Jens Bergmann
Der Tanz ums Ich
Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie
Pantheon
»Mutter Gottes – ist das eine Frauensache? Sie fragen mich, wie ich mich fühle. Ich sage Ihnen, wie ich mich fühle, und nun quälen Sie mich damit.«
Tony Soprano beklagt sich in der Serie Die Sopranos
bei seiner Therapeutin
Inhalt
Vorbemerkung
Die Religion unserer Zeit
Pioniere
Ein Freigeist als Religionsstifter
Der Vermessungsingenieur
Das Berufliche wird privat
Das Geschäftsmodell
Sozialtechnik für alle und alles
Der Tanz ums Ich
Die Kunst, Krankheiten zu erfinden, die in die Zeit passen
Der blinde Fleck
Psychologie ohne Bewusstsein
Von der Ratte über den Rechner bis zur Neurowelle:
Wie die Psychologie zu ihren Menschenbildern kommt
Risiken und Nebenwirkungen
Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins: Tyrannei der Intimität
Übergriffe erster und zweiter Ordnung
Reden wird überschätzt
Resümee
So viel Psychologie, so wenig Erkenntnis
Eine persönliche Nachbemerkung
Literatur
Register
Vorbemerkung
Die Religion unserer Zeit
Wer bin ich? Und warum bin ich, wie ich bin? Was geht in mir vor? Was in den anderen Leuten? Diese Fragen bewegen uns, weil uns die Mitmenschen rätselhaft erscheinen und weil es uns mit uns selbst häufig ebenso ergeht – wir alle aber irgendwie miteinander auskommen müssen.
Aufklärung und Hilfe verspricht die Psychologie1. Dank dieser Versprechen ist sie so populär und allgegenwärtig geworden wie keine andere Disziplin. Im Laufe ihrer kurzen Geschichte hat die Seelenkunde – so die ursprüngliche Bedeutung des aus dem Griechischen stammenden Begriffs – über ihr ursprüngliches Fachgebiet hinaus weitere Sphären erobert. Sie beeinflusst heute Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, unsere Sprache, unser Denken und Empfinden.
Psychologische Techniken haben auch die Arbeitswelt erobert; so erinnern viele Rituale in heutigen Unternehmen nicht zufällig an solche der Selbsterfahrungsgruppen aus den sechziger und siebziger Jahren, in denen Menschen ihr Innerstes nach außen kehrten. Die wichtigste Kompetenz des modernen Angestellten ist es, Offenheit darzustellen, ohne wirklich offen zu sein.
Psychologen fühlen sich überall gefragt und zuständig. Sie behaupten, (soziale/emotionale) Intelligenz ebenso messen zu können wie Persönlichkeit und Kreativität. Sie maßen sich Urteile darüber an, für welchen Beruf Menschen sich eignen und ob sie in ihrer Laufbahn zu Führungsaufgaben taugen. Sie deuten Emotionen, geben Anleitungen zu Kommunikation und Selbstmanagement. Sie konstruieren Tests zur angeblich optimalen Partnerwahl, sagen uns, wie wir unsere Ehe führen, unsere Kinder erziehen und welche Ziele wir im Leben anstreben sollen.
Psychologen und Psychiater diagnostizieren, ob wir normal sind, und sie geben unseren Leiden Namen: vom posttraumatischen Stress- über das Messie- bis hin zum Burnout-Syndrom.
Die Psychologie kann einerseits Trost spenden, hält gutgläubige Menschen andererseits aber an der Kandare: Sie ist die Religion unserer Zeit. Das spiegelt sich unter anderem in einem Berg an Literatur zum Thema wider. Sie verheißt Einblicke ins Seelenleben, Hilfe bei der Selbstverwirklichung, den Weg zu glückender Kommunikation, Partnerschaft, Sexualität und vielem mehr.
Diese Probleme sind nicht Thema meines Buchs. Hier geht es um die Probleme, unter denen die Psychologie leidet. Viele der Gründe sind in der Geschichte des jungen Fachs zu finden. Charakteristische Merkmale der Psychologie – intellektuelle Genügsamkeit und Geschäftstüchtigkeit, Kontextblindheit und Übergriffigkeit – lassen sich nur aus ihrer historischen Entwicklung heraus verstehen, weshalb die Psychologiegeschichte viel Raum in diesem Buch einnimmt. Es schildert, wie die Disziplin es so weit bringen konnte. Was ihren Reiz ausmacht. Und mit welchen Folgen der Glaube an sie verbunden ist. Es klärt auf über das Grundproblem des psychologischen Denkens: Niemand kann anderen Menschen wirklich in den Kopf schauen. Von der Suggestion, das doch zu können, lebt eine ganze Industrie.
Dieses Buch ist kein Ratgeber, aber hoffentlich nützlich: durch Aufklärung über die Risiken und Nebenwirkungen der Psychologie.
1 Die Psychologie ist eine Verallgemeinerung, weil das Fach in zahlreiche Teildisziplinen und Schulen zerfällt (die ihre Abneigung füreinander liebevoll pflegen). Unabhängig davon gibt es einen Mainstream psychologischen und therapeutischen Denkens und Handelns. Um ihn geht es in diesem Buch.