Horst Beyer
Olympischer Zehnkampf in Versen
Gedichte
Autobiografische Erzählungen
Gedanken – gehört und empfunden
Copyright: © 2017: Horst Beyer
Umschlag & Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
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Von allem
was dir begegnet, widerfährt,
gelingt oder misslingt,
dich erfreut oder bedrückt,
beglückend erhebt, in Traurigkeit stürzt,
bleibt etwas in dir.
Die Summe und Dichte
der dabei empfundenen Ereignisse
machen ein erfülltes Leben aus.
Mit anderen Worten:
„Du kannst reich sein!“
Dort
wo das Sein
dem Körper dient allein
und
wo die Kraft des Seins
allein vom Geiste wird verzehrt
zeigt sich
das Sein im Sein
verkehrt.
© by horst beyer * hamburg/mainz, 2017
Ein erster Blick …
…dann noch ein zweiter
Erster Tag
100 Meter
Weitsprung
Kugelstoß
Hochsprung
400 Meter
Zweiter Tag
110 Meter Hürden
Diskuswurf
Stabhochsprung
Speerwurf
1500 Meter
Verstehe dein Ringen um Exzellenz
als ein
> Gegeneinander im Miteinander <
Ich las von der antiken Welt,
Von wilden Schlachten, großen Spielen,
Habe als Kind mir vorgestellt,
Als edler Held Ruhm zu erzielen.
Den Großen der Vergangenheit,
Zu folgen ihrem noblen Stil,
Wie mancher Junge meiner Zeit,
Empfand ich bald als lohnend Ziel.
Zehnkämpfer wollte ich dann werden,
Vom Jüngling zum Athleten reifen,
Wollt’ zu den Besten zähln auf Erden,
Nach allerhöchstem Lorbeer greifen.
Die Zeiten sind für mich vergangen,
Mein Blick jedoch streift oft zurück,
Ein großes Spiel neu einzufangen,
Athletentum als Lebensglück.
So gibt in reifen Mannesjahren,
Mein Innerstes hier einmal frei,
Was ich in Kämpfen hab erfahren,
Auch, welches Fühlen war dabei
DER ERSTE WETTKAMPFTAG
Dem Fiber gleich ist mein Empfinden,
als man uns an den Start geführt,
muss die Erregung überwinden,
obwohl es in mir mächtig rührt.
Erste Disziplin
Der 100 Meter Lauf
Die Sprintkraft bringt die Schnelligkeit,
Der ersten Prüfung ihren Sinn,
Bei höchstem Einsatz Lockerheit
Erziel’ ich Punkte zu Beginn.
Der Start ist ganz besonders wichtig,
Ihn nicht verschlafen, zuck nicht zu früh,
Schnell reagieren, so ist’s richtig.
Im Rennen ganz gelöst dann bleiben,
Den Körper leicht nach vorne neigen,
Den Atem möglichst lang anhalten,
Geschwindigkeit nun voll entfalten.
Und weiter kraftvoll mit den Tritten,
Nicht kürzer werden mit den Schritten,
Die Arme geben kräftig Schwung,
Endlich durchs Ziel mit einem Sprung.
Olympischer Endkampf Tokio1964
Zieleinlauf 100m, Bahn2: Horst Beyer
Zweite Disziplin
Der Weitsprung
Jetzt gilt’s zu springen, möglichst weit,
Rhythmischer Anlauf – Schnelligkeit,
Im Lauf sich zur Exaktheit zwingen,
Ich will genau vom Balken springen.
Erster Versuch auf Sicherheit,
Ist gültig, jedoch nicht sehr weit.
Die Sieben sollt’ vorm Komma stehn,
Hoff’ sie beim nächsten Sprung zu sehn.
Ich treffe ganz genau den Balken,
Nach sieben Metern lande ich,
Nur kann ich die Balance nicht halten
Und fall’ zurück: Das ärgert mich.
Der letzte Versuch war sehr gut,
Die zweite Übung ist vollbracht,
Ein weiter Sprung mit allem Mut,
Auch taktisch hab ich’s gut gemacht.
Dritte Disziplin
Das Kugelstoßen
Ich übte viel fürs Kugelstoßen
In Vorbereitung auf den Kampf.
Vom Wuchs her zähl’ ich zu den Großen,
Doch fehlte mir der rechte „Dampf“.
Den holte ich mir mit Gewichten,
Zweimal pro Woche an die Eisen,
Aus tiefer Beuge mich aufrichten,
Auch mit den Hanteln Armekreisen.
So steigerte ich meine Kraft,
Davon wurd’ auch die Technik gut.
Hab fünfzehn Meter schon geschafft.
Für heute bin ich voller Mut.
Der erste Versuch mit Bedacht
Muss gültig sein, ich darf nicht fallen.
Mein Krafteinsatz war viel zu schwach,
Lieg noch zurück, fast hinter allen.
Beim zweiten Stoß bemüh’ ich mich
All das Erlernte einzubringen,
Versagensängste regen sich,
So kann kein guter Stoß gelingen.
Zum letzten Durchgang in den Kreis,
Im Kopf beginnt es sich zu drehn,
Zugleich ist’s in mir kalt und heiß,
Wer mal dabei war, kann’s verstehn.
Trotz Nervenflatterns wird’s ein Stoß
Von leidlich respektabler Weite,
Die Spannung in mir war zu groß,
Vorbei geschrammt an einer Pleite.
Vierte Disziplin
Der Hochsprung
Die vierte Übung, das Hochspringen.
Aus rundem Anlauf soll’s gelingen.
Ich springe mit dem rechten Bein,
Kräftig und schnell setz ich es ein.
Die Körpergröße macht was gut,
Dazu gesunder Wagemut,
Einfach zu springen ist es nicht,
Hab’ ja die Latte nicht in Sicht.
Da hat „Dick Fosbury“ * erkannt,
Dass man die Latte ganz gewandt
Rücklings zu überqueren hätte.
Früher gewiss ein Flop, ich wette
Denn damals zeigen alte Bilder
war’s Landen eine Kunst für sich.
Der Aufprall heute ist viel milder,
Ein Fortschritt ist das sicherlich.
Deutsche Meisterschaft – München 1972
Zwei Meter sind hier übersprungen,
Sehr oft ist das noch nicht passiert.
Heut ist es mir zum Glück gelungen,
Hab viele Punkte hier kassiert.
Fünfte Disziplin (und damit letzte des ersten Tages)
Der 400 Meter Lauf
Nun kommen wir zum langen Sprint,
Sehr angespannt hier alle sind.
Ein Unwohlsein erreicht mich früh,
Beim schnürn der Spikes schon weiche Knie.
Der Startschuss löst die Angst in mir,
Fühl’ mich bald locker und marschier’,
Sag mir, die ersten Meter: „Voll“,
Dann auf der Gegenbahn - da roll!
Eingangs der zweiten Kurve dann
Befehl ich mir: „Jetzt greifst du an!“
Man weiß, die Kurve ist sehr weit,
Am End’ von ihr bin ich schon „Breit“.
Spüre, es wird auch dieses Mal
Zum Ziel hin eine wahre Qual.
Wir laufen nicht auf Sieg allein,
Immer am Limit muss es sein.
TOKIO 1964
Der Härtetest des ersten Tages:
„Die Stadionrunde ist’s, ich sag es!“
Fünfzig Sekunden dauert’s rund,
Danach fühlt’ ich mich nie gesund.
Die Eigenart im Zehnkampflager ist,
dass Fähigkeiten sind verteilt,
beim Einen sind die Würfe mager,
doch in den Läufen er enteilt.
Der And’re ist ein „Neunmalkämpfer“,
sich wacker hält auch bis dahin,
zur zehnten Übung dann der Dämpfer,
am Ende kaum ein Punktgewinn.
Gesucht werden die selt’nen Könner,
der Mann, dem alles gut gelingt.
Beim Werfen stark ist, schnell als Renner,
ausdauernd läuft und kraftvoll springt.
DER ZWEITE WETTKAMPFTAG
Ins Stadionrund sind wir geführt,
die Nervenspannung jeder spürt.
Respekt macht dieser Hürdenwald.
Der erste Startschuss folgt nun bald.
Sechste Disziplin
Der 110 Meter Hürdenlauf
Ich kenn’ die Wettkampfprozedur
Und konzentriere mich ganz stur.
Vor mir der ganze Hürdenwall,
Bin in den Blöcken – Schuss und Knall.
Der Wettkampfwille treibt mich mächtig,
Die erste Hürde krieg’ ich prächtig,
Die zweite, dritte, vierte – gut,
Erstmals verspür’ ich Siegesmut.
Leicht schlage ich die fünfte an,
Verlass’ zum Glück nicht meine Bahn,
Die sechste nehm’ ich mit Bravour,
Touchier die siebte wenig nur.
Dann - in die achte hau’ ich rein,
Zu flach zog ich mein Nachziehbein,
Komm’ so ein wenig aus dem Tritt,
Die neunte nehm’ ich auch noch mit.
Die zehnte wieder ganz geschwind,
Ein wenig half der Rückenwind,
Stürze mich in das Ziel hinein,
Ein Schmerz durchzieht das Nachziehbein.
Am Ende doch Zufriedenheit,
Erreichte eine gute Zeit.
Bis hierher lief die Sache toll,
Befind’ mich im geplanten Soll.
Stuttgart : Deutsche Meisterschaften 1970
K. Bendlin
H. Beyer
B. Knut
W. Linkmann
Siebente Disziplin
Das Diskuswerfen
Zehn Hürden liegen hinter mir,
Die größte aber find’ ich hier,
Trainieren kann man noch so viel,
Der Diskuswurf bleibt diffizil.
Fast liegen meine Nerven blank,
Mir ist’s, als wär’ ich plötzlich krank,
Auf einmal ist der Ring so klein,
Das Wurffeld könnt’ auch weiter sein.
Gerade bin ich konzentriert,
Wird eine Hymne intoniert.
Nun ist es mit den Nerven aus,
Der erste Wurf rutscht völlig raus.
Der zweite Versuch steht jetzt an,
Ein weiter Anschwung, dreh’ mich dann,
Hab’ schnell gedreht und ziehe kräftig,
Fühle im Schwung, es war zu heftig.
Die Scheibe flattert - segelt nicht,
Gewünschte Weite nicht in Sicht.
Wenn alles wirkt entspannt und leicht,
Man einen guten Wurf erreicht.
Betrete letztmals nun den Ring,
Ich streichle das verflixte Ding,
Geh’ locker in die Drehung rein,
Bemüh’ mich ganz gelöst zu sein,
Befind’ mich nun zum Wurf bereit,
Zieh’ ab, der Diskus segelt weit,
Geh’ hinten raus, es ist vollbracht,
Habe es doch noch gut gemacht.
ARMENIEN / UDSSR, 1965
Achte Disziplin
Der Stabhochsprung
Hier scheiden sich die Zehnkampfgeister,
Verabschiedete so mancher Meister
Sich früh - ich muss ganz ruhig bleiben,
Entgehe so dem Nerventreiben.
Dennoch wird jeder kalkulieren,
Was ist noch drin, was zu verlieren?
Was mich betrifft, bin hier kein As,
Am Stab bisher nur Mittelmaß.
Darum fange ich niedrig an,
Drei Meter achtzig, laufe dann
Zum Kasten, steche ein die Stange,
Streife die Latte, sie wackelt lange.
Den Stab im vollen Lauf zu tragen,
Den Aufschwung dann gekonnt zu wagen,
Beim Einstich ihn extrem zu biegen,
Um frei und hoch hinaus zu fliegen,
Bedarf viel Mut, Kraft und Geschick,
Bricht mir der Stab, weh dem Genick.
Die erste Höh’ ist übersprungen,
Die Besten sind noch nicht zu sehen,
Der nächste Sprung ist auch gelungen,
So kann es hoch nach oben gehen.
Tatsächlich, es entwickelt sich
Mein Sprunggefühl ganz wesentlich,
Heut’ schwinge ich mich hoch in Höhn,
Wo man zuvor mich nie gesehn.
Wollt’ mit den Besten ich vergleichen,
Kann meine Leistung noch nicht reichen.
Dennoch, ich ging hier gut zu Werke,
Zum Schluss hin kommt ja meine Stärke.
Deutsche Meisterschaften 1964
Olympiaausscheidung in Karlsruhe
Neunte Disziplin
Das Speerwerfen
Zwei Meter sechzig misst der Speer,
Hat achthundert Gramm Gewicht,
Ihn werfen liebt der eine sehr,
Der andre Athlet eher nicht.
Gehören tu’ ich zu den andern,
Spür’ es zu oft im Ellenbogen,
Schmerzen bis in die Schulter wandern,
Habe am Speer oft falsch gezogen.
Tokio/Japan, Olympische Spiele1964
Die Schmerzen muss ich überwinden,
Halt mich beim Einwerfen zurück,
Rhythmusgefühl beim Anlauf finden,
Erhoffe auch ein wenig Glück.
Der erste Wurf ist nicht gelungen,
Hab’ wieder diesen Schmerz verspürt,
Den Arm zu seitlich wohl geschwungen,
Den Speer dabei nicht gut geführt.
Noch einmal auf die Zähne beißen,
Noch einmal Schmerzen überwinden,
Muss mich erneut zusammenreißen,
Den richt’gen Zug beim Abwurf finden.
Zum Glück half mir ein Gegenwind
Bei einem Wurf, es war der zweite,
Die achtundfünfzig Meter sind
Mir die erhoffte gute Weite.
Zehnte (und letzte) Disziplin
Der 1500 Meter Lauf
Zur letzten Prüfung aufgereiht,
Der Starter ruft: „Macht euch bereit!“
Der Schuss erfolgt, der Lauf beginnt,
Bald ist heraus, wer hier gewinnt.
Deutsche Meisterschaften 1964
Bendlin
Beyer
Niemand denkt jetzt er könnt verlieren,
Nur noch, ich werde es probieren
Von meinem Ziel nicht abzuweichen,
Die Leistungsgrenze zu erreichen.
Jeder von anderer Natur,
Auch sehr verschieden von Statur,
Ganz unterschiedlich sonst ihr Leben
Vereinigt hier das Leistungsstreben.
Beinah’ vier Runden dauern lang,
Mit äußerst starkem Leistungsdrang
Weiß ich die Strecke zu durcheilen,
Die Kräfte richtig einzuteilen.
Den ersten Sieg wollt’ ich erringen,
Die Gegner waren wunderbar,
Hier konnte ich auch mich bezwingen,
Es ist vollbracht, ein Wunsch nun wahr!
Europameisterschaften Budapest 1966
Werner von Moltke
Horst Beyer
Jörg Mattheis
Das Höchste im
Leben Wird nicht Jedem gegeben.
Danach läßt sich nicht streben.
Man kann’s nicht erringen.
Ein inneres Weben
allein wird’s erbringen.
Als Für und Wider deiner
zeigt sich dir das Leben.
Den Lauf der Zeit zu trotzen
meide, auch eile nicht.
Ein jeder Atemzug gebiert:
Verlust – Gewinn,
Ein jeder Arm geregt
hält oder trägt mit sich
auch unerkannten Sinn.
Ein jedes Licht entspringt
den Dunkelheiten,
ein Traumgedanke Wirklichkeiten.
Der Schöpfung Freiheit zeigt
anarchisch sich
in Finsternis und Pracht,
aus einer menschenfernen
und so nahen Welt,
als ungezähmte Macht.
* Dick Fosbury, Olympiasieger 1968, ist der Begründer der heutigen Sprungtechnik.
Sein ganzes Leben lang war Großvater ein an Politik interessierter Mensch. Sein Streiten um eine bessere Welt hatte unmittelbar mit dem eigenen Lebenskampf zu tun. Als junger Mann nach dem ersten Weltkriege, er war sehr lange Zeit arbeitslos geblieben und als Familienvater völlig mittellos geworden, trieb ihn die Ausweglosigkeit zunächst den Kommunisten zu. Die waren gegen die Ausbeutung der arbeitenden Klasse und versprachen eine bessere Welt, die dann von den Arbeitern und Bauern selbst organisiert und geführt werden sollte. Später kamen die Nationalsozialisten. Und die hatten noch einen richtigen Führer mit richtig „Deutschem Wesen“ mit im Programm.
So landete Opa bei denen und fand durch Können und Neigung den Zutritt zum Spielmannszug der SA. Die Nazis brachten einen neuen Schwung in die Gesellschaft. Großvater wurde mitgerissen, wie viele andere seiner Generation auch. Besonders rau soll es zuweilen auch zugegangen sein. Dennoch, Großvater war ein ausgesprochen musischer Mensch. Er hatte, ohne jemals einen Unterricht besucht zu haben, dafür war kein Geld da, sich das Notenlesen selbst beigebracht.
Er konnte tatsächlich mehrere Instrumente vom Blatt spielen. Vielleicht hatte er einst in seiner Dorfschule an regelmäßige Gesangstunden teilgenommen und darin seine Hinwendung zum Musizieren erfahren.
Und nun stopfte er seine in kleine Stücke geschnittene SA - Musikeruniform zusammen mit der braungrünen Mütze in den von Torf beheizten Ofen. Die Asche landete in den Blumenbeeten rund ums Haus. Seine wenigen Orden und Ehrenzeichen hatte er zuvor an sich genommen, in ein kleines mit glänzenden Muscheln besetztes Kästchen gelegt und irgendwo deponiert. Wo, das wusste nur er. Natürlich protestierten wir Kinder. Eine so schöne Uniform verbrennen zu wollen, kam uns ganz und gar verrückt vor. Und Opa war ganz und gar nicht verrückt, mir war er der klügste Mensch überhaupt. Was er machte, so hörten wir Kinder ja doch immer die Oma sagen, hatte immer Hand und Fuß. Und nun fragten wir uns, gerade zu verzweifelt und fast ängstlich: „Was ist bloß mit ihm passiert?“
Allein: Die prachtvolle Mütze! Wir Jungens, der Roland, Mutters jüngster Bruder, gerademal ein Jahr älter als ich, wir hätten uns natürlich um sie gestritten.
Doch Opa war von seinem zerstörerischen Vorhaben durch nichts abzubringen. Er sagte, dass bald die Tommys da wären, die hätten uns Deutsche mit Hilfe der ganzen Welt nun endgültig besiegt, hätten bald das Sagen und würden jedes einzelne Haus aufsuchen, alles durchwühlen, durchsuchen und Wertvolles wegschleppen. Sein Ehrenkleid, die Uniform mit der Mütze, bekämen die nicht. An den Abzeichen für seine erworbenen Verdienste hätten die erst recht nichts zu suchen. Waffen, hinter denen die wohl hautsächlich her wären, habe er nicht, er sei ja nur Musiker gewesen. Wir Kinder sollten uns vor denen nicht blicken lassen. Wenn die anrückten, so meinte er, sollten wir uns in die nahe gelegene Baumschule verdrücken und von dort nicht wegrühren. Jedes Haus musste zum Zeichen der Niederlage und der Aufgabe von Widerstand, so die Weisung der Engländer über Radio, ein weißes Tuch zeigen (im Großen heißt das Kapitulation).
Dem Großvater ging das sehr nahe, auch nahm er das offenbar ganz persönlich. Innerlich schien er sehr verletzt zu sein, war er doch das zweite Mal bei denen, die mit Zuversicht auf eine bessere Zukunft und nicht ohne Begeisterung in einen Krieg gezogen waren, und nun am Boden liegend die Schmach einer Niederlage erneut ertragen mussten. Zuerst unterm Deutschen Kaiser und nun an der Seite des Führers. Das schmerzte sichtlich. Darum hing zunächst auch kein weißes Tuch bei uns raus. Alle anderen Häuser zeigten gehorsam, wie die Leute nun einmal sind, alle ängstlich, einige devot, ein weisses Tuch als Zeichen der Unterwerfung.
Jedes Haus hatte aus Führers Zeiten hier für eine Steckvorrichtung für eine Fahne.
Bei des Führers Geburtstag wehte es vor einem Jahr im ganzen Ort. Oma protestierte damals schon. Sie war gegen derartiges Ritual und sie, die ein äußerst selbstbewußtes Auftreten zeigen konnte, nun in die entgegengesetzte Richtung, nun gegen Opas anhaltende Sturheit. Er dagegen meinte nur: „Sollen die uns doch beschießen, wenn sie Spaß daran haben,!“ Einige Stunden später hatte Opa sich letztlich eines besseren besonnen.
Ein lauter Motorenlärm beschallte den ganzen Ort. Die anrückenden Engländer bewegten sich aus Hamburg kommend mit Lastwagen, Panzern und kleineren Fahrzeugen langsam in Richtung Kiel vor und befanden sich bald, nur durch einige Gärten getrennt, in direkter Nähe zu uns.
Oma solle nun auch so einen „weißen Fetzen“, wie er es nannte, raus hängen. Natürlich sind wir Kinder, Opas Weisung in den Wind schlagend, neugierig an die Kieler Chaussee geschlichen. Wir wollten die Soldaten ankommen sehen, Kämpfer, die stärker als unsere eigenen waren.
Immer hieß es, wir hätten die besten. Und dann sahen wir die Tommys: So sehen nun die siegreichen Feinde aus, dachte ich. Unsere Soldaten sehen viel besser aus, dachte ich auch. Nur, die waren nicht mehr da. Auch nicht die Hitlerjungen, die noch einige Tage zuvor an gleicher Stelle unter Anleitung alter Haudegen, bei Schießübungen sich tapfer gebend, angestrengt herumballerten.
Nun waren die Sieger da und nicht eine deutsche Uniform war mehr zu sehen. Das Tollste aber, die winkten uns Kindern freundlich zu und bewarfen uns sogar mit allerlei kleinen Päckchen, gefüllt mit Keksen und toller Cadburry Schokolade, auch „Wrigley’s Chewing Gum“, etwas ganz Neues für uns, war dabei.
Von ihren fahrenden Panzern und Lastwagen zielten sie dabei zu allererst auf uns Kleineren. Den Mädchen riefen lachend zu: „Hello Blondy!“
Die Petersen-Brüder, zweieiige Zwillinge von nebenan und ansonsten Duckmäuser, hatten mit einem Male das große Sagen in der Straße. Sie riefen zu uns herüber, dass wir Nazikinder seien und bald von den Engländern verhaut werden würden, vielleicht sogar verhungern müssten. Roland und ich sind daraufhin auf sie drauf. Opa meinte: “So sind Feiglinge immer“, und beruhigte uns. Dann zeigte er uns noch einige Tricks, wie man sich erfolgreich und aber auch anständig prügelt. Das hat prima geholfen.
Die Kameraden vom SA-Spielmannszug hatten zuvor schon ihre Instrumente beim Opa abgegeben. Und da lagen nun wohlgeordnet die Trommeln, die Trompeten, Posaunen, kleine und größere Flöten. Eine dicke Tuba war auch dabei. Wir Kinder hatten schon in jedes Mundstück geblasen und den vielen Instrumenten die ungewöhnlichsten Töne entlockt. Am besten gefiel uns aber das große Glockenspiel. Manche sagten wohl auch „Lyra“ dazu.
Innen drin waren Metallblättchen in Reihe angebracht, denen wir durchs Draufhauen mit einem Klöppel ganze Melodien entlockten. Es wurde an einem großen Stiel getragen, war glänzend silbern und hatte links wie rechts jeweils drei Pferdeschwänze in den Nationalfarben schwarzweiß-rot herunter hängen. Stolz wurde es zuvor bei Paraden vorangetragen, sogar Reiter trugen es und spielten darauf. Das hatten wir auf Bildern schon gesehen.
Nun stand es leicht angestaubt an derWand neben der Werkbank.
Großvater, der sich in der Werkstatt aufgehalten hatte, war in die Stube gekommen, wo die Oma mit der Fertigung von Bürsten und Besen beschäftigt war. Das schaffte sie, indem sie mittels Drahtschlingen büschelweise das Haar fest in die vorgebohrten Hölzer zog. Er hatte dafür eigens einen Spezialtisch konstruiert. Dennoch, Omas Hände sahen schlimm aus. Der dünne Draht war schuld. Nun hatten die Beiden wohl etwas sehr Wichtiges besprochen, leise, so dass ich nichts verstehen konnte.
Angst mehr. Die hatten uns ja schon angelacht und Schokolade geschenkt.