Das Schwert des Volkes

Geschichte, Kultur und Methodik des
traditionellen, italienischen Messerkampfes

von Roberto Laura

Meiner Familie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1
Traditional Italian Knife Fighting
Eine Einführung

1.1

Einleitung

1.2

Der Versuch einer Definition

1.3

Ein Ausflug in die Vergangenheit

1.3.1

Die ersten Schritte

1.3.2

Genua, Ligurien

1.3.3

Manfredonia, Apulien

1.3.4

Sizilien und die A.S.A.M.I.R.

1.3.5

Canosa, Apulien

1.4

Die Pfeiler des Gebäudes

1.4.1

Ein freier Geist im Dienste des Fortschritts

1.4.2

Der eine folgenschwere Fehler

1.4.3

Die zwei Kreise

1.4.4

Das Durchschreiten des Kreises

1.5

Aus einem ethischen Blickwinkel betrachtet

1.6

Fazit

Kapitel 2
Im Zeitraffer durch die Geschichte des Fechtens in Italien
Mögliche Einflüsse auf die Waffenschulen Süditaliens

Vorwort

 

2.1

Einleitung

2.2

Gladiatores

2.2.1

Die regionale Entwicklung

2.2.2

Die Gemeinsamkeiten

2.3

Der neu entflammte Geist

2.3.1

Kunst und Literatur

2.3.2

Die Kleinstaaten

2.4

Mit Schwert und Dolch

2.4.1

Fiore dei Liberi

2.5

Der Stoßdegen und die Stoßfechtschule

2.5.1

Achille Marozzo

2.5.2

Camillo Agrippa

2.5.3

Nicoletto Giganti

2.5.4

Salvator Fabris

2.5.5

Ridolfo Capo Ferro

2.5.6

Ferdinando Alfieri

2.5.7

Resümee über die fechterischen Entwicklungen, soweit sie das volkstümliche Messerfechten betreffen

2.6

Mögliche Übergänge vom Schwert zum volkstümlichen Messer. Die Verbote, sich zu duellieren bzw. Waffen zu tragen und die daraus folgende Entwicklung des Messerfechtens

2.6.1

Eine Kultur des einfachen Volkes

2.7

Der Dolch und das italienische Militär – die Arditi

2.8

Fazit

Kapitel 3
Die Waffenschulen Süditaliens, eine geschichtliche und kulturelle Übersicht
Potentielle Einflüsse, die zu deren Entstehung beigetragen haben könnten

3.1

Einleitung

3.2

Kulturelle Einflüsse vor Ort,
Legenden und erste Hinweise auf Duelle

3.2.1

Das ritterliche Puppentheater

3.2.2

Die drei spanischen Ritter

3.2.3

Der Gesang der Mafia

3.2.4

Unterdrückt im eigenen Land

3.2.5

Das Duell – erste Hinweise und Verbote

3.3

Mögliche weitere Einflüsse auf die Fechtschulen des Südens

3.3.1

Spanien

3.3.1.1

Allgemein

3.3.1.2

Manual del Baratero

3.3.2

Die Briganten

3.3.3

Der konkrete Einfluss der kriminellen Syndikate auf die technische Entwicklung des Messerfechtens

3.3.3.1

Die Camorra

 

Allgemein

 

Die Struktur der Camorra

 

Sfregi – die Schandmale

 

Die zumpata – das Duell mit dem Messer

 

Gründung der Gesellschaft

 

Die Herkunft des Namens und die Kostüme der Gesellschaft

 

Tribunale, Ordnungskräfte und die guappi

 

Die Camorra innerhalb der Gefängnisse

3.3.3.2

Die ‘Ndrangheta

3.3.3.3

Die Mafia/Cosa Nostra

 

Allgemeiner Teil und Namensherkunft

Die Beati Paoli

 

Die ersten (schriftlichen) Nachweise des Namens

 

Die Übernahme der Macht

 

Die hierarchische Struktur des Clans

 

Die Berufung zum Mafioso

3.3.3.4

Die Stidda

3.3.3.5

Sacra Corona Unita (SCU)

3.3.4

Die Glücksspiele des Gesellschafft: smazzolatina, morra bzw. tocco sowie Tattoos

3.4

Uomini di vita, uomini di malavita und die bulli

3.5

Der Einfluss des Katholizismus auf die Fechtschulen Süditaliens

3.6

Die tarantella, die pizzica-pizzica, die imbrecciata

3.7

Fazit

Kapitel 4
Die Regeln der >>Sprache<< und der >>Gesellschaft<< Eine Einleitung in die >>Regeln der Schule<<,
Graduierungen und Grenzwertiges

4.1

Einleitung

4.2

Zweitausendfünfhundert Jahre Akusmatik bzw. Symbola

4.2.1

Ein wichtiger Hinweis

4.3

Jargons – baccagliò, serpentìna und baccàgghiu

4.3.1

Kampanien – ein alter Jargon, vorwiegend aus Neapel

4.3.2

Nordapulien – baccagliò

4.3.3

Kalabrien – serpentìna

4.3.4

Sizilien – baccàgghiu (Region Palermo)

4.4

Graduierung und Titel innerhalb der Schulen bzw. der Clans

4.5

Grenzwertiges

4.5.1

Allgemein

4.5.2

Grenzwertiges – San Michele Archangelo, der Erzengel Michael

4.6

Die Regeln der favella oder auch codici sociali

4.6.1

Codice sociale del Aspromonte – die gesellschaftlichen Regeln aus Kalabrien

4.6.2

Weitere Regeln sowie Schwüre, Taufen und Poesien und auch einige ursprüngliche Regeln aus dem Neapel des 19. Jahrhunderts

4.7

Schriftverkehr und nonverbale Kommunikation

4.8

Ein aktueller Fall

4.9

Fazit

Kapitel 5
Die zwei Pfade
Fechtschulen mit und ohne Duellkonvention

5.1

Einleitung

5.2

Eindrücke eines Duells

5.3

Questione und dichiaramento – eine Definition

5.3.1

Appicceco, raggiunamento und questione

5.3.1.1

Appicceco

5.3.1.2

Raggiunamento

5.3.1.3

Questione bzw. auch dichiaramento – der Ablauf

5.4

Die Verwendungsart verschiedener Messertypen und Beispiele klassischer Auseinandersetzungen mit dem Messer

5.5

Die eine große Gemeinsamkeit

5.6

Kulturelle, technische und taktische Eigenheiten – Schulen des Saals

5.7

Kulturelle, technische und taktische Eigenheiten – Systeme der Selbstverteidigung

5.8

Fazit

Kapitel 6
Cavalieri d‘umiltà – die Ritter der Demut – die
elegante Schule für Messer und Stock aus
Manfredonia, Apulien

6.1

Einleitung

6.2

Nach den Regeln der Schule – die geheimen Messerschulen Apuliens

6.3

Coltello pugliese – das apulische Messer

6.3.1

Cavalieri di umiltà (die Messertradition der Ritter der Demut aus Manfredonia) – allgemeines

6.3.2

La scuola – die Schule

6.3.2.1

Waffengattungen, favella und baccagliò

6.3.2.2

Gymnastik

6.3.2.3

Didaktik – Der Weg der Formen

6.3.2.4

Didaktik – Der Weg der Figuren

6.3.2.5

Didaktik – Der Weg der Stiche

6.3.2.6

Die tirata bzw. der tiro di sfida – das Sparring bzw. die Herausforderung

 

A pose e figure

 

A regola di scuola/a piena regola di scuola

 

A chi ne sà più/a chi più ne sà

6.3.3

Regole di scuola – die (technischen) Regeln der Schule

 

Saluto

 

Giro/girata

 

Tre passi giranti/tre passi del giro

 

Passi dello studio dell’averssario

 

Saltelli

 

Passo al mancino

 

Passi striscianti

 

Chiamata semplice

 

Uscita con sparata di colpo

 

Mezzo ponte

 

Parata chiusa

 

Schiacciamento/Schiacciata

 

Braccio di sbarramento

 

Quartiatura

 

Mezza galeotta, mezza galeotta del mancino, galeone

 

Catenella

 

Specchietto

 

Chiusure

 

Calci

 

Fuori colpo

 

Noch einige Besonderheiten

6.3.3.1

Weitere Fechtstellungen – die pose

6.3.4

Die Regeln der Schule wie auch die Unterweisung aus der Perspektive des Meisters einer verwantdten Tradition

6.3.4.1

Das Interview

6.3.4.2

Eine freie Erzählung

6.4

Fazit

Kapitel 7
Scuola Ruotata – die kreisende Schule – die
dynamische Tradition für Duell und
Verteidigung aus Riposto, Sizilien

7.1

Die A.S.A.M.I.R.

7.2

Die Geschichte Siziliens, der größten Insel des Mittelmeers

7.3

Die zahlreichen geheimen Schulen des Messers auf Sizilien

7.3.1

Allgemein

7.3.2

Das Messerduell im italienischen Verismus

7.4

Die fünf großen Schulen der Insel – ein allgemeiner Überblick

7.4.1

A battiri – die schlagende Schule

7.4.2

Scuola riali – die königliche Schule

7.4.3

Scuola missinisi – die Schule aus Messina

7.4.4

Scuola fiorata – die blumige Schule

7.4.5

Scuola ruotata – die kreisende Schule

7.5

Das Messer der scuola ruotata – ein genauerer Blick

7.5.1

Allgemeines

7.5.2

Die Lektionen – eine kleine technische Einführung

 

Corridoio stretto – der enge Flur

 

Corridoio largo – der weite Flur

 

Colpi d‘attacco – die Angriffsschläge

 

Colpo d‘assalto – die Überfallschläge

 

Passi giranti – die drehenden Schritte

 

I quattro angoli – die vier Ecken

7.5.2.1

Piante – die systemspezifischen Fechtstellungen

7.5.2.2

Die schiacciata – die Hauptparade der Stichschule

7.5.2.3

Schule der paranza vs. Schule des Messers

7.6

Fazit

Kapitel 8
Cielo e meraviglia – Himmel und Wunder – die
bäuerliche Tradition zur Selbstverteidigung
aus Canosa, Apulien

8.1

Einleitung

8.2

Cielo e meraviglia – das System

8.2.1

Die Ikone des Systems – das Messer und der Rosenkranz

8.2.2

Die Methode des Messers mit der Kordel

8.2.3

Die Didaktik

8.2.4

Posture – die Garden

8.2.5

Die ersten Schritten – die Griffvarianten

8.2.5.1

Die ersten technisch-taktischen Schritte – salve, die Salven

8.2.5.2

Die ersten technisch-taktischen Schritte II – spassi, das Vorbeischreiten

8.2.5.3

Die ersten technisch-taktischen Schritte III – la parte irrazionale, die irrationale Seite

8.2.6

Die mostranze

8.2.7

Das Messer in Verbindung mit Hilfsgegenständen

8.2.8

Zu guter Letzt – der monsignore

8.2.9

Die Improvvisata

8.3

Fazit

Kapitel 9
Bastone genovese – der genuesische Stock –
die kompakte Methode der Selbstverteidigung
mit Stock, Messer und der leeren Hand aus
Genua, Ligurien

9.1

Eine allgemeine Einleitung über die Methoden des Nordens

9.2

Der bastone genovese – eine Einführung

9.3

Der antike beidhändige Stock aus Genua

9.3.1

Die Beschaffenheit des Stockes und eine sehr grobe Übersicht der Techniken

9.4

Der Spazierstock

9.5

Die waffenlosen Künste der Genuesen

9.6

Der Knochenbrecher – desfa osse

9.7

Das Messer – scherma du tagan zeneise

9.7.1

Grundtechniken der Messerschule

9.8

Fazit

Kapitel 10
Traditionelle Messer für Duell und Verteidigung

10.1

Einleitung

10.2

Genua und Korsika

10.2.1

Genua

10.2.2

Korsika

10.3

Latium

10.4

Kampanien

10.5

Basilikata

10.6

Kalabrien

10.7

Sizilien

10.8

Fazit

Literaturverzeichnis

Bildverzeichnis

Danksagung

Einleitung

>>Bei diesem Vorhaben ist anzumerken, dass im ganzen Süden Italiens, beginnend beim Landleben vor Rom, das Messer nicht als verräterische Waffe, sondern als >Schwert des Volkes< betrachtet wurde.<<

Corrado Tommasi-Crudeli,

La Sicilia nel 1871,

Florenz, 1871

Dieses Buch dient dazu, dem Leser den Weg der traditionellen italienischen Fechtschulen mit Messer und Stock näher zu bringen und dadurch ein Stück zu deren Erhalt beizutragen. Es erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber wie soll man die Geschichte des süditalienischen Messers erzählen? Bis noch vor wenigen Jahren lagen diese alten Künste für Unbeteiligte im Verborgenen. Es ist eine Geschichte der Verschwiegenheit, der omertà. Schwüre und Bünde sowie die Angst vor Vergeltung aber auch der Stolz, einer geheimen und ritterlichen Gesellschaft anzugehören, verhinderten mitunter, dass die Geheimnisse der Klinge – aber auch die des Hirtenstockes – an fremde Ohren drangen.

Die Furcht, Spuren zu hinterlassen bzw. entlarvt zu werden, oder auch der Analphabetismus, der im Italien des 19. Jahrhunderts in den unteren, ländlichen Schichten wie auch im städtischen Subproletariat Süditaliens präsent war, erzeugte zudem eine Kultur der reinen mündlichen Überlieferung. Und so begann meine Forschung für dieses Buch, vor dem ich gedanklich schon viele Jahre sitze, im Dunkeln. Sie war zuerst vornehmlich von Spekulationen geprägt – von Annahmen also. Im Laufe der Jahre beschäftigte ich mich nicht nur körperlich, vielmehr auch geistig und literarisch mit dieser Subkultur meines Geburtslandes. Ich las zudem viel Sekundärliteratur – Bücher, die mit der Thematik des Messers auf den ersten Blick weniger zu tun haben und sich eher der Geschichte, der Kunst und der Kultur Italiens widmen.

Um abwägen zu können, wann eine Sache substantiell ist bzw. wann sie es nicht ist, sollte man weitgehend alles verstehen, auf das sie sich bezieht. Und nur durch dieses Verständnis lässt sich Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem unterscheiden. So ging ich allen Spuren und Gerüchten nach. Und dass diese Suche so geheimnisvoll war, machte ihren Reiz erst aus. Es konnte aufgrund der mangelnden schriftlichen Nachweise auch nicht anders sein. Das war der Weg, den es zu bestreiten galt. Ich begab mich auf Reise – auf viele Reisen mittlerweile. Dabei traf ich wahre Meister und auch solche, die sich nur so nannten. Einige von ihnen begleitete ich für eine gewisse Weile. Mit anderen arbeite ich heute noch zusammen.

All diese Meister – aber auch alle Forscher, die wie ich ihre Zeit der Entdeckung, Aufschlüsselung und Bewahrung dieser Traditionen widmen – sind Pioniere, Bindeglieder der Vergangenheit zur Moderne. Durch diese Forschung eröffnen sich uns heute Welten mit eigener Kultur, Tradition und Geschichte, aber auch mit eigener Wertvorstellung und Rangordnung. Dennoch ist Italien bis heute, trotz aller bisherigen Pionierleistungen und Publikationen zum Thema, in Sachen Kampfkunst eine terra incognita.

Daher möchte ich dem Leser diese bis dato >>unbekannte Welt<< ein wenig näher bringen. Bei diesem Werk handelt es sich deshalb nicht nur um die bloße Erklärung der Bewegungsmuster wie auch der Prinzipien, Techniken und Taktiken: Soweit mir bekannt und in diesem Kontext notwendig und interessant, erörtere ich auch die möglichen geschichtlichen Entwicklungen und ferner die kulturellen Aspekte der volkstümlichen italienischen Fechtweise. Dieses Buch ist deshalb auch nicht mit allzu vielen Bildern versehen – es stellt eher die Inhalte in den Vordergrund.

Ohne ein Grundverständnis für die geschichtlichen Zusammenhänge einer Epoche, für deren Kultur und Traditionen und für die Mentalität der jeweiligen Bevölkerung, entwickelt sich eine Waffenkunst zu einem seelenlosen >>Etwas<<. Sie wird zu einem reinen Instrument des Todes und damit zu einer toten Kunst. Auch glaube ich nicht, dass ohne eine Spur kultureller Kenntnis tiefe Leidenschaft innerhalb der Kunst entstehen kann. Die italienischen Waffenkünste sind weit mehr als bloßes Fechten: Sie bestechen durch Ausdrucksstärke und Eleganz, Rhythmus und kulturelle Tiefe. Kultur und Geist können urban oder landwirtschaftlich geprägt sein. Sie sind teilweise religiös inspiriert oder entspringen Legenden und Mythen um Soldatentum beziehungsweise Ritterlichkeit. Auch wurden sie zum Teil von den süditalienischen Verbrechersyndikaten beeinflusst.

Zudem beinhalten sie wiedererkennbare Muster: Je nach Region ist entweder der tänzerische Charakter ausgereifter, die Haltung stolzer oder auch geerdeter. Aber die gemeinsamen Nenner sind stets sichtbar: Man bewegt sich leichtfüßig entlang eines (gedachten) Kreises und durchschreitet diesen auf Geraden oder Ellipsen. Man kämpft aus Garden (Fechtstellungen) und steht meist profiliert zum Gegner. Der geradlinigen Stich, die Punkt-zu-Punkt-Verbindung, ist das zentrale technische Mittel aller Schulen und Systeme.

Die Didaktik ist meist recht klar gegliedert. Sie verläuft weitgehend in Bahnen oder setzt sich aus diversen Lektionen bzw. Figuren zu einer Form zusammen. Im Grunde kann die Wertigkeit dieser Entwicklungen des einfachen Volkes durchaus mit den Kunstformen einer Hochkultur verglichen werden, die im Bürgertum oder auch beim Adel beliebt waren, wie zum Beispiel mit dem Ballett. Um das Wesen dieser Künste begreifen zu können, um sich des Wertes wirklich gewahr zu werden, sollte also beides bekannt sein: die geistige Ausrichtung des jeweiligen Kulturkreises und die technisch-taktischen Werkzeuge.

Meine Intention geht einmal dahin, Fragen aufzuwerfen:

Des Weiteren möchte ich auf mögliche Einflüsse aufmerksam machen, die so vorwiegend in den Regionen auftraten, die heute die Heimat der volkstümlichen Schulen des Messers und des Stockes in Italien bilden. Denn auch wenn Indizien letztendlich keine Beweise sind, berechtigen diese zu vorsichtigen Annahmen, wenn sie als stets wiederkehrende Muster auftauchen. Im Verlauf dieses Buches wird auf die spezifischen, kulturellen Eigenschaften dieser Traditionen eingegangen (natürlich auch kritisch). Besonders der Aspekt der Ritterlichkeit ist es, der den Charakter wie auch den Mythos einiger italienischer Messer- und Stockschulen geprägt hat. Dieser Wesenszug, der vorwiegend viele süditalienische Fechtschulen des Volkes weitgehend von denen anderer Kulturen unterscheidet, unterliegt dem codice d‘onore, dem Ehrenkodex. Auch spielt(e) die oben bereits angesprochene Verschwiegenheit eine große Rolle. Einige dieser Fechtschulen wurden durch Volksschichten mitgeprägt, welche Verschwiegenheit und die Mitgliedschaft zu sogenannten >>Inneren Kreisen<< voraussetzten.

Andere entstammten Zeiten und Umständen, die vorwiegend die Fähigkeit zur Verteidigung erforderten. Es sind im Geheimen gereifte Künste, geformt durch Erfahrung, Stolz und Blut.

Glaubt man einigen Meistern heutiger Zeit, lassen sich die italienischen Schulen bzw. Systeme des Waffenkampfes grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilen: die Fechtschulen des Saals – scuole da sala, Fechtschulen mit zusätzlicher Duellkonvention – und die reinen Systeme der Verteidigung bzw. Schulen der Straße – sistemi da difesa bzw. scuole da strada. Da es sich bei allen italienischen Traditionen des Fechtens mit Messer und Stock, ob mit Duellkonventionen oder bloße Verteidigung, nicht um akademische Schulen, vielmehr um Schulen des einfachen Volkes handelt, sind viele dahingehenden Überlieferungen mit Vorsicht zu genießen. Eine exakte wissenschaftliche Überprüfung ist aufgrund mangelnder Quellenlage nicht mehr wirklich möglich.

Mir geht es hierbei nicht um die Beweisbarkeit etwaiger Auseinandersetzungen in Hinterhöfen oder Kneipen oder illegaler Duelle auf verlassenen Bauernhöfen (Anm.: Duelle und bewaffnete Streitigkeiten fanden in weiten Teilen Europas des 19. Jahrhunderts nämlich in nahezu allen Schichten statt, jedoch gab es kein offizielles Duellwesen der unteren Schichten. Speziell vor der Mitte des 19. Jahrhunderts aber auch danach fanden diese in Italien nur im Verborgenen statt. Duelle durften offen vorwiegend ab dem mittleren Bürgertum ausgetragen werden. Leibeigene durften sich gar nicht duellieren). Es geht mir vielmehr um definitive Nachweise für eine tradierte Vorgehensweise hinsichtlich Methodik und Didaktik, also um Belege für die Existenz einer präzisen, technischen Unterweisung.

Und das ist ein erheblicher Unterschied in Bezug auf eine fundierte Dokumentation. Solche >>Duelle<< oder regellose Messerkämpfe hätten auch leicht zwischen ungeschulten Straßenstechern stattfinden können, ohne dass diese jemals eine technische Unterweisung erhalten haben mussten.

Um die eigene Schule aufzuwerten bzw. um ihr einen mystischen Hauch zu verleihen, schuf man zudem Legenden um Rittertum und Ehre, die dann von Generation zu Generation ungeprüft übernommen wurden. Die Legenden wurden kulturelles Gut und zum Teil betrachtete man sie als >>geschichtliche Realität<<. Diese Entwicklung ist jedoch nur noch in einigen Fechtschulen mit Duellkonvention vorzufinden. Die meisten italienischen Fechtschulen sind durchaus sachlich und bekennen sich zur mangelnden Quellenlage.

Vermutungen, wie interessant sie auch sein mögen, sollte man selbstverständlich als solche ausweisen. Aber gleichzeitig darf man sie nicht, sofern kein eindeutiger Beweis vorliegt, der sie widerlegt, von vornherein als unmöglich ausschließen. Exakt auf diese differenzierte Weise werde ich in diesem Buch verfahren.

Um dem Leser eine deutlichere Vorstellung zu geben, werden einige dieser Schulen und Systeme eingehender beschrieben. Diese Künste erlernte bzw. erlerne ich von verschiedenen Meistern, die heute teilweise als >>Erben<< ihres Familien- bzw. Systemzweiges betrachten werden können. Auch werde ich weitgehend nur über die Schulen und Systeme ausführlich sprechen, die ich kennenlernen durfte. Über Systeme und Traditionen zu sprechen oder auch nur zu spekulieren, die sich meiner persönlichen Kenntnis entziehen, betrachte ich als anmaßend. Es würde zudem von mangelnder intellektueller Integrität zeugen. Dieses Buch enthält dahingehend eine Art Ausnahme, die ich aber als solche eindeutig gekennzeichnet habe. Wobei ich diesbezüglich erwähnen möchte, dass ich lediglich ein Interview mit der einstigen Ikone der südapulischen scherma salentina übersetzt habe, um Gemeinsamkeiten zwischen den apulischen Traditionen besser aufzeigen zu können. Das heißt folglich, dass nicht ich diese Schule beschrieben habe, sondern der letzte große Meister dieser Tradition selbst (siehe Kapitel 6.3.4, Seite 469).

Das 21. Jahrhundert erlaubt uns zum Glück, diese Kampfsysteme nur noch aus dem Blickwinkel historisch bzw. kultureller Neugierde zu betrachten, nicht mehr aus Notwendigkeit. Die Aspekte des Lernens und des Verstehens stehen heute im Vordergrund. Des Weiteren verbindet uns der freundschaftliche Austausch untereinander und das Analysieren und Ausarbeiten miteinander. Auch ermöglicht diese Forschung dem Neugierigen, sich auf Kulturreise zu begeben, die verschiedenen Winkel Italiens zu bereisen, unterschiedliche Denkweisen zu erfahren wie auch die kulinarischen Leckerbissen der Halbinsel zu kosten. Und durch die einem Mikrokosmos gleichende Komplexität, gewährt diese Kunst zudem – sofern man das möchte – einen sehr interessanten anthropologischen Ansatz.

Abgesehen vom bastone genovese habe ich weitere mir bekannte Fechttraditionen Norditaliens bewusst weggelassen, da mir die Quellenlage unzureichend und auch zu spekulativ erscheint. Aber vor allem deshalb, da ich meine Kenntnisse hinsichtlich dieser Systeme als nicht ausreichend betrachte, um abschließend urteilen zu können. Die Quellenlage zum bastone genovese lässt meines Erachtens nach ebenfalls zu wünschen übrig.

Den Grund, weshalb ich diese Tradition trotzdem erwähne, habe ich in Kapitel 1.3.2 entsprechend dargelegt. Und weil einige Meister zu diesem Zeitpunkt selbst ein Buch in Planung haben, werde ich deren Schulen nur soweit erklären, dass ich diesen Werken den Inhalt nicht vorweg nehme (siehe die Kapitel 6 bis 9). Neben der hypothetischen Geschichte und den mir mündlich überlieferten Legenden und Mythen, werde ich die Prinzipien dieser Künste erläutern sowie auch einige technische Eigenheiten benennen.

Das Buch ist wie folgt gegliedert:

Dieses Buch habe ich bewusst in der Ich-Form verfasst. Zwar mache ich mich somit angreifbarer, jedoch erhält der Inhalt dadurch eine persönliche Note. Zudem ist es mir wichtig klarzumachen, wie ich die Dinge sehe, sei es geschichtlich, kulturell, philosophisch oder auch fechterisch.

Ferner bitte ich um Beachtung, dass ich aus stilistischen Gründen und aufgrund sprachlicher Vereinfachung bewusst keine gendergerechte Sprache verwendet habe. Schreibe ich vom >>Schüler<<, >>Praktikanten<<, >>Lehrer<< oder auch vom >>Meister<<, sind damit gleichwertig Damen und Herren gemeint. Es wäre mir eine große Freude, würden sich Frauen vermehrt unseren Künsten widmen. Dies würde auch im Sinne der Tradition stehen, wonach sich im Mezzogiorno des 19. Jahrhunderts ebenfalls Damen zum Duell trafen.

Auch habe ich mich weitgehend an die italienischen Regeln zur Groß- und Kleinschreibung gehalten: Italienische Wörter sind klein geschrieben, sofern sie nicht am Anfang eines Satzes stehen oder es sich nicht um Namen von Personen oder Orten handelt. Das erleichtert dem Leser die Lektüre, da er dadurch Fachtermini besser von Eigennamen unterscheiden kann. Die Gliederung des Buches habe ich an die wissenschaftliche Vorgehensweise angelehnt, wonach jedes Kapitel zuerst eine Ziffer erhält. Die thematisch dazu gehörenden Unterpunkte werden durch Folgeziffern nach einem Punkt hinter jeder weiteren Ziffer als solche gekennzeichnet.

Einige Lehrer und Meister wollten nicht benannt werden, einige möchte ich nicht benennen. Ich bitte daher um Verständnis, wenn nur diejenigen Meister namentlich erwähnt werden, mit denen ich freundschaftlich zusammenarbeite bzw. von denen ich nachweislich zertifiziert wurde.

In diesem Sinne wünsche ich dem Leser eine angenehme und interessante Reise in die verschiedenen Epochen und Winkel Italiens, der geschichtsträchtigen Apenninhalbinsel im Süden Europas.

Roberto Laura