Cover

Das Buch:
Die Zukunft: Die Menschheit ist ins Weltall aufgebrochen und hat auf den Planeten Kolonien errichtet. Über Generationen hinweg wurde auf den über das ganze Sonnensystem verteilten Raumstationen ein friedliches Leben geführt – bis jetzt. Aber ist die Menschheit bereit für das, was draußen im All auf sie wartet?
Ein offenbar außerirdisches Protomolekül hat die Bevölkerung der Venus in Windeseile ausgelöscht und entwickelt sich nun rasant fort, mit katastrophalen Folgen. Uranus wird als Nächstes angegriffen, und dort entdecken die Menschen schließlich ein unheimliches Portal. Ein Portal, welches in eine sternenlose Dunkelheit führt. Um diesem unbekannten Objekt auf die Spur zu kommen, werden Captain Jim Holden und seine Crew mit dem Auftrag betraut, das fremdartige Artefakt zu untersuchen. Doch was sie nicht wissen: Hinter ihrem Rücken ist eine Verschwörung im Gange, mit dem Ziel, Holden mundtot zu machen und endgültig zu vernichten. Während die Abgesandten der Erde versuchen herauszufinden, ob das Portal der Menschheit neue Möglichkeiten bietet oder ob die Gefahren überwiegen, bahnt sich das größte Verhängnis mitten unter ihnen bereits seinen Lauf …

James Corey: Abaddons Tor

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
ABADDON’S GATE
Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Redaktion: Ralf Dürr
Copyright © 2013 by James S. A. Corey
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: animagic
Umschlagmotiv: © Daniel Dociu
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-11314-8
V010
www.penguinrandomhouse.de

Für Walter Jon Williams, der uns gezeigt hat,
wie man es macht, und für Carrie Vaughn,
die dafür gesorgt hat, dass wir es
nicht allzu schlimm vermasselt haben.

PROLOG   Manéo

Manéo Jung-Espinoza, von seinen Freunden auf der Ceres-Station Néo genannt, kauerte im Cockpit des kleinen Schiffes, das er Y Que genannt hatte. Nach fast drei Monaten Flugzeit blieben nur noch etwa fünfzig Stunden, bis er Geschichte schreiben würde. Das Essen war ihm schon vor zwei Tagen ausgegangen, und der Wasservorrat beschränkte sich auf einen halben Liter recycelte Pisse, die schon ziemlich oft die Runde durch seinen Kreislauf gemacht hatte. Alles, was er entbehren konnte, war bereits abgeschaltet. Den Reaktor hatte er heruntergefahren. Nur die passiven Monitore liefen noch, die aktiven Sensoren waren tot. Das einzige Licht im Cockpit stammte von der Hintergrundbeleuchtung der Terminals. Die Heizdecke, in die er sich gewickelt hatte, klemmte unter den Gurten, damit sie nicht fortschwebte. Sie war nicht einmal mit dem Stromnetz verbunden. Die Rundruf- und Richtstrahlsender waren deaktiviert, und den Transponder hatte er bereits zerstört, ehe er überhaupt den Namen auf den Schiffsrumpf gemalt hatte. Schließlich wollte er keinen so weiten Flug antreten, um am Ende doch noch die Flottillen durch ein versehentlich abgestrahltes Signal auf sich aufmerksam zu machen.

Fünfzig Stunden – oder etwas weniger –, und das Einzige, was er zu tun hatte, war, nicht aufzufallen. Und natürlich durfte er nicht mit irgendeinem Objekt zusammenprallen, aber das lag in las manos de Dios .

Vor drei Jahren, kurz vor seinem fünfzehnten Geburtstag, hatte ihn seine Cousine Evita in die Untergrundgesellschaft der Slingshots eingeführt. Er hatte im Wohnloch seiner Familie herumgehangen, seine Mutter hatte in der Wasseraufbereitungsanlage gearbeitet, und sein Vater hatte sich mit einem ihm unterstellten Wartungstrupp in der Stromversorgung getroffen. Néo war daheim geblieben und hatte zum vierten Mal in diesem Monat die Schule geschwänzt. Als das System einen Besucher meldete, nahm er an, es seien die Wachleute der Schule, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollten, weil er blaugemacht hatte. Stattdessen stand Evita vor der Tür.

Sie war zwei Jahre älter und die Tochter seiner Tante. Eine echte Gürtlerin. Er und sie hatten die gleichen schmalen Körper, doch nur sie stammte wirklich von dort. Auf der Stelle hatte er sich in sie verknallt und träumte seitdem davon, wie sie aussah, wenn sie sich auszog. Wie es sich anfühlte, sie zu küssen. Jetzt war sie da, und er war allein zu Hause. Sein Herz beschleunigte auf dreifache Geschwindigkeit, noch ehe er die Tür geöffnet hatte.

»Esá, unokabátyja«, sagte sie lächelnd und deutete mit einer Hand ein Achselzucken an.

»Hoy«, antwortete er und gab sich Mühe, cool und lässig zu wirken. Er war genau wie sie in der riesigen Weltraumstadt der Ceres-Station aufgewachsen, doch sein Vater hatte den kleinen, gedrungenen Körperbau eines Erders. Den kosmopolitischen Dialekt des Gürtels sprach er mit dem gleichen Recht wie sie, doch bei ihr klang es viel natürlicher. Er selbst kam sich dabei immer vor, als zöge er eine fremde Jacke an.

»Ein paar coyos treffen sich unten auf der Backbordseite. Silvestari Campos ist wieder da«, verkündete sie. Die Hüfte hatte sie vorgeschoben, der Mund war seidenweich, die Lippen glänzten. »Kommst du mit?«

»Que no?«, hatte er geantwortet. »Hab sowieso nichts Besseres zu tun.«

Später überlegte er sich, dass sie ihn vermutlich nur mitgenommen hatte, weil Mila Sana, eine Marsianerin mit einem Pferdegesicht, die etwas jünger war als er, auf ihn abfuhr. Vermutlich hielten die anderen es für lustig, dem hässlichen Mädchen von dem inneren Planeten zuzuschauen, wie es hinter dem Halbblut hertrabte, aber das war ihm egal. Er war Silvestari Campos schon einmal begegnet und wusste, was ein Slingshot-Manöver war.

Es lief folgendermaßen: Ein coyo bastelte sich ein Schiff zusammen. Vielleicht aus Bergungsgut, vielleicht ergaunert. Ganz ohne gestohlene Teile ging es nicht. Es brauchte nicht mehr als einen konventionellen Verbrennungsantrieb, eine Druckliege und genügend Luft und Wasser, um loszufliegen. Dann kam es nur noch darauf an, die Flugbahn zu berechnen. Ohne Epstein-Antrieb verbrannte der konventionelle Antrieb die Treibstoffkapseln viel zu schnell, um ein weit entferntes Ziel zu erreichen. Wenn man das wollte, brauchte man Hilfe. Der Trick bestand darin, den Kurs so zu berechnen, dass der Schub des viel zu schnell verbrauchten Treibstoffs das Schiff in ein Schwerkraftfeld beförderte, wo es von dem Planeten oder Mond beschleunigt wurde, um so tief wie nur irgend möglich in den Raum vorzustoßen. Dann musste man sich überlegen, wie man zurückkehren konnte, ohne zu sterben. Die ganze Sache wurde in einem doppelt verschlüsselten illegalen Netzwerk übertragen, das mindestens so schwer zu knacken war wie die Netze der Loca Greiga oder des Golden Bough. Vielleicht betrieben sie dieses Netz sogar. Selbstverständlich war es höchst illegal. Irgendjemand nahm Wetten entgegen. Gefährlich, aber darauf kam es ja gerade an. Wenn man zurückkehrte, war man ein gemachter Mann und konnte sich auf den Lagerhauspartys herumtreiben und trinken, so viel man wollte, reden, was man wollte, und die Hand auf Evita Jungs rechte Brust legen, und sie wich nicht einmal aus.

Also entwickelte Néo, dem alles andere bislang ziemlich egal gewesen war, einen starken Ehrgeiz.

»Die Leute dürfen einfach nicht vergessen, dass der Ring nichts Magisches an sich hat«, erklärte die Marsianerin. In den letzten Monaten hatte Néo viel Zeit damit verbracht, die Newsfeeds über den Ring zu betrachten. Bisher gefiel ihm diese Frau am besten. Sie hatte ein hübsches Gesicht und einen reizenden Akzent. Außerdem war sie nicht so pummelig wie eine Erderin, gehörte aber genau wie er selbst auch nicht zum Gürtel. »Wir verstehen es noch nicht richtig, und vielleicht werden noch Jahrzehnte vergehen, bis wir es wirklich erfassen. Auf jeden Fall konnten wir in den letzten zwei Jahren einige höchst interessante und aufregende Durchbrüche in der Werkstofftechnologie erzielen, die sich durchaus mit der Erfindung des Rades messen können. Im Laufe der nächsten zehn oder fünfzehn Jahre werden wir die praktische Anwendung dessen erleben, was wir aus der Beobachtung des Protomoleküls gelernt haben, und dies wird …«

»Früchte vom verbotenen Baum«, fiel ihr der alte coyo mit dem runzligen Gesicht, der neben ihr saß, ins Wort. »Wir dürfen nicht vergessen, dass die Grundlage all dessen ein Massenmord war. Die Verbrecher von Protogen und Mao-Kwik haben diese Waffe auf unschuldige Bürger gerichtet. Der Genozid war der Beginn von allem, und wenn wir daraus Profit schlagen, werden wir zu Komplizen.«

Der Feed zeigte den Moderator, der lächelnd den Kopf schüttelte und dem Ledergesicht widersprach.

»Rabbi Kimble«, sagte er, »wir hatten Kontakt mit einem zweifellos außerirdischen Artefakt, das die Eros-Station übernommen und etwa ein Jahr damit zugebracht hat, sich in dem unwirtlichen Dampfkochtopf der Venus selbst zuzubereiten, um schließlich gewaltige Gebilde zu starten, die sich mittlerweile knapp außerhalb der Uranus-Umlaufbahn befinden und dort zu einem tausend Kilometer großen Ring zusammengebaut werden. Sie können doch nicht allen Ernstes erwarten, dass wir diese Tatsachen aus moralischen Gründen ignorieren.«

»Himmlers Unterkühlungsversuche in Dachau …«, setzte das Ledergesicht an und wackelte drohend mit dem Finger, doch nun unterbrach ihn die hübsche Marsianerin.

»Könnten wir bitte die 1940er-Jahre überspringen?« Sie lächelte dabei und meinte in Wirklichkeit: Ich bin freundlich zu dir, aber halt endlich die Klappe. »Wir reden hier nicht über Weltraumnazis, sondern über das wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte. Protogen hat hierbei eine schreckliche Rolle gespielt und wurde dafür bestraft. Jetzt aber müssen wir …«

»Keine Weltraumnazis!«, schrie der alte Coyo. »Die Nazis kommen nicht aus dem Weltraum. Sie sind mitten unter uns. Sie verkörpern die schlimmste Seite der Menschheit. Indem wir von diesen Entdeckungen profitieren, rechtfertigen wir den Irrweg, auf dem sie wandeln.«

Die Hübsche verdrehte die Augen und blickte Hilfe suchend zum Moderator, der jedoch nur mit den Achseln zuckte, was den Alten noch weiter in Rage brachte.

»Der Ring ist eine Versuchung zu sündigen«, rief der alte coyo. Um den Mundwinkel entstanden kleine weiße Flecken, die der Bildregisseur nicht retuschierte.

»Wir wissen nicht, was es ist«, erwiderte die Hübsche. »Wenn man annimmt, dass es seine Arbeit ursprünglich auf einer primitiven Erde mit einzelligen Organismen verrichten sollte und auf der Venus landete, wo es ein erheblich komplexeres Substrat gab, funktioniert es wahrscheinlich überhaupt nicht, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass Versuchung und Sünde nichts damit zu tun haben.«

»Sie sind Opfer. Was Sie ein komplexes Substrat nennen, sind die missbrauchten Leiber der Unschuldigen!«

Néo drehte den Ton herunter und sah eine Weile zu, wie sie stumm gestikulierten.

Er hatte Monate gebraucht, um die Flugbahn der Y Que zu planen und den Zeitpunkt zu finden, an dem Jupiter, Europa und Saturn an den richtigen Positionen standen. Das Fenster war so schmal, dass man es damit vergleichen konnte, aus einem halben Kilometer Entfernung mit einem Wurfpfeil den Flügel einer Fruchtfliege zu treffen. Europa war der Trick gewesen. Ein enger Vorbeiflug am Jupitermond, dann so nahe an den Gasriesen heran, dass er beinahe abstürzte. Schließlich wieder hinaus, ein langer Vorbeiflug am Saturn, um dank dessen Schwerkraft stark zu beschleunigen, und noch weiter hinaus in die Schwärze, zwar ohne erneute Beschleunigung, aber viel schneller, als man es einem kleinen umgebauten Felsenhüpfer je zugetraut hätte. Millionen Kilometer weit durchs Vakuum, um ein Ziel zu treffen, das kleiner war als das Arschloch einer Mücke.

Néo stellte sich die Mienen der Besatzungen auf all den Militäreinheiten und Forschungsschiffen vor, die am Ring stationiert waren, wenn ein kleines Schiff ohne Transponder mit ballistischer Geschwindigkeit aus dem Nichts auftauchte und mit hundertfünfzigtausend Kilometern pro Stunde durch den Ring schoss. Danach musste er sich beeilen. Er hatte nicht genügend Treibstoff, um die hohe Geschwindigkeit aufzuheben, konnte aber weit genug abbremsen, damit sie ihm ein Rettungsschiff schicken konnten.

Natürlich würde er eine Weile im Bau sitzen, das war klar. Vielleicht zwei Jahre, wenn die Richter wirklich sauer waren. Aber das war es ihm wert. Allein die Kommentare im schwarzen Netz wären es wert, wo alle seine Freunde den Flug verfolgten und im Chor riefen: »Heilige Scheiße, der schafft das wirklich!« Er würde Geschichte schreiben. In hundert Jahren würden die Menschen immer noch über den größten und mutigsten Slingshot aller Zeiten reden. Er hatte Monate damit zugebracht, die Y Que zu bauen, und noch mehr Zeit im Anflug, und anschließend würde er im Gefängnis sitzen. Aber das war es ihm wert. Er würde unsterblich werden.

Noch zwanzig Stunden.

Die größte Gefahr stellte die Flottille dar, die den Ring umstellt hatte. Erde und Mars hatten vor einigen Monaten gegenseitig ihre Raumschiffe zu Schrott geschossen, aber was noch übrig war, belagerte jetzt das Objekt. Einige Einheiten mochten auch noch bei den inneren Planeten stationiert sein, aber das kümmerte Néo nicht. Jedenfalls belauerten sich dort draußen zwanzig oder dreißig große Militäreinheiten, während alle verfügbaren Forschungsschiffe des Systems ein paar Tausend Kilometer entfernt sachte dahintrieben, spähten und lauschten. Die militärische Kraftprotzerei sollte vor allem dafür sorgen, dass niemand die Finger nach dem Ding ausstreckte. Sie hatten alle miteinander Angst. Obwohl in diesem kleinen Winkel des Weltraums so viel Metall und Keramik versammelt waren und obwohl der Innendurchmesser des Rings lediglich tausend Kilometer betrug, war die Wahrscheinlichkeit, dass Néo mit irgendetwas zusammenstieß, verschwindend gering. Das Nichts war viel größer als das Etwas. Und falls er wirklich gegen ein Militärschiff prallte, würde er sowieso nicht überleben und musste sich keine Sorgen mehr machen, also überließ er sein Schicksal der Heiligen Jungfrau und richtete die Hochgeschwindigkeitskamera ein. Wenn es endlich so weit war, würde er so schnell fliegen, dass er erst nach einer Analyse der Daten erfahren würde, ob er das Ziel getroffen hatte. Er wollte dafür sorgen, dass es auf jeden Fall eine Aufnahme gab. Nun war es Zeit, die Sender wieder einzuschalten.

»Hoy«, sagte er in die Kamera. »Néo hier. Néo solo. Kapitän und Crew des souveränen Gürtelrennboots Y Que . Mielista me. Noch sechs Stunden bis zum größten Hammer, seit Gott den Menschen erschaffen hat. Es pa mi mama, die Süße Sophia Brun, und Jesus unseren Herrn und Erlöser. Passt gut auf. Ein Blinzeln, und ihr habt es verpasst, que sa?«

Er sah sich die Aufzeichnung an. Sie sah beschissen aus. Wahrscheinlich hatte er noch genug Zeit, um sich den kleinen Schnauzbart abzurasieren und die Haare etwas zurückzubinden. Jetzt wünschte er, er hätte seine täglichen Übungen nicht aufgegeben und sähe nicht so mickrig aus. Dazu war es leider zu spät. Wenigstens konnte er den Blickwinkel der Kamera verändern. Er flog mit ballistischer Geschwindigkeit. Um künstliche Schwerkraft musste er sich nicht sorgen.

Er versuchte es aus zwei anderen Winkeln, bis seine Eitelkeit befriedigt war, und schaltete auf die Außenkameras um. Seine Einführung dauerte ein wenig länger als zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden vor Erreichen des Ziels würde er mit der Sendung beginnen und dann die Außenkameras zuschalten. Mehr als tausend Bilder pro Sekunde, und doch war es möglich, dass er zwischen den Einzelbildern den Ring verpasste. Er konnte nur das Beste hoffen. Es war ja nicht so, dass er jetzt eine bessere Kamera beschaffen konnte, selbst wenn eine existiert hätte.

Er trank sein Wasser aus und wünschte sich, er hätte ein wenig mehr Proviant eingepackt. Eine Tube Proteinpaste wäre ihm jetzt wirklich gelegen gekommen. Bald wäre auch dies erledigt. Er würde im Bau eines irdischen oder marsianischen Schiffs sitzen, wo es eine anständige Toilette, Wasser und Gefangenenrationen gab. Beinahe freute er sich darauf.

Die schlafende Kommunikationsanlage erwachte zum Leben, weil sie einen Richtstrahl aufgefangen hatte. Er öffnete die Verbindung. Die Verschlüsselung verriet ihm, dass die Mitteilung aus dem schwarzen Netz kam und schon vor langer Zeit gesendet worden war, damit sie ihn genau hier erreichte. Es gab außer ihm noch jemanden, der angeben wollte.

Evita war immer noch schön, aber fraulicher geworden, seit er begonnen hatte, Geld und Bergungsgut zu sammeln, um die Y Que zu bauen. Noch einmal fünf Jahre, und sie wäre unansehnlich. Aber er wäre immer noch in sie verknallt.

»Esá, unokabátyja«, sagte sie. »Augen der Welt. Aller Augen ruhen auf dir. Meine auch.«

Sie lächelte, und eine Sekunde lang dachte er, sie würde die Bluse heben, um ihm Glück zu wünschen. Der Richtstrahl brach ab.

Noch zwei Stunden.

»Ich wiederhole, hier ist die marsianische Fregatte Lucien . Nicht identifiziertes Schiff, das sich dem Ring nähert, antworten Sie sofort, sonst eröffnen wir das Feuer.«

Noch drei Minuten. Sie hatten ihn zu früh bemerkt. Der Ring war immer noch drei Minuten entfernt, dabei hätten sie ihn erst entdecken sollen, wenn er höchstens noch eine Minute vor dem Ziel war.

Néo räusperte sich.

»Nicht nötig, que sa? Nicht nötig. Hier ist die Y Que , Rennboot von der Ceres-Station.«

»Ihr Transponder ist nicht aktiv, Y Que

»Ist kaputt, ja? Brauche Hilfe bei der Reparatur.«

»Ihr Funk arbeitet einwandfrei, aber ich empfange kein Notsignal.«

»Bin auch nicht in einer Notlage.« Er sprach besonders langsam, um Sekunden zu schinden. Vielleicht konnte er sie lange genug am Reden halten. »Fliege ballistisch, das ist alles. Kann den Reaktor wieder starten, aber das dauert ein paar Minuten. Könnten Sie mir dabei helfen?«

»Sie befinden sich in einem gesperrten Raumsektor, Y Que «, erklärte der Marsianer. Néo musste grinsen.

»Entschuldigung«, sagte er. »Entschuldigung. Ich kapituliere. Ich muss nur etwas abbremsen. Ich starte den Antrieb in ein paar Sekunden. Warten Sie bitte.«

»Sie haben zehn Sekunden, um eine nicht zum Ring führende Flugbahn einzuschlagen. Danach eröffnen wir das Feuer.«

Die Angst fühlte sich an wie ein Sieg. Er schaffte es. Er zielte genau auf den Ring, und sie machten sich in die Hosen. Eine Minute. Er fuhr den Reaktor hoch. In diesem Moment log er nicht einmal. Die Sensoren sprangen ebenfalls wieder an.

»Nicht schießen«, sagte er, während er insgeheim eine Bewegung machte, als wollte er masturbieren. »Bitte, Sir, bitte schießen Sie nicht auf mich. Ich bremse ja schon so schnell, wie ich kann.«

»Sie haben noch fünf Sekunden, Y Que

Es waren noch dreißig Sekunden. Sobald die Schiffssysteme wieder liefen, erschienen auch die Freund-Feind-Kennungen. Er würde nicht weit an der Lucien vorbeifliegen, vielleicht waren es nicht mehr als siebenhundert Kilometer. Kein Wunder, dass sie ihn bemerkt hatten. Auf diese Entfernung erschien die Y Que auf der Gefechtsanzeige wie ein Weihnachtsbaum. Da hatte er wohl Pech gehabt.

»Schießen Sie nur, wenn Sie wollen, aber ich bremse wirklich so schnell, wie ich kann«, behauptete er.

Der Statusalarm ertönte, und auf der Anzeige erschienen zwei neue Punkte. Der hijo de puta hatte tatsächlich Torpedos gestartet.

Fünfzehn Sekunden. Er würde es schaffen. Nun begann er mit der Sendung und schaltete die Außenkamera zu. Irgendwo da draußen war der Ring. Der tausend Kilometer große Kreis war noch zu klein und dunkel, um für das bloße Auge sichtbar zu sein.

»Nicht schießen!«, rief er der marsianischen Fregatte zu. »Nicht schießen!«

Noch drei Sekunden.

Die Torpedos schlossen rasch auf.

Dann verschwanden alle Sterne.

Néo tippte auf den Monitor. Nichts. Das Freund-Feind-Signal zeigte nichts an. Keine Fregatte, keine Torpedos. Absolut nichts.

»Das ist aber komisch«, sagte er zu niemand im Besonderen.

Auf dem Monitor war ein blaues Glühen zu sehen. Er beugte sich vor, als könnte er es verstehen, wenn er dem Bildschirm ein paar Zentimeter näher war.

Die Sensoren, die vor hoher G-Belastung warnten, brauchten eine Fünfhundertstelsekunde, um anzusprechen. Der fest verdrahtete Alarm brauchte noch einmal eine Dreihundertstelsekunde, um anzuschlagen und die rote LED und das Notsignal mit Strom zu versorgen. Die kleine Meldung auf der Konsole, die vor einer Bremskraft von neunundneunzig G warnte, brauchte eine unglaublich lange halbe Sekunde, um die Leuchtdiode zu aktivieren. Zu diesem Zeitpunkt war Néo bereits ein roter Schmierfilm im Cockpit. Der Bremsschub des Schiffs hatte ihn schneller, als eine Synapse für die Aktivierung brauchte, durch den Bildschirm an die gegenüberliegende Wand geschleudert. Fünf endlose Sekunden lang knarrte und stöhnte das Schiff, das nicht anhielt, sondern angehalten wurde.

In der endlosen Dunkelheit sandte die externe Hochgeschwindigkeitskamera tausend Bilder pro Sekunde aus und zeigte nichts.

Dann tauchte etwas auf.

1   Holden

In seiner Kindheit als kleiner Junge auf der Erde, wo er unter einem weiten offenen Himmel gelebt hatte, war eine seiner Mütter krank gewesen. Drei Jahre hatte sie unter schrecklichen Migräneanfällen gelitten. Es hatte ihn bedrückt, sie bleich und vor Schmerzen schwitzend zu sehen, aber die Vorboten der Anfälle waren fast noch schlimmer gewesen. Sie hatte das Haus geputzt oder Verträge für ihre Anwaltskanzlei durchgesehen, und dann hatte sich auf einmal ihre linke Hand verkrampft, bis die Adern und Sehnen unter der Anspannung fast zu reißen drohten. Als Nächstes waren die Augen abgeirrt, die Pupillen hatten sich geweitet, bis die blauen Augen fast völlig schwarz ausgesehen hatten. Es war schrecklich gewesen, diese Anfälle zu beobachten, und er hatte jedes Mal gefürchtet, sie werde daran sterben.

Damals war er sechs gewesen, und er hatte seinen Eltern nie erzählt, wie sehr ihm die Migräneattacken zusetzten, und wie sehr er sie selbst dann fürchtete, wenn alles in Ordnung zu sein schien. Die Angst war zu einem vertrauten, fast erwarteten Teil seines Lebens geworden. Das hätte dem Schrecken die Schärfe nehmen sollen, und vielleicht geschah dies auch, doch außerdem entwickelte sich ein Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein. Der Anfall konnte jederzeit kommen, und man konnte ihm nicht entgehen.

Das vergiftete in einem gewissen Maße sein ganzes Leben.

Ständig fühlte er sich heimgesucht.

»Das Haus gewinnt immer«, rief Holden.

Er und seine Crew – Alex, Amos und Naomi – saßen an einem privaten Tisch in der VIP-Lounge des teuersten Hotels auf Ceres. Selbst dort waren die Klingeln, Flöten und digitalisierten Stimmen der Geldspielautomaten noch so laut, dass man sich nicht in normaler Lautstärke unterhalten konnte. In die wenigen Frequenzen, die sie nicht besetzt hatten, drängten sich passgenau die schrill klimpernden Pachinko-Automaten und das tiefe Dröhnen einer Band, die auf einer der drei Bühnen des Casinos spielte. Das alles erzeugte einen Geräuschteppich, bei dem Holdens Magen vibrierte und die Ohren klingelten.

»Was?«, rief Amos zurück.

»Am Ende gewinnt immer das Haus!«

Amos starrte den riesigen Stapel Jetons an, der vor ihm lag. Er und Alex zählten sie, bevor sie den nächsten Beutezug zu den Glücksspieltischen unternahmen. Auf den ersten Blick schätzte Holden, dass sie in der letzten Stunde um die fünfzehntausend neue Ceres-Yen gewonnen hatten. Es war ein beeindruckender Haufen Geld. Wenn sie jetzt aufhörten, lagen sie vorn. Aber natürlich hörten sie nicht auf.

»Na gut«, sagte Amos. »Und?«

Holden lächelte und zuckte mit den Achseln. »Nichts weiter.«

Wenn seine Crew an den Blackjack-Tischen Dampf ablassen und ein paar Tausend Yen verlieren wollte, würde er sie nicht daran hindern. Nach dem letzten Auftrag würde es nicht einmal ein nennenswertes Loch in seinen Geldbeutel reißen, und dies war nur einer von dreien, die sie in den letzten vier Monaten erledigt hatten. Es versprach ein sehr lukratives Jahr zu werden.

In den vergangenen drei Jahren hatte Holden eine Menge Fehler gemacht. Die Entscheidung, den Posten als Handlanger der AAP zu kündigen und selbstständig zu arbeiten, war allerdings keiner davon gewesen. Seit die Rosinante als freiberuflicher Kurier und Begleitschiff auf dem Markt war, hatten sie sieben ausnahmslos profitable Aufträge erledigt. Sie hatten Geld ausgegeben, um das Schiff vom Bug bis zum Heck auf Vordermann zu bringen. Die letzten zwei Jahre waren stürmisch verlaufen, und das Schiff brauchte ein wenig Aufmerksamkeit.

Als das erledigt war und auf dem allgemeinen Konto immer noch mehr Geld vorhanden war, als sie ausgeben konnten, hatte Holden die Crew gefragt, ob es noch weitere Wünsche gab. Naomi hatte dafür bezahlt, ihre beiden Räume mit einem Durchbruch zu verbinden. Jetzt hatten sie ein Bett, das für zwei Personen groß genug war, und außerdem reichlich Platz, um daneben herumzulaufen. Alex hatte darauf hingewiesen, wie schwierig es sei, neue militärische Torpedos für das Schiff zu kaufen, und vorgeschlagen, den Kiel der Rosinante mit einer Railgun zu bestücken. Das neue Geschütz war stärker als die Nahkampfkanonen und brauchte als Munition lediglich zwei Pfund schwere Wolframklumpen. Während eines Aufenthalts auf Callisto hatte Amos dreißig Riesen für eine hochmoderne Aufrüstung des Antriebs ausgegeben. Auf Holdens Frage, warum man solche Verbesserungen brauchte, obwohl die Rosinante sowieso schon schnell genug beschleunigen konnte, um die Mannschaft zu töten, hatte Amos nur erwidert: »Weil das Zeug der Wahnsinn ist.« Holden hatte nur genickt und lächelnd die Rechnung bezahlt.

Selbst nach dem ersten Rausch des Geldausgebens hatten sie noch genug übrig, um sich Gehälter zu zahlen, die fünfmal höher waren als der Lohn auf der Canterbury, und es war trotzdem noch genug da, um das Schiff für die nächsten zehn Jahre mit Wasser, Luft und Treibstoffkapseln zu versorgen.

Vermutlich war das nur ein vorübergehendes Hoch. Es würden schwierige Zeiten kommen, in denen sie keine Aufträge hatten und sparen mussten. Aber das lag in der Zukunft.

Amos und Alex hatten die Chips durchgezählt und erklärten Naomi die strategischen Einzelheiten beim Blackjack, um sie zu bewegen, in ihr Spiel einzusteigen. Holden winkte dem Kellner, der sofort herbeischoss, um die Bestellung aufzunehmen. In der VIP-Lounge gab es natürlich keinen Bildschirm im Tisch, wo man die Bestellungen eintippen musste.

»Haben Sie vielleicht einen Scotch, der aus echtem Getreide gebrannt wurde?«, fragte Holden.

»Wir haben mehrere Sorten von Ganymed«, erklärte der Kellner. Er beherrschte den Trick, sich trotz des Lärms Gehör zu verschaffen, ohne die Stimme zu heben. Lächelnd stand er vor Holden. »Aber für einen Herrn mit gutem Geschmack von der Erde haben wir auch noch einige Flaschen sechzehn Jahre alten Lagavulin beiseite gelegt.«

»Sie meinen, Sie haben echten Scotch aus Schottland?«

»Von der Insel Islay, um es genau zu sagen. Er kostet zwölfhundert pro Flasche.«

»Den will ich haben.«

»Jawohl, Sir, und dazu vier Gläser.« Er tippte sich an die Schläfe und entfernte sich Richtung Bar.

»Wir spielen jetzt Blackjack«, erklärte Naomi lachend. Amos nahm einen Stapel Chips vom Tablett und schob sie ihr hinüber. »Kommst du mit?«

Die Band im benachbarten Raum hörte zu spielen auf, und der Hintergrundlärm sank ein paar Sekunden lang auf ein fast erträgliches Maß, bis jemand elektronische Musik in die Lautsprecher einspeiste.

»Leute, wartet noch einen Augenblick«, sagte Holden. »Ich habe einen schönen Tropfen bestellt und will einen letzten Toast ausbringen, bevor sich unsere Wege für den Rest des Abends trennen.«

Amos wartete ungeduldig auf die Flasche und verbrachte dann mehrere Sekunden damit, das Etikett zu bewundern. »Ja, na gut, dafür hat sich das Warten gelohnt.«

Holden schenkte ihnen ein und hob sein Glas. »Auf das beste Schiff und die beste Crew, die man sich nur wünschen kann, und auf das nächste Honorar.«

»Auf das nächste Honorar!«, wiederholte Amos, und schon waren die Gläser geleert.

»Verdammt auch, Käpt’n.« Alex hob die Flasche und betrachtete sie gründlich. »Können wir was davon auf der Rosinante einlagern? Du darfst es von meinem Gehalt abziehen.«

»Ich bin dafür.« Naomi schnappte sich die Flasche und schenkte ihnen nach.

Ein paar Minuten lang waren die Stapel mit Chips und die Verlockungen des Kartenspiels vergessen. Mehr hatte Holden sich nicht gewünscht. Er hatte seine Leute noch einen Moment zusammenhalten wollen. Auf jedem anderen Schiff, auf dem er gedient hatte, war die Liegezeit im Hafen eine Gelegenheit gewesen, den viel zu vertrauten Gesichtern ein paar Tage lang zu entgehen. Das hatte sich geändert, das galt nicht für diese Crew. Er verkniff es sich, rührselig zu werden und ihnen zu sagen, dass er sie alle liebte, und kippte lieber noch ein Glas Scotch.

»Eine letzte Runde vor dem Angriff.« Amos nahm die Flasche.

»Das steigt dir zu Kopfe«, warnte Holden und stieß sich von dem Tisch ab. Auf dem Weg zur Toilette schwankte er etwas stärker, als er es erwartet hätte. Der Scotch wirkte wirklich sehr schnell.

Die Toiletten der VIP-Lounge waren luxuriös. Dort gab es keine Reihen von Urinalen und Waschbecken. Vielmehr führte ein halbes Dutzend Türen zu privaten Kabinen, die jeweils eine eigene Toilette und ein eigenes Waschbecken besaßen. Holden betrat eine davon und verriegelte hinter sich die Tür. Sofort war der Lärm fast vollständig ausgeblendet. Ein paar Minuten lang konnte er sich aus der Welt zurückziehen. Wahrscheinlich war genau dies beabsichtigt. Er war dankbar, dass die Konstrukteure des Casinos dieses wahrhaft stille Örtchen eingerichtet hatten. Andererseits hätte es ihn nicht einmal sonderlich überrascht, über dem Waschbecken einen Geldspielautomaten zu entdecken.

Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, während er sein Geschäft erledigte. Er war noch lange nicht fertig, als es im Raum blitzte. In den verchromten Armaturen spiegelte sich ein leichter blauer Lichtschein. Die Angst traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen.

Schon wieder.

»Ich schwöre bei Gott«, begann Holden. Dann hielt er inne, beendete sein Geschäft und zog den Reißverschluss der Hose zu. »Miller, wenn ich mich umdrehe, sind Sie hoffentlich nicht mehr da.«

Er drehte sich um.

Miller war da.

»Hallo«, begann der tote Mann.

»›Wir müssen reden‹«, vollendete Holden den Satz und ging zum Waschbecken, um seine Hände zu waschen. Ein winziges blaues Glühwürmchen folgte ihm und landete auf dem Sims. Holden schlug mit der flachen Hand danach, doch als er sie hob, war nichts darunter.

Millers Ebenbild im Spiegel zuckte mit den Achseln. Dann setzte er sich ruckartig in Bewegung wie ein Uhrwerk, das eine Spielfigur ungelenk antrieb, zugleich menschlich und mechanisch.

»Alle sind gleichzeitig hier«, sagte der Tote. »Ich will nicht über das reden, was mit Julie passiert ist.«

Holden zog ein Handtuch aus dem Korb neben dem Waschbecken, lehnte sich an den Sims, betrachtete Miller und trocknete sich langsam die Hände ab. Er zitterte, wie er schon immer gezittert hatte. Das Gefühl, in Gefahr zu schweben und vor etwas Bösem zu stehen, kroch den Rücken hinauf, wie es früher jedes Mal geschehen war. Holden hasste das Gefühl.

Detective Miller lächelte und schien von etwas abgelenkt, das Holden nicht sehen konnte.

Der Mann hatte auf Ceres beim Sicherheitsdienst gearbeitet, war gefeuert worden und hatte sich auf eine ganz persönliche Jagd begeben, um ein vermisstes Mädchen zu suchen. Einmal hatte er Holden das Leben gerettet. Holden hatte zugesehen, wie die Asteroidenstation, auf der Miller und Tausende Opfer des außerirdischen Protomoleküls festsaßen, auf die Venus gestürzt war. Unter ihnen hatte sich auch Julie Mao befunden – das Mädchen, das Miller gesucht und zu spät gefunden hatte. Ein Jahr lang hatte das außerirdische Artefakt unter den Wolken der Venus gelitten und an seiner unverständlichen Konstruktion gearbeitet. Das Objekt war aufgestiegen, mächtige Bauteile hatten sich aus der Atmosphäre erhoben und waren wie ein gewaltiger, in den Weltraum versetzter Meeresbewohner in die Leere davongeflogen. Miller hatte diesen Flug mitgemacht.

Und jetzt war er wieder da und gab Unfug von sich.

»Holden«, sagte Miller, doch er sprach nicht mit ihm. Er beschrieb ihn. »Ja, das ist schon richtig. Sie sind keiner von denen. He, Sie müssen mir zuhören.«

»Dann sollten Sie etwas sagen. So läuft das nicht. Seit fast einem Jahr erscheinen Sie mir immer wieder, aber Sie haben noch nie etwas Brauchbares von sich gegeben. Kein einziges Mal.«

Miller tat die Bemerkung mit einer Handbewegung ab. Der ältere Mann atmete schneller und keuchte schließlich sogar wie nach einem Wettlauf. Schweißperlen glänzten auf der fahlen Haut.

»Es gab da mal ein nicht lizenziertes Bordell im Sektor achtzehn. Wir gingen rein und dachten, wir könnten fünfzehn oder zwanzig Leute einlochen. Vielleicht sogar mehr. Wir sind rein, aber der Laden war bis auf den blanken Stein ausgeräumt. Darüber sollte ich nachdenken. Das hat etwas zu bedeuten.«

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Holden. »Sagen Sie mir doch einfach, was Sie von mir wollen.«

»Ich bin nicht verrückt«, erwiderte Miller. »Wenn ich verrückt bin, töten sie mich. Mein Gott, haben sie mich getötet?« Millers Lippen formten ein kleines o, und er atmete tief ein. Die Lippen wurden dunkler, das Blut unter der Haut färbte sich schwarz. Er legte Holden eine Hand, die sich zu schwer und zu massiv anfühlte, auf die Schulter. Es war, als sei Miller aus Eisen statt aus Knochen neu zusammengefügt worden. »Es ist total in die Hose gegangen. Wir kommen da an, aber es ist leer. Der ganze Himmel ist leer.«

»Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«

Miller beugte sich vor. Sein Atem roch nach Azeton. Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte er Holden an und wollte wissen, ob der ihn verstand.

»Sie müssen mir helfen«, verlangte Miller. Die Blutgefäße in den Augen hatten sich fast vollständig schwarz gefärbt. »Die wissen, dass ich Dinge finden kann. Die wissen, dass Sie mir helfen.«

»Sie sind tot«, widersprach Holden. Er hatte es nicht geplant und sich die Worte nicht einmal zurechtgelegt.

»Alle sind tot«, sagte Miller. Er nahm die Hand von Holdens Schulter und wandte sich ab. Jetzt wirkte er verwirrt. »Beinahe, beinahe.«

Holdens Terminal summte. Er zog es aus der Tasche. Naomi hatte ihm eine Textnachricht geschickt: BIST DU DA REINGEFALLEN? Holden wollte eine Antwort schreiben, dann fiel ihm ein, dass er keine Ahnung hatte, was er ihr mitteilen wollte.

Als Miller wieder sprach, klang seine Stimme zaghaft wie die eines Kindes, voller Erstaunen und Verwunderung.

»Verdammt, es ist passiert«, sagte er.

»Was ist passiert?«

Nebenan knallte eine Tür, als ein Gast die benachbarte Kabine betrat, und Miller verschwand. Der Ozongeruch und ein paar flüchtige organische Stoffe, die an einen modrigen Gewürzladen erinnerten, waren der einzige Beweis, dass er vorher da gewesen war. Vielleicht hatte Holden es sich auch nur eingebildet.

Einen Augenblick stand er reglos da und wartete, dass der Kupfergeschmack aus seinem Mund verschwand. Dass sein Herz wieder normal schlug. So hatte er es nach den Begegnungen immer gehalten. Als er das Schlimmste überstanden hatte, spülte er sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab und rieb sich mit einem weichen Handtuch trocken. Die fernen gedämpften Geräusche des Spielcasinos schwollen zu einem Jubel an. Ein Jackpot.

Er würde es ihnen nicht sagen. Naomi, Alex, Amos – sie hatten sich ihren Spaß verdient und sollten nicht durch das Wesen, das Miller gewesen war, gestört werden. Holden war bewusst, wie irrational sein Wunsch war, es ihnen zu verschweigen, aber das Gefühl, sie beschützen zu müssen, war so stark, dass er es nicht weiter hinterfragte. Was aus Miller auch geworden war, Holden wollte sich zwischen ihn und die Rosinante stellen.

Er betrachtete sein Spiegelbild, bis er mit sich zufrieden war. Der unbekümmerte, leicht angetrunkene Kapitän eines erfolgreichen, unabhängigen Schiffs beim Landurlaub. Locker und glücklich. Er kehrte in den Höllenlärm des Casinos zurück.

Einen Augenblick lang war es, als wäre er in der Zeit rückwärts gesprungen. Die Casinos auf Eros. Die Totenhalle. Die Lichter waren ein wenig zu grell, der Lärm ein wenig zu laut. Holden ging zum Tisch und schenkte sich noch ein Glas ein. Daran konnte er sich erst einmal eine Weile festhalten. Er wollte den Geschmack und die Nacht genießen. Hinter ihm kreischte jemand vor Lachen. Es war nur Lachen.

Ein paar Minuten später erschien Naomi und trat aus dem Gewimmel und dem Chaos heraus wie die in eine weibliche Form gegossene Heiterkeit. Die halb trunkene, umfassende Liebe, die er vorher empfunden hatte, erwachte wieder, als sie auf ihn zukam. Vier Jahre lang waren sie zusammen auf der Canterbury geflogen, ehe er sich in sie verliebt hatte. Im Rückblick war ihm jeder Morgen, den er mit einer anderen aufgewacht war, ein Morgen, an dem er nicht Naomis Atem gekostet hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, was er sich damals dabei gedacht hatte. Jetzt rückte er zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Haben sie dir die Taschen geplündert?«, fragte er.

»Alex«, erklärte sie. »Sie haben Alex ausgenommen. Ich habe ihm meine Jetons überlassen.«

»Du bist eine ungeheuer großzügige Frau«, sagte er grinsend.

Naomis dunkle Augen waren voller Mitgefühl.

»Ist Miller wieder aufgetaucht?« Sie beugte sich vor, damit er sie trotz des Lärms verstehen konnte.

»Ich finde es etwas beunruhigend, dass du mich so leicht durchschaust.«

»Du bist leicht zu durchschauen. Außerdem war es nicht gerade Millers erster Überfall im Bad. Hat er dieses Mal etwas Verständliches von sich gegeben?«

»Nein«, erklärte Holden. »Ebenso gut könnte ich gegen eine Wand reden. Die meiste Zeit bin ich nicht einmal sicher, ob er mich überhaupt wahrnimmt.«

»Das kann doch unmöglich Miller sein, oder?«

»Wenn es das Protomolekül ist, das sich Miller als Anzug übergestreift hat, finde ich es sogar noch unheimlicher.«

»Da hast du recht«, stimmte Naomi zu. »Hat er denn überhaupt etwas von sich gegeben?«

»Nicht viel. Er sagte, etwas sei geschehen.«

»Was denn?«

»Keine Ahnung. Er sagte nur: ›Es ist geschehen‹, und dann verschwand er.«

Ein paar Minuten lang saßen sie mit verschränkten Fingern schweigend beisammen und genossen ihre kleine Abgeschiedenheit im Krawall. Schließlich beugte sie sich vor, küsste ihn auf die rechte Augenbraue und zog ihn hoch.

»Komm mit«, sagte sie.

»Wohin gehen wir?«

»Ich lehre dich das Pokerspielen«, versprach sie ihm.

»Ich weiß, wie du Poker spielst.«

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Meinst du, ich will kneifen?«

Sie lächelte und zupfte an ihm.

Holden schüttelte den Kopf. »Wenn du willst, gehen wir zum Schiff, trommeln ein paar Leute zusammen und spielen nur für uns. Es kommt mir so sinnlos vor, hier zu spielen. Das Haus gewinnt immer.«

»Wir sind nicht zum Gewinnen hier«, widersprach Naomi. Ihr Ernst vermittelte ihm den Eindruck, dass sie mehr als nur das Kartenspiel meinte. »Wir sind hier, um zu spielen.«

Zwei Tage später gingen die Meldungen ein.

Holden war in der Messe und aß, was er sich in einem Restaurant im Raumhafen besorgt hatte: Knoblauchsoße auf Reis, drei Sorten Gemüse und etwas, das Hühnchen so ähnlich war, dass man es leicht für echt hätte halten können. Amos und Naomi beaufsichtigten die Verladung des Proviants und der Filter für die Luftaufbereitung. Alex schlief im Pilotensitz. Auf den anderen Schiffen, auf denen Holden geflogen war, hatte er es so gut wie nie erlebt, dass die Crew schon lange vor der Abflugzeit an Bord kam. Diese Crew dagegen hatte zwei Nächte in Hotels am Raumhafen verbracht und war schließlich nach Hause gekommen. Dort waren sie jetzt alle versammelt. Daheim.

Auf dem Handterminal schaltete Holden die lokalen Kanäle durch und sah sich die Nachrichten und Unterhaltungsangebote des Systems an. Eine Sicherheitslücke im neuen Bandao-Solice-Spiel hatte es einem Piratenserver in einer Umlaufbahn um Titan ermöglicht, persönliche Informationen von mehr als sechs Millionen Menschen abzugreifen. Marsianische Militärexperten forderten eine Erhöhung der Ausgaben, um die Verluste nach der Schlacht bei Ganymed auszugleichen. Auf der Erde trotzte eine afrikanische Farmergemeinschaft dem Verbot einer bestimmten Gruppe stickstoffbindender Bakterien. In Kairo demonstrierten Befürworter wie Gegner des Verbots.

Holden schaltete hin und her, ohne die Meldungen wirklich wahrzunehmen, bis er auf einen Newsfeed mit einem roten Streifen stieß. Dann kam noch einer und ein weiterer. Das Bild über dem Artikel ließ ihm das Blut in den Adern stocken. Der Ring, wie sie die Konstruktion genannt hatten. Das gigantische außerirdische Bauwerk, das die Venus verlassen hatte und knapp zwei astronomische Einheiten außerhalb der Uranus-Umlaufbahn angehalten hatte, um sich zusammenzusetzen.

Holden las aufmerksam die Meldungen, während ihm die Furcht wie ein Stein im Magen lag. Als er aufblickte, entdeckte er Naomi und Amos in der Tür. Amos hatte sein eigenes Handterminal gezückt, auf dem Holden die gleichen roten Streifen erkennen konnte.

»Hast du das gesehen, Käpt’n?«, fragte Amos.

»Ja«, bestätigte Holden.

»Da hat ein verrückter Hund versucht, durch den Ring zu fliegen.«

»Ja.«

Trotz der riesigen Entfernung zwischen Ceres und dem Ring, trotz des gewaltigen leeren Raumes, hätte die Nachricht, dass ein Idiot mit seinem billig zusammengeflickten Schiff in das außerirdische Gebilde hineingeflogen, aber nicht wieder herausgekommen war, nur fünf Stunden unterwegs sein dürfen. Es war jedoch schon vor zwei Tagen geschehen. So lange war es den Regierungen, die den Ring beobachteten, gelungen, die Geschichte unter Verschluss zuhalten.

»Das ist es, nicht wahr?«, sagte Naomi. »Das ist es, was passiert ist.«