zur Passionsgeschichte haben, können diese Texte vertiefend und bestärkend für ihre persönliche Frömmigkeit lesen. Menschen, die nicht in christlichen Traditionen verankert oder mit diesen vertraut sind, können entdecken, dass die Meditation der Passionsgeschichte Jesu Elemente einer primordialen (dem Menschen eigenen, ursprünglichen) Spiritualität enthält, die eine wirkliche Lebenshilfe anbieten.

In diesem Buch möchte ich die Texte der Passionsgeschichte zusammen lesen mit den modernen Erkenntnissen der Palliativ Care. Sie gehen Hand in Hand. In Jesu Weg und Leiden, aber auch im Trauern seiner Jünger und nächsten Angehörigen können wir erleben, begreifen, was Leid, was Trauer heißt. Was sein darf. Was sein muss. Jesus ist diesen Weg schon vor uns gegangen und ich möchte Mut machen, in Krankheit und Leid auf ihn zu schauen und zu sehen: »Ich bin mit meinem Erleben nicht allein.« Was wir hier in den Texten der Passionsgeschichte lesen, ist keine Heldenerzählung. Es ist die Geschichte von echtem und tiefem Leid, von Angst und Not und einem Hindurchgehen.

Dabei habe ich dieses Buch sowohl für Kranke und Leidende geschrieben als auch für ihre Angehörigen und Freunde. Dieser Weg ist ein gemeinsamer, ein ehrlicher Weg. Denn nur wenn ein Verstehen auf beiden Seiten ist, kann dieser Weg auch gemeinsam in einem Dialog gegangen werden. Und dieser Dialog ist heilsam – für beide Seiten.

Ich möchte Sie einladen: Lassen Sie uns gemeinsam auf das schauen, was im Leid sein kann, was sein darf – und dabei auf den blicken, der all das schon vor uns erlebt hat.

ZUM AUFBAU DES BUCHES

Jedes Kapitel ist jeweils in vier Abschnitte unterteilt. Jeder dieser Abschnitte beleuchtet dabei das entsprechende Thema des Kapitels mit einem unterschiedlichen Schwerpunkt.

Nachgefühlt: Hier geht es um das persönliche Erleben zu Beginn einer schweren Krankheit: »Was passiert mit mir? Wie kann ich meine Gedanken und Gefühle ordnen?« Dieser Abschnitt soll einen Zugang zum Thema des Kapitels schaffen.

Die Passionsgeschichte: Einzelne Texte der Passionsgeschichte werden betrachtet und auf die aktuelle Lebenssituation hin aktualisiert. Jesus selbst ging durch unsagbares Leid und wir können und dürfen viel von ihm lernen.

Was in der Seele geschieht: Was uns in den Texten der Passionsgeschichte berichtet ist, wird auch von der modernen Wissenschaft bestätigt. In diesem Abschnitt wird es deswegen um ein Verstehen der Leiderfahrung in Krankheit und Sterben auf dem Hintergrund des Wissens von Psychologie und Palliative Care gehen.

Impulse zur Bewältigung und Begleitung: In diesem Kapitelabschnitt wird es um konkrete praktische Anregungen und Impulse zur geistlichen Begleitung gehen. Zudem sind hier Lieder, Gebete und Texte zu finden, die in der jeweiligen Situation unterstützen, stärken und ermutigen können.

Übersicht der Kapitel

• Erstes Kapitel: Der Aufbruch
Das Durchleben einer Krankheit ist mit einer anspruchsvollen Wanderung vergleichbar. Wer bewusst aufbricht und sich vorbereitet, hat es leichter, den vorausliegenden Weg gut zu bewältigen.

• Zweites Kapitel: Auszeit – um sich selbst zu finden
Kranke Menschen und ihre Angehörigen sind oft bis an ihre Grenzen gefordert. Momente der Ruhe und Stille können Kraft und Trost geben, um sich in den täglichen Anforderungen nicht zu verlieren.

• Drittes Kapitel: Aushalten – und gehalten sein
Leiderfahrung besteht nicht nur in körperlichen Schmerzen. Es sind auch die seelischen Wunden, die Enttäuschungen und noch offenen Lebensfragen, die in schweren Zeiten aufbrechen und Trost und Heilung brauchen. Gerade in diesen Zeiten brauchen erkrankte Menschen und ihre Angehörigen Zuspruch und Kraft.

• Viertes Kapitel: Augenblicke im Vergehen und Werden
Die letzten Stunden des Lebens sind sehr kostbar. Um sie miteinander erleben zu können, ist es hilfreich, die Nöte dieser letzten Zeit zu verstehen, dem Schweren nicht auszuweichen und den Abschied in tröstlicher Hoffnung zu gestalten.

• Fünftes Kapitel: Behutsam die ersten Schritte des Trauerweges gehen
In der ersten Zeit nach dem Abschied scheint die Zeit stillzustehen. Trauernde Menschen brauchen nun eine behutsame Unterstützung darin, ihre eigene Form des Trauerns zu finden und die ersten Schritte auf diesem Weg zu gehen.

Erstes Kapitel:

DER AUFBRUCH

 AB HEUTE IST ALLES ANDERS

»Ich kam aus der Arztpraxis und blieb stehen. Die Tür fiel ins Schloss und mir war plötzlich klar: Ab heute ist alles anders!«

Die Erinnerungen an die ersten Momente nach der Mitteilung einer lebensbedrohlichen Diagnose sind verschieden, sie enden aber meist mit dem Gefühl: »Jetzt hat sich mein Leben radikal verändert!« Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob eine unabwendbare Todesgefahr besteht oder die Möglichkeit heilender Therapien erwogen wird. Jede ernsthafte Erkrankung erschüttert das Lebens- und Sicherheitsgefühl eines Menschen, denn plötzlich ist die Endlichkeit nicht mehr eine theoretische Möglichkeit – Endlichkeit wird spürbar, wird fühlbar, sie hat einen konkreten Bezug zum eigenen Leben, und der Gedanke an sie muss bewältigt werden.

Die meisten Menschen fühlen nun das, was landläufig als Krise bezeichnet wird. Der Palliativpsychologe William Breitbart formuliert dazu treffend: »Es gibt keine größere existenzielle Krise, als dem eigenen Tod ins Angesicht sehen zu müssen.«1 Nun geht es darum, mit dieser Situation leben zu können. Es geht darum, »Trittsteine«2 zu finden, die den neuen, noch unbekannten Weg begehbar machen. Es wird ein Suchen, ein Erspüren und auch ein Wagnis sein, herauszufinden, was wirklich trägt.

Vielleicht ist es am Anfang mühsam, diesen eigenen Weg zu finden – aber es ist ein Aufbrechen, das sich lohnt!

Der Leidensweg Jesu begann mit einem solchen Aufbruch. Die Berichte der Evangelien geben – neben allem Historischen und Theologischen – auch einen Einblick in die menschliche Art, wie Jesus seinen Weg begann. Er erlebte, was am Anfang einer jeden Krisenbewältigung steht: das Ertasten der eigenen Schritte auf diesem unbekannten und schweren Weg.

In der geistlichen Begleitung von kranken und sterbenden Menschen hat es eine lange Tradition, den Spuren Jesu zu folgen und dabei an seiner Seite zu entdecken, was Kraft und Trost für den eigenen Weg geben kann.

In diesem Sinn ist die Meditation der Geschichte Jesu eine wahre Fundgrube geistlicher und praktischer Anregungen, um Trittsteine für den eigenen Aufbruch zu finden.

 DER AUFBRUCH JESU

Der Evangelist Johannes beschreibt, wie Jesus zu seinem Leidensweg aufbrach. Dabei zeigen sich wesentliche Aspekte, die nach heutigem Wissen von Bedeutung zu Beginn der Bewältigung eines schweren oder gar palliativen Leidens sind: Jesus hielt inne, er unterbrach sein Tun und suchte sich einen Ort, an dem er noch einmal Kraft schöpfen konnte.

Sechs Tage vor Beginn der Passah-Feierlichkeiten kam Jesus nach Betanien, in die Heimatstadt von Lazarus – jenes Mannes, den er von den Toten auferweckt hatte. Dort wurde zu seinen Ehren ein Festessen gegeben. Marta bediente die Gäste, und Lazarus saß mit ihm am Tisch. Da nahm Maria ein zwölf Unzen fassendes Fläschchen mit kostbarem Nardenöl, salbte Jesus mit dem Öl die Füße und trocknete sie mit ihrem Haar. Der Duft des Öls erfüllte das ganze Haus.

Johannes 12,1-3

Irgendwann ist es so weit

»Sechs Tage vor […]«

Es gibt sie – diese Zeit am Anfang. Sie beginnt mit dem Wissen um die existenzielle Bedrohung. Ein schlichtes »Weiter so« gibt es nicht mehr – auch nicht für Jesus.

Als Sohn Gottes wusste er sich eingebunden in die Tradition alttestamentlicher Propheten, die seinen Weg bereits vorausgesagt hatten. Er war bereit, ihn zu gehen. Er vertraute darauf, dass seinem Leiden und Sterben die Auferstehung folgen würde. Und dennoch: Auch für ihn begann eine Zeit, in der er sich auf das Ungewisse einlassen musste. Auch er wusste nicht, an welche Grenzen ihn die Schmerzen führen würden, wie lange sein Leiden dauern und ob er die Kraft haben würde, alles durchzustehen.

Auch vor uns Menschen können sich die Herausforderungen einer Krankheit wie ein großer Berg auftürmen. Manche Patienten sagen dann: »Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll. Ich kann mich zu nichts aufraffen.«

»Sechs Tage vor …« – Jetzt ist es so weit – die Zeit ist gekommen. Ich muss mich dem Unausweichlichen stellen. Das galt auch für Jesus.

Ein vertrauter Rückzugsort

»[Dann ging] Jesus nach Betanien, in die Heimatstadt von Lazarus – jenes Mannes, den er von den Toten auferweckt hatte.«

Jesus war mit seinen Jüngern in der Nähe von Jericho im Jordantal unterwegs, als die Zeit seines Aufbruchs gekommen war. Zum Passahfest musste er in Jerusalem sein.

So verließ er mit seinen Jüngern das Tal, stieg hinauf in das Wüstengebiet von Judäa und folgte der Straße, die nach Jerusalem führte.

Und auf diesem Weg passierte – vielleicht unscheinbar – etwas ganz Entscheidendes: Er hielt inne. Etwa zwei bis drei Kilometer vor dem Ziel bog er vom Weg ab, um mit seinen Jüngern nach Betanien zu gehen. Er wollte in das Haus einkehren, das ihm in seinem Leben viel bedeutet hatte. Hier lebten Menschen, die ihn gut kannten, mit denen er Freud und Leid geteilt hatte, die ihm eng vertraut waren. Aus verschiedenen Erzählungen sind sie uns bekannt: die Geschwister Maria, Marta und Lazarus. Maria, die in besonderer Weise die Tiefe der geistlichen Botschaft Jesu verstanden hatte, Marta, die gastfreundliche, gute Köchin, und Lazarus, der erfahren hatte, wie Gott ihm neues Leben geschenkt hatte (Lukas 10,38-41; Johannes 11,1-44).

»Ich bin noch einmal zu meinem Lieblingsort gefahren – ein guter Freund hat mich begleitet. Und dort saß ich dann stundenlang am Meer, habe das Glück gefühlt, das ich in meinem Leben so oft gespürt habe. Wie Sonnenstrahlen habe ich die schönen Erinnerungen eingesammelt, damit sie mir später Licht auf meinem schweren Weg geben konnten.«

Shimon Gibson vermutet, dass Betanien »vielleicht sogar […] ein zweites Zuhause«3 für Jesus gewesen war, in dem er auf seinem Wanderleben immer wieder ein Stück Heimat und Geborgenheit erfahren konnte. Jetzt ging er genau dahin zurück.

Jesus tat das, was vielen Menschen in einer solchen Situation guttut: Er suchte wohltuende Gemeinschaft. Er erfuhr: Ich bin nicht allein, sondern geborgen bei Menschen, die mein Leben begleitet haben und auch jetzt, in diesen schweren Zeiten, zu mir halten.

Die Bewältigung schwerer Lebenszeiten hat neben dem geistlichen auch diesen zutiefst menschlichen Aspekt, auf den uns die Geschichte Jesu hinweist.

Die Fülle erleben trotz allem – das Mahl

»Dort wurde zu seinen Ehren ein Festessen gegeben.«

Zur Zeit Jesu waren Gastmähler mit ihren vielen symbolischen Gesten fester Bestandteil des sozialen und gesellschaftlichen Lebens. Das letzte »Gastmahl seines Lebens«, an dem Jesus nun teilnahm, weist über das Gesellige weit hinaus. Es zeigt geistliche Aspekte, die uns auch heute noch stärkend und tröstend in der Zeit des Aufbruchs sein können:

• den Wunsch nach Frieden und Versöhnung,

• geistliche Kraftquellen – mitten in der Not,

• den Himmel, der mehr als eine Vertröstung ist,

• ein Gesegnetsein

• und öffnet den Blick auf das Ganze des Lebens – Dankbarkeit.

Der Wunsch nach Frieden und Versöhnung

Das gemeinsame Mahl war damals immer auch ein Zeichen von Versöhnung, mehr noch: Es war der Vollzug von Versöhnung. Wer miteinander Brot und Wein teilte, schloss Frieden.

In unserem Lebensalltag mag dieser Gedanke in den Hintergrund getreten sein. Im Angesicht einer schweren Erkrankung jedoch wird er für viele Menschen zum Thema – man möchte in Frieden mit sich und anderen sein. Oft geht es um den kleinen ersten Schritt aufeinander zu, der leicht mit einer Einladung beginnen könnte.

Geistliche Kraftquellen – mitten in der Not

Ausruhen und sich stärken können – und sei es nur für kurze Zeit. Danach sehnen sich angefochtene und leidende Menschen. Im geistlichen Sinne nimmt das Bild vom Gastmahl diese Sehnsucht auf. Wir finden sie im Gebet Davids formuliert: »Du deckst mir einen Tisch vor den Augen meiner Feinde« (Psalm 23,5a).

Die Hoffnung, die hier bereits zur Erfahrung des Betenden geworden ist, könnte so lauten: Inmitten allen äußeren Unheils – und das meint der Begriff »Feind« – bin ich zur Ruhe eingeladen. Ich darf innehalten, mir sind Trost und Stärkung bereitet.

Susan, eine Palliativpatientin, hat ihre Erfahrung so beschrieben:

Ich möchte meine Angst verlieren und spüren, dass ich gehalten werde, dass ich innerlich Kraft bekomme. Manchmal, wenn ich in der Krankenhauskapelle sitze und eine Kerze anzünde und bete, dann spüre ich: Gott ist da, und dann glaube ich, dass ich auch die Kraft habe für das, was noch kommt.

Verfügbar oder machbar ist dieses Erleben nicht, denn es entzieht sich den Möglichkeiten des Menschen und lässt ihn zum Empfangenden einer wunderbaren Erfahrung werden: Das Bedrohliche verliert an Macht, es kann nicht dauerhaft Ruhe und Kraft rauben. Es gibt ein Ausruhen – geschenkt durch Gott. Dafür ist der gedeckte Tisch, das Gastmahl, eine Einladung: zur Ruhe kommen bei Gott! Im Matthäusevangelium sagt Jesus: »Kommt alle her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich will euch Ruhe schenken« (Matthäus 11,28).

Der Himmel – mehr als eine Vertröstung

Dieses Gastmahl weist zudem über das Irdische hinaus auf die himmlische Erfüllung des Lebens. Das ist keinesfalls eine billige Vertröstung, es erinnert uns vielmehr daran, dass alles Geschehen in dieser Welt ein Ziel hat, auf das hin wir geschaffen sind.

Der Prophet Jesaja formulierte dies in einer Verheißung: »Der Herr, der Allmächtige, [wird] ein großes Fest für alle Völker ausrichten. Es wird köstliches Essen geben […] Den Tod wird er für immer beseitigen. Gott, der Herr, wird die Tränen von allen Gesichtern abwischen […] Dies hat der Herr ja versprochen!« (Jesaja 25,6.8). Irgendwann einmal, so bricht es aus diesen Worten heraus, müssen die Not im Leben der Menschen und das Elend in dieser Welt ein Ende haben! Irgendwann werden Schmerzen, Leid und Tod aufhören! Irgendwann wird es Frieden und Gerechtigkeit geben.

»Ich habe eine Zukunft – in jedem Fall!«

Für Jesus war dies nie eine leere Hoffnung – für ihn war die Erfüllung dieser Hoffnung seine Lebensaufgabe.

Eine junge Krebspatientin sagte einmal: »Ich habe eine Zukunft – in jedem Fall!« Als sie das Erstaunen der anderen sah, erklärte sie: »Meine Zukunft kann mir niemand nehmen. Entweder werden die Therapien helfen und ich kann wieder ins normale Leben zurück oder ich werde mein Leben bei Jesus haben.«

Eine solche Perspektive für die eigene Not zu gewinnen ist keine Weltflucht. Es ist das Angebot, einen realistischen Blick auf das Leben zu erhalten, und eine echte Möglichkeit, Gelassenheit und Kraft zu bekommen, um sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und getrost seinen Weg gehen zu können.

Gesegnet sein

»Ich bin auch jetzt gesegnet – das ist mir wichtig!« Diese Aussage einer Palliativpatientin ist mir sehr eindrücklich in Erinnerung geblieben.

Gesegnet sein im Alltag – das war eine Erfahrung, die jüdisches Leben täglich durchzog. Jede Mahlzeit war begleitet von mehreren Segenssprüchen, die den Blick auf Gott, den Schöpfer und Erhalter des Lebens, lenkten und dazu einluden, sich selbst bewusst unter diesen Segen zu stellen.

Gesegnet sein und sich bewusst segnen lassen ist eine Haltung, die gerade auch in schweren Lebenssituationen trägt: »Komm, Herr Jesus. Komm in meine Not und segne mich und mein Leben – so wie es jetzt gerade ist.«

Eine Segensbitte trägt in sich bereits die Hoffnung auf ihre Erfüllung, denn sie lässt Gott hinein in das Leben und bringt mich in Verbindung mit der heilenden Wirklichkeit Gottes, die ich möglicherweise selbst nicht mehr finde. Selbst glaubenden Menschen kann es passieren, dass ihnen das Lob Gottes schwerfällt, sie die Kraft, zu hoffen oder zu danken, kaum noch aufbringen.

In diese Situation hinein kann das – auch von anderen zugesprochene – Segenswort wie ein Samenkorn fallen und in der Dunkelheit der persönlichen Not aufgehen. Es wächst dem Licht entgegen, von dem es kommt, und weist dem Leidenden den Weg aus dem Gefängnis seines verwundeten Ichs hin zu der tröstenden Wirklichkeit Gottes.

Es kann zu einer guten Gewohnheit werden, mich jeden Tag bewusst unter den Segen Gottes zu stellen. Ich kann dies für mich allein tun, fürbittend für andere oder gemeinsam mit den Menschen, die mich auf dem schweren Weg begleiten:

Der Herr segne dich und beschütze dich.
Der Herr wende sich dir freundlich zu und sei dir gnädig.
Der Herr sei dir besonders nahe und gebe dir seinen Frieden.

4. Mose 6,24-264

Der offene Blick auf das Ganze des Lebens – Dankbarkeit

Zum Schluss sei noch ein weiterer Aspekt genannt: das Lob Gottes.

Zur Zeit Jesu sah man das Mahl mit Freunden oder der Familie als eine ausgezeichnete Gelegenheit an, Gott zu loben und für seine Güte zu danken. Gleich zu Beginn sprach man:

Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die ganze Welt in Seiner Güte ernährt, in Wohlwollen, in Liebe und in Barmherzigkeit […]5

Der Dank für die tägliche Speise öffnet den Blick zum Schöpfer und dem Wunder seiner Schöpfung, deren Teil wir Menschen sind. Deshalb wird in den Evangelien der Segen Jesu über das Mahl auch Danksagung oder Lobpreis genannt.

Bewusst und dankbar die kleinen Dinge des Lebens zu sehen, die einem geschenkt sind, gelingt leicht, wenn es einem gut geht. In den dunklen Stunden jedoch kann es selbst glaubenden Menschen schwerfallen, den dankbaren Blick auf das Leben zu bewahren. Vielleicht kann ein bewusst gesprochenes Tischgebet hier ein kleiner Anfang sein, um das eigene Leben nicht mehr reduziert auf die persönliche Not zu sehen, sondern als Teil der ganzen Schöpfung Gottes zu verstehen. Im Schmecken, Reden, Danken, Loben, im Wahrnehmen des Duftes der Speisen, im Lachen und in der Anteil nehmenden Gemeinschaft wird ein Zugang zur gesamten Wirklichkeit des Lebens geöffnet. Auch in schwerer Krankheit ist menschliches Leben weit mehr als das Leid, das momentan im Vordergrund steht. Meine Persönlichkeit ist und wird geprägt von dem, was mein ganzes bisheriges Leben und mein Hoffen und Sehnen bestimmt.

Es kann Zeiten geben, da dieser Lobpreis nicht ehrlich mitgesprochen werden kann – dann können es andere fürbittend tun. Der Leidende darf sich auch schweigend mittragen lassen von der Wirklichkeit des Segens: »Der gnädige Gott [hat] über dir Flügel gebreitet!«6

Gesegnet und behütet bleiben – die Salbung

Die Wahrheit zulassen

»Ein […] Fläschchen mit kostbarem Nardenöl […]«

Eine Salbung war zu Jesu Zeiten nichts Verwunderliches.7 Archäologische Ausgrabungen zeigen, dass es in jüdischen Privathäusern üblich war, die Füße – und besonders die des Gastes – nach der Reinigung zu salben. Allerdings weist das, was in Betanien geschah, über diese Geste der Gastfreundschaft hinaus. Das Alabastron war ein Gefäß, das ein mit wertvollen Duftstoffen vermischtes Öl enthielt und rituellen Salbungen vorbehalten war, für die es damals drei Anlässe gab: die Königssalbung, die Totensalbung und die Pilgersalbung.8 In der christlichen Theologie erkannte man schon früh den tiefen Bezug, den alle drei Deutungen auf Jesu Sterben und Auferstehung hatten. Deshalb wurde in den ersten christlichen Gemeinden das Ritual der Salbung für Kranke üblich.9 Im Jakobusbrief, der dies klar bezeugt, steht:

Ist einer von euch krank? Dann soll er die Ältesten der Gemeinde holen lassen, damit sie für ihn beten und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Ihr Gebet im Glauben an Gott wird den Kranken aus seiner Not herausholen, und der Herr wird ihn aufrichten.

Jakobus 5,14-15